Die Männer meines Lebens - Mary-Louise Parker - E-Book

Die Männer meines Lebens E-Book

Mary-Louise Parker

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung an die Männer – die Autorin und Schauspielerin Mary-Louise Parker schreibt an die Männer ihres Lebens: zornig, zärtlich, haarsträubend komisch und voller Gefühl. Mary-Louise Parker hat 32 Briefe an die Männer ihres Lebens geschrieben. In herzzerreißenden Liebeserklärungen schreibt sie an ihren verstorbenen Vater, den sie schmerzlich vermisst, an ihren Großvater, den sie nie kennengelernt hat, an ihren Sohn, den sie abgöttisch liebt. Sie schreibt ehemaligen Liebhabern und den Wildfremden, die der Zufall manchmal zu Zeugen unserer verletzlichsten Momente macht. Da ist der Surfer, der nur ein Kleidungsstück besitzt – einen Lendenschurz, der Schauspiellehrer, der sie fast durchfallen lässt, der zukünftige Mann ihrer Tochter, der Feuerwehrmann, dem sie am 11. September in New York auf der Straße in die Arme fällt, der krebskranke Mann, mit dem sie auf einer Cocktailparty eine schmerzlich kurze, innige Freundschaft schließt. Mary-Louise Parker, mit ihrer Hauptrolle in der Serie ›Weeds‹ als Schauspielerin weltweit bekannt geworden, begeistert mit ›Die Männer meines Lebens‹ Kritik und Leser gleichermaßen. Ein Buch über das Wichtigste: die Liebe, in all ihren Facetten.

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Seitenzahl: 281

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Mary-Louise Parker

Die Männer meines Lebens

Aus dem Amerikanischen von Anette Grube

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungLieber MannLieber GroßvaterLieber DaddyLieber Junge vom Stamm der YaquiLieber DraufgängerLieber BewegungslehrerLieber BlueLieber AbrahamLieber PopeyeLieber aus der Zeit gefallener MannLieber Pater BobLiebe Miss MädchenLieber Mann mit den großen FüßenLieber ExfreundLieber MentorLieber junger LemanLieber Poetry ManLieber ZerberusLieber Rafiki YanguLieber FeuerwehrmannLiebe NASALieber TaxifahrerLieber PflegerLieber GeschichtenerzählerLieber OnkelLieber RettungsankerLieber NachbarLieber GemLieber kleiner UhuLieber DoktorLieber TraummannLieber NotfallkontaktLieber Mann, der in Zukunft meine Tochter lieben wirdLieber AusternsammlerDanksagung

Für meine Mutter

Lieber Mann,

mannhaftes Geschöpf, das gut riecht, auch wenn es nicht gut riecht, du erwachst nur sehr langsam, mit zerzaustem, abstehendem Haar und einem leicht verwirrten Ausdruck im Gesicht, als wärst du sieben oder fünfundsiebzig; für dich, weil du eine Frau mit einem gesunden Polster an Jahren oder Pfunden bemerkst und ihr bewundernd nachpfeifst und es auch so meinst; weil du der Ansicht warst, dass beide kleinen Teppiche schön wären, wirklich; für dich, der du meine Fliegengittertür und meine Einstellung geradebiegen und die meisten Gläser aufschrauben kannst; für dich, der du verschlüsselst, einen Puck schießt, einen anständigen Schrank bauen und ein perfektes Sandwich machen kannst; für dich, der du den Kindern, die Hershey-Riegel verkauften, zwanzig Dollar gegeben und in deinem Flanellhemd drei Stunden mit mir an der Gepäckausgabe gewartet hast; für Sie, Sir, der Sie meinen Puls genommen, sich meinen Schwachsinn angehört, meine Bestellungen entgegengenommen haben; für dich, erwachsener Junge, Gentleman, Soldat, Professor oder Höhlenmensch; für dich und den Mann am Getränkestand; danke, dass du auf der Motorhaube des Wagens gelegen und zugeschaut hast, wie die Sterne abstürzten, danke für die Tour durch die Aufzugsanlage, durch die Schallschutzkabine, die kleine Straße; danke für das Kaleidoskop, den Genesungstequila, das Gemälde, die Wahrheit; danke für die braunen Diamanten und die Austern; für dich, der du mich über den Parkplatz zur Notaufnahme und die Treppe hinaufgetragen hast, und für dich, der du hin und wieder auftauchst, um mich zu verwirren und zu quälen; und für dich, der du immer in meiner Umlaufbahn geblieben bist, du hast dich für mich eingesetzt, ich werde es nicht vergessen; für dich, der es nicht begreift, und für dich, der die Fernbedienung, den Hund oder komplett die Orientierung verloren hat. Für dich, so unerlässlich und ungestüm, den zu verstehen ich versucht habe; für dich, der du transportiert, getröstet und niedergeschmettert hast, manchmal gleichzeitig. Ich habe es noch; das, von dem du sagtest, es gehöre mir, ich habe es aufbewahrt zusammen mit den Erinnerungen, obwohl ich das Wort »Erinnerungen« nicht ausstehen kann, wegen seines kitschigen Klangs und der schwermütigen Friedhofsimplikationen, aber es ist nun einmal gefallen, und ich berichte davon. Manche werde ich vielleicht falsch wiedergeben, andere würde ich gern für immer vergessen, dennoch danke dafür, und das

