Die letzte Brezn - Katharina Gerwens - E-Book

Die letzte Brezn E-Book

Katharina Gerwens

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Beschreibung

Skandal in Grafenau! Auf einer Parkbank an der Seepromenade entdecken nächtliche Spaziergänger eine männliche Leiche. Schnell spricht es sich herum: Bei dem Toten handelt es sich um einen eigenbrötlerischen Glasbläser, der im Ort wenig Freunde hatte. Hauptkommissarin Franziska Hausmann, unterwegs in ganz anderer Mission, wundert sich. Denn mit dem Tod des Glasbläsers geht eine Welle der Erleichterung durch die Kleinstadt im Bayerischen Wald.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deVollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014ISBN 978-3-492-96751-8© Piper Verlag GmbH, München 2014Covergestaltung und -motiv: bürosüd°, MünchenDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, AalenAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

1. Kapitel

Bis zu diesem Mittwochmorgen hatte Clemens Ortmair geglaubt, ihn werde es nicht treffen. Ihn nicht und auch nicht seine Frau. Solche wie er machten es immer allen recht und hatten weder finstere Geheimnisse noch irgendwelche verbotenen Räume, in die niemand hineinsehen durfte.

In seiner Familie war zu allen Zeiten über alles gesprochen worden. Auch wenn manche Dinge vielleicht besser nicht an die Öffentlichkeit gekommen wären, beispielsweise das unglaubliche Verhalten seines Großvaters, der auf dem Sterbebett weder mit seiner vierzig Jahre jüngeren zweiten Ehefrau noch dem eiligst herbeigerufenen Pfarrer sprechen wollte, sondern stattdessen seinem Enkel Clemens angeschafft hatte, den prächtigsten Hahn aus dem Hühnerstall zu holen.

»Und dass du mir fei bloß koa Henna ned bringst«, hatte er ihm noch hinterhergerufen, doch Clemens kannte den Lieblingshahn seines Opas genau und wusste zudem, wie sich ein Hahn von einem Huhn unterschied. Wenig später hatte der Vierundneunzigjährige das Federkleid seines besten Freundes gestreichelt und gemurmelt: »Mach’s guat, Oida, und lass nix obrenna.«

Bevor sich der Alte in die Ewigkeit verabschiedete, gab er noch einen zufriedenen, ja fast glücklichen Seufzer von sich, drückte die Hand seines Lieblingsenkels und ergötzte sich daran, wie der Gockel mit seinen staubigen Krallen über das weiße Bettzeug stolzierte und selbstbewusst die Schwanzfedern spreizte.

Derweil hatte Clemens’ Stiefoma, die jünger war als sein Vater, vor der Tür auf den letzten Atemzug ihres Mannes gelauert und ihr Schicksal als Ganzes, besonders aber ihr vertanes Leben an der Seite dieses Deppen beklagt. Die Onkel und Tanten und auch Clemens’ Eltern im Nebenraum schwiegen und starrten auf ihre gefalteten Hände. Wie im Wartezimmer des Todes, dachte Clemens später, wobei allein der Großvater eine Audienz beim Sensenmann erhalten hatte.

Tatsächlich hatte der Tod nicht mehr lange auf sich warten lassen, ebenso wenig wie das Donnerwetter, das wenig später über den damals elfjährigen Clemens hereingebrochen war. »Du machst auch an jeden Blödsinn mit, den der Alte dir anschafft, du Depp, du damischer. Bring sofort den Gockel in den Stall z’ruck«, wurde er von seiner Stiefoma und den Eltern gerügt, während die restliche Verwandtschaft flüsternd und raschelnd in das Sterbezimmer einbrach und nach der Hand des Verstorbenen griff. Als müsse sie sich vergewissern, dass der Alte auch tatsächlich von ihnen gegangen sei.

Hoch und heilig hatte Clemens allen schwören müssen, niemandem diese wirklich peinliche Geschichte mit dem Hahn zu erzählen, aber am nächsten Tag wusste es dennoch fast jeder in Grafenau. Gerade wenn man etwas verbergen wollte, kam das garantiert als Erstes ans Licht.

Als der mittlerweile dreiunddreißigjährige Clemens Ortmair an jenem Vormittag diesen rätselhaften Gegenstand vor seiner Tür fand, ahnte er, dass auch er künftig zu jener Liga gehören würde, die etwas zu verbergen hatte. An diesem Novembermorgen begann er, alles infrage zu stellen. Selbst die Neuigkeiten des Grafenauer Anzeigers, der hochkant im Briefkasten steckte, hatten ihre fraglose Verbindlichkeit verloren.

Denn was sollte dieser gläserne hellgrüne Minisarg auf seiner Türschwelle bedeuten? Und warum gerade bei ihm? Einen ersten spontanen Impuls, das Ding mit einem Fußtritt wegzukicken, konnte er gerade noch unterdrücken. Das hätte Scherben gegeben und ein Geräusch, bei dem selbst jene Nachbarn, die bisher noch nichts von dieser fatalen Morgengabe wussten, aufhorchen würden.

»Du wirst des Zeichen a no kriagn«, hatte ihm jemand vor noch gar nicht so langer Zeit zugeraunt. Es war so schnell gegangen, dass er den weissagenden Flüsterer im Dunkeln nicht erkannt hatte. Auf seinem Heimweg hatte er kopfschüttelnd über diese alberne Drohung gelächelt. Was für ein Zeichen denn? Er doch nicht! Jetzt aber, da Clemens Ortmair das Ding da vor sich sah, ahnte er, was gemeint gewesen sein könnte.

Grauer Nebel hing an diesem kalten Morgen über Grafenau. Seit Tagen war die Sonne nicht mehr richtig herausgekommen, und dennoch ging von diesem etwa sechzig Zentimeter langen Objekt ein derart kaltes Leuchten aus, dass es ihn mitten ins Herz traf. Als wäre es ein für ihn bereitgestellter Sarg.

Mit zitternden Händen faltete er die Zeitung auseinander und wickelte den Glaskasten darin ein.

»Wo bleibst du denn?«, rief seine Frau aus der Küche.

»Bin schon da!«, rief er und versuchte, besonders fröhlich zu klingen, während er dem Kaffeeduft folgte.

Doch Ute ließ sich nicht täuschen. »Ist was?«

»Nein, nein.« Clemens schüttelte besonders heftig den Kopf. »Was soll schon sein?«

»Wo ist die Zeitung?«

»Richtig, die ist noch draußen. Hab ich vergessen, warte, ich hol sie.« Er verließ die Küche, wickelte die gläserne Bedrohung wieder aus dem Grafenauer Anzeiger und verbarg sie unter der ersten Stufe der dunkelgrauen Granittreppe, die als geschwungenes S vom Erdgeschoss in den ersten Stock führte.

»Du hast doch was?« Ute Ortmair zog die Stirn kraus. »Schlechte Nachrichten in der Zeitung? Macht deine Firma etwa pleite?«

»Nein, natürlich nicht.« Er wärmte sich beide Hände an der Kaffeetasse und beobachtete, wie seine Frau im Stehen die Tageszeitung durchblätterte.

»Da ist doch was!« Sie klang gleichzeitig besorgt und gereizt.

Demonstrativ blickte er aus dem Fenster. Sollte er ihr sagen, dass zwar nichts Schlimmes in der Zeitung stand, dafür aber das Vorzeichen ihres gemeinsamen Unterganges darin eingewickelt gewesen war? Was für ein theatralischer Gedanke. Und lächerlich obendrein. Er würde Ute nicht damit belasten. Und hatte das Ganze überhaupt mit ihnen zu tun? Es könnte doch auch ein Irrtum sein. Dieser Verrückte, von dem seit einigen Wochen in Grafenau gemunkelt wurde, konnte sich vertan und ein ganz anderes Haus gemeint haben.

»Nun sag schon, da ist doch was!« Ute schob ihm den Korb mit den Semmeln zu.

