Die Mafia in Deutschland - David Schraven - E-Book

Die Mafia in Deutschland E-Book

David Schraven

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Beschreibung

Die Mafia ist in Deutschland, und sie wird immer mächtiger. Ganze Mafia-Clans ziehen nach Deutschland, weil sie hierzulande kaum Verfolgung fürchten müssen. Das investigative Autoren-Team enthüllt, wie die Mafia hierzulande Drogen schmuggelt und Bordelle führt, wo sie Geld wäscht und wie Deutschland zur neuen Basis der Mafia wurde. Im Zentrum des Buches steht die Kronzeugin Anna. Die Ex-Mafia-Braut und Mutter ist eine der wenigen Frauen, die überhaupt jemals gegen die 'Ndrangheta ausgesagt haben. Zwei Frauen haben das nicht überlebt. Annas Ex-Mann ist als Mafiosi im süddeutschen Raum aktiv. Ihre Geschichte illustriert und analysiert erstmals die abgeschirmte Welt der Mafia-Clans aus Sicht einer Frau.

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Das Buch

Geräuschlos hat die Mafia ihre Aktivitäten in Deutschland ausgebaut. Das belegen Dutzende Ermittlungsakten von italienischen und deutschen Behörden, die dem investigativen Autorenteam von CORRECTIV, RTL und STERN zur Verfügung standen. In verschiedenen Kapiteln beleuchten sie die Mafia-Aktivitäten. Sie porträtieren einen gesuchten Mafia-Killer, der als Pizzabäcker in Deutschland untergeschlüpft ist. Sie berichten über Drogengeschäfte, Schwarzarbeit, Geldwäsche und Umsatzsteuerbetrug, in die Agrar- und Bau-Mafia verwickelt sind und die den Staat Milliarden kosten. In einem Verzeichnis werden die 52 Clans der 'Ndrangheta dargestellt und wo in Deutschland sie mit welchen Geschäften aufgefallen sind.

David Schraven, Maik Meuser, Wigbert Löer

Die Mafia in Deutschland

Kronzeugin Maria G. packt aus

Econ

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ISBN 978-3-8437-1500-3

© 2017 © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin © für Karten: Peter Palm, Berlin Covergestaltung: FHCM GRAPHICS, Berlin

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Umschlag
Das Buch
Titelseite
Impressum
Vorab
Prolog
Hochwürden und die ’Ndrangheta
Die harte Kindheit der Maria Giordano in Winnenden
Maria, Pasquale und die ’Ndrina von Rossano
Deutschland lernt die ’Ndrangheta kennen
Maria wird Mittäterin
Die Faraos, Deutschlands stärkster Mafiaclan
Marias Leben mit einem Mafioso I
Marias Leben mit einem Mafioso II
Mafiakooperationen am Bodensee
Treffen mit einem Killer
Maria zwischen Gut und Böse
Besuch bei einem Drogenhändler in Solingen
Die Agrarmafia in Deutschland
Auch in Deutschland ist Maria nicht sicher
Maria kommt ins Zeugenschutzprogramm
Die Baumafia in Nordrhein-Westfalen
Maria, Kronzeugin mit fünf Kindern
Der Psychologe der Mafia
Der Frust der Ermittler
Marias Leben heute
Struktur und Verzeichnis der ’Ndrangheta-Clans
Quellenverzeichnis
Autorenteam
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Empfehlungen

Vorab

Man könnte mit dem »Paten« anfangen, der epischen und immerwährenden Verfilmung des gleichnamigen Romans von Mario Puzo. 1972, Marlon Brando, Francis Ford Coppola, drei Oscars. Sätze wie »Ich mache dir ein Angebot, das du nicht ablehnen kannst«. Die Mafia in der Popkultur.

Die Mafia, jene aus Sizilien, Apulien, vor allem aus Kalabrien: Sie agiert ein paar Jahrzehnte später immer noch, grausam, brutal und streng gewinnorientiert. Von ihrem Wirken in Deutschland, das anders als die Hollywoodproduktion keinerlei Glanz versprüht, handelt dieses Buch.

Es berichtet auf der Basis langjähriger Recherchen und Dutzender Dokumente aus den Ermittlungsbehörden von Mördern und Betrügern, Dealern, Erpressern und Zuhältern. In verschiedenen Kapiteln beleuchten wir, wie die Mafia hierzulande vorgeht und wie der Staat versucht, sie daran zu hindern.

Außerdem erzählen wir über viele Kapitel hinweg die Geschichte von Maria Giordano, einer der wenigen Kronzeuginnen, die es in der ’Ndrangheta bisher gab. Die kalabrische Mafia gilt als die verschworenste kriminelle Organisation Italiens, bei der selbst Männer kaum zum Verräter werden. Maria lebt heute in Baden-Württemberg, wo sie vor fünfunddreißig Jahren geboren wurde. Als Jugendliche traf sie am Strand von Rossano einen jungen Mafioso, der sie nicht mehr gehenließ und sie in die archaische Welt der ’Ndrangheta zog.

Maria wurde selbst kriminell und sagte später in verschiedenen Prozessen gegen die Mafia aus. Als Kronzeugin schwebt sie in Lebensgefahr. Ihr Alltag ist wie früher von Angst geprägt, vom Leiden und vom Aushalten, aber auch von dem Mut, den Verhältnissen zu entfliehen und für sich und ihre Familie ein neues Leben aufzubauen. Es soll ein Leben werden, das zumindest ihre fünf Kinder einmal als lebenswert bezeichnen können.

Marias Geschichte und der Report über die Mafia in Deutschland werden von einer Art lexikalischem Teil ergänzt, der vierundfünfzig in Deutschland festgestellte ’Ndrangheta-Clans vorstellt. Er zeigt, woher die einzelnen Clans stammen, welchen kriminellen Geschäften sie nachgehen und wer ihre Verbündeten sind. Die Übersicht enthüllt auch, in welchen Städten und Gemeinden in Deutschland welche Mafia-Clans aufgefallen sind. Die Vernetzung der Clans wird im Internet auf correctiv.org/mafia auf einer interaktiven Karte dargestellt.

»Verzeihe mir, wenn ich Dir nicht mehr habe geben können«

Prolog

Sie haben eine ganze Woche lang hingefiebert auf diesen Donnerstag im Juli 2016. Der kleine Emanuele, fünf, das Grundschulkind Isabella, Stefano, zwölf, und Angela, die vierzehn Jahre alt ist und in einem Rollstuhl sitzt. Francesco, das älteste der fünf Geschwister, hat Geburtstag. Er wird achtzehn.

Am Abend würden sie Pizza essen gehen, hat Maria Giordano ihrem ältesten Sohn versprochen, den sie gebar, als sie selbst noch nicht volljährig war. Pizza essen. Für Maria ist das viel. Und keines ihrer fünf Kinder weiß das besser als Francesco.

Die Familie macht sich ausgehfertig. Antonello, Francescos Stiefvater, zieht eine schwarze Hose und ein weißes Hemd an, Maria ein rotes Abendkleid mit Tüllrock. Die beiden Mädchen tragen weiße Kleider, das von Angela ist mit Perlen und Pailletten besetzt. »Mama, zum Pizzaessen in so feinen Klamotten?«, fragt Francesco.

Zu Fuß erreichen sie gegen 20 Uhr das italienische Restaurant »Da Felice« im Westen von Winnenden. Francesco muss einen Moment draußen bleiben, die anderen schreiten in den Saal, wo schon Gäste warten. Marias große Schwester ist gekommen, Elettra, ihre Mutter Angela, Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten, ihr Schwager. Marias Vater fehlt. Sie hat ihn auch nicht eingeladen.