das ist für dich, Zerberus, süßes Ungeheuer mit den vielen Gesichtern,

und für Sie, Pater Bob,

für den Hirschtänzer, weil er mich gesehen hat,

für den Maler und den Dichter,

für die NASA und den Taxifahrer, was soll ich sagen, außer dass es falsch war und mir leidtut,

für den süßen Blue und den freundlichen Abe,

für die Feuerwehrmänner, insbesondere den einen,

für Onkel und den Zeitungsjungen und die Ziegen,

für den kleinen Uhu, was für eine Ehre, bei deinem ersten Flug dabei sein zu dürfen,

für Rafiki Yangu und für meinen Mentor und meinen Doktor,

für die, die ich nie kennengelernt habe, und für die, die nie kennengelernt zu haben ich mir oft wünsche.

 

Vor allem für dich, Daddy. Das bist du in mir, der Blick in die Ferne. Du bist die Gedichte und die guten Werke und die Gläser mit Bonbons, die ich überall verstecke. Du bist, was mich unbezwingbar macht, und dank dir weiß ich, wie es weitergeht, wenn ich mich in jeder nur erdenklichen Beziehung angeschlagen fühle. Dank an den tatsächlichen Himmel und an euch andere, die mein unglaubliches und so weiter, das ist

 

für euch

Lieber Großvater,

es herrscht wieder Krieg in der Welt. Zum zweiten Mal zu deinen Lebzeiten.

Dein einziger Sohn ist seit elf Monaten in Übersee. Das Letzte, was du gehört hast, ist, dass er und seine Kameraden einen Brückenkopf irgendwo an der philippinischen Küste errichten wollten. Wenn dein Junge John dabei war, dann kannst du darauf wetten, dass es ein Riesenerfolg war. Er ist neunzehn Jahre alt und bemerkenswert begabt fürs Leben.

Wenn es dir möglich wäre, ihm in diesem Moment nachzuspionieren, würdest du einen jungen Mann sehen, der, in einen Regenumhang der Armee gewickelt, am Rand eines Reisfelds schläft. Die Artillerie schießt über die Straße, aber der Lärm geht in den heftigen dunklen Regenschauern unter, und dein Sohn schläft so lange, bis das Wasser ihn völlig umgibt und hochhebt. Als er erwacht, treibt er auf dem Rücken.

In zweieinhalb Wochen wird er zwei Jahrzehnte vollenden, und du hast dir etwas ausgedacht.

Du fährst zu der einzigen dir bekannten Bäckerei zwei Orte weiter. Die Frau hinter dem Ladentisch wischt sich die Augen an der Schürze ab, als du sie endlich um den größten Laib Roggenbrot bittest, den sie hat. Du hast ihr die Ohren vollgequatscht von deinem Sohn, und sie weigert sich, dich für das Brot bezahlen zu lassen, und schenkt dir obendrein noch ein paar Zimtschnecken. Du dankst ihr überschwänglich und sagst, dass dir gefällt, wie gut ihre Bluse zu ihrer Augenfarbe passt.

Für die Rückfahrt hast du eine Flasche Gin dabei. Sie ist im selben Augenblick ausgetrunken, als dir das Benzin ausgeht, und du am Straßenrand anhalten musst. Ein netter Kerl, ein Bergarbeiter wie du, nimmt dich mit, und du erzählst ihm von deinem Plan für den Geburtstag deines Sohnes. Fremden gegenüber bist du offen. Und abgesehen davon ist es ein verdammt guter Plan.

Dreiundvierzig Jahre später wird deine Enkelin auf einer Straße in der Nähe von San Francisco trampen. Sie ist mit zwei jungen Männern unterwegs, die sie auffordern, ihren Rock hochzuziehen und so attraktiv wie möglich auszusehen. Sie haben ein Stück Pappe beschriftet, um einen netten Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Auf dem Schild steht, MARIN, BITTE, WIR HABEN SARTRE GELESEN. Bald schon wird ein Mann anhalten, der nur ein Mädchen mit einem Schild sieht, doch kaum hat er gebremst, laufen zwei Jungen hinter einem Busch hervor. Die Jungs zwängen sich in den kleinen Wagen und danken dem Mann für seine Großzügigkeit, bevor er es sich anders überlegen kann.

Eine Stunde später wird deine Enkelin mit einem der Jungen ein Café betreten. Sie haben Hunger und nicht einmal zwei Dollar, doch das Mädchen setzt sich an einen Tisch in der Ecke, und der Junge schaut sich um nach jemandem, den er im Poker schlagen kann. Sie isst langsam ihr Frühstück, liest zwischen zwei Bissen Croissant mit Erdbeermarmelade in ihrem Buch und bestellt erst eine heiße Schokolade, als ihr der Junge signalisiert, dass er dabei ist, zu gewinnen und sie für ihr Essen werden bezahlen können. Ein Mann bemerkt sie und versucht, sich ihr gegenüberzusetzen, aber sie starrt ihn ausdrucklos an und zeigt mit dem Finger auf den Jungen, der die Sache verfolgt. Der Junge kneift die Augen zusammen und bedeutet ihm zu verschwinden, und als der Mann sich davonschleicht, wendet sie sich wieder ihrem Buch zu, bei dem es sich zufälligerweise um Jean-Paul Sartres Zeit der Reife handelt. Es wird zu regnen anfangen, als die Gruppe über die Golden Gate Bridge fährt. Deine Enkelin liebt den Regen wie du, der Großvater, den sie nie kennengelernt hat. Als sie geboren wird, bist du schon tot, und deine Frau hat deinen Bruder geheiratet. Deine Enkelin hat nie wirklich über die Tatsache nachgedacht, dass es statt »Oma und Opa« immer »Oma und Onkel George« hieß. Als sie älter ist, wünscht sie, sie hätte dich gekannt, weil du Gegenstand vieler Geschichten bist, die im Kreis der Familie immer wieder erzählt werden.

