Die Nachtseite des Lebens - Lyall Watson - E-Book

Die Nachtseite des Lebens E-Book

Lyall Watson

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Beschreibung

Noch immer krankt die ökologische Diskussion daran, daß die Natur gleichsam durch einen Weichzeichner betrachtet wird: hier das ebenso zerstörerische wie selbstzerstörerische Verhalten des Menschen, dort die empfindliche Balance einer unberührten, »unschuldigen« Naturwelt. Dieses Bild ist unhaltbar. Am Beispiel zahlreicher farbig und eindringlich geschilderter Tierbeobachtungen, die er mit den entsprechenden Verhaltensformen des Menschen vergleicht, zeigt Lyall Watson, daß die Wurzel des »Bösen«, der Heimtücke und der nackten Gewalt in der Natur selbst liegt; genauer: im blinden Egoismus der Gene. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 657

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Lyall Watson

Die Nachtseite des Lebens

Eine Naturgeschichte des Bösen

Aus dem Englischen von Kurt Neff

FISCHER Digital

Inhalt

MottoEinleitung: Mir jucken die Daumen ...Erster Teil: Die nächtige NaturErstes Kapitel: … und sah, daß es gut war … Die Ökologie des BösenZweites Kapitel: Regelverstöße. Die Arithmetik des BösenZweiter Teil: Die menschliche NaturDrittes Kapitel: Aggression. Die Ethologie des BösenViertes Kapitel: Was Menschen Übles tun. Die Anthropologie des BösenFünftes Kapitel: Der Lohn der Sünde. Die Psychologie des BösenDritter Teil: Die bösartige NaturSechstes Kapitel: Das Kainsmal. Die Identität des BösenLiteraturverzeichnis

Mir jucken die Daumen und sagen mir,

Es steht was Übles vor der Tür.

Wenn es klopft – nur herein!

Wer’s auch immer mag sein.

Shakespeare, Macbeth IV, 1

Einleitung Mir jucken die Daumen …

Ich lebe auf einem Schiff, einem Hochseetrawler, und habe die Erfahrung gemacht, daß ich am besten denken kann, wenn ich allein bin, ein gutes Stück weit draußen auf See.

Ich bin ein Naturforscher vom alten Schlag, im Grunde meines Herzens ein »Strandläufer« – ein Abenteurer, der fremde Strände »abkämmt« –, mit einer Schwäche für Steinchen und Knöchelchen und Muschelschalen, immer bereit, mich ganz von der Freude über solche Miniaturen durchdringen zu lassen. Schnell entzückt, verliere ich in diesem seligen Zustand die weitere Umgebung aus den Augen. Sie hört auf, mich zu umgeben. Sie wird zu einem Stück von mir. Und ich komme mir selbst abhanden.

Darum muß ich mich von Zeit zu Zeit zurückziehen und nach einem Stück blauer See umtun, nach draußen schippern, wo der Horizont eben ist und ich Abstand gewinnen kann. Gerade so viel, daß ich wieder die Ökologie im ganzen, die Form und den Lauf der Dinge in den Blick bekomme.

Den besten Aussichtspunkt haben die Bewohner von vorgelagerten Inseln, Leute wie Yeats und Joyce und Shaw, die mit der Silhouette des fernen Festlands vor Augen noch über jenes Maß an Detachiertheit verfügten, das es erlaubt, die großen Zusammenhänge zu erkennen.

Nach meiner Erfahrung gibt es keine bessere Denkfabrik als die tropische Bläue des Golfstroms, wo das Meer etwas von einer Wüste hat, wo die Vögel sich rar machen und selbst die fliegenden Fische sich nur ganz selten über die Wasserfläche erheben. Wo die Szenerie großenteils aus verstreuten Kumuluswolken besteht, durch die man träge hindurchgleitet, getragen von einem tiefen Warmwasserstrom, der sich zwischen unsichtbaren Ufern unablässig fortwälzt.

Hier flog mir die Idee zu, auf den Flügeln einer durch den Äther vagabundierenden Rundfunksendung, die sich von der zugeteilten Sollfrequenz ins Netz meiner – für etwaige Seenotrufe unterhaltenen – Funkverkehrsüberwachung verirrte. Ich kannte die Stimme; es war die eines anderen Insulaners auf der anderen Seite des Globus, die Stimme von Arthur C. Clarke von seinem Brückenkopf auf Sri Lanka, wo er wieder einmal ein Interview gab, das in alle Welt übertragen wurde mittels eines Satellitensystems, dessen Existenz er, zwanzig Jahre bevor man es 1965 in die Umlaufbahn schoß, vorausgesagt hatte.