»Nein, da ist nichts.« Seine Stimme klang lauter als beabsichtigt. »Ich habe einen schweren Tag vor mir. Da wird man sich ja wohl innerlich drauf vorbereiten dürfen.«

»Ist ja schon gut.« Sie nickte gekränkt. »Man wird sich ja wohl noch Sorgen machen dürfen!«

Das einzig Schwierige an diesem Tag, dachte Clemens Ortmair auf dem Weg in die Arbeit, würde die »Recherche« sein. Er musste herausfinden, auf wessen Schwelle noch ein solches Ding gelegen hatte, und sich mit demjenigen in Verbindung setzen.

Ortmair versuchte, sich an die vielen Gesprächsschnipsel zu erinnern, die er auf dem Flurfunk seiner Spedition aufgeschnappt hatte. Hätte er nur besser zugehört, anstatt sich mit vornehmer Demut auf Zahlen und Formeln zu konzentrieren. Gerade als das Acht-Uhr-Läuten der Kirchturmuhr erklang, dämmerte ihm ein Name: Florian Simbacher. War nicht vor gar nicht so langer Zeit gemunkelt worden, dass auch der eine unerwünschte Morgengabe bekommen und gleich beiseite geschafft habe? Vielleicht auch einen gläsernen Sarg?

Doch wie sollte er am besten vorgehen? Spräche er den Florian direkt darauf an, so würde der garantiert alles ableugnen, so redegewandt, wie der war. Andererseits wäre es auch unklug, sich gleich selbst als Sargempfänger zu outen, überlegte Clemens Ortmair mit gerunzelter Stirn. Warum hatte er das Ding eigentlich seiner Frau verschwiegen, und warum hatte er sie heute Morgen nicht wie sonst umarmt? Ihm schien es, als hätte das Objekt schon jetzt den ersten Giftpfeil auf ihr gemeinsames Glück gerichtet.

Seufzend öffnete er die Tür zum Verwaltungstrakt der Spedition und schlurfte mit hochgezogenen Schultern durch den langen Flur in sein Büro. Während der Computer hochfuhr, goss er die Usambaraveilchen auf der Fensterbank und entfernte, wie fast jeden Morgen, die vertrockneten Blütenblätter.

Die Kaffeemaschine in der fensterlosen Teeküche war schon zu vier Fünfteln durchgelaufen. Er war also nicht der Erste. Clemens angelte sich seinen persönlichen eidottergelben Becher aus dem Regal, nahm aus dem Kühlschrank die Milchtüte mit seinen Initialen und beschloss, das Problem gleich anzugehen. Es brachte ja nichts, die Geschichte immer weiter vor sich herzuschieben. Und wie er den Simbacher Flori kannte, so stand der ganz bestimmt schon in seinem Laden und räumte für die Wintersaison um. Bis zum ersten Schnee war es ja nun wirklich nicht mehr lange hin.

Resolut verschloss er seine Bürotür von innen, griff zum Telefon und rief bei Florian an.

»Simbacher, Sport und Chic auf einen Klick, was kann ich für Sie tun?«

Es hatte keinen Sinn, lange drumrum zu reden, und so fiel Clemens mit der Tür ins Haus. »Du, bei mir hat heute Morgen so ein komisches Ding vor der Tür gestanden. Und da hab ich mir gedacht, dass du mir sicher helfen kannst.«

Der modebewusste Sportsmann am anderen Ende der Leitung schluckte, seufzte bedeutungsvoll und schwieg.

»Also, ich … also ich hab mir gedacht, ich melde dir das einfach mal«, stotterte Clemens. Dieses gerade mal sechzig Zentimeter lange Glasding machte ihm Angst, und er wusste, dass es auch den anderen Angst gemacht haben musste.

Selbst dem Simbacher Florian, der sich nun laut und vernehmlich räusperte, bevor er sagte: »Aha, dann sind es also fünf. Hatte ich’s doch befürchtet. Mehr werden es wohl auch nicht. Wenn ich ganz ehrlich bin: Eigentlich hast gerade du uns noch gefehlt. Weißt du was, ich und du und die drei anderen, wir treffen uns heut auf d’Nacht im Gasthaus Zur Brezn. Siebzehn Uhr. Da gibt’s ein Hinterstüberl. Und dort finden wir dann eine Lösung.«

»Wir?«, fragte Clemens. »Wen meinst du damit?«

»Alle fünf Betroffenen. Wir müssen uns wehren. Wer weiß, was der Wahnsinnige vorhat.«

»Wen meinst jetzt damit?«

Florian Simbacher gab keine Antwort, sondern stellte besserwisserisch klar: »Wenn wir uns beeilen und sachlich bleiben, haben wir in einer Stunde alles besprochen. Dann fällt es nicht einmal auf, dass wir ein bisserl später heimkommen.«

Was für ein Depp, dachte Clemens Ortmair nach dem Telefonat. Er hatte den fast zwanzig Jahre älteren Simbacher Florian noch nie leiden können. Auf den wartete doch eh keine daheim. Stattdessen schleppte der Flori ein Weibsbild nach dem anderen ab – dieser sexbesessene Lügner.

Schon früher, als sie fast Nachbarn gewesen waren, hatte sich der Flori immer in alles eingemischt und sich um alles gekümmert. Vor allem um Dinge, die ihn nichts angingen, und bevorzugt dann, wenn Weiberleut im Spiel waren. Noch heute war Clemens davon überzeugt, dass der Simbacher damals die Geschichte mit Clemens’ sterbendem Großvater und dem prächtigen Hahn in die Stadt getragen hatte, damit alle über die Ortmairs und über die junge Witwe Rosina lachten. Dabei war der Opa ein wirklich lieber Mensch gewesen. Der hätte bestimmt gewusst, was bei einem solchen Fund vor der Tür zu tun wäre, und hätte es nicht nötig gehabt, ausgerechnet einen Florian Simbacher um Rat zu fragen.

Clemens schloss seine Zimmertür wieder auf und ließ sie halboffen stehen. Verschlossene Türen galten in diesem Bürotrakt als verdächtig. Wer über den künstlich erleuchteten Flur ging, sollte in jedes Zimmer hineinsehen und auf Anhieb erkennen können, wie intensiv und konzentriert die anderen arbeiteten. Als würde ausgerechnet das die eigene Leistung steigern.

Anfangs hatte es Clemens verdammt viel Kraft gekostet, nicht jedes Mal aufzublicken, wenn draußen einer vorbeimarschierte. Seine Kolleginnen und Kollegen pflegten die offenbar wichtigsten Dinge zwischen Tür und Angel zu verhandeln. Auf dem Gang bildeten sich Koalitionen zum gemeinsamen Mittagessen oder zum Stadtbummel. Geburtstage wurden dort begossen, Lebenskrisen ausgebreitet und in allen Einzelheiten durchgenommen, jedoch so gut wie nie geklärt. Dieser Flur hatte trotz seines künstlichen Lichtes etwas vom prallen und bunten Leben, während sich in den einzelnen Büroräumen grau und fordernd die Arbeit häufte. Clemens Ortmair erschienen daher die offenen Zimmertüren wie Fenster zum Eigentlichen, und da immer nur Bruchteile des Seins an diesen Fensterchen vorbeischwirrten, vermittelte ihm das Stimmengewirr dort draußen die Illusion eines Hörspiels.

Auf diese Weise musste er vor einigen Tagen mitbekommen haben, dass auf den Granitstufen vom Sportladen Simbacher ein unheimliches Ding gelegen hatte. Was genau es gewesen war, wusste natürlich mal wieder niemand. Voller Schadenfreude hatte Clemens gelauscht und gedacht: Geschieht ihm ganz recht. Der soll ruhig mal ein bisschen Schiss kriegen, dieser selbstgerechte Schönling. Doch schon wenige Tage später war er vom Schicksal für diesen Gedanken bestraft worden, dachte Clemens nun.

Summend tänzelte die Sekretärin des Abteilungsleiters an seiner Tür vorbei und hob grüßend eine Hand. Wo die nur immer ihre gute Laune hernahm! Das Leben war ungerecht. Mit wilder Entschlossenheit griff Clemens nach der Posteingangsmappe, um den heutigen Stapel an Anfragen, Aufträgen und Rechnungen abzuarbeiten.

Fünf Leute aus Grafenau hatten also so ein Ding gekriegt. Ausgerechnet fünf.