Doch es ist besser, dass du jetzt, als du nach Hause kommst und in die Küche gehst, nichts davon weißt. Du nimmst eine Handvoll Cracker aus dem Brotkasten und isst sie mit Leberwurst, bevor du dich ans Werk machst. Du legst den Laib auf den Tisch und betrachtest ihn eine Weile. Dann lächelst du. Der Anblick des Brotes und deine eigene Bauernschläue treiben dir nahezu die Tränen in die Augen.

Du schneidest den Laib in der Mitte durch und höhlst ihn bis auf die Kruste aus. Das Innere drückst du zu Bällen zusammen und legst sie in den Eisschrank, wo deine Frau sie finden wird. Sie wird sie vielleicht für einen Hackbraten brauchen, wenn sie zu wenig Rindfleisch hat. Du denkst immer an die anderen.

Du nimmst die Flasche starken Kentucky-Whiskey aus der Tüte und bewunderst das Etikett, das dir vor den Augen verschwimmt. Als du versuchst, es zu entziffern, fällst du beinahe vom Stuhl. Ein Schluck Schwarzgebrannter aus dem Krug im Kühlschrank scheint eine gute Idee. Du stehst schwankend da, die Hand an der Kühlschranktür, und lässt die Kälte entweichen.

Die Kerze ist ein Problem, weil du keine findest und deine Frau wecken musst, die dich beschimpft. Als du erklärst, dass du sie für das Geburtstagsgeschenk des Jungen brauchst, geht sie in der Kittelschürze zu den Nachbarn und bittet um eine Kerze. Du bewunderst ihre Art, die Dinge anzupacken, als sie mit einem Kerzenstummel in der Hand und hochgradig beunruhigt die Einfahrt zurückkommt. Die ganze Sache macht dir einen Mordsspaß.

Du lässt Wachs von der Kerze auf den Verschluss der Flasche tropfen und versiegelst den Whiskey. Dann legst du die Opferflasche in den Sarg aus Brotkruste und dankst etwaigen höheren Mächten zum zweiten Mal für deine gottverdammte Genialität. Du gibst Worcestershire-Soße in einen Rest Zuckerguss und schreibst mit dieser dunklen Mischung »Alles Gute zum Geburtstag John!« auf den Laib. Das Ausrufezeichen sieht aus wie eine Kaulquappe, aber das macht die Sache noch geheimnisvoller. Du kicherst, als du das Geschenk verpackst.

 

Als dein Junge die Schachtel mit seinem Namen darauf sieht, reißt er sie auf, in der Hoffnung auf Nachrichten von Zuhause. Er grub Schützenlöcher für die Nacht, als die erste Post seit Wochen via Neu Guinea eintraf. Als sein Name aufgerufen wurde, war das fast schon Geschenk genug.

Er wühlt sich durch das Zeitungspapier und findet deinen Kuchen, mittlerweile erbärmlich anzusehen und schimmlig. An Stellen, wo die Glasur abgegangen ist, wirkt er armselig, aber er ist von dir, deswegen weiß er, dass sich der Spaß unter der Oberfläche versteckt. Er entfernt den Zwirn und schaut hinein, dann lacht er laut und streckt die Hand gen Himmel. Die anderen Soldaten schlagen ihm auf den Rücken und wünschen ihm alles Gute zum Geburtstag, während sie den Hals der Flasche beäugen wie den elegant geschwungenen Hals einer Frau, den sie mit ihren schmutzigen kalten Händen fassen können.

John prostet dir zu, bevor er die Flasche herumgehen lässt und alle gemeinsam »Hipp-hipp-hurra!« rufen. Den jungen Männern, die im Schlamm feststecken und zum Abendessen eine Dose mit Sardinen verschlingen, entgeht die Ironie dieser Feier. Sie heben die Gewehre und die Fäuste in der Überzeugung, dass dieser Drink hier inmitten dieses Reisfelds nicht ihr letzter ist. Zu Hause warten richtige Partys und die Gelegenheit, ein sauberes Hemd und eine Krawatte anzuziehen und Eiswürfel in einem anständigen Glas Gin klirren zu hören. Der Tag, an dem sie auf einem richtigen Stuhl sitzen und diese Geschichte erzählen werden.