Die Stühle tragen helle Hussen, auf der eingedeckten Tafel stehen pfirsichfarbene Rosen und Kerzen. Die Unterteller sind aus Silber, die Stoffservietten stecken gefaltet in Kelchen. Auf einem Beistelltisch liegen Geschenke.

Als Francesco den Saal betritt, wirft seine Mutter eine Mischung aus Bonbons und Reis auf ihn. Das soll ihm Glück bringen. Als sie einen Aperitif getrunken haben, zieht Maria einen weißen DIN-A4-Zettel aus ihrer Handtasche. Sie sitzt an der Mitte der Tafel. Es ist die erste Rede, die sie in ihrem Leben halten wird.

Sie trägt ihren Text vor, flink, hastig fast. Sie will durchkommen, schnell und ohne Tränen. Ab und an gelingt es ihr, vom Zettel auf- und Francesco anzublicken. Der sitzt am Ende der Tafel, schaut manchmal zu Boden, kratzt sich etwas verlegen hinter dem Ohr. Auch er ist es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen.

»Lieber Francesco,

ich schreibe Dir diese wenigen Zeilen, um Dir zu sagen, wie stolz ich darauf bin, einen Sohn wie Dich zu haben.

In den vergangenen Jahren haben wir so viel durchgemacht. Mehr schlechte als gute Tage. Ich weiß nicht, ob ich eine gute Mutter war, ob ich Dir den Lebensweg gezeigt habe. Was denkst Du? Wenn ich Fehler gemacht habe, bitte ich Dich um Verzeihung. Auch für mich war es schwierig, so viele Probleme durchzumachen. Ich danke Dir, dass Du mir immer nah geblieben bist – bei jeder Entscheidung, selbst bei denen, die für Dich schwierig gewesen sind.

Du hast Dich nie beklagt. Selbst wenn es Dir schlechtging, hast Du das versteckt.

Verzeihe mir, wenn ich Dir nicht mehr habe geben können, aber ich hatte keine Möglichkeit. Ich hoffe, dass Du mit der Liebe, die ich Dir gegeben habe, und mit Deiner Volljährigkeit ein sorgloses Leben anfangen kannst.

Ich wünsche Dir viel Glück und eine gute Zukunft. Ich liebe Dich. Du bist mein Leben.

Deine Mama.«

Maria schiebt ihren Stuhl zurück, hastet erleichtert zu ihrem ältesten Sohn hinüber, umarmt ihn fest. Ein Kuss auf die Wange, noch einer, noch zwei. Francesco hat feuchte Augen, auch Maria muss weinen.

Es gibt mehrere Gänge, vor allem Fisch. Francesco, der gewöhnlich keinen Alkohol trinkt, bestellt sich zwei Gläser Wein. Irgendwann schneidet er feierlich die Sahnetorten an, eine Eins und eine Acht, jeweils mit dem Wappen des Fußballclubs AC Mailand verziert. Die Kinder rennen herum, lärmen, spielen mit Luftballons. Niemand beschwert sich. Sie feiern bis ein Uhr nachts.

Die Überraschungsparty ist gelungen und für Maria ein Ereignis von hoher Bedeutung. Sie hatte so etwas lange nicht, eine Familienfeier im größeren Kreis. Die Feier von Francescos Volljährigkeit soll sie eine Zeitlang tragen. Doch am nächsten Tag meldet sich eine Schwägerin aus Rossano. Sie ruft nicht an, um Maria zum Geburtstag ihres Sohnes zu gratulieren.

Pasquale, berichtet die Schwägerin, halte sich gerade in Rossano auf.

Rossano ist eine Stadt in Kalabrien, im Süden Italiens, an der Sohle des Stiefels gelegen, dem die italienische Halbinsel auf der Landkarte gleicht. Pasquale ist Marias Exmann, der Vater von Francesco, Angela und Stefano. Als Maria mit Angela schwanger war, verprügelte Pasquale seine Frau so heftig, dass Angela heute im Rollstuhl sitzt. Stefano, das dritte Kind, bekam im Mutterbauch einen Tritt seines Vaters ab, der die Entwicklung seines Kiefers hemmte.

Pasquale wohnt in Ludwigsburg, einer anderen der vielen Klein- und Mittelstädte rund um Stuttgart, keine zwanzig Kilometer von Winnenden entfernt. Er lebt dort völlig unbehelligt, obwohl er in der ’Ndrangheta keine kleine Nummer war. Die ’Ndrangheta ist die archaischste und größte Mafiaorganisation. Man gehört ihr in der Regel an, bis man stirbt oder gegen Mafiosi aussagt.

Maria hat ausgesagt, über Pasquale und all die anderen Mafiamitglieder aus Rossano. Danach war sie untergetaucht, mit Antonello und ihren fünf Kindern. Der italienische Staat nahm sie in sein Zeugenschutzprogramm auf. Sie wechselte die Wohnorte, immer wieder, sechs Jahre lang. Seit Januar 2016 lebt sie in Winnenden.

Die Schwägerin erzählt Maria, dass Pasquale ihre neue Adresse in Deutschland herausbekommen habe. Er habe das in Rossano erzählt. Und er habe hinzugefügt, dass es für ihn okay sei, wenn jemand Maria umbringen würde.

Maria Giordano, 35 Jahre alt, ist Kronzeugin. Sie hat die Omertà gebrochen, das berüchtigte Schweigegebot der Mafia. So etwas vergisst die ’Ndrangheta nicht. Die Überraschungsparty für ihren Sohn Francesco war etwas Besonderes. Sie war wunderschön, aber eine Ausnahme. Der Anruf aus Rossano hat sie nun, einen Tag später, in ihr wahres Leben zurückgeholt.

»Früher oder später klappt das Böse zusammen«

Hochwürden und die ’Ndrangheta

Der Pfarrer ist ein freundlicher Mann mit schwarzem Haar, dichten Augenbrauen und einer etwas ausufernden Kinnpartie. Er wirkt zugewandt, sympathisch – wie ein Schäfer, der sich liebevoll um seine Herde kümmert, um die vielen weißen und auch um die paar schwarzen Schafe. Giuseppe Strangio, der sich »Don Pino« nennen lässt, dient seiner Kirche seit 36 Jahren in San Luca. Das Dorf liegt in Kalabrien am Fuße des Aspromonte-Gebirges. An diesem Tag Anfang September 2016 ist Pfarrer Strangio zur Wallfahrtskirche der Heiligen Jungfrau von Polsi gepilgert. Wie Zehntausende andere Gläubige will er dort, eine Autostunde von San Luca entfernt und auf 865 Meter Höhe, seinem Gott ein wenig näher kommen.

Der Wallfahrtsort Polsi und die wenigen umliegenden Gebäude können auch in diesem Jahr die Massen kaum fassen. Die Wallfahrer verstopfen die Wege und Höfe. Mit ihren blau-weißen Schals und Transparenten, auf denen die Madonna di Polsi zu sehen ist, sitzen sie auf alten Gemäuern und bekreuzigen sich. Einige blicken müde zu Boden, sie sind in der Nacht aufgebrochen und nach Stunden der Wallfahrt erschöpft. Doch in dem Moment, in dem die Figur der Heiligen Maria auf einem Podest an ihnen vorbeigetragen wird, leuchten ihre Augen. Sie drängen zu ihr, recken die Hände, wollen die Statue berühren. Die Mutter Gottes trägt eine Krone und ein rosa Kleid mit langer blauer Schleppe. Auf ihrem Schoß hält sie ein nacktes, ebenfalls bekröntes Jesuskind.

Der Pfarrer Strangio liebt die Wallfahrt, bei der sich tiefer Glaube, körperliche Verausgabung und eine partyähnliche Ausgelassenheit miteinander vermengen. Natürlich, gesteht er ein, hätten sich auch in diesem Jahr wieder einige Mafiosi unter die Pilger gemischt. Und ja, doch, auch einige Menschen aus seinem Dorf San Luca, das eines der Zentren der ’Ndrangheta ist, seien dabei.