Auf dem Computerbildschirm entfaltete sich eine fette Fünf nach der anderen. Unheilschwanger sahen die aus, und Clemens Ortmair ahnte, dass ihm wohl nichts anderes übrigblieb, als um siebzehn Uhr das Hinterzimmer der Wirtsstube Zur Brezn zu betreten und sich den anderen vieren zu stellen. Da wusste er noch nicht, dass er genau diesen Entschluss sein Leben lang bereuen sollte.

Ute Ortmair hatte an diesem Vormittag frei. Ganz gegen ihre Gewohnheit rauchte sie direkt nach dem Frühstück eine Zigarette. Irgendwas war mit Clemens los. Ob das was mit ihr zu tun hatte? Okay, sie hatte mal wieder geflirtet. Aber war es ihre Schuld, wenn sie eine so tolle Ausstrahlung hatte? Nicht ohne Stolz betrachtete sie ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe und lächelte sich an. Die Zigarette stand ihr nicht, und sie drückte sie aus. Würde sie sich selbst begegnen, wäre sie auch fasziniert von sich, dachte sie und sonnte sich in dem Bewusstsein, an jedem Finger zehn Verehrer zu haben. Entschieden hatte sie sich allerdings für Clemens, denn der war solide und zuverlässig. Sie fand nur, er sollte nicht immer so eifersüchtig sein. Schlechte Laune machte Falten, und er hatte ihr mit seiner Miesepetrigkeit bereits das heutige Frühstück verdorben.

Dabei war es so wichtig, sich mit den Männern des Ortes gut zu stellen, dachte Ute und gab sich ihrem Lieblingstraum hin, in dem ein kleiner, aber feiner Kosmetiksalon am Grafenauer Stadtplatz die Hauptrolle spielte. Sie selbst trug in dieser Vision einen maßgeschneiderten schneeweißen Kittel, der ihre schmale Taille sowie eine nicht zu übersehende Oberweite betonte, und stöckelte so elegant über flauschige Teppichböden, dass sich der eine oder andere Herr am Schaufenster die Nase plattdrückte. Währenddessen dösten im Nebenraum mehrere Damen bei sanfter Musik auf weichen Wasserbetten einem Erwachen in faltenloser Schönheit entgegen.

Alle Frauen, die in Grafenau etwas auf sich hielten, würden zu ihr kommen, und die Ehemänner würden sich bei der Auswahl von Geschenkgutscheinen, Parfüms und edlen Hautcremes von ihr beraten lassen. Da war es doch klar, dass sie schon jetzt zu allen freundlich sein musste. Denn alle Frauen und Männer in dieser Stadt waren potenzielle zukünftige Kunden.

Seit Kurzem machte ihr ausgerechnet der Simbacher Florian den Hof. Der war mindestens zwanzig Jahre älter als ihr Mann und kam ständig in den Drogeriemarkt, in dem sie momentan noch arbeitete, um sich von ihr beim Kauf von Shampoo, Haarwasser, Rasiercreme und Zahnpasta beraten zu lassen. Doch mit einem über Fünfzigjährigen würde sie sich nicht einlassen. Mit dem würde sie nicht einmal einen Kaffee trinken gehen. Schon allein, um kein Gerede hervorzurufen.

Dabei war der ziemlich hartnäckig, dieser Florian. Sogar einen Skianzug aus seiner neuesten Kollektion hatte er ihr versprochen, wenn sie sich nur einmal mit ihm träfe. Trotzdem! Sie beschloss, sich den stylishen Skianzug lieber von Clemens zu Weihnachten zu wünschen.

Halbherzig fegte sie mit einem Besen durch Esszimmer, Küche und Flur und stieß unter der ersten Treppenstufe gegen etwas, das dort nicht hingehörte. Es klirrte. Ute Ortmair ging in die Knie. Dachte ihr Clemens etwa, dass sie niemals unter der Treppe putzte? Hoffentlich war nichts kaputtgegangen.

In dem mit Klebeband verschlossenen Pappkarton schepperte es. Sie biss sich auf die Unterlippe. Wollte Clemens ihr etwa auch in diesem Jahr wieder Sektgläser zu Weihnachten schenken? Wie phantasielos!

2. Kapitel

Seit der Vater tot war, kam der Amerikaner fast jede Nacht und forderte Aufmerksamkeit. Stets trug er ein anderes Gesicht, aber die Not in seinen Zügen blieb dieselbe. Daran erkannte Rudolf Handgrödinger ihn, und er fragte sich, warum der Fallschirmspringer noch immer keine Ruhe finden konnte. Seine Geschichte lag doch schon mehr als siebzig Jahre zurück.

Zuvor hatte das Gespenst – zumindest hatte der Vater Lambert Handgrödinger das behauptet – Nacht für Nacht an dessen Bett gestanden und von ihm Hilfe erhofft. Doch Rudolfs Vater hatte es sieben Jahrzehnte lang nicht geschafft, sich von dem Geist zu trennen, was entweder an der Hartnäckigkeit des Gespenstes oder an Lambert Handgrödingers Phantasielosigkeit lag.

Hätte der Vater bei seinem letzten Gang den Quälgeist nicht einfach mitnehmen können? Schließlich waren die beiden seit Ewigkeiten miteinander vertraut. Aber nein, der Alte musste seinem einzigen Kind die Spukgestalt zurücklassen und sich allein auf den Weg ins Licht begeben. Typisch!

So hatte Rudolf Handgrödinger ein ererbtes Gespenst an der Hacke, zu dem er keinerlei Beziehung hatte. Vermutlich war es grundsätzlich kompliziert, eine Beziehung zu einem Phantom aufzubauen. Zumindest hatte er weder im Internet noch in der Stadtbibliothek Ratgeber zu dieser komplexen Thematik finden können.

»Die Schuld von dene ihre Väter muass getilgt werden … sonst findt der niemals a Ruh ned. Die Sach muass ans Licht kemma. I hob’s ihm versprochen.« Das war die einzige Erklärung, die Rudolf von seinem Vater erhalten hatte, als das Gespenst im frühen Sommer dieses Jahres zum ersten Mal für ihn sichtbar in ihrer Küche aufgetaucht war, eingehüllt in eine Aura der Verzweiflung.

Aber was war das für eine Sache? Und warum hatte ihm der Vater erst in den letzten Wochen seines Lebens davon erzählt? Hatte er tatsächlich geglaubt, die Aufgabe selbst noch lösen zu können? Lambert Handgrödinger hatte es sich verdammt leicht gemacht, als er die Einlösung seines Versprechens einfach so an sein Kind weitergab.

Die Schuld von dene ihre Väter … Rudolf erinnerte sich noch gut an diesen Satz und auch daran, dass er damals wissen wollte, welche Väter genau damit gemeint waren.

»Die von den andern.«

Das kannte Rudolf schon zur Genüge. Bei seinem Vater waren es immer die anderen gewesen.

»Dann soll es doch zu denen gehen!« Aufmüpfig hatte Rudolf auf das blasse Gespenst gewiesen, das sich tatsächlich anschickte, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.

»Die sehn den aber ned.«

Na großartig! Nur weil er selbst mehr sah als die anderen, hatte er mehr Probleme zu lösen. Das Leben war verdammt ungerecht, fand Rudolf.

Zu gern hätte er mit dem Pfarrer darüber gesprochen oder mit dem Krankenhausseelsorger, von dem es hieß, er habe nicht nur Psychologie studiert, sondern könne außerdem gut zuhören, aber sein Vater hatte ihm verboten, mit anderen über vertrauliche Dinge zu sprechen. »Des geht fei koan was an.« Ohnehin hatte der Vater fast alles verboten. Deshalb hatte Rudolf Handgrödinger auch keine Frau – nicht einmal eine Freundin. Wenn er ganz ehrlich war, hatte er überhaupt keine Freunde. Aber dafür die Arbeit und die Kunst. Und beides füllte ihn aus.

»Du muasst des in Ordnung bringa«, hatte der Vater bestimmt. »Du muasst die Fünfe bloß no findn!«

Rudolf hatte sich gefragt, wer die Fünf wohl sein mochten. Auf jeden Fall waren sie glücklicher, denn sie lebten nicht mit Gespenstern unter einem Dach, und sollte es doch so sein, so übersahen sie die Geister einfach.