Aber jetzt jubeln sie so gut sie können. Ihr Geschrei weckt dich nicht, wie du mit dem Gesicht nach unten in West Virginia auf dem Teppich liegst und mit einem Sohn sprichst, der zu tief im Dschungel ist, um dich zu hören. Du fragst dich, ob es in dem Teil der Welt, wo dein Junge gerade ist, die gleichen Heuschrecken gibt wie hier. Heuschrecken. Du magst ihr Zirpen, doch sie ruinieren das Entdecken. So wie sie jede Nacht auf genau die gleiche Weise höher und tiefer zirpen, ist dir klar, wie viel Uhr es ist, bevor du aus dem Fenster schauen und nachsehen kannst, wo der Mond am Himmel hängt.

Lieber Daddy,

ich kenne weder seinen Namen noch seinen Rang. Er muss mittlerweile tot sein.

Es war 1944 auf den Philippinen. Dein Bataillon hat versucht, einen Keil zwischen die Japaner zu treiben, damit sie die Amerikaner nicht an den Strand zurückdrängen und sie an der Küste des Ozeans niedermetzeln konnten, wo sie Futter für die großen Fische gewesen wären. Wo ihre Knochen und die Fotos von ihren Freundinnen zu Hause angeschwemmt worden wären. Ihre Stiefel wären für immer verschwunden. Während der Kämpfe nehmen Soldaten die Stiefel von Gefallenen mit, hast du mir erzählt, weil man im Krieg vor allem marschiert.

Der Soldat sah, wie du dich quältest. Du hast dich nicht an seinen Namen erinnert, was bedeutet, dass die Schusswunde in deinem Bein barbarisch war, weil du dich sonst immer an alles erinnert hast. Er trat aus der Reihe und suchte einen Ast, den er dir ans Bein band, damit du mit deinem Gewehr als Stock wieder gehen konntest. Du bist weitermarschiert, hast dich durch das Dickicht geschlagen. Als der Schmerz dich zu versengen drohte, bist du langsamer geworden, aber nicht stehen geblieben. Im Dschungel ist die Nacht so finster, dass man die Hand vor Augen nicht sehen kann, aber du hast die Schreie der Männer gehört, die in fünfzig Metern Entfernung mit Bajonetten erstochen wurden. Die Jungs ganz hinten in der Reihe waren als Erste dran, ihr Leben endete im Busch mitten auf einer Insel, von der sie eine Woche zuvor noch nie gehört hatten. Letzter zu sein war nicht gut.

Der Kommandant ordnete eine kurze Pause an, damit sich die Soldaten ausruhen konnten. Nicht schlafen, aber Wasser trinken oder teilnahmslos auf ihre Wunden starren oder sich gegenseitig anglotzen. Rauchen. Während Hunderte Soldaten dasaßen, bist du weitermarschiert, bis du nicht mehr Letzter, sondern in der Mitte der Reihe warst. Du warst der Einzige, der auf den Beinen war, du hast dein Bein hinter dir hergezogen, bis du mit einer Kugel im Oberschenkel ganz vorn warst. Als der Kommandant wieder weitermarschieren ließ, zogen sie erneut an dir vorbei, drängten dich nach hinten, bis ein weiterer Halt befohlen wurde, aber auch während dieser Pause bist du weitergehumpelt. Du hast dich an Soldaten vorbeigekämpft, die auf ihren Helmen saßen und Tabak kauten, sich eine Packung Life Savers teilten. Manche hatten die Hände vors Gesicht geschlagen, während andere in Habachtstellung dastanden. Wie sie da an Ort und Stelle festsaßen und nirgendwohin konnten, sahen sie aus wie die Statuen, die eines Tages an öffentlichen Orten an sie erinnern sollten, mit Plaketten, die ihre Tapferkeit und diese Schlacht beschrieben.

Und so ging es auch am folgenden Tag weiter, du hast es geschafft, dich in der Mitte zu halten, indem du das Ende nicht akzeptiert hast. Deine Hand war mit dem Gewehr verschmolzen und schmerzte wahnsinnig, aber du hast dich weitergeschleppt und keine Pause gemacht. Irgendwann, als du immer noch nicht gestorben warst, hörte der Urwald auf, und es war richtig hell. Du wurdest ausgeflogen, nur um einen Monat später mit deinem ersten Purple Heart wieder zurück zu sein. Die Auszeichnung hast du nie verstanden und gefragt: »Warum geben sie dir einen Orden, wenn du so blöd warst, dir eine Kugel einzufangen?«

Monate später lagst du zitternd unter einer Decke in Manila und hofftest, rechtzeitig nach Hause zu kommen, um dich für Silvester mit diesem Mädchen zu verabreden. Seit dem Tag in der Bank hast du nur noch an sie gedacht. Sie kam zu dir mit einer Nachricht von einem anderen Mädchen. Sie hatte so braune Augen. Sie hatte Haut, die aussah wie eine Schale Obst mit Sahne darauf, und wirkte, als würde sie zu einem Mann halten, aber auf unauffällige Weise, mit einem Orchester aus leisen Seufzern und ellenlangen Sätzen. Du hast jemanden nach ihrer Geschichte gefragt. Offenbar wollte sie im Herbst aufs Averett College gehen, und daran hast du dich erinnert, als du ein Jahr später mitten im Krieg vor einem Lagerfeuer gesessen hast. Im Schein des Feuers hast du ihr einen Brief geschrieben und oben auf die Seite die Worte VON IRGENDWO AUF DEN PHILIPPINEN gekritzelt.