Aus San Luca stammten auch jene Mafiosi, die im August 2007 in Duisburg vor einem italienischen Restaurant von einem anderen ’Ndrangheta-Mitglied ermordet wurden. Eines der sechs Opfer damals, der Wirt Sebastiano Strangio, hatte in seinem Lokal ein Bild der Madonna von Polsi aufgehängt.

Die ’Ndrangheta, die größte Verbrecherorganisation Italiens, hat der Madonna von Polsi immer schon die Ehre erwiesen. Vor mehr als einem Jahrhundert, im August 1901, verfasste der Tenente der königlichen Carabinieri aus Reggio Calabria, Giuseppe Passarelli, einen Bericht für die königliche Staatsanwaltschaft. Er erzählte darin auch von einem Treffen der Verbrecher der Picciotteria, jener Organisation, aus der die ’Ndrangheta hervorging: »Man tritt der Vereinigung jedes Jahr am 2. September bei, am Tag des Festes der Madonna von Polsi, neben der Wallfahrtskirche, dort, wo sich die wichtigsten Bosse der kriminellen Vereinigungen der gesamten Provinz und der benachbarten Provinzen treffen.«

Fast hundert Jahre später, im Januar 1993, erzählte der Kronzeuge Filippo Barreca Staatsanwälten von der Wallfahrt in die Berge. Was er beschrieb, war eine Art Klausurtagung der Spitzen der inzwischen mächtigen Mafiaorganisation ’Ndrangheta: »Jedes Jahr trifft sich der sogenannte Crimine bei der Wallfahrtskirche der Madonna von Polsi. Er besteht aus den Vertretern aller Locali der Provinz Reggio Calabria. Ich muss allerdings sagen, dass auch in Mailand, Turin und sogar in Rom Locali bestehen, deren Vertreter eingeladen werden. Im Gipfeltreffen bei der Madonna von Polsi spricht man über die kriminellen Aktivitäten, man löst eventuelle Streitereien und entscheidet über die Strafen für jene Mitglieder, die sich schuldig gemacht haben.«

Die Mafia und die Madonna – man kann wohl von einer Langzeitbeziehung sprechen. Doch so schlimm sei das alles gar nicht mehr, sagt Pfarrer Giuseppe Strangio im Gespräch gut gelaunt und ergriffen von der Religiosität des Ortes.

Wie schlimm es war, zeigen versteckte Aufnahmen italienischer Ermittler aus Polsi. Etliche Führungskader der ’Ndrangheta pilgerten am 1. September 2009 zur Wallfahrtskirche in die Berge. Rund fünfzehn von ihnen bildeten auf dem Kirchplatz einen Kreis unter der Madonnenstatue. Sie waren zusammengekommen, um den ’Ndranghetista Domenico Oppedisano als Capo Crimine anzuerkennen, als höchste Führungskraft der Organisation. Die verdeckten Videoaufnahmen entstanden im Rahmen der Operation »Crimine«, bei der am Ende mehr als dreihundert Mafiosi auf der ganzen Welt festgenommen wurden. »Das Treffen beim Fest der Madonna von Polsi ist einer der wichtigsten Momente für die Vereinigung, denn zu dieser Gelegenheit werden die führenden Funktionen der ’Ndrangheta vergeben«, schrieb die Staatsanwaltschaft Reggio Calabria.

Die Mönche der Klosterkirche spielen dabei, so schilderte es der Kronzeuge Filippo Barreca schon 1993, eine »wichtige Rolle«. Die Logik der Klosterführung sei »immer die gleiche gewesen: Man ist Komplize der mafiösen Clans, die sich in Polsi treffen. Ich will auch sagen, dass die Wahl von Polsi nie zufällig war, sondern gebunden an die Interessen und die Verwicklungen zwischen den Mönchen und den Kriminellen.«

2013 machte der Bischof von Polsi von sich reden. Bevor er in die Großstadt wechselte und das Erzbistum in Reggio Calabria übernahm, setzte Hochwürden Giuseppe Fiorini Morosini sich bei einer Predigt noch einmal mit dem Image des Wallfahrtsortes auseinander. Der Bischof wollte offenbar noch einmal etwas klarstellen.

»In all den vergangenen Jahren war das Fest des 2. September in Polsi die Gelegenheit, um von der Verbindung Polsi-’Ndrangheta zu sprechen«, hob er an und fuhr dann wortmächtig fort: »Historische Ereignisse des letzten Jahrhunderts haben diese Wallfahrtskirche mit dem traurigen Phänomen der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht. Unglücklicherweise wird die Madonna di Polsi als Madonna der ’Ndrangheta bezeichnet. Viele Menschen, die die Zärtlichkeit des wahren Glaubens nicht in sich tragen, stricken aus dieser traurigen Tatsache absurde Luftschlösser von der Mitwisserschaft der Kirche über die organisierte Kriminalität. Doch unser Glaube, unser Gebet, unsere Hoffnung bringen uns dazu zu glauben, dass ausgerechnet von hier das Siegeszeichen über die organisierte Kriminalität ausgehen wird. Es wird aber kein Sieg des Gerechtigkeitsfanatismus, wie die dominante Kultur es gerne hätte, sondern ein Sieg im Sinne der Bekehrung, der Aussöhnung und der Vergebung.«

Worte wie Gerechtigkeitsfanatismus zeigen die kritische Einstellung des Bischofs zur Arbeit der Strafverfolger. Bischof Giuseppe Fiorini Morosini will das Imageproblem ’Ndrangheta anders lösen. Er setzt auf eine Ermahnung der Mafiosi und formulierte das in seiner Abschiedspredigt so: »Ich wage an jene zu appellieren, die mit einer Veränderung ihres Herzens das Unkraut besiegen können. (…) Menschen werden Mitglieder von kriminellen Vereinigungen, weil sie das Leben ohne große Anstrengungen genießen wollen. Das stimmt für die Bosse, aber nicht so ganz für die Hilfsarbeiter, die arm bleiben. Deswegen gibt es Drogenhandel, Schmiergelder, Wucherei unter Verwandten, Erpressungen, Morde und Glücksspiele. Allerdings ist das nur eine Illusion. Man kann mit dem Bösen ein ökonomisches Imperium aufbauen, aber früher oder später klappt es zusammen.«

Recht guten Mutes zeigt sich der Bischof, wenn er die Wirtschaftskraft der ’Ndrangheta, die seit vielen Jahren wächst, irgendwann einfach schwinden sieht. Der Pfarrer Giuseppe Strangio spielt die Bedeutung der kalabrischen Mafia im Gespräch sogar schon in der Gegenwart herunter. Sicherlich sei da auf Seiten der Mafia eine falsch verstandene Religiosität zu beobachten, sagt er. Trotz ihrer Sünden und ohne wirklich zu bereuen, fühle sich die Organisation der katholischen Kirche nahe. »Es ist richtig, wir haben wegen der Fehden einzelner Clans, die sich ja auch in Duisburg abgespielt haben, sehr gelitten.«

Dass die Madonna von Polsi aber zur Madonna der ’Ndrangheta mutiert sei, weist der Mann der Kirche entschlossen von sich. Er hält stattdessen eine hoffnungsfrohe Botschaft bereit, ausgerechnet aus der Region um das ’Ndrangheta-Zentrum San Luca. »Dort«, sagt Giuseppe Strangio, »erleben wir gerade eine Erneuerung.«

Was er damit meint, erklärt er nicht genauer. Vielleicht die Ermittlungen, die den Pfarrer selbst betreffen und von ihm mit keinem Wort erwähnt werden? Seit Mai 2016 untersuchen die Strafverfolger nämlich auch seine Verbindungen zur ’Ndrangheta.