Mit zitternder Stimme hatte der Alte, der in diesem heißesten aller Sommer voller Schrecken zu begreifen schien, dass seine letzten Tage gekommen waren, nach Stift und Papier verlangt und in ausladenden Großbuchstaben fünf Namen darauf gemalt. Rudolf kannte sie alle. Vier davon waren im Vorstand der GWG, der Grafenauer Werbegemeinschaft, und hatten des Öfteren versucht, ihn in ihre Werbeaktionen einzubinden. Aber das war nicht sein Ding.

»Gib ihnen a Zeichn. Die werdn scho wissn, wos zum Tun ist, und dann mit dir Verbindung aufnehma.«

»Weißt du denn, was zu tun ist?«

Halbherzig schüttelte Lambert Handgrödinger den Kopf, hob die Schultern und blieb still. Dabei wäre genau dies der Augenblick gewesen, um endlich einmal Klartext zu reden. Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn, die längst fällige Aussprache von Mann zu Mann. Aber so war sein Alter nun mal, dachte Rudolf Handgrödinger. Ein schweigsamer Hornochs, und warum sollte sich ausgerechnet der auf seine letzten Tage noch ändern?

Lambert war Glasbläser gewesen wie sein Vater, sein Großvater und alle Handgrödingers davor – eine lange Reihe, die bis ins Jahr 1531 zurückverfolgt werden konnte. So war auch der Rudolf Glasbläser geworden und hatte mit dem überlieferten Wissen der Väter, mit Farben, Formen und Materialien experimentiert. Seine Werke standen in Museen und wurden in Ausstellungen gefeiert – aber all das hatte den Vater nicht gekümmert. Er war nicht einmal stolz auf ihn gewesen und hatte sich geweigert, die Artikel über den begnadeten Sohn der Stadt – wie es im Grafenauer Anzeiger hieß – zu lesen. Die Geister waren ihm näher als sein Kind.

Mit den täglich etwa zehn Sätzen, die der Alte in den letzten Wochen seines Daseins an den Sohn gerichtet hatte, hätte man ihn für seine Verhältnisse fast geschwätzig nennen können. Er hatte ihm noch einiges über den rätselhaften Amerikaner erzählt. Der damals gerade mal achtjährige Lambert hatte ihn vom Himmel fallen sehen und gehört, wie er etwas geschrien hatte, was klang wie: »Ich war ein Ober.« Dazu hatte er ein weißes Tuch geschwenkt und mit strahlend weißen Zähnen gelacht. Doch die fünf Soldaten, die ihn direkt aus dem Himmel geholt hatten, sagten, er solle nicht einen solchen Schmarrn erzählen. Noch sei der Endsieg nicht erreicht. Und als der Mann immer weiter sein Tuch schwenkte, hatte einer der Uniformierten mit kippender Stimme gerufen: »Das ist Wehrkraftzersetzung. Darauf steht die Todesstrafe. Los, tötet ihn!« Einer der Soldaten trug einen Spaten in der Hand und hatte mit dem silbrig blitzenden Blatt auf Kopf und Schultern des Lachenden eingeschlagen. Der reglos in seinem Versteck verharrende Lambert hatte sich währenddessen so fest auf den Finger gebissen, bis dieser blutete, und sich weit fortgewünscht. Notfalls sogar in die Schule, Hauptsache weg.

All das hatte Rudolf von seinem Vater erfahren und auch, dass dieser mit niemandem darüber hatte reden dürfen. So hatte es nämlich Lamberts Vater bestimmt, Rudolfs Großvater. Und gerade deshalb hatte sich der Geist des Fallschirmjägers an ihn geheftet.

»Er hod koan Namen ned g’habt. Die ganze Zeit ned«, hatte Lambert an einem seiner letzten Tage gestammelt.

»Wer?«

»Der wo vom Himmel g’falln is. Er braucht einen Namen und einen Platz«, wiederholte der Vater flüsternd auf seinem Sterbebett. »Es hod koa Tätowierung gebn, koa Erkennungsmarke und erst recht koane Papier. Die ham danach g’sucht, aber nix g’fundn. I hob ois genau g’sehn.«

In der Nacht, in der Lambert Handgrödinger in seinem stickigen Zimmer für immer die Augen schließen sollte, war der Fallschirmspringer mit Uniform und in gespenstischer Klarheit am Bett seines Sohnes erschienen und hatte in reinstem Deutsch gefordert: »Erlöse mich! Diese Aufgabe geht nun an dich über.«

Was für ein Anspruch! Gleichermaßen gekränkt wie enttäuscht fragte Rudolf sich, ob sein Vater kein anderes Vermächtnis für ihn hatte als eine Fülle unlösbarer Probleme und dieses fordernde Gespenst. Als er im Morgengrauen aufstand, um den Vater genau danach zu fragen, war dieser für immer gegangen.

Rudolf Handgrödinger war der Letzte seines Stammes und fand sich damit ab, dass mal wieder alles an ihm hängen blieb. Über Generationen hinweg hatten seine Leute selbstsüchtig ihr eigenes Ding durchgezogen und angehäufte Probleme bedenkenlos an die nächste Generation weitergegeben. So, wie man einen Stab beim Staffellauf weitergeben mochte. Allerdings war der Stab in dieser Familie im Lauf der Jahre schwerer und schwerer geworden. Und ausgerechnet Rudolf sollte nun alle Aufgaben auf einmal bewältigen, wo es ihm doch nicht einmal gelungen war, auch nur ein einziges Rätsel des Vaters zu lösen.

Je länger er während der Totenwache darüber nachdachte, umso tröstlicher erschien ihm der Gedanke, dass er mit der größten der ererbten Aufgaben nicht alleine war. Immerhin gab es diese fünf Namen. Das Blatt, auf dem sein Vater sie notiert hatte, lag neben Rudolfs Bett. Vor dem Einschlafen fragte er sich, wie er mit diesen Leuten Kontakt aufnehmen sollte, und hoffte zugleich, der Geist würde ihm einen guten Rat erteilen. Doch in diesem Punkt erwies sich das Phantom des Amerikaners als genauso schweigsam wie der alte Handgrödinger.

Es war klar, dass Rudolf nicht einfach zu den Fünfen gehen und sagen könnte: »Hey, es gibt da ein siebzig Jahre altes Gespenst, dem wir mal zur Ruhe verhelfen müssen.« Weder der Besitzer des Sportgeschäfts noch der Apotheker schienen für solche Argumente offen, und gemeinsam mit den anderen Dreien würden die ihn sofort für verrückt erklären und in die Psychiatrie nach Mainkofen einweisen. Immerhin war einer von denen ebenfalls Arzt, wenn auch nur Zahnarzt. Und wenn er erst einmal im Irrenhaus säße, hätte das Gespenst niemanden mehr, an den es sich halten könnte.

Also musste eine andere Lösung her.

Rudolf mochte das Licht in den Schmelzöfen. Es schenkte nicht nur Wärme, sondern schaffte Raum für ungewöhnliche Gedanken. Letztendlich war die Idee, einen gläsernen Sarg als Andenken an den amerikanischen Fallschirmspringer zu schaffen, genau diesem Licht entsprungen. Ein gläserner Sarg für jemanden, der keinen Platz und keinen Namen hatte.

Doch es war verdammt schwer gewesen, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen, denn er musste Augenblicke abwarten, in denen er unbeobachtet arbeiten konnte. Natürlich wollten alle bei ihm, dem bekannten Künstler, zuschauen und lernen. So gelang es ihm erst Ende September, das erste dieser Objekte zu erschaffen, als die gesamte Belegschaft seiner Glashütte in zwei eigens gecharterten Omnibussen zum Münchner Oktoberfest gefahren war. Rudolf Handgrödinger mochte kein Bier und keinen Lärm.

An jenem Nachmittag tauchte er ganz allein in die Stille seines Arbeitsplatzes ein, fuhr einen Schmelzofen auf tausendvierhundertfünfzig Grad hoch und blies nach der Schmelze und dem Läutern des Gemenges einen ersten grünlich schimmernden gläsernen Sarg. Als er ihn aus dem Tauchbad holte, wusste er, dass er sich auf dem richtigen Weg befand. Er nahm das Objekt mit heim und offenbarte es dem Geist des Fallschirmspringers. Der schien zufrieden.