Dreißig Jahre später fiel meine jugendliche Europareise-um-Jungen-kennenzulernen ins Wasser, weil die Eltern meiner Freundin dagegen waren. Ich war so am Boden zerstört, dass du es nicht ertragen hast. Du hast etwas verkauft oder beliehen und eine Tour durch Europa für die ganze Familie gebucht – nicht gerade, wovon ich geträumt hatte, aber du warst so glücklich, mir diese Reise, die du dir nicht leisten konntest, zu ermöglichen, dass ich ganz aufgeregt tat und hoffte, in einem Zug einen Jungen zu treffen, der kein Englisch konnte und mich küssen würde, aber es gab keine süßen Jungs. Da stand nur ein Mann am Pier von Monte Carlo, der mich für eine Prostituierte hielt, aber die Reise hatte ihre Momente. Du und ich sind eines Morgens in Amsterdam früh aufgestanden und zu einem Diamantenhändler gefahren, um Mom einen Ring zu kaufen. Dort hast du mich gedrängt (»Such einen für dich und deine Schwester aus, bitte, ich will es so«), und ich habe den kleinsten genommen und gebetet, dass es auch der billigste ist, doch du hast auf einem größeren bestanden. Wir sind mit dem Boot zum Hotel zurückgefahren, und ich erinnere mich, wie du über das Wasser geschaut hast. Ich habe die Last auf deinen Schultern gesehen. Du hast geträumt und Pläne geschmiedet und warst randvoll mit Wehmut.

 

Auf einer Taxifahrt die Sixth Avenue entlang sagte dein Enkel: »Mommy, gibt es nicht so viele erstaunliche Dinge auf der Welt? Haben wir nicht Glück, dass wir leben?« Da sprichst du aus ihm, Daddy. Er ist wie du, voller Extreme und ein großer Träumer. Beide Kinder stehen füreinander ein, und ich weiß, dass du darüber glücklich wärst. Ich versuche, sie zu Pazifisten zu erziehen, aber manchmal nur halbherzig. »Lady, das Unternehmen, das Sie hier leiten, ist ein Saustall«, hast du zu der Bibliothekarin gesagt, die mir vorgeworfen hat, ich würde lügen bezüglich der Zahl der Bücher, die ich ausgeliehen hatte. »Böse Frau, Sie sind das A-Wort«, sagte Will zu der Frau im Hundepark, die mich dumm genannt hatte, weil ich das Tor nicht geschlossen hatte.

Meine Kinder werden mich vermutlich nie über ein Scheckbuch geneigt sehen und meine wachsende Panik spüren oder spät nach Hause kommen und mich auf der Straße mit einer Schaufel bewaffnet antreffen, wie ich einen Autofahrer am Hals packe, weil ich Alkohol an ihm gerochen habe. Sie werden erleben, wie ich ihre Siege groß feiere und es jedem bis zu meinem letzten Atemzug nachtrage, wenn er sie unfair behandelt. Das ist deine Familie, die ich manage. Ich kann es mir nur als Verdienst anrechnen, dass ich auf dich deute, wenn ich etwas richtig mache und einen Fuß vor den anderen setze, wenn ich den Mut verliere.

Wir alle vermissen dich ziemlich heftig, die von uns, die nicht existieren würden, wärst du nicht weitermarschiert, als ein gewöhnlicher Mensch in die Knie gegangen wäre. Es gibt keine Sprache, die ausdrücken kann, wie sehr du mir fehlst. Das wäre, als wollte Blau versuchen, den Ozean zu beschreiben.

Lieber Junge vom Stamm der Yaqui,

wo bist du jetzt?

Bist du fortgeflogen und hast das Barrio verlassen? Die meisten Yaqui-Indianer gehen nicht weg. Das harte Leben hat dein Volk in das Ghetto innerhalb des Ghettos getrieben, in das ich nach der Schule so oft gekommen bin. Ich lernte die Straßen aus dem Fenster eines tiefergelegten Autos kennen, dank der Hydraulik holperte der Wagen über den Asphalt, während wir Earth, Wind and Fire oder die Sugarhill Gang hörten. Du musst uns bemerkt haben, wenn wir vorbeifuhren und Gloria und Alicia schrien: »HOTEL! MOTEL! WHAT YOU GONNA DO TODAY? (SAY WHAT?)« Arturo saß am Steuer. Er stieß Sammy Z in die Rippen und sagte ai, chécalo, schau sie dir an. Er deutete auf die Hintern der Mädchen, die zur Musik auf und ab hüpften, während die Mädchen ihre Köpfe aus dem Fenster steckten. Die Jungen hatten das Haar nach hinten geklatscht und trugen Chinos, und die Mädchen hatten ihre fedrigen Haare nach eigener Aussage mit einer halben Flasche Final Net so gelackt, dass sie im Wind in zwei flachen Platten wie Hörner hochflogen. Und ihre Jeans? Bei Bandenmitgliedern zeichneten sich die Schamlippen ab. Sie wussten, dass sie sexy waren. Ihre Ärsche wären nie wieder in ihrem Leben so titanisch, auf diesen culos konnte man einen Flan abstellen, ohne dass er auch nur gewackelt hätte. Meine Freundin und ich saßen zwischen den anderen Mädchen, verlegen, aber fasziniert, unterhielten uns flüsternd über Sammy Z und sagten, Orale vato! Que barrio!, aber nicht so laut, dass die anderen uns gehört hätten.