Die Operation trägt den Namen »Fata Morgana«, sieben Personen wurden im Rahmen der Ermittlungen bereits verhaftet, zwölf Unternehmen durchsucht. Die Behörden ermitteln auch gegen den Präsidenten der Provinz Reggio Calabria, den Präsidenten des Fußballvereins Reggina Calcio und sogar gegen einen anderen Staatsanwalt. Sie interessiert sich auch für die Verbindungen zwischen der ’Ndrangheta und den Freimaurern. Über ein Netz von Beziehungen zu Menschen in hervorgehobenen Positionen konnte die ’Ndrangheta unternehmerische Aktivitäten in Reggio Calabria kontrollieren.

Die Staatsanwaltschaft Reggio Calabria beschreibt dabei auch ein Treffen zwischen Pfarrer Don Giuseppe Strangio und zwei Rechtsanwälten, die anschließend verhaftet wurden: Die Gründe der Reise dieser beiden Anwälte nach Polsi seien »nicht religiöser Natur« gewesen. »In einigen abgehörten Gesprächen bei dem Circolo Posidonia diskutierten der Anwalt Antonio Marra und der Pfarrer Strangio über die Orte, an denen sich die ’Ndrangheta [in Polsi] traf. Orte, die dem Pfarrer wohlbekannt waren. Man muss auch bedenken, dass der Pfarrer verschiedene Interessen im unternehmerischen Bereich besaß und in die Politik verwickelt war. Der Anwalt Romeo hatte mit Pino Strangio eine Freimaurerbeziehung.«

Der Pfarrer von San Luca, bestens informiert über die ’Ndranghetista in Polsi, sogar in direkter Verbindung zu ihren Anwälten stehend: Man muss daran denken, wenn man Giuseppe Strangio beim Predigen in Polsi zuhört. Der Geistliche, gegen den im Zuge der Operation »Fata Morgana« ermittelt wird, lobt jetzt den Mut der Polizisten und Staatsanwälte, die gegen die Mafia vorgingen. Sie würden für eine gerechte Sache kämpfen.

»In Italien haben Kinder auch schon mit zwölf Jahren gearbeitet«

Die harte Kindheit der Maria Giordano in Winnenden

»Ich bin im Oktober 1981 geboren, und es wäre besser, wenn das nicht passiert wäre.« Irgendwann in einem der vielen Gespräche, als es um früher geht, sagt Maria Giordano diesen Satz. Er ist die traurige Bilanz eines dreieinhalb Jahrzehnte langen Lebens, doch Maria Giordano spricht ihn fast beiläufig aus. Sie klingt dabei komplett undramatisch.

Dieses Leben hat sie mehrfach aus Baden-Württemberg nach Süditalien und zurück geführt. Es enthält einen Tag, der den Rest ihres Lebens prägen wird. Es enthält Jahre voller Gewalt und Grausamkeit. Drohungen gehören zu diesem Leben, Ängste. Und Ereignisse, die einige Menschen, die darin vorkommen, um nichts in der Welt veröffentlicht haben wollen.

Maria Giordano, fünfunddreißig Jahre alt, geboren im Krankenhaus in Backnang, fünfunddreißig Kilometer nordöstlich von Stuttgart. Eine schmale, nicht sehr große Frau mit schwarzem, langem Haar. Ihre Eltern sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Der Vater Francesco reist 1967 aus Kalabrien an. Er ist sechzehn Jahre alt und allein. Er sucht Arbeit. Die findet er bei einer Schreinerei in Winnenden, einer der vielen Kleinstädte, die Stuttgart umsäumen. Winnenden ist ein überschaubarer, eher unauffälliger Ort. Erst viele Jahre später wird ein Siebzehnjähriger das Städtchen bekannt machen, als er in der Albertville-Realschule Amok läuft und dort und auf der Flucht fünfzehn Menschen erschießt.

Marias Mutter Angela begibt sich gemeinsam mit ihren Eltern in das fremde Deutschland. Sie ist fünfzehn und in einem Dorf bei Neapel aufgewachsen. Angela kommt 1974 in Winnenden an. Sie lernt Francesco kennen, weil der mit ihrem großen Bruder befreundet ist. Geld verdient sie in der Fabrik des Elektrokonzerns AEG.

1976 heiraten Francesco und Angela in Neapel. 1977 kommt Elettra zur Welt, viereinhalb Jahre später Maria. Die jüngere Tochter hat heute keinerlei Erinnerungen an ihre Kleinkinderjahre in Schwaben.

Maria ist drei und Elettra sieben, als der Vater sie und ihre Mutter nach Kalabrien schickt. Francesco Giordano will nicht, dass seine Töchter eine Schule in Deutschland besuchen. Sie sollen unter Italienern lernen, unter Kalabresen, und nicht in einer Klasse mit lauter Deutschen und Türken sitzen. Francesco Giordano ist nach Deutschland gegangen, um dem kargen Alltag Kalabriens zu entfliehen. Doch jetzt, als die Töchter heranwachsen, schickt er sie genau dorthin.

Schon vor Marias Geburt hat er eine Wohnung in seiner Heimat gekauft, in Rossano Stazione an der Ostküste Kalabriens. 200 Quadratmeter ist sie groß und in einem fünfstöckigen Wohnblock mitten im Ort gelegen. Rossano Stazione zählt zusammen mit Rossano Paese rund 36.000 Einwohner und ist damit etwas größer als Winnenden. Zum Strand sind es keine drei Kilometer, im Rücken der Stadt steigt das Gebirge auf.

Francesco selbst versagt sich den Umzug. Er bleibt in Deutschland, arbeitet, schickt jeden Monat zweitausend Mark und reist nur über Weihnachten und Silvester nach Kalabrien. »Meine früheste Erinnerung an meinen Vater ist, wie wir auf ihn warteten«, sagt Maria heute. »Ich kannte ihn eigentlich kaum. Doch wenn er nach vier oder fünf Wochen wieder ging, weinte ich.«

Die Hierarchien sind klar geregelt. Die Mutter befiehlt den Kindern, ohne dabei allzu viele Worte zu verlieren. Als Kind ist sie regelmäßig geschlagen worden und handelt nun entsprechend. »Ich kann mich an keinen einzigen Kuss meiner Mutter erinnern«, sagt Maria im Rückblick. »Sie behauptet, sie hätte uns nachts geküsst, als wir geschlafen haben. Aber davon weiß ich nichts.«

Der Besuch des Vaters während der Weihnachtswochen verbessert die Stimmung kaum. In der Wohnung in Rossano fliegt das Geschirr. Einmal, Maria ist acht Jahre alt, schlägt der Vater der Mutter mit der Faust den oberen Vorderzahn aus. Seine Mädchen verprügelt er nicht. Angst hat Maria trotzdem vor ihm.

Viele Sonntage im Jahr verbringen sie im Haus von Marias Großeltern, das siebzehn Kilometer entfernt von Rossano einsam auf dem Land liegt. Drei Tanten und ein Onkel kommen dann dazu, jeweils mit ihren Kindern. Schweine grunzen, Ziegen meckern, die Kinder können hier auch Kaninchen streicheln. Marias Oma und ihre Tanten kochen in großen Töpfen. Im Garten, wo ein Ofen steht, backen sie Pizza mit Auberginen und Paprika. Wenn der Vater zu Besuch ist, schlachtet er ein Schwein. Er selbst tötet es dann mit einem langen Messer. Die Kinder sehen ihm dabei zu. Später sitzen sie alle gemeinsam um den großen Holztisch, den Marias Großvater selbst gezimmert hat und der 24 Personen Platz bietet. Die frische Sanguinaccio, Blutwurst, mit Nüssen schmieren sie aufs Brot.