Er wurde nach der Möglichkeit außerirdischer Intelligenz gefragt und antwortete wie gewöhnlich mit jener Mischung aus Optimismus und Sehnsucht, die seine Science-fiction-Geschichten so fesselnd macht. Aber der Interviewerin war nicht nach Metaphysik zumute, sie bohrte nach der Sensation: »Wo sind diese Zivilisationen?« und »Wann wird es zur Begegnung mit ihnen kommen?« wollte sie wissen.

Clarke stand ihr mit der üblichen Wortgewandtheit Rede und Antwort, ohne sich auf wohlfeile griffige Vereinfachungen festnageln zu lassen, doch dann schlug die Interviewerin einen Haken und entlockte ihm eine Auskunft, die mir vollkommen neu war. »Wenn es schließlich zur Begegnung kommt«, fragte sie, »müssen wir dann Angst haben?«

Clarkes Verblüffung über diesen Vorstoß war offenkundig.

»Es ist möglich«, sagte er, »daß außerirdische Völker kriegerisch und angriffslustig sind. Freilich haben wir uns immer mit dem Gedanken getröstet, daß sie, wären sie wirklich böse, sich selbst vernichten würden, lange bevor sie eine Chance hätten, uns gefährlich zu werden …«

Es folgte ein langes Schweigen, bis der Meister ruhig hinzufügte: »… aber darauf würde ich mich nicht unbedingt verlassen.«

In der Tat. Es wäre töricht, nicht wahrhaben zu wollen, daß das Böse möglicherweise kein Privileg der menschlichen Natur ist. Augenblicklich scheint es in unserer Welt jede Menge davon zu geben, und es kann durchaus sein, daß es nicht auf unser spezielles Ökosystem beschränkt ist. Vielleicht ist es ein universales Phänomen. Und wenn dem so ist, ergibt sich für uns die Notwendigkeit, im Bösen eine Naturkraft, eine biologische Realität zu erkennen. Es als etwas zu erkennen, das in jeder Umwelt, so verschieden von der unseren sie auch sein mag, auftreten und dort wie hier mit einem eigenen Überlebenswert, einem eigenen und eigenartigen Aktionsprogramm den Evolutionsprozeß beeinflussen kann.

Clarkes hingeworfene Bemerkung öffnete da draußen, irgendwo westlich von Bimini, in mir die Schleusen für eine ganze Gedankenflut. Sie stieß Türen auf, von denen ich vorher nicht im Traum angenommen hatte, daß ich je einen Blick dahinter werfen würde. Und hier ist das Ergebnis.

Eine Naturgeschichte des Bösen. Ein Blick auf Ursprung und Sinn des Diabolischen. Eine Untersuchung der Nachtseite der Natur unter biologischem Vorzeichen, weil ich Biologe und überdies der Ansicht bin, daß es Zeit ist, sich dem Phänomen des Bösen auf anderen als den von Religion, Moralphilosophie und Kriminologie ausgetretenen Wegen zu nähern. Ich glaube, daß diese Analyseansätze letzten Endes scheitern müssen, nicht etwa weil sie das Böse unterschätzen würden, sondern weil sie sein Wesen verkennen.

Milton, Dante, Goethe und Robert Louis Stevenson sind meines Erachtens der Wahrheit näher gekommen, und ich habe mir ihre Einsichten zunutze gemacht, aber dies hier ist keine Dichtung. Es ist eine sehr persönliche Ansicht von der Natur, die sich ein neugieriger (und mit juckenden Daumen behafteter) Naturforscher gebildet hat, der zur Untermauerung ältester Intuitionen der Menschheit auf eigene Erfahrungen – wie übrigens auch auf neuere Resultate der Evolutionsbiologie, Anthropologie und Psychologie – zurückgreifen konnte.