Was ist aus dir geworden, Yaqui-Junge? Hast du es wie Sammy und die meisten anderen Mexikaner gemacht und das Mädchen geheiratet, mit dem du auf den Abschlussball der Schule gegangen bist? In Guadalupe hatte jeder seinen Ort. Die Yaqui-Indianer, dein Volk, lebten weit draußen. Ich hatte dich nie zuvor gesehen und weiß nicht einmal, auf welche Schule du gegangen bist. Mit fünfzehn war meine einzige gute Freundin Mexikanerin, und sie hat mich in dein Viertel mitgenommen. In der überwiegend weißen Gemeinde, in der ich lebte, war alles mörderisch mittelmäßig. Es fiel schwer, sich dort zu verorten, wo alles eine moderate Version von etwas war, das sich nicht traute, zu hoch hinauszustreben oder unter das Mittelmaß zu fallen. Stattdessen ging ich ins Barrio, ließ mich zu jeder Posada und quinceañera schleppen, überallhin, wo es Empanadas und Mariachis gab, die jeden Auftritt mit dem Lied »Sabor a Mi« beendeten. Du wärst nie in meine Gegend gekommen, wo jeder Junge ein Footballstar und jedes Mädchen eine beliebte Cheerleaderin war. Ich konnte sie nicht ausstehen und wünschte mir manchmal gleichzeitig, eine von ihnen zu sein, ein Mädchen, das zu Tanzveranstaltungen eingeladen, nach Hause begleitet oder gelegentlich von einem unheimlichen Onkel betatscht wurde.

Niemand außer dir, Hirschtänzer, nahm mich wahr, als ich fünfzehn war. Es war an deinem Pascala, an meinem Ostern. Ich schlenderte durch Guadalupe zu der Wiese, auf der Mädchen sich zuflüsterten, dass Mexikaner Opfer auswählten, sie mit Telefonkabeln fesselten und vergewaltigten. Das jagte mir nicht halb so viel Angst ein, wie durch die Schulgänge zu gehen, und ich glaubte es sowieso nicht. Ich war meilenweit die einzige weiße Person und que blanca, ich war so blass wie das Papier in den Schulheften, nur ohne Linien. Mir fiel auf, dass die Häuser kleiner und die Gärten chaotischer waren, vollgestellt mit kaputten Autos und Schaukeln, die als Wäscheständer dienten. Wir sahen mehr Leute von deinem Volk, unterwegs zu ihrem Osterfest, ihrem wichtigsten Festtag. Bald roch es nach frittiertem Teig, und es standen Gruppen von Leuten herum, manche in Stammestracht. Meine Freundin ging zu der größten Gruppe, die so dicht gepackt war, dass wir nicht sehen konnten, was die Leute anschauten. Sie nahm meine Hand, bedachte den Mann neben uns mit ihrem bezaubernden Lächeln, und er machte uns Platz, damit wir nach vorn konnten.

Da warst du. Neben dir saß ein Mann und trommelte auf einer Kalebasse, die in Wasser schwamm. Jemand sang in Yaqui, dieser Sprache, die so reich an Artikeln und Luft ist, der Klang so unermesslich schmerzvoll, dass sich jeder Ton wie jemand anhört, der fleht oder einen Verlust erleidet. Die Musik bildete jedoch nur den Hintergrund, denn ich ließ dich nicht aus den Augen. Meine Freundin flüsterte:

Die Trommel ist das Herz des Hirsches, und die Stöcke, mit denen er trommelt, sind der Atem in seinem Körper.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis du mich hypnotisiert hattest. Bevor uns die Menge durchließ, hatte ich über den Köpfen der Leute ein Geweih gesehen und mir gedacht, o Gott, bitte, kein Tieropfer, ich bin schließlich Episkopalin, ich ertrage nicht jeden Quatsch, aber das war es nicht. Du warst es, heiliger, schöner Junge. Du hast mit einem vollen Geweih auf dem Kopf getanzt, während dein Publikum hingerissen und ehrfürchtig zuschaute.

Der Legende nach wird der Hirschtänzer zum Tanzen aufgefordert, erhält den Ruf im Schlaf. Es ist eine Berufung in deiner Kultur, in der schwerwiegende Entscheidungen auf Träumen und Blumen beruhen. Einen Hirschtänzer zu fotografieren ist verboten, und es waren Warnschilder aufgestellt worden. Für die Gläubigen ist der Tanz eine so immense Stärkung, dass allein das Zuschauen reinigt, und da man nicht weiß, wie viele Tänze man im Leben sehen wird, sollte man jede Gelegenheit nutzen, die sich bietet. Du warst meiner, und ich schwöre, dass du für mich trotz deines struppigen schwarzen Haars und deines schmutzigen Gesichts so sehr ein Hirsch warst wie alle, die ich zwischen Bäumen habe davonlaufen sehen. Obwohl du wahrscheinlich so alt warst wie ich, stellte sich dir mehr in den Weg als mir, und dein Leben war härter als meins. Die untere Hälfte deines Körpers war so dick mit roter Erde bedeckt, als hättest du in der Sonne gelegen, bis du verrostet warst.