Tatsächlich aber sollte es bis Ende Oktober dauern, bevor er all seine Stücke beisammenhatte. Er war nicht mit jedem Sarg zufrieden, und er wollte den Männern, die sich hinter den fünf Namen auf dem Zettel verbargen, nur Objekte von ausgesuchter Qualität zukommen lassen. Das war er sich und seinem Ruf schuldig.

Clemens Ortmair schob seine in der Mittagspause leer gegessene Tupperdose in die Aktentasche zurück, verschloss diese ordentlich und fuhr erst dann seinen Computer herunter. Bis zum Gasthaus Zur Brezn waren es höchstens zehn Minuten, und er hatte sich überlegt, dass es klug wäre, nicht gerade als Erster dort anzukommen. Die Uhr an seinem Rechner zeigte sechzehn Uhr und fünfundfünfzig Minuten.

Den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden. Wie eine schwere Wolke lag der Nebel über der Stadt. Der November war der tristeste aller Monate. Nichts als Totensonntage, Volkstrauertage und Düsternis, dachte Clemens Ortmair, während er den Kragen seines Fellmantels hochklappte und in den Kirchensteig einbog. Dabei fragte er sich, wer die anderen sein mochten und was ihn mit dem Simbacher Florian verband. Nichts, gar nichts, wenn er ehrlich war. Außer dass der Simbacher seiner Ute den Hof machte, dieser alte Gockel. Hoffentlich waren wenigstens die anderen nett, und hoffentlich fanden sie bald eine Lösung – für was auch immer.

Clemens Ortmair musste sich eingestehen, dass sein ungutes Gefühl im Lauf des Tages gewachsen war. Tatsächlich ging von dem Artefakt, das seit heute Morgen in einem Pappkarton versteckt und umwickelt von mindestens zwanzig Metern Klebeband unter seiner Wendeltreppe lag, etwas Bedrohliches aus. Etwas wie eine Schuldzuweisung. Als lauere irgendwo ein uraltes Unrecht und zöge ihn in einen dunklen Bann. Da gab es nur einen Weg: Das Ding musste weg!

»Die warten schon auf dich«, sagte der Breznwirt und wies auf eine holzvertäfelte Tür. »Willst du auch ein Helles?«

»Nein, mach mir lieber einen Tee! Am besten einen grünen.« Clemens wusste, dass Ute das Bier riechen würde. Und dann würde sie anfangen zu fragen. Wo warst du, mit wem und warum? Ja, spinnst du denn komplett? Ausgerechnet mit dem Simbacher Florian! Wieso das denn? Das reicht ja wohl, dass der mich nervt!

Nein, das musste nicht auch noch sein. Dieser Tag war schon schwer genug.

»Grüner Tee. Wie du willst.« Der Wirt schien gekränkt.

Das Licht in dem kleinen Nebenraum mit den dunkelroten und bodenlangen Gardinen war gedämpft, und die vier Männer an dem runden Tisch nickten dem Neuankömmling zu.

»Dann scheinen wir ja nun komplett zu sein.« Der Apotheker Korbinian Huber strich sich das graue Haar zurück und schob sich die Brille gerade. Demonstrativ blickte er auf seine Armbanduhr. »Willkommen im Club.« Vor ihm stand ein Weizenbier.

»Mehr als wir fünf sind es offensichtlich nicht«, bestätigte Florian Simbacher. »Das hat mein Vater wohl gemeint, als er von der verfluchten Fünf sprach.«

»Dein Vater?«, fragte Andreas Lindinger. »Was hat denn der damit zu tun?«

»Vermutlich das Gleiche wie der Opa von unserem Hühnerbaron.« Er wies auf Clemens Ortmair. »Setz dich doch.«

Mit hochgezogenen Brauen ließ Clemens sich auf den fünften Stuhl fallen. Was für eine Runde! Da hockte er nun an einem Tisch mit dem Apotheker, dem Besitzer des Sportgeschäftes, dem Zahnarzt Andreas Lindinger sowie Herbert Gegenfurtner, der den Drogeriemarkt führte, in dem Ortmairs Frau arbeitete. Halbherzig versuchte er ein Lächeln, aber niemand lächelte zurück.

»Ihr habt also auch alle so ein Trumm gekriegt?«, fragte er und ärgerte sich, weil seine Stimme so ängstlich klang.

»Des derfst glaubn«, brummte Herbert Gegenfurtner und putzte sich die Nase. »Sonst tätn mir ja wohl ned da sitzn. Hast es am End deiner Ute scho zoagt?«

»Naa.« Clemens schüttelte den Kopf. Der Wirt brachte den Tee, und solange die Tür zum großen Gastraum offen stand, herrschte einvernehmliches Schweigen.

»Ich hab mich so erschrocken, dass ich das Ding erst mal versteckt hab«, gab Clemens schließlich zu.

»Und wie bist nachad grad auf mich kemma? Warum hast du ausgerechnet bei mir ogrufa?« Florian Simbacher zog die Stirn kraus und beugte sich vor.

»Ich hab bei mir im Büro was läuten gehört, dass du neulich was vor deiner Tür gefunden hast. Früh morgens. Und geflucht sollst du haben. Da hab ich mir gedacht …«

»Ach je, der Hans.« Florian Simbacher stöhnte. »Ja, der sieht und hört alles. Du arbeitest also auch bei der Spedition?«

Clemens nickte und fügte ungefragt hinzu: »Aber im Büro«, als müsse er sich mit diesem Satz von dem geschwätzigen Möbelpacker Hans abgrenzen.

»Wir sind nicht hier, um Smalltalk zu machen«, fuhr Korbinian Huber dazwischen, blickte besonders streng auf seine vergoldete Armbanduhr und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte.

»Eine Frage hab ich noch.« Florian wandte sich erneut an Clemens: »Du hast das Teil also nicht deiner schönen Frau gezeigt?«

»Naa, ich hab es versteckt. Sag ich doch!«

Der Apotheker schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, was das soll, aber dieses Ding hat uns alle das Fürchten gelehrt. Und deshalb sitzen wir hier und suchen nach einer Antwort. Und zwar schnell.«

Vielsagend und unbeeindruckt von den Worten des Apothekers wiegte Florian Simbacher den Kopf und murmelte sehnsuchtsvoll: »Und während wir noch so nachdenken, sitzt die schöne Frau Ortmair allein zu Haus.«

Clemens schluckte. »Was hat das mit meiner Frau zu tun?«

»Ich hoffe nichts!« Der Simbacher grinste hinterfotzig.

»Jetzt reicht’s aber. Kommen wir zur Sache. Wer, glaubt ihr, hat uns Fünfen die Dinger vor die Tür gestellt?« Korbinian Huber sah von einem zum anderen. »Was meint ihr? Hat einer von euch einen Verdacht?«

»Es kann sich doch bloß um einen Verrückten handeln, der nimmer alle Tassn im Schrank hod«, behauptete Herbert Gegenfurtner. »Mir sollten den einfach ignoriern. Aber warum macht des koaner von uns? Warum sitzen mir da und glauben, dass mir ein Problem ham?« Er wandte sich an den Apotheker: »Du kennst doch alle G’spinnerten aus’m Ort, schließlich holen die sich ja bei dir ihre Tabletten.«

»Der ist nicht nur verrückt«, gab Lindinger zu bedenken. »Wer das gemacht hat, hat auch ein Gefühl für Form und Farbe.«

»Ein Künstler, dass ich nicht lache.« Gegenfurtner knallte sein Bierglas auf den Tisch. »Das ist kein Künstler, das ist ein Erpresser!«

»Echt? Ist bei dir schon eine Forderung eingegangen?« Florian Simbacher wurde blass.

»Nein!« Gegenfurtner blickte in die Runde. »Bei einem von euch etwa?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Na also.«

»Was willst du denn damit sagen?« Der Zahnarzt legte seine gepflegten Hände auf den Tisch.

»Der will kein Geld!« Gegenfurtner nickte bedächtig und wiegte seinen Lockenkopf.

»Was dann?«, fragte Florian Simbacher.