Mein Thema beginnt mit der Ratlosigkeit, die uns alle befällt, wenn wir mit Meldungen konfrontiert werden wie der von der tauben und fast erblindeten zweiundneunzigjährigen Witwe, die sich einen Bruch des Handgelenks und des Beckens zuzieht, als sie von einem Jugendlichen überfallen und zu Boden gestoßen wird, dem es offenbar nur darum zu tun ist, ihr den Blindenstock zu stehlen.369[1] Mit dem Weh, das uns ergreift angesichts des Verhaltens zweier ansonsten unscheinbarer zehnjähriger Jungen, die ein Kleinkind entführen und quälen, ehe sie es auf einem Bahndamm totschlagen.211 Und mit dem totalen Versagen unseres Begriffsvermögens, wenn wir erfahren, daß während der Gerichtsverhandlungen in dem Strafverfahren gegen einen Jurastudenten, der mindestens achtundzwanzig attraktive junge Frauen brutal vergewaltigt und ermordet hat, wobei auf den verstümmelten Leichen der Opfer Bißwunden zurückblieben, sich auf den Zuschauerbänken im Gerichtssaal errötend und kichernd dutzendweise Frauen haargenau desselben Typs wie die Opfer drängeln.329

Wir bewegen uns hier auf unübersichtlichem Gelände. Und es wird auch dadurch nicht leichter, sich auf diesem Terrain zurechtzufinden, daß man solcherlei Verhaltensformen als »abnorm« klassifiziert. Sie sind offenkundig ungewöhnlich, aber vielleicht nicht unnatürlich. Wir müßten noch sehr viel mehr über ihre Ursprünge und ihre Hintergründe in der Geschichte des Organischen wissen, um sie als »psychopathisch« und damit dem normalen Verstehen entzogen abtun zu können. Meines Erachtens ist es nützlich, zu wissen, daß das Böse eine weitverbreitete Alltagserscheinung und vielleicht nicht einmal auf unsere Spezies beschränkt ist. Aber gleichzeitig sollten wir uns auch der Gefahr von Fehldeutungen bewußt sein. Nur allzu leicht zieht man voreilig unfundierte Schlüsse, besonders wenn es um andere Spezies als unsere eigene geht.

Auf einem windgebürsteten Strandstück in Patagonien, wo sich die Wüstenlandschaft des südlichen Argentinien in die kalten Wasser vor der Halbinsel Valdez hinabsenkt, geriet ich einmal unversehens in genau solch ein charakteristisches moralisches Dilemma. Ich hielt mich dort auf, um die großen Finnwale zu beobachten, die an dieser Stelle zum Kalben ungewöhnlich nahe ans Ufer kommen. Für uns sind sie die »richtigen« Wale, weil sie nicht nur langsam und daher leicht zu jagen sind, sondern auch so fettreich, daß sie noch im Tod an der Wasseroberfläche schwimmen. Heute werden diese Tiere glücklicherweise nicht mehr gejagt, es sei denn von einer wachsenden Schar von Tierschützern, die sie überwachen. Mein Besuch damals fiel allerdings in die Zeit gegen Ende der Saison, von »richtigen« Walen war nicht mehr viel zu sehen, und mein Interesse wurde mehr durch das Verhalten der »falschen« Wale gefesselt, derjenigen, die wir mit so unschönen Namen wie »Mörder« oder »Orca« (nach dem lateinischen Wort für Dämonen oder Unterweltbewohner) bezeichnen.

Mörderwale sind Raubtiere; sie jagen und fressen Haie, Rochen, Ottern, Robben und sogar andere Wale. In Patagonien haben sie eine Vorliebe für Seelöwen entwickelt und fressen, sofern vorhanden, jeder nicht weniger als drei Jungtiere täglich, die sie aus dem Flachwasser fischen oder – im Zuge einer furchterregenden Attacke, deren Wucht die fünf Tonnen schweren Wale weit die Uferschräge hinauf und mitten unter die sonnenbadenden Seelöwen trägt – direkt vom Strand wegschnappen.

Bei der Gelegenheit, von der ich spreche, hatten zwei Walmännchen sich satt gefressen und spielten jetzt einfach nur noch Katz und Maus mit einem Beutestück. Der letzte Gang ihres Menüs, ein geängstigtes lebendes Seelöwenjunges, flog, wechselweise von dem einen und dem anderen in die Luft geschnellt, wie ein Wasserball zwischen den beiden hin und her. Jedesmal, wenn der Seelöwe, nachdem er ins Wasser geklatscht war und sich anschließend mühsam wieder eine Orientierung verschafft hatte, auf den Strand zu entkommen versuchte, setzte ihm einer der Spieler mit allen Anzeichen der Erregung nach und bugsierte die junge Robbe mit einer sportlichen Glanzleistung in das Spiel zurück.