Ich trat einen kleinen Schritt näher. Ich spürte etwas, mehr, als dass ich es tatsächlich sah. Eine Frage bedrängte mich, sieht er mich?, und die Antwort konnte unmöglich ja lauten, aber es war so. Ich spürte, dass ich gesehen wurde. Du hast mich nicht so sehr angesehen als vielmehr angetanzt, du hast mich mit dem Radar an den Spitzen deines Geweihs gefunden, während du dich in meine Richtung geneigt hast. Deine Brust war so braun, dass die Erde darauf wie eine matte Schattierung von Kreide wirkte, und dein Atem ließ deine Rippen hervortreten und sich zurückziehen. Mein Herz schlug schneller, als sich dein Hirsch aufrichtete, als würde er in der Nähe eine Gefährtin wittern. Dein Körper war zu gleichen Teilen Mensch und Tier; er gab mir das großartige Gefühl, gejagt zu werden und dennoch sicher zu sein. Ich wollte dich streicheln und füttern, ich wollte, dass du mir nachrennst und deine Zähne in mich schlägst. Ich wünschte mir, du würdest meine Beine so rot färben, indem du mich unter dir auf die Erde drücktest.

Der Gesang endete zu abrupt. Einen Augenblick lang standst du so reglos da, dass ich nicht mehr wusste, ob du dich jemals gerührt hattest. Dann hast du dich endlich entspannt, dich vornübergeneigt und die Hände auf die Knie gestützt, so bist du zurückgekehrt. Einer der Musiker gab dir eine Handvoll Zigaretten, und ein paar Männer wollten danach greifen im Tausch gegen ein kleines Trinkgeld als Zeichen des Respekts. Du hast dich nahezu lustlos umgesehen und sie ignoriert. Stattdessen bist du durch den Kreis gegangen, direkt auf mich zu. Ich war noch immer fixiert auf dich, deine braunen Augen, deinen Mund, als du auf mich zukamst, auf die noch nie zuvor ein Junge zugegangen war. Nicht auf diese Weise, nicht um sie zu erwählen. Während der letzten Schritte, als die Männer hinter dir herliefen, hast du mir direkt und vollkommen offen ins Gesicht geschaut. Nur eine Hirschlänge entfernt, warst du größer, als ich gedacht hatte, und blicktest auf mich herunter, während meine Beine zitterten und meine Arme mit einer Gänsehaut überzogen waren. Wir starrten uns an, bis du eine Zigarette hoch hieltst und sagtest:

Quieres?

Ich schüttelte den Kopf, nein. Du zucktest die Schultern. Ich bot dir ein Lächeln an, und das war wirklich mehr, als ich irgendeinem Jungen bislang freiwillig gegeben hatte. Du hast ebenfalls gelächelt, dann geseufzt und dich abgewandt. Du hast ein paar Schritte zur Seite gemacht, um mich, so dachte ich, nicht auszuschließen. Ein schneller letzter Blick, und dann warst du fort und bist mit den Fariseos gegangen, die dich mit Blumen überhäuften.

 

Es gibt nur noch relativ wenige deines Stammes, zählt ihr euch? Sie haben dein Volk für fünfundzwanzig oder fünfzig Centavos pro Kopf verkauft, ihr wurdet gejagt wie Wild, aber darüber spricht niemand. Niemand kennt dich. Dort, wo ich aufgewachsen bin, lebte und lebt dein Volk, nicht weit von der Wüste, wo die Hirsche frei herumlaufen. Die meisten von ihnen werden nicht älter als vier Jahre. Berglöwen, Männer mit online gekaufter Bogenausrüstung, es gibt zu viele Jäger, als dass das Wild sein potentielles Höchstalter erreichen könnte. Das größte Risiko besteht während der Brunft. Dann wird ein Hirsch sorglos, schließt die Augen hinten in seinem Kopf. Wenn er hofft, dass sich eine Hirschkuh in der Nähe aufhält, dann wird er nervös und verfolgt diese Spur, plötzlich verträumt und unbesonnen. Diese Hoffnung kann ihm eine Kugel einbringen; sein Verlangen wird dann zu einer weiteren qualvollen Art zu verenden.