»Keine Ahnung.« Der Apotheker erhob sich. »Wir sollten wachsam sein. Morgen hier? Gleicher Ort, gleiche Zeit?«

Alle nickten.

3. Kapitel

Jetzt war es nur noch ein Monat, bis ihre Auszeit vorbei war. Dabei hatte Franziska Hausmann gedacht, dass sie in diesem Jahr alle Zeit der Ewigkeit hätte. Irgendwas stimmte nicht mehr mit den Wochen und den Tagen. Die schienen seit Neuestem besonders schnell zu rasen. Als würde irgendwas oder irgendwer voller Hinterlist an Stunden und Minuten drehen. Oder lag es ausschließlich daran, dass sie sich seit ihrem Umzug nicht eine Sekunde gelangweilt hatte?

Die für zwölf Monate vom Dienst befreite Hauptkommissarin der Kriminalpolizei Landau stand in ihrer kleinen, aber perfekten Küche und registrierte an diesem frühen Vormittag wehmütig, dass ein dichter Novembernebel ihr den Blick auf den Garten verwehrte.

Am ersten Dezember würde sie wieder antreten müssen. In genau vier Wochen. Sie wusste nicht, ob sie sich darauf freuen sollte. Jeden Morgen in diese Nebelsuppe hinaus! Und wohin eigentlich? Der Passauer Polizeipräsident hatte ihr noch nicht den neuen Einsatzort zugeteilt. Dabei war ein Jahr Auszeit eigentlich genug. Sie war noch zu jung, um gar nichts mehr zu tun.

Zu Beginn des Jahres waren sie in ein Haus knapp zwanzig Kilometer nordöstlich von Passaugezogen, und Franziska hatte Frühling, Sommer und Herbst genutzt, um nach Herzenslust zu garteln und einen Raum nach dem anderen einzurichten. Jetzt war alles perfekt. Nun gut, fast perfekt. Und langsam wurde es Zeit, dass sie sich wieder um andere Dinge kümmerte.

Sie und ihr Mann Christian hatten nach diesem hoffentlich letzten Umzug ihres Lebens mehr geschuftet als je zuvor. Insofern hatte sich der aus einem regelmäßigen Einkommen bestehende Lottogewinn nicht gerade als Erholungsfaktor erwiesen, und sie fühlte sich mit ihren achtundfünfzig Jahren noch zu jung, um Rentnerin zu spielen.

In diesem Haus hier bei Passau wollten sie und ihr Mann für immer bleiben. Auch wenn ihr dieses »für immer« etwas Angst machte. Bei ihrer Arbeit als Kriminalhauptkommissarin hatte sie zu oft erfahren, wie schnell gerade für die Ewigkeit gedachte Pläne zerstört werden konnten.

Das großzügig geschnittene Haus mit seinen hellen Räumen entsprach exakt ihrer Vorstellung, genau davon hatte sie in ihren Mietwohnungen immer geträumt. Natürlich waren viele Fenster zu putzen, aber dafür gab es auch viel Licht. Selbst an diesem tristesten aller Novembervormittage.

Gestern hatte Franziska Hausmann ihrer obersten Dienststelle eine E-Mail geschickt. »Sie können mich entweder zum 1. Dezember oder zum 1. Januar wieder einplanen!«

Entweder – oder? Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sollte sie anrufen und den Kollegen in Passau erklären, dass ihr der Januar doch lieber sei? So ein Neustart zum Jahresbeginn hatte was für sich. Andererseits lägen dann dreizehn Monate Freiraum hinter ihr. Nicht dass sie abergläubisch war – aber die Zahl zwölf fühlte sich eindeutig besser an.

Sie spürte, wie ihr Mann hinter sie trat und ihr die Hände auf die Schultern legte. »Was ist?«

»Nur ein bisschen Wehmut«, erwiderte sie und seufzte. »Wir hätten das vergangene Jahr besser nutzen sollen.«

»Du musst nicht, wenn du nicht willst«, murmelte er, aber sie hörte ihm an, dass es ihm lieber wäre, sie würde ihre Arbeit bei der Polizei wieder aufnehmen. Konnte Christian einfach nicht genug kriegen vom Alleinsein?

»Ich werde dir fehlen«, klagte sie wider besseres Wissen.

»Ach, du kommst doch abends heim. Alles wird wie früher.«

Für ihn hatte sich, bis auf die neue Adresse und Telefonnummer, kaum etwas geändert. Sein wirkliches Leben fand im Kopf und am Computer statt. Christian Hausmann war unabhängig von Gegenden und Räumen. Wie bereits in Landau verschwand er auch hier, am sogenannten Dachsberg, morgens hinter seinem Schreibtisch, um abends wieder aufzutauchen. Müde, mit Schatten unter den Augen und Lust auf Rotwein, Stille und ein gutes Essen. Kein Bedürfnis nach Gesprächen. Franziska hatte gehofft, dass sie in diesem Jahr mehr miteinander reden würden, letztendlich aber feststellen müssen, dass sie auch ohne viele Worte miteinander klarkamen. Er ließ seine Sprache in seine Übersetzungen und wortgewandten Essays fließen. Dort wurde sie gebraucht und angemessen gewürdigt. Dort hatte sie Bestand und Gewicht. Dort war sie besser aufgehoben.

Trotz der Größe und den fast hundertsechzig Quadratmetern Wohnfläche war das Haus eher für zwei Personen als für eine Großfamilie konzipiert. Genau das war es, was die Hausmanns von Anfang an überzeugt hatte.

Da gab es das großzügige Wohnzimmer mit dem offenen Kamin und darüber die Galerie, von der sie gehofft hatte, ihr Mann würde sich dort seinen Arbeitsplatz einrichten und von dieser Empore aus ständig präsent sein. Sie hätte sich denken können, dass er sich darauf nicht einlassen würde. Stattdessen war Christian in das kleinste aller Zimmer direkt unters Dach gezogen und jeden Morgen wie ein gewissenhafter Büromensch dorthin aufgebrochen, um dann für den ganzen Tag nicht mehr erreichbar zu sein.

Er brauchte keine großen Räume und keine weitläufigen Rasenflächen, wobei er letztere immerhin allsamstäglich brav gemäht hatte. Er geriet nicht in Entzücken, wenn eigenhändig ausgesäte Blumen wuchsen und blühten, Obstbäume Früchte trugen und Kürbisse in die Breite gingen. Was ihr wie ein Wunder erschien, war für ihn selbstverständlich.

Sie sah sich nach ihm um. Er war schon wieder verschwunden. In seiner Wortfabrik. In seiner eigenen Welt, zu der sie nur in seltenen Sternstunden Zutritt bekam.

So schleppte sie ganz ohne seine Hilfe die Kübelpflanzen ins Haus und suchte für Oleanderbüsche, Granatapfelbäumchen, kränkelnde Olivenpflanzen, Rosmarinstauden und Engelstrompeten einen Platz in der Diele. Bevor sie ihren Dienst antrat, würde sie ihm das Haus mit überwinternden Pflanzen so vollstellen, dass es ihm kaum auffallen würde, wenn ausgerechnet die Pflanze Franziska tagsüber fehlte.

Seine Frau war die Schönste von allen, dachte Clemens Ortmair, als er an diesem Abend die Haustür öffnete und sich in der Diele aus Schal und Mantel schälte. Schnell warf er einen Blick unter die Treppe. Da lag das Ding noch. Seit der Versammlung im Gasthaus gehörte es fest zu seinem Leben, auch wenn ihm das gar nicht gefiel.

Durch dieses Trumm war er nun mit dem Apotheker, dem Besitzer des Sportgeschäfts, dem Zahnarzt und Utes Vorgesetztem nicht nur per Du, sondern auch auf fatale Weise verknüpft. Dabei war ihm jeder einzelne unsympathisch. Hoffentlich kam er aus dieser Nummer bald wieder heraus.

Durchgestylt und auf hochhackigen Schuhen stand Ute in der Küche und zerrupfte einen grünen Salat.

»Du bist spät dran.« Sie strahlte.

»Viel zu tun«, murmelte er und ließ die Rollos im Wohnzimmer herunter.

»Sollen wir über Silvester verreisen?«, rief Ute.