Was lag beim Anblick dieses Schauspiels näher, als die unglückliche junge Robbe zu bemitleiden und die zwei erwachsenen Wale als grausame Mörder zu betrachten? Selbst für den Biologen, der an Wildheit und Roheit im Raubtierverhalten gewöhnt ist und auch sehr wohl weiß, daß Beutejäger die Bewegungsabläufe ihres blutigen Geschäfts immer wieder üben und vervollkommnen müssen – selbst für den Biologen war es nicht leicht, die Szene ohne Graus zu verfolgen. Mein Unbehagen wurde gesteigert durch die Kenntnis der Intelligenz und Erfindungsgabe speziell dieser Räuber, die es mir schwermachte, ihnen eine Art moralischer Unzurechnungsfähigkeit zuzugestehen, wie wir sie der Katze konzedieren, die wir mit der Maus spielen sehen. Überhaupt nicht schwer fand ich es dagegen, mich aufs hohe Roß des Sittenrichters zu schwingen und die Überzeugung zu fassen, das Böse sei biologisch verwurzelt und Wale könnten eben nun einmal nicht anders, als »sich wie Tiere zu benehmen« – da wurde ich unversehens von den Mördern selbst aus dem Konzept gebracht.

Dem größeren der beiden Orcas, dessen Rückenfinne so groß war, daß die Spitze seitwärts umklappte, machte das Treiben offensichtlich das meiste Vergnügen, aber just er war es, der einen überraschenden Schlußpunkt unter das Ganze setzte. Er brach das Spiel so abrupt ab, als wäre es von einem unsichtbaren Schiedsrichter abgepfiffen worden, nahm den Seelöwen zwischen seine riesigen gebogenen Zähne und trug ihn in Richtung Ufer. Im tiefen Wasser nahe dem Strand legte er einen Spurt ein, der ihn auf einem Wellenkamm bis weit über die Wasserlinie hinauf trug, wo er die junge Robbe fast genau an der Stelle ablegte, wo sie aufgelesen worden war, und den regungslosen kleinen Körper so lange stupfte, bis auf einmal Leben in den Seelöwen zurückkehrte und er zerzaust, aber ansonsten unversehrt zu seiner Sippe zurückhopste. Darauf schien der Wal sich direkt zu mir zu wenden, um mich so lange mit seinem Blick zu fixieren, bis mir ob meines Dünkels in meinem eigenen Element unbehaglich wurde, ehe er sich in das seine zurückwuchtete.

Man kann das Problem des Bösen offensichtlich nicht auf eine einfache Formel bringen. Ich bin allerdings zu der Überzeugung gelangt, daß man es auf konstruktivere, wesensgemäßere und sachdienlichere Weise als bisher darstellen und definieren kann. Zum Teil liegt die Problematik lediglich in unserer Perspektive, in der Art und Weise, wie wir gewohnheitsmäßig unser Verhältnis zur übrigen Natur verstehen.

Wir halten uns gern für mehr als »nur« Tiere. Für Tiere plus X. Wobei das »X« als ein spezielles menschliches Element gedacht ist, das zur Ausgangsbasis von Animalität – Tiernatur – hinzutritt. Die Vielfalt der Definitionen, die dieser Zusatz erfahren hat, reicht von der Kultur bis zum Bewußtsein, von der Religion bis zur Moral, aber die Wahrheit ist, daß dieses rätselhafte Ingrediens »X«, wenn es denn existiert, genau das geblieben ist: ein Rätsel.212

Problematisch an dieser Sicht ist, daß sie das Leben in die Vonoben-nach-unten-Perspektive rückt. Sie löst den Menschen und die menschliche Natur aus der übrigen Natur heraus. Und sie stuft das übrige, Pflanzen wie Tiere, zu einem geistlosen Substrat herab.

Für mich stellt sich die Welt nicht so dar. Als Naturforscher sehe ich die Dinge eher in der Von-unten-nach-oben-Perspektive. Die Wissenschaft, die ich vertrete, interessiert sich definitionsgemäß für das Leben in all seinen Formen, zu denen auch die am oberen Ende einer Komplexitätsskala situierte Menschheit gehört. Auf jeder Ebene dieser Stufenleiter existieren individuelle Organismen, die selbst in der allereinfachsten Ausführung ihre Umwelt aktiv selektieren und verändern und dabei ihrerseits verändert werden. Und ebenso wie andere Verhaltensbiologen habe ich festgestellt, daß Grundsätze, die wir an einfachen Organismen abgelesen haben, uns nicht selten zu einem besseren Verständnis unser selbst verhelfen können.186

Wir wissen beispielsweise, daß es nicht mehr sinnvoll ist, Verhalten in ererbtes und erworbenes, angeborenes und erlerntes einzuteilen. Manche Verhaltensmuster, so etwa beim Menschen das Lächeln, sind universal. Alle Menschen, selbst blind- und taubgeborene, lächeln, und alle gebrauchen dazu dieselbe Kombination von Gesichtsmuskeln. Doch die Umstände, unter denen das Lächeln auftritt, und die Bedeutung, die man ihm beimißt, variieren enorm.116 Diese Komponenten werden erlernt.