Sie spielen mit Barbie-Puppen, sie spielen auf der Straße, sie besuchen die Schule, wo Maria eine kleine Klasse mit dreizehn Schülern erwischt. Die Mutter ist dann zu Hause. Sie muss allerdings ihrem Schwiegervater bei der Olivenernte helfen. Die Bäume stehen an einem Hang. Maria gräbt Rinnen in die Erde. So kann sie die Oliven, die auf den Boden fallen, leichter auflesen.

Es ist die Angst des Vaters vor falschem Umgang an deutschen Schulen gewesen, die Maria, ihre Schwester und ihre Mutter nach Kalabrien gebracht hat. Es ist die Angst der Mutter, die die Familie wieder zurück nach Winnenden führt. »Meine Schwester war fünfzehn, ich war elf, wir waren oder kamen in die Pubertät. Meine Mutter hatte Angst, dass wir Mist bauen. Mist bauen, darunter verstand sie, einen Jungen kennenzulernen. Das gehörte sich nicht, nicht für zwei Mädchen, die keinen Vater zu Hause hatten. Mein Onkel passte zwar auf uns auf, er wohnte sogar direkt gegenüber unserem Wohnblock. Aber das beruhigte meine Mutter nicht. Wenn wir Mist bauen würden, das wusste sie, dann bekäme sie den Ärger.«

Die Erklärung der Mutter hört sich allerdings anders an. Sie teilt den Töchtern mit, dass sie umziehen müssten. Der Vater wolle nicht mehr, dass sie in Rossano lebten. Eine Diskussion erübrigt sich. »Ich habe nur geweint«, erinnert sich Maria. »Ich wollte Rossano nicht verlassen. Ich hörte nur: ›Germania, Germania, Germania‹, und wusste im Grunde gar nichts über dieses Land. Mein Vater hatte uns nie viel davon erzählt, und eigene Erinnerungen hatte ich keine. Ich stellte mir nur vor, dass das Wetter in Deutschland schlecht war. Meine Eltern hatten auch erzählt, dass dort viele Griechen und Türken lebten.«

Es dauert nur drei Tage, dann verlassen sie Rossano. Im schwarzen Fiat Uno ihrer Mutter fahren sie einfach los. Von ihren Freundinnen und der Lehrerin verabschiedet Maria sich nicht mehr.

Mit der Rückkehr nach Deutschland endet für Maria das, was man gemeinhin als Kindheit bezeichnet. Sie hat auch in Rossano schon mit angepackt, der Wohnungsputz etwa oblag ihr und Elettra allein. In Winnenden wird von ihr bald harte Arbeit verlangt.

Der Vater wohnt in einem alten, gedrungenen Fachwerkhaus auf einem Dorf, zwei Kilometer von Winnenden entfernt. Die Wohnung ist achtzig Quadratmeter groß, hat drei Zimmer und liegt im zweiten Stock. Hier hat Maria schon die ersten drei Jahre ihres Lebens verbracht. Es gibt einen kleinen Hof zwischen dem Haus und einer ungenutzten Scheune, ein Streifen, wenige Quadratmeter. Heute bröckelt dort der Beton. Damals, sagt Maria, sah es ähnlich aus.

Sie können kein Deutsch, was es schwer macht, andere Kinder oder Jugendliche kennenzulernen. Doch dazu haben Maria und Elettra ohnehin keine Zeit. Es dauert nämlich nicht lange, da hat die Mutter Arbeit für ihre Töchter gefunden. In einer Fabrik sollen sie Produkte, die vom Band rollen, in Kartons verpacken. Es ist das Jahr 1993, eine Kleinstadt nahe Stuttgart, und es ist Kinderarbeit im Akkord: Je mehr Kartons Maria und die Schwester füllen, desto mehr Geld verdienen sie. Maria ist da anfangs noch nicht mal zwölf Jahre alt. Ihre Mutter Angela wollte sich zu dieser und anderen Fragen über das Leben Marias auf Nachfrage nicht äußern.

»Ich fand es eigentlich ganz normal«, sagt Maria heute. »Ich war an Italien gewöhnt. Dort haben einige Kinder auch schon mit zwölf Jahren gearbeitet. Und meine Mutter wollte auf keinen Fall, dass wir in Winnenden zur Schule gingen. Sie wollte nicht, dass wir Kontakt zu anderen Nationalitäten aufnähmen, zu Deutschen, Türken oder Griechen.«

Die Eltern sind sich einig, nicht nur in ihrer Ablehnung fremder kultureller Einflüsse. Sie orientieren sich an einer Mentalität, mit der sie selbst in Süditalien gelebt haben. »Wenn ein Mädchen dort zwölf oder dreizehn Jahre alt wird, sagt man ihr: ›Ti sei fatta femmina‹, du bist eine Frau geworden. Dann braucht man keine Schule mehr.« Ihre Mutter, fügt Maria hinzu, sei auch selbst früh aus der Schule genommen worden. »Da war sie erst zehn.«

Anfangs gelingt es Maria kaum, in der Fabrik mit dem Förderband mitzuhalten. Die Vorgesetzte, eine vierzigjährige Türkin, macht Druck. Maria gewöhnt sich an die Knochenarbeit, die jeden Morgen um 6.30 Uhr beginnt und nachmittags um 16 Uhr endet. Der Wecker klingelt allerdings bereits morgens um 4.30 Uhr. Ihre Mutter putzt in einem Café, das um 7 Uhr öffnet. Um pünktlich fertig zu sein, braucht sie die Hilfe ihrer Töchter.

Nach einigen Monaten wechseln sie aus der Fabrik in eine große Winnender Freizeiteinrichtung mit Gastronomie. Dort sucht man Mitarbeiter für Grill und Fritteuse. Maria und Elettra bereiten fortan Pommes frites und Bratwürste zu. Die Mutter arbeitet ebenfalls in der Küche. Sie kocht Spaghetti.

Sie beginnen im Juli 1993 und bleiben bis 1996. Die Mutter ist legal tätig, sie hat eine Steuerkarte vorgelegt. Die Kinder erhalten ihre zwölf Mark Stundenlohn bar auf die Hand. Allerdings nimmt die Mutter das Geld an sich. Angela sucht sich neben der Arbeit als Spaghettiköchin auch wieder Nebenjobs. Sie putzt in Privathaushalten. Möglich ist das, weil ihre Töchter mit anpacken.

Der Alltag lässt Maria und Elettra keinen Raum für Freundschaften. Sie treiben keinen Sport, sie hängen nicht mit Gleichaltrigen herum, sie flirten nicht. Ab und zu dürfen sie Feste der italienischen Gemeinde besuchen. Ansonsten haben sie Kontakt zu ihrem Onkel, dem Bruder ihrer Mutter. Der hat fünf noch recht junge Kinder und ist sich mit seiner Schwester einig, dass Maria und Elettra wunderbar auf die kleinen Cousins und Cousinen aufpassen können.

Einmal beschließen die Schwestern zu fliehen. Sie klauen sich Geld aus dem Portemonnaie des Vaters, fahren nach Stuttgart und von dort aus in Richtung Kalabrien. Die Reise läuft reibungslos, doch in Rossano greift die Familie ihres Vaters sie umgehend auf und steckt sie wieder in den Zug zurück nach Deutschland. Maria überlegt auf der langen Fahrt, zur Polizei zu gehen, in Italien oder in Deutschland. Sie will erzählen, wie viel sie arbeiten muss. Aber sie traut sich nicht. Was, wenn die Polizisten ihr nicht glauben würden? Und falls doch: Wie würden die Eltern reagieren, wenn sie erführen, dass ihre Tochter Familienangelegenheiten der Polizei anvertraut? Die Mutter schlägt sie inzwischen nicht mehr. Der Vater aber, da ist sie sich sicher, würde keine Sekunde zögern, sie zu verprügeln.