»Warum sollten wir ausgerechnet dann wegfahren, wenn alle Leute zu uns kommen, um hier Urlaub zu machen? Dann sitzen wir doch selbst mitten im Paradies.«

»Alle Leute, dabei kommt doch nur der halbe Ruhrpott«, schnaufte Ute verächtlich.

»Wir leben im Zentrum eines Langlauf- und Wanderparadieses«, belehrte Clemens sie, als ob sie das nicht wüsste. »Und da willst du weg?«

Sie sah ihn lange an und lächelte verführerisch. »Du doch auch! Und zwar mit mir.«

Er nickte nachdenklich. Es stimmte schon: Er wollte weg, zwar nicht unbedingt von Grafenau, aber von diesen vier Männern. Er bereute schon, dass er den Simbacher angerufen hatte, statt sich blöd zu stellen und das Ding in den Müll zu werfen.

»Ich hab deinen Chef getroffen«, meinte er stattdessen.

»Echt?« Ute blickte hoch. »Also der war heute vielleicht grantig. Und dann musste er auch noch früh weg. Wahrscheinlich wegen des Hotelneubaus. Wenigstens da geht was voran. Wo hast du ihn gesehen?«

»Am Stadtplatz«, log Clemens Ortmair.

»Hat er dir verraten, welche Laus ihm über die Leber gelaufen ist?« Ute strich sich ihr blond gefärbtes kinnlanges Haar zurück.

»Natürlich nicht. Ich kenn den ja kaum.«

»Hat sicher was mit dem Fünf-Sterne-Schuppen zu tun«, mutmaßte sie. »Der will im Venus Wellness eine Filiale aufmachen. Wird garantiert teurer als geplant. Ist ja immer so.«

»Ach, hat das Ding jetzt schon einen Namen?« Clemens horchte auf. »Die haben doch grad erst mit den Bauarbeiten begonnen.«

Sie schüttelte den Kopf über so viel Unwissen. »Schmarrn, das Haus steht doch schon fast. Und das sag ich dir, wenn ich ein neues Hotel bauen müsste, und mein Bauplatz läge gegenüber vom Venusberg, ich würde es genauso nennen.«

»Kann sein. Aber wozu brauchen wir ein neues Hotel? Und dann auch noch so nah bei der Stadt! Und nebenan gleich die Kurklinik. Schau dich doch mal um: Überall sind Pensionen und Ferienwohnungen, und fast jeder vermietet während der Saison Zimmer. In der Zeitung stand, dass heuer zwanzig neue blaue Gockel verteilt wurden.«

»Was die Leute wirklich wollen, ist kein Gesundheitshof mit dem blauen Gockel, sondern Wellness vom Feinsten«, belehrte sie ihn. »Nach den neuesten Standards. Das sagt mein Boss auch immer, und wenn der Gegenfurtner mit irgendwas recht hat, dann damit.«

Clemens holte tief Luft. Dieser Herbert Gegenfurtner war vom gleichen Schlag wie der Apotheker. Ende fünfzig, selbstgerecht und laut. Er pomadisierte sich das Haar, benutzte herb parfümierte Handcremes, trug einen Siegelring und hielt sich für was Besseres.

Ute Ortmair seufzte aus tiefster Seele. »Wenn ich selber Geld hätte, würde ich im Venus Wellness ein Kosmetikstudio eröffnen.«

Er biss sich auf die Lippen und überschlug in Gedanken ihre gemeinsame Finanzlage. »Die Kredite fürs Haus sind noch nicht abbezahlt. Was würde so was denn kosten?«

»Zu viel«, murmelte sie resigniert. »Dabei müsste man grad jetzt aktiv werden. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. So ein edles Hotel wird so schnell nicht wieder gebaut. Venus Wellness bleibt für lange Zeit einzigartig. Fast alle wollen sich dort engagieren. Es heißt, dass der Simbacher Florian eine Sportboutique aufmacht, und Gegenfurtner plant, wie gesagt, eine Filiale. Neulich hat er mich sogar gefragt, ob ich die vielleicht leiten will. Weil ich ja vom Äußeren so gut in ein edles Hotel passen tät. Hat der tatsächlich so gesagt. Meine inneren Werte kennt der ja nicht.« Sie suchte ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. »Aber wenn ich ihm zusage, kann ich meine eigenen Ambitionen ja wohl völlig vergessen.«

An der Art und Weise, wie sie das Wort Boutique ausgesprochen hatte, war das Ausmaß ihrer Sehnsucht zu erkennen.

»Tut mir leid«, brummte Clemens, und tatsächlich tat ihm alles leid, sein mittelmäßiges Einkommen, die Träume seiner so schönen Frau und vor allem die Begegnung mit den vier Männern der Grafenauer Werbegemeinschaft.

Der Apotheker Korbinian Huber hatte in den letzten Jahren sämtliche Diätpillen, Diätdrinks und hungerverhindernde Müslis seines Sortiments am eigenen Leibe getestet und es inzwischen aufgegeben, an derart unrealistische Möglichkeiten zur Gewichtsreduktion zu glauben. Möglicherweise funktionierte all das ab dem sechzigsten Lebensjahr sowieso nicht mehr. Er war nun einundsechzig. Was ihn schnell und auf Anhieb dünn werden ließe, wäre eine schreckliche Krankheit. Das wusste er von einigen seiner Stammkunden, die blasser und schmaler geworden waren und dann ganz schnell starben. Nein, dann doch lieber kugelrund und gesund. Er war nun mal ein rundlicher Typ, so wie andere Waschbretttypen waren.

Alles an ihm war rund, der Kopf, die Brillengläser, die kleine Stupsnase und das mitten auf seiner Stirnglatze stehengebliebene Haarinselchen. Letzteres war seit dem Fund des gläsernen Sarges auf den terrakottagefliesten Stufen zu seinem Haus ganz plötzlich grau geworden, ebenso wie sein Rauschebart, den er allmorgendlich einshampoonierte und trimmte.

Seine Frau, die gefragteste Vorbeterin der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt, hatte ihm zum Geburtstag einen echt goldenen kugelrunden Ohrring geschenkt. Aber das ging dann wohl doch zu weit. So ausstaffiert würde man ihn in seinem weißen Apothekerkittel schon gar nicht mehr ernst nehmen, zumal schon jetzt alle davon auszugehen schienen, dass er ein begnadeter Witzbold sei. Dabei lachte er nur gern, und was konnte er dafür, dass ihm ständig die neuesten Witze zugetragen wurden?

Sein Großvater hatte einst bei den Zisterzienserinnen des Klosters Thyrnau einen Wandbehang in Paramentenstickerei geordert, der noch immer an der Verbindungstür zu jenem Apothekernebenraum hing, wo Korbinian Huber Salben, Pasten und Beruhigungspillen der ganz besonderen Art zusammenrührte. »Lachen ist die beste Medizin«, hatten die Nonnen in goldenen Lettern darauf gestickt. Korbinian Huber hielt sich daran.

Offensichtlich aber gab es trotz der generationenübergreifenden Huber’schen Charmeoffensive in Grafenau nicht so viel zu lachen – denn Hubers Mitbürger wurden weiterhin krank, brauchten Tropfen, Pillen und Pasten, und seine Apotheke brummte, wie man zu sagen pflegte.

Heute Abend jedoch, im Gasthaus Zur Brezn, hatte keiner gelacht. Nicht einmal der Zahnarzt, der so gern seine strahlend weißen Zähne zeigte. Es war nicht ein einziger Witz erzählt worden, stattdessen hatten seine vier Mitstreiter die größte Zeit schweigend auf ihre gefalteten Hände gestarrt und, ebenso wie er selbst, darüber nachgegrübelt, durch was verdammt noch mal sie aneinandergekettet sein mochten.

Korbinian Huber schlug seinen Mantelkragen hoch und bog rechts in den Parkweg ein. Er brauchte noch ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Insbesondere über die vier Männer, die heute Abend im Hinterstüberl der Brezn mit ihm an einem Tisch gesessen hatten.