Wir wissen auch, daß jede Spezies Zwängen und Einschränkungen unterworfen ist in bezug auf das, was sie erlernen kann, und die Neigung zeigt, manche Dinge zu erlernen, andere jedoch nicht. In jeder Hecke Großbritanniens schließt eines der sieben Millionen im Lande nistenden Buchfinkenpaare seinen Bund vermittels eines charakteristischen Gesangs.184 Das rosabrüstige Männchen annonciert seinen Wohnort und seine Fortpflanzungsabsicht mit drei eleganten Melodiestücken, gefolgt von einer kunstvollen Fanfare. Aber es muß dieses Lied zuvor gehört haben, um es selbst hervorbringen zu können. Kein isoliert aufgewachsener Buchfink läßt den Gesang hören, und kein Buchfink, wo immer er zu Hause ist, erlernt je einen anderen. Die Musik ist irgendwo in die Buchfinken-Biochemie eingeschrieben, aber dort ruht sie still und stumm im verborgenen, bis sie von einem aus voller Kehle singenden anderen Buchfinkenmännchen wachgerufen wird.364

Ähnlichen Zwängen sind auch wir unterworfen. So stehen zum Beispiel die verbreiteten menschlichen Ängste jenes Typs, der scheinbar kultur- und erfahrungsunabhängig ist, allesamt in Verbindung zu historischen Gefahrensituationen. Sie manifestieren sich als Angst vor der Dunkelheit, vor dem Abstürzen, vor Schlangen, Spinnen oder dem Alleinsein. Vor Sachen, die in stammesgeschichtlicher Vergangenheit Lebensgefahr bedeuten konnten, und nicht vor solchen, denen heute Menschen in großer Zahl zum Opfer fallen – Kraftfahrzeugen, Injektionsspritzen oder Handfeuerwaffen, um nur einige Beispiele zu nennen.185

Wir sind auch, nicht anders als die Buchfinken, darauf angelegt, Dinge bestimmter Art zu lernen. Die Programme für das Saugen, Kauen und den aufrechten Gang tragen wir festverdrahtet in uns. Und was noch viel rätselhafter ist: Ganz spontan, ohne bewußte Anstrengung oder formellen Unterricht, bilden wir die beim Erwerb und Gebrauch der gesprochenen Sprache mitwirkenden komplexen Geschicklichkeiten aus. Wir besitzen einen Instinkt für Wörter und fabrizieren Wortgebilde mit der gleichen Zuverlässigkeit und Selbstverständlichkeit, wie eine Spinne ihr Netz fabriziert. Das ist eines unserer Erbprivilegien, ein Rezept für Gemeinschaft.304

In der Ausbildung zum Biologen wurde ich zwei darwinistische Wahrheiten gelehrt. Erstens, daß jedes lebende Wesen eine unverwechselbare historische Entität ist, verschieden von seinen Vorgängern und seiner Umwelt. Und zweitens, daß es so geworden ist dank der im Zuge der Fortpflanzung aufgekommenen Variabilität. Beide Lehrsätze unterschreibe ich nach wie vor ohne Zögern. Sie helfen erklären, wie es zur natürlichen Selektion kommt und warum diese zur Evolution führt. Sie sind als Arbeitsinstrumente brauchbar, solange man es mit isolierten Ereignissen zu tun hat, aber sie greifen überhaupt nicht mehr, sobald man sich mit dem prozessualen Aspekt der Dinge befaßt, mit der rastlosen interaktiven Abfolge des Geschehens, das jenes uns unter dem Namen »Leben« bekannte Fließen ausmacht.

Ebensowenig wie die Kultur zur Tiernatur hinzukommt, um diese zur Menschennatur zu machen, ist das Leben etwas, das zur Materie hinzukommt, um dieser zur Selbstbewegung zu verhelfen. »Leben« ist der Name, mit dem wir den in einer Welt organischer Evolution vor sich gehenden Prozeß bezeichnen. Der Begriff meint die Interaktionen, die in jedweder Ökologie stattfinden. Organismen sind belebt, aber das heißt nicht, daß Leben »in« ihnen wäre. Vielmehr sind umgekehrt die Organismen »im« Leben. Dort wachsen sie, dort verändern sie sich, und dort verändern sie allein schon durch ihr Dasein den Charakter ihrer Umgebung.