Sie kehren zurück, arbeiten weiter, kommen meist abends gemeinsam mit ihrer Mutter um acht Uhr nach Hause. Der Vater hat dann oft gekocht, Spätzle oder Spaghetti bolognese. Sie sitzen zu viert am Tisch und essen. Dann gehen sie zu Bett. Vor dem Einschlafen beten sie leise darum, die heilige Madonna nicht zu verärgern.

»Ich will sie. Und ich nehme sie mir«

Maria, Pasquale und die ’Ndrina von Rossano

Manchmal fährt die Familie nach Italien, sie machen Sommer-Urlaub in Rossano. 1997, Maria ist sechzehn Jahre alt, wollen sie einige Wochen bleiben. Weil die Mutter mit Wasser und Sand wenig anfangen kann, fährt sie ihre Töchter gegen Mittag zum Strand. Die Lidi sind gut gefüllt während der Sommermonate, Schwimmer, Familien, ältere Leute und Verkäufer von Sonnenbrillen und gefälschten Markenklamotten – ein schönes, nicht ungewöhnliches Stück Mittelmeerküste.

An einem dieser Strandtage lässt die Mutter die Töchter am Lido »Baffo Bianco« raus. Maria und Elettra genießen die Freiheit, auch wenn sie zeitlich begrenzt ist. Ihre Mutter wird sie am Abend wieder abholen.

Sie rauchen. Maria raucht schon länger, heimlich, seit sie dreizehn ist. Ein Typ kommt vorbei, älter als Maria, älter auch als Elettra, er bittet um Feuer. Maria hat die Begegnung gespeichert. Sie hat sich oft erinnert, wie er ablief, der erste Kontakt mit Pasquale Rizzo. »Ich trug einen Bikini, hatte aber kurze Hosen an. Er hatte eine Badehose an. Er wirkte eher ruhig. Schön war er nicht. Er fragte uns, wo wir herkämen, denn er hätte uns noch nie gesehen. Da haben wir ihm erzählt, dass wir auch aus Rossano seien, jedoch seit einigen Jahren in Deutschland lebten.«

Pasquale hat grüne Augen und hellbraune, fast blonde Haare, die er kurz geschnitten trägt. Seine Haut ist hell. Er ist schlank und etwa 1,75 Meter groß. Wenn er spricht, grundsätzlich im kalabrischen Dialekt, zischen die Worte durch seine Zähne. Manchmal ist er deshalb schwer zu verstehen. Seine Worte unterstreicht er durch ausufernde Gesten.

Maria hat nahezu keine Erfahrung, sich mit Jungs oder jungen Männern zu unterhalten. Doch sie bleibt gelassen in dem Gespräch, in das Pasquale Rizzo sie und ihre Schwester verwickelt. Nach ein paar Minuten hört sie ihn fragen, ob sie am Abend gemeinsam eine Pizza essen gehen wollten.

Das wird ihre Mutter niemals erlauben, die Schwestern wissen das. Doch sie sagen Pasquale zu.

»Das hatten wir noch nie gemacht. Wir zogen uns am Abend heimlich Jeans und Turnschuhe an und verließen leise die Wohnung. Pasquale holte uns ab mit einem grünen Fiat Uno, der ein Turiner Kennzeichen besaß. Es stellte sich heraus, dass Pasquale bereits zweiundzwanzig Jahre alt war.«

Das Abendessen dauert kaum mehr als eine Stunde, und nachdem er bezahlt hat, fährt Pasquale Maria und Elettra wieder nach Hause. Angela allerdings ist hellwach. Sie hat auf ihre Töchter gewartet und will sofort wissen, wo die beiden sich aufgehalten haben. Nur etwas spazieren, entgegnet Elettra. Das glaubt ihr die Mutter nicht und holt sofort den Bruder ihres Mannes, der gegenüber wohnt. Maria und Elettra sind sechzehn und einundzwanzig Jahre alt, eine Heranwachsende und eine junge Erwachsene. Vor dem Onkel aber, der nun ihren Vater vertritt, haben sie Angst. Sie erzählen ihm und der Mutter die Wahrheit.

Am nächsten Tag bestellt die Mutter Pasquale per Telefon ein. Sie hat seine Nummer im Telefonbuch gefunden. Der Onkel kannte Pasquales Familie. Sowohl die Mutter als auch der Onkel sprechen persönlich mit Pasquale. Maria sitzt mit dabei. Pasquale bleibt ruhig. Es sei nichts passiert, antwortet er, aber ja, er wolle seine Verantwortung übernehmen. Er schaut zu Maria und sagt: »Ich will sie. Und ich nehme sie mir.«

Was denkt eine Sechzehnjährige, wenn ein Zweiundzwanzigjähriger, den sie kaum kennt, mit zwei kurzen Sätzen bekanntgibt, dass sie seine Frau wird? »Ich dachte nur, ich wollte ihn nicht«, sagt Maria im Rückblick. »Meine Mutter allerdings gab zu bedenken, die Nachbarn hätten uns ja in sein Auto einsteigen sehen und würden sicher schon über uns reden. Es war unglaublich. Es war lächerlich. Aber es war so. Pasquale wollte mich haben, und nach einem Pizzaessen zu dritt hielten meine Mutter und mein Onkel und dann natürlich auch mein Vater das für vollkommen angemessen. Ich habe gar nicht mehr widersprochen.«

Pasquale klingelt nun regelmäßig an. Er bringt Schmuck, Ohrringe, Ketten, ein Collier. Er bringt Blumen. Er bleibt zum Mittagessen. Er sagt, er arbeite als Bauer und manchmal mache er auch etwas mit Autos. Die Urlaubszeit endet, Angela und ihre Töchter verharren in Rossano. Sie bleiben bis Oktober in ihrer Wohnung, fast täglich besucht von Pasquale.

Maria fügt sich ihrem Schicksal. Pasquale wirkt weiterhin ruhig. Sie liebt ihn nicht, sie findet ihn auch nicht interessant. Aber sie denkt, durch ihn könnte sie ihrer eigenen Familie entkommen.

Als auch Francesco Giordano nach Kalabrien gekommen ist, wird die Causa ausverhandelt. Marias Vater trifft sich mit Pasquales Vater und mit Pasquales ältester Schwester. Er will wissen, was geschähe, wenn Pasquale Mist machen würde. Pasquales Vater kann ihn beruhigen. Damit ist die folgenreichste Entscheidung in Marias Leben getroffen.

Hinter Maria liegt zu diesem Zeitpunkt bereits der Besuch eines Bierfestes. Wie viele andere italienische Orte feiert auch Rossano im Frühherbst eine festa della birra. Höflich hatte Pasquale bei Marias Mutter angefragt, im Stadtteil Piragineti, wo er wohne, werde bei Wurst und Pommes auf deutsche Art gefeiert. Nur die Musik, vorgetragen von Bands auf der Bühne, sei kalabresisch.

Die Mutter willigt ein, schickt aber als Anstandsdame ihre ältere Tochter mit.

An diesem Abend erfährt Maria, dass Pasquale in seinem Viertel ein geachteter Mann ist. Mehrere Leute sprechen ihn in respektvollem Ton mit »Compare« an, Kumpel. Maria versteht, dass irgendetwas anders ist mit ihrem Begleiter. Aber sie stellt ihm keine Fragen. Auch als Pasquale ihre Schwester Elettra wegschickt, weil er jetzt mal allein mit Maria reden müsse, sagt sie nichts. Elettra geht. Und Pasquale führt Maria in eine Wohnung.