Mit finsterer Miene umrundete er den kleinen See und lief bis zur Eissporthalle. In Höhe des Minigolfplatzes bog er rechts ab und betrat den Kurpark. Bei dem Hotelneubau an der Freyunger Straße hatte sich in den vergangenen Wochen einiges getan. Wenn es so weiterging, wäre der Eröffnungstermin zu Silvester kein Problem.

Gestern hatte ihm jemand in der Apotheke erzählt, dass nun endlich die Genehmigung für die verschwenderisch große Bäderlandschaft mit Innen- und Außenschwimmbecken und weitläufigem Park eingegangen war. Und tatsächlich. Jetzt standen schon die ersten Bagger und Kräne bereit. So würden die Fünf-Sterne-Venus-Wellness-Gäste unter sich bleiben und müssten sich nicht unters gemeine Volk im städtischen Kurpark mischen. War vielleicht auch besser so.

Wir sind nicht einmal gleich alt, dachte er plötzlich und sah die vier anderen wieder vor sich. Wir haben nichts miteinander zu tun. Was könnte einer wie ich schon mit dem jungen Lindinger gemeinsam haben, oder gar mit dem Ortmair Clemens? Die sind noch so jung, das könnten meine Söhne sein.

Erst viel später, als er den Parkplatz am Venusberg schon weit hinter sich gelassen hatte und die Lichter der aufragenden Kräne bereits im Nebel verschwunden waren, fiel ihm ein, dass der Lindinger von Haus aus ja gar nicht Lindinger hieß. Der hatte bei seiner Heirat den Namen der Frau angenommen. Und er erinnerte sich, dass der Großvater des jetzigen Lindinger mit seinem Vater bekannt gewesen war. Von Haus aus nämlich hieß der Lindinger Schadenhub. Seine Zahnarztpraxis hatte nach der Hochzeit und mit dem neuen Namen einen erheblichen Aufschwung genommen. Lindinger, das hörte sich nach Linderung an. Ob der Andreas sich die Frau wegen ihres Nachnamens ausgesucht hatte? Korbinian Huber traute dem Milchbubi mit dem modisch glatt rasierten Schädel alles zu. Das war ein ganz ein Ehrgeiziger.

An diesem Abend grübelte Korbinian Huber in seinem kleinen Büro zu Hause bei einem Weißbier über alten Fotoalben und spürte, wie sich seine Frau ihm näherte und ihn berührte. Als er sie kennenlernte, war es gerade das gewesen, was ihn an ihr faszinierte. Dieses Sehen mit den Händen.

Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr nämlich war Tanja blind gewesen und darauf angewiesen, sich die Welt per Tastsinn anzueignen. Trotz der komplizierten und letztlich erlösenden Augenoperation pflegte sie weiterhin alles, was ihr unter die Finger kam, zunächst anzufassen. Jetzt griff sie mit geschlossenen Augen nach seinen Ohren und schob die rechte Hand unter sein Kinn, um seinen Bart zu kraulen. »Was machst du?«

Er drückte sie abrupt beiseite. »Gibt es denn nichts im Fernsehen?«

»Wieso?«

»Ich muss nachdenken.«

»Worüber?«

Er wurde wütend. »Gibt’s eigentlich auch so was wie einen Rosenkranz zur Erleuchtung? Du kannst mal für mich beten, dass ich das Problem löse, das ich im Moment habe.«

»Und wenn wir miteinander sprechen? Vielleicht kann ich dir ja helfen! Ich mach einfach die Augen zu, denn dann seh ich mehr. Sollen wir es probieren?«

Er schüttelte den Kopf. »Da kannst du mir nicht helfen. Davon verstehst du nichts.«

Beleidigt zog sie von dannen, und er hatte ganz kurz ein schlechtes Gewissen. Dass die das aber auch nicht spürte, wenn er einmal am Tag für sich sein wollte. Weiberleut!

Die Erinnerung kam in genau dem Moment, als er das Bild sah. Wie alt mochte er damals gewesen sein? Auf jeden Fall noch nicht alt genug, um selber Bier zu trinken. Er erinnerte sich an seinen ersten Rausch. Irgendein runder Geburtstag war gefeiert worden, wahrscheinlich der seines Vaters. Er selbst war höchstens zehn gewesen und durfte am Fass stehen und Bier zapfen. Auf dem Foto trug er eine große grüne Plastikschürze, die fast bis zum Boden reichte, und einen Trachtenhut mit Gamsbart. Was hatte er albern ausgesehen! Aber damals war er stolz gewesen auf die ehrenvolle Aufgabe. Rechts und links von ihm bogen sich Gartentische mit rot-weiß-karierten Tischdecken unter Bergen von Brezen. Dazwischen standen mit Häppchen beladene Edelstahlplatten.

Meine Güte, was man damals so gegessen hatte, wenn es edel sein sollte. Käsewürfel und Weintrauben auf Zahnstocherspießchen, Tomatenhälften, die sich dank Mayonnaisepunkten als Fliegenpilzköpfchen tarnten, Spargelstangen aus der Dose, umwickelt mit gekochtem Schinken, hartgekochte halbe Eier mit künstlichem Kaviar. Korbinian Huber schüttelte sich. Dann doch lieber Sushi.

Er öffnete die Schublade seines Schreibtisches. War da nicht mal eine Lupe gewesen? Genau, da lag sie. Er betrachtete eingehend die Fotos. Damals waren die Tannen in dem Garten, der nun ihm gehörte, gerade eingepflanzt worden und hatten ihm eben bis zur Hüfte gereicht. Jetzt waren sie schon mehr als fünfundzwanzig Meter hoch und knarzten bedrohlich, sobald der Wind mal stärker blies.

Ganz rechts im Bild stand eine Herrenrunde, die sich zuprostete. Jeder der Honoratioren hielt einen Krug in der Hand, den der kleine Korbinian Huber vermutlich Sekunden vorher frisch gefüllt hatte. In der Mitte dieser Runde strahlte sein Vater, der auch Korbinian Huber geheißen hatte, voller Geburtstagsglück, rechts neben ihm grinste der alte Schadenhub, dessen Enkel sich nun Lindinger schreiben ließ. Neben dem Schadenhub konnte er Alois Gegenfurtner ausmachen. Der war zu der Zeit noch ein einfacher Bauer gewesen. Wer hätte gedacht, dass sein Sohn Herbert mal den Drogeriemarkt leiten würde. Aus Kindern wurden Leute. Trotz allem!

Links von seinem Vater entdeckte er Hannes Ortmair. Der hatte mal die größte Spedition besessen und dann alles verkaufen müssen. Nun arbeitete sein Enkel in der einstigen Firma seines eigenen Opas, und zwar als einfacher Angestellter. Das war bitter.

Korbinian Huber seufzte. Er würde seine Apotheke auch verkaufen müssen – es sei denn, seine Tochter Karin zog sich einen Pharmazeuten an Land. Um so etwas sollte seine Frau mal beten! Aber anstatt sich rechtzeitig darum zu kümmern, hatte sie dem kleinen Mädchen Plüschtiere in Schweinchenform in die Wiege gelegt. Und nun wollte Karin Schweinezüchterin werden und hielt bei Tisch Vorträge über die Intelligenz von Ebern und Sauen. Verkehrte Welt.

Erneut konzentrierte er sich auf das Fotoalbum und versuchte, das Gesicht jenes Mannes zu erkennen, der fast aus dem Bildrand kippte. Hatte der nicht Ähnlichkeit mit dem Simbacher Florian? Oder begann er schon zu spinnen? Je länger er durch seine Lupe starrte, umso einleuchtender erschien ihm die Vermutung. Er hatte sogar plötzlich das Gefühl, sich erinnern zu können. Der Vater des Sportgeschäftbetreibers Florian hatte den kleinen Bierzapfer Korbinian Huber immer wieder dazu ermuntert, doch auch von dem wunderbaren Hellen zu kosten. Unverantwortlich war das gewesen. Korbinian hatte danach nie wieder ein Helles angerührt, sondern nur noch Weißbier getrunken.

Mit dem rechten Zeigefinger umkreiste der Apotheker jetzt die runde Haarinsel auf seinem glänzenden Schädel und grübelte.

Wurden Freundschaften nicht auch weitergegeben, vererbt sozusagen, von einer Generation an die nächste?

Ende der Leseprobe