Lieber Draufgänger,

ich weiß noch, wie ich auf das Beatles-Poster von Avedon starrte, als ich viereinhalb war. Jahre alt. Es war an die Wand hinter dem Bett meiner Schwester geklebt, und ich habe Löcher hineingebohrt und die Gruppe angestarrt, während sie ihre Platten spielte, die ich schon kannte. Mit sieben habe ich im Garten hinter dem Haus ein Stück mit dem Titel »Die falschen Beatles« für ein Publikum bestehend aus null Leuten aufgeführt. Meine Rolle war ein Mädchen namens Sweetie, das von vier Männern verführt wurde, die behaupteten, John, Paul, George und Ringo zu sein. Manchmal machte das Mädchen aus der Straße mit, aber normalerweise spielte ich das ganze Stück allein oder mit meinem Hund. Der Anfang war eine Montage, in der Sweetie Komplimente von Paul zu ihrer Persönlichkeit und ihrem schulterfreien Sommerkleid bekam, gefolgt von einer Szene, bei der sie auf der Schaukel saß, während sie ihr Songs aus Revolvervorsangen. Dann bemerkte sie Indizien dafür, dass es Betrüger waren, die sie entführen wollten. An manchen Tagen wurde Sweetie von dem falschen George geknebelt und gefesselt, die sadomasochistischen Implikationen wohl beunruhigend, da eine Zweitklässlerin sie heraufbeschwor. Das Stück endete damit, dass ich im Garten auf einem Erdhaufen stand, die Arme hob und nach dem rettenden Seil griff, dass der echte Paul McCartney aus einem Hubschrauber warf. Paul kletterte herunter und riskierte sein Leben, während er »Here, There and Everywhere« sang. Die Sache befriedigte meine Errettungsphantasien und mein Bedürfnis, von einem Rockstar geschätzt zu werden, während ich ein schulterfreies Sommerkleid trug. In dem Versuch, Interesse für das Stück zu erregen, schrieb ich einem Fernsehsender einen Brief, aber meine Eltern schickten ihn nicht ab.

Als ich dich fand, war ich den Beatles immer noch treu ergeben, doch ich war auf der Highschool und bereit für etwas Neues. Rickie Lee Jones und The Smiths waren noch ein paar Jahre entfernt, aber deine Musik kam genau zur richtigen Zeit. Sie gab mir einen Schub, der in mir den Wunsch weckte, mich zu wehren. Mein Bruder brachte mir nacheinander alle deine Platten. Wir saßen in seinem Zimmer und hörten jeden Song, und er sprang auf und spielte Luftgitarre oder hielt den Plattenspieler an und setzte die Nadel zurück, damit wir eine Textzeile noch mal hören konnten. Manchmal lieh er mir eine Platte über Nacht, damit ich sie beim Einschlafen hören konnte, und wenn sie zu Ende war, ging ich im Nachthemd auf Zehenspitzen zum Plattenspieler und spielte sie noch mal, nur leiser. Du bist auf unserer Terrasse erschienen, wenn ich deine Platten hörte, und in deinem verbeulten Wagen mit mir davongefahren. Es war besser als mein tatsächliches Leben und der metallische Geschmack des Zorns auf meiner Zunge, den ich weder verorten noch erklären konnte. Auch du warst ein Einzelgänger in einer Kleinstadt, isoliert und als komisch abgestempelt. Ich legte deine Platten auf und stellte mir vor, wir würden uns finden, beide entfremdet und ausgehungert nach Zuneigung. Ich stieg heimlich aus meinem Schlafzimmerfenster und traf dich in einem verlassenen Vergnügungspark oder an einer Tankstelle, ich spürte deine Lederjacke an der Wange und sah deinem Gesicht die Erleichterung an, wenn ich kam, jemand, der dir nie vorwarf, eingeschnappt zu sein oder dich seltsam zu verhalten. Während eines ganzen Lieds liefen wir durch Straßen und telefonierten flüsternd in Telefonzellen; wir stritten und versöhnten uns. Nach einer Schlägerei auf einem Parkplatz pflegte ich dich, versteckte dein weißes T-Shirt unter meinem Rock und nahm es mit nach Hause, um heimlich die Blutflecken rauszuwaschen, und die ganze Zeit verteidigte ich dich gegen meine vielen fiktiven Freundinnen, die sich Sorgen um mich machten, weil ich mit einem einsilbigen Rowdy zusammen war, der ein Auto mit kaputtem Auspuff fuhr.

Niemand will etwas von der naturhaften Melancholie wissen, die an der Seele eines jugendlichen Mädchens nagt, und ich hatte niemanden, dem ich davon hätte erzählen können. Sich als Versagerin durchs Leben zu schleichen hat etwas merkwürdig Schamvolles, und dieses Gefühl verfolgt mich immer noch, auch zu Zeiten, die überhaupt keinen Anlass dazu geben. Mit sechzehn wollte ich nur die flehentlichen Bitten wert sein, die ich im Nachklang deiner Mundharmonika hörte. Er fuhr in mich hinein, dieser Sound. Er kroch in mir hinauf und unter meinen Rock und ließ meine Haut ebenfalls flehen. Es musste jemanden geben, der so einsam war wie ich, der auf die richtige Weise geküsst und zur Weißglut gebracht werden wollte. Ich weiß, wie man das alles macht, dachte ich.

Vielleicht fühlt sich jeder ausgeschlossen in der Highschool. Meine einzige Freundin und ich hielten zusammen, aber an manchen Tagen ging ich morgens die halbe Strecke zur Schule, kehrte um und ging wieder zurück. Ich berechnete in Gedanken meine Noten, und eines Tages wurde mir klar, dass ich die Schule in wenigen Monaten abschließen könnte, wenn ich ein paar Kurse extra absolvierte. »Was ist mit der Abschlussfeier? Dem Schulball?«, fragten manche. »Eben«, sagte ich.

Ich packte meine Platten und zog zu meiner Schwester, die mir auf Teufel komm raus Selbstvertrauen einflößen wollte, und sie half mir, andere, die wie ich waren, kennenzulernen, und stand leise applaudierend daneben, als ich die ersten kleinen Schritte machte. Im Zimmer