»An diesem Abend haben wir miteinander geschlafen«, erzählt Maria. »Es war mein erstes Mal, und ich hatte keine Ahnung von Sex. Als ich zwölf war und erstmals meine Tage bekam, da wusste ich nicht, was mit mir passierte, und dachte, ich müsse sterben. Damals ging ich zu meiner Lehrerin, und sie hat mich aufgeklärt. Ich wusste also, dass Menschen miteinander schlafen, hatte aber keine Ahnung, wie so etwas abläuft. Mit meiner Schwester hatte ich auch nicht darüber gesprochen, und meine Mutter hatte nur gesagt: ›Wenn du heiratest, klärt dich dein Mann dann schon auf.‹«

Was dann passiert, beschreibt Maria mit ruhigen Worten. »Pasquale hat mich geküsst und ist mir dann nähergekommen. Ich habe dabei keine Liebe gespürt. Ich wusste schon, dass ich ihn heiraten musste. Ich hatte Angst. Deshalb habe ich mich nicht gewehrt. Ich hoffte, dass ich auf diese Weise möglichst schnell aus der Wohnung und zurück auf das Bierfest kommen würde.«

Pasquale spricht nicht, aber er legt ein helles Handtuch aufs Bett. Das Handtuch bleibt in der Wohnung, als er Maria wieder mit nach draußen nimmt. Es hat einen Blutfleck und ist sein Beweis, dass Maria noch Jungfrau ist, als er mit ihr schläft. Es soll ihm als Sicherheit dienen.

Maria und Pasquale haben das Fest nur für eine halbe Stunde verlassen. Als sie zurückkommen, holt Pasquale Bier und Würstchen. Pasquale ist in Feierlaune. Später bringt er Maria nach Hause.

Wir haben Pasquale zu diesem für Maria zentralen Erlebnis befragen wollen und ihm weitere zweiundachtzig Fragen vorgelegt mit der Bitte um Stellungnahme. Er wollte sich dazu nicht äußern.

Ende Oktober fährt Maria mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zurück nach Deutschland. Ihr Vater bleibt noch. Im November fühlt sie sich unwohl. Und sie bekommt ihre Tage nicht. Sie vertraut sich ihrer Tante Elisabetta an. Maria erzählt von dem Bierfest.

Die Tante sagt, sie erkläre es der Familie, aber vorher wolle sie mit Maria zum Arzt gehen, um sicher zu sein. Maria ist dankbar für die Unterstützung. Sie weiß nicht, dass die Tante ihrer Mutter alles berichtet.

Das Ergebnis ist eindeutig und in den Augen ihrer Mutter eine Schande. Vor der Hochzeit und trotz Begleitung durch die ältere Schwester! Der Vater, stellt Angela sofort klar, darf von der Schwangerschaft erst einmal nichts wissen.

Sie wählt Pasquales Nummer, und als dessen Schwester abnimmt, bittet Marias Mutter nur, Pasquale ans Telefon zu holen. Der kommt und hört einen Satz: »Jetzt heiratest du sie.« Am nächsten Tag fährt Marias Mutter mit Maria nach Kalabrien. Der Vater, der inzwischen wieder in Winnenden ist, bekommt das nicht mit. Sein Bruder in Rossano ruft ihn später an. Er sagt ihm nur, er solle herkommen. Mit dem Bus reist Francesco Giordano seiner Frau und seiner Tochter hinterher.

»Wir Kalabresen besprechen wichtige Dinge nicht am Telefon. Wenn etwas passiert, reden wir persönlich darüber. Mein Vater kam um vier Uhr morgens an, mein Onkel hat ihn dann aufs Land zu meiner Oma gefahren. Dort hat er ihm gesagt: ›Ich muss dir einen bitteren Kaffee einschenken: Maria ist schwanger.‹«

Francesco Giordano schlägt mit der Faust auf das Autodach, einmal, zweimal, fünfzigmal, so erzählt es später der Onkel. Maria hat Angst. Sie ruft bei ihrer Oma an, fragt, ob sie besser Rossano verlassen soll. Doch der Vater fängt sich. Er ruft in der Wohnung in Rossano Stazione an und weist die Mutter an, viel zu kochen. Dann lädt er Pasquale ein, dessen Vater und beide Schwestern. Pasquales Mutter lebt nicht mehr. Am Abend, als alle am gedeckten Tisch sitzen, verkündet Marias Vater, dass seine Tochter schwanger und was nun zu tun sei.

In Maria allerdings regt sich in den nächsten Wochen Widerstand. Die Hochzeit ist für den März avisiert, aber sie versucht ihrer Mutter klarzumachen, dass sie Pasquale nicht heiraten will. Doch die Mutter antwortet auf jeden Vorstoß ähnlich. »Es ist ein Skandal«, sagt sie. »Wer würde dich denn jetzt noch nehmen?«

Maria bleibt in Kalabrien, Pasquale besucht sie bis zur Hochzeit täglich. Er zieht nahezu ein in die Wohnung, die Marias Vater einst für seine Familie gekauft hat, nur die Nächte verbringt er woanders. Maria beginnt langsam zu verstehen, wen sie da nun heiraten soll. An einem Tag steht ein Kumpel Pasquales vor der Tür. Als Maria öffnet, fragt er: »Wo ist denn mano emort?« So nennen seine Freunde ihn. Unsichtbare Hand. Weil er seine Geschäfte durchführt, ohne dabei bemerkt zu werden.

Pasquale ist nicht da an diesem Tag, und Maria fragt den Freund, was er denn von Pasquale wolle. »Komm her«, entgegnet der und reicht ihr ein Kuvert mit einer Million Lire. Das entspricht etwa 1010 Mark, heute rund 515 Euro. Maria erzählt ihrer Mutter von der Übergabe und erhält als Antwort eine Regel: »Egal was du siehst, egal was du hörst, du musst dich um deine eigenen Sachen kümmern. Misch dich nicht in die Angelegenheiten deines Mannes ein.«

Das sieht auch Pasquale so, als er später zu Maria kommt. Maria fragt ihn, wofür er so viel Geld in bar bekomme, Pasquale antwortet, dass sie das nichts angehe. Maria weiß nicht, was die ’Ndrangheta ist, sie fühlt nur, dass irgendetwas komisch ist. Doch erst einmal hat sie sich nun um die Hochzeit zu kümmern.

Blumen und Bonbonnieren, Menü und Hochzeitskleid, all das wählt sich leicht aus. Da Maria noch minderjährig ist, muss ein Jugendrichter der Ehe zustimmen. Das Paar spricht vor, der Richter verneint. Denn Pasquale Rizzo ist vorbestraft.

Das Paar protestiert und stellt einen neuen Antrag. Diesmal händigt der Jugendrichter Formulare aus. Marias Vater soll sie unterschreiben und so die Verantwortung für die Verbindung übernehmen, die der Richter selbst für verantwortungslos hält. Und das tut Francesco Giordano dann auch. Unter wessen Haube er seine Tochter bringt, scheint ihm weniger wichtig als die Tatsache, dass er sie unter die Haube bringt.

»Meine Eltern hätten mich schützen sollen«, sagt Maria heute mit Blick auf Pasquales Vorstrafe. »Doch meine Eltern haben mich heiraten lassen. Alles andere wäre für sie eine Schande gewesen. In Winnenden gab es Ende der neunziger Jahre durchaus alleinerziehende Mütter. Aber mich einfach mitzunehmen nach Deutschland, das war für sie keine Alternative.«

Der Grund für die Vorstrafe ihres Mannes – Pasquale hat Drogen verkauft und ist dabei aufgeflogen, angeklagt und verurteilt worden – war für Maria einstweilen kein Thema. In den Wochen vor und ebenso nach der Hochzeit beherzigt sie nämlich konsequent, was ihre Mutter und auch ihr Mann beschieden haben. Wenn Pasquale mit seinen Freunden über Dinge spricht, die »zu erledigen« seien, fragt sie nicht nach. Wenn er unterwegs das Auto verlässt und sie Stunden warten lässt, verharrt sie auf dem Beifahrersitz, als wäre sein Verhalten nicht weiter ungewöhnlich. Verlässt Pasquale spät am Abend noch einmal die Wohnung, spricht sie ihn am nächsten Morgen nicht darauf an.