Der letztgenannte Punkt ist wichtig. Evolutionsbiologen gehen vielfach von der stillschweigenden Voraussetzung aus, daß die Umwelt etwas Vorgegebenes ist, etwas, das von Anfang an da ist und an das die Organismen sich anzupassen haben. Ökologische Nischen existieren in dieser Sicht früher als die Organismen, die sie dann besetzen, und Umweltbedingungen werden als ein Ensemble von Zwängen dargestellt, auf die zu reagieren Gengruppen genötigt sind. So funktionieren die Dinge nach meiner Erfahrung jedoch selten. Vielmehr ist allem Anschein nach eine wichtigere Einheit im Spiel, ein dynamischer Fluß, der Organismus und Umwelt umfaßt, eine innere Verbindung zwischen den beiden schafft und es dem Zweiergespann ermöglicht, aus einem breiten Spektrum möglicher Variationen die Umstände und Formen zu selektieren, die dann tatsächlich in Erscheinung treten.

In der Geschichte erschaffen wir uns selbst und bringen aus uns selbst die Welt hervor, in die wir eingebunden sind. Und ich vermute, das gleiche gilt für alle Arten. Sie erschaffen sich selbst und schreiben so mit an der Universalgeschichte des Lebens. Dies ist meine Art von Biologie: Das Studium von Organismen, die nicht einfach nur die Produkte ihrer Gene sind und zu deren Nutzen geschaffen, sondern die ihre eigenen Ideen haben. Sie entstehen als Resultat von Genexpressionen, aber nur insoweit diese sich in Harmonie mit ihrem Umfeld entfalten können. Letzten Endes hängt alles davon ab, wer die im genetischen Code gespeicherten Informationen abliest und wo diese Informationen umgesetzt werden.

Die Biologie, so wie ich sie verstehe, ist flexibel genug, um den Menschen nicht als Tier-plus-X definieren zu müssen. Sie ist ein Credo, das sich ausgezeichnet mit der Idee verträgt, daß wir und sämtliche anderen Organismen in einem Unternehmen befangen sind, das der Philosoph Alfred North Whitehead einmal als »schöpferischen Vorstoß ins Neue« bezeichnete.413

Das ist der Standpunkt, auf dem ich stehe, die Operationsbasis, von der aus ich meine Erkundungszüge in die Natur unternehme. Mein ganzes Tun ist von der Grundannahme getragen, daß das Leben, wenn es auch keinem großangelegten Plan folgt, dennoch seine eigene Logik besitzt. Es stellt einen Sinnzusammenhang dar, und die einzelnen Teile des Puzzles haben die Tendenz zusammenzupassen, und zwar oft erstaunlich gut zusammenzupassen. Und ich sehe keinen Grund, warum ich das Böse aus diesem Bild ausgrenzen sollte.

Das Böse existiert und besitzt in meinen Augen Realität genug, um Anspruch darauf erheben zu dürfen, als Kraft in der Natur wie als Einflußfaktor im menschlichen Leben anerkannt zu werden. Es ist ein Teil der Ökologie und muß als solcher gesehen werden. Meine Daumen sagen mir – nicht daß »was Übles vor der Tür« steht, sondern daß es schon längst, schon seit sehr, sehr langer Zeit drinnen bei uns ist und all unser Tun überschattet.

Ich weiß, daß es nicht leicht ist, sich mit dem Bösen zu befassen, aber wir haben es sehr nötig, der Konfrontation mit ihm nicht auszuweichen. Wir müssen uns das Diabolische ausgiebig und gründlich ansehen, wo immer es sich zeigt und wie unbehaglich auch immer uns dabei zumute sein mag. Es ist viel, viel gefährlicher, den Blick von ihm abzuwenden und es zu leugnen.

In diesem Sinne: »Nur herein! Wer’s auch immer mag sein.«

 

Lyall Watson (auf der »Amazone«)

Erster Teil Die nächtige Natur

Niemand wird auf einen Schlag lasterhaft.

Juvenal

Das Böse genießt einen Bonus. Es fesselt unsere Aufmerksamkeit. Schurken bemächtigen sich unserer Phantasie