Die Hochzeit lässt, so wirkt es auf die Familien der Brautleute, keine Wünsche offen. Ende März 1998 wärmt die Sonne bereits stark in Kalabrien. Maria trägt ein weißes Krönchen und ein Organza-Kleid, das mit Pailletten bestickt ist. Ihre Oma hat es gekauft. Die Schleppe des Kleides misst elf Meter.

Eine Friseurin erscheint, eine Kosmetikerin, die Band reist eigens aus Neapel an, der Heimat von Marias Mutter. Schon vor der Trauung am Mittag treffen Verwandte ein, Dutzende. Mittags versammeln sich etwa 150 Menschen in der Kathedrale Maria Santissima Achiropita, die inmitten der Altstadt von Rossano liegt, auf einem Platz mit Gefälle, umgeben von prächtigen Bürgerhäusern. Die Menschen in Rossano glauben, die heilige Madonna Achiropita habe die Stadt im Zweiten Weltkrieg vor den Bomben der Alliierten beschützt. Es ist alles andere als gewöhnlich, in der Kathedrale getraut zu werden. Pasquale hat es irgendwie hinbekommen.

Die Zeremonie dauert zwei Stunden. Danach fährt die Festgesellschaft zwanzig Kilometer in das Hotel »Oleandro«, das nahezu komplett von Wasser umgeben inmitten der Seen von Sibari liegt. Es gibt Austern und Kaviar. Das Brautpaar nimmt Umschläge entgegen, gefüllt mit Lira-Noten. Nicht jedes Kuvert allerdings stammt von den Gästen. Auch Leute, die nicht eingeladen sind, schenken Pasquale und seiner Frau hohe Geldbeträge.

Pasquale Rizzo, das wird er Maria viel später erzählen, war vierzehn, als er für die ’Ndrangheta zu arbeiten begann. Es waren die späten achtziger Jahre, in Rossano hatte Pasquale Tripodoro das Sagen. Pasquale stand in Kontakt zu Salvatore Morfò, der für den Oberboss Tripodoro arbeitete. Morfò ließ Pasquale zuerst illegal erworbene Feuerwerkskörper verstecken und weiterverkaufen.

Als Pasquale Rizzo siebzehn Jahre alt war und die letzte Prüfung der Scuola Media anstand, der nach der Grundschule verpflichtenden Mittelschule, verspürte er große Angst. Morfò versprach, ihm zu helfen. Am Nachmittag nach der Klausur, so schilderte es Pasquale, ging Morfò mit seinem Lehrer einen Kaffee trinken. Pasquale bestand. Einige Jahre später, als Pasquale durch die Führerscheinprüfung gerauscht war, lief es ähnlich. Diesmal schickte Salvatore Morfò jemanden in die Fahrschule. Beim nächsten Versuch bestand Pasquale. »Er war noch ein Kind, als er zu ihnen stieß, sie haben ihn großgezogen«, sagt Maria heute.

Nach der Hochzeit machen Pasquale und Maria für zehn Tage Urlaub – in Rossano. Es ist Pasquales Idee, die Flitterwochen in einem Hotel vor Ort zu verbringen. Maria hat ihm nämlich bereits gesagt, dass sie auf jeden Fall und sehr bald nach der Hochzeit nach Deutschland ziehen will. Pasquale nutzt die letzten Wochen. Er hat noch viel zu tun.

Salvatore Morfò, sein Boss, sitzt im Gefängnis. Pasquale ist ihm eine wichtige Stütze, um das Geschäft mit Drogen, Prostitution und Erpressungsgeldern am Laufen zu halten und vor allem: zu verteidigen. Wenn ein Boss inhaftiert wird, läuft er stets Gefahr, dass andere ihn aus seinen kriminellen Aktivitäten verdrängen. Und so ist es auch in der ’Ndrina in Rossano.

’Ndrina bezeichnet in der Struktur der Mafiaorganisation ’Ndrangheta die untere Einheit. Mehrere ’Ndrine bilden ein Locale. Über einem Locale steht dann das Crimine, das meist fünfköpfige Führungsgremium.

»In Kalabrien existieren heute um die zweihundert Locali mit mindestens 20.000 Mitgliedern«, sagt der Staatsanwalt Nicola Gratteri, der seit Jahren gegen die ’Ndrangheta ermittelt und Prozesse gegen ihre Mafiosi führt, zuerst in Kalabriens größter Stadt Reggio Calabria, dann in der Hauptstadt Catanzaro. Gratteri, 58, hat sich Aufbau und Struktur der ’Ndrangheta in gewisser Weise erarbeitet. Seine Erkenntnisse flossen in politische Analysen und Sachbücher ein. Er ist vielleicht der größte Kenner der Organisation.

»Erst seit 1930 spricht man von der ’Ndrangheta, davor hat man sie Picciotteria genannt«, erzählt der Staatsanwalt. Jedes Locale werde von einem Trio geführt, der sogenannten Copiata. »Da ist der Capo Locale, der über Leben und Tod entscheidet, von Gegnern oder auch von Leuten, die dem Locale den Rücken kehren. Der Contabile führt die Kasse, zahlt den Mitgliedern des Locale Geld aus und finanziert auch die Anwälte. Außerdem kümmert er sich darum, dass die Gefangenen mit dem nötigen Geld ausgestattet sind, ebenso deren Familien. Der Crimine schließlich organisiert die kriminellen Operationen. Er entscheidet, nach welcher Strategie das Locale vorgeht und verfügt auch über die Waffen. Sie sind auch die wichtigsten Figuren bei der Taufe eines Mafioso.«

Aus etlichen Verhören und mitgeschnittenen Telefonaten hat Nicola Gratteri erfahren, dass jeder ’Ndranghetista einen harten Ausleseprozess hinter sich hat. »Er durchläuft einige Hierarchiestufen, muss sich immer wieder beweisen. Es ist deutlich einfacher, den beiden anderen großen Organisationen beizutreten, der Camorra oder der Cosa Nostra.«

Akten der Anti-Mafia-Direktion Catanzaro zeigen die Verhältnisse in der ’Ndrina in Rossano, in die Maria hineingerät. Sie ist zunächst dem Locale von Sibari zugeordnet, dann dem Locale des Nachbarortes Corigliano und schließlich, ab Ende der neunziger Jahre, dem Locale Cassano. Die Ermittler nennen die ’Ndrina in Rossano, die hier »jegliche illegale Aktivität kontrolliert«, die »Ndrangheta-Organisation Acri-Morfò«.

Bis 1994 war Pasquale Tripodoro Chef dieser Einheit, er befehligte die Neustadt Rossano Stazione und die Altstadt Rossano Paese. Als Tripodoro verhaftet wurde, entschied er sich, als Kronzeuge gegen die ’Ndrangheta auszusagen. Sein Vertrauter Salvatore Morfò, der schon lange als Tripodoros rechte Hand wirkte und in der Organisation respektiert und gefürchtet war, rückte an die Spitze der ’Ndrina, obwohl er gerade im Gefängnis saß. Er ist zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt.

Morfò verdient nicht nur an Erpressungen, Waffen- und Drogenhandel. Er habe sich, so steht es in einem Ermittlerbericht aus dem Jahr 2013, auch in legale Branchen »eingeschlichen«. Morfò besitze in Rossano »das Monopol über die Brotlieferung, die Bierlieferung und über die Lieferung von Mineralwasser. Er hat dafür verschiedene Unternehmen gegründet, die auf den Namen seiner Tochter Lucia eingetragen sind und die von seinen Söhnen Isidoro und Matteo und von seinem Schwiegersohn Massimo Graziano verwaltet werden.« Die einzelnen Firmen sind in der Akte aufgelistet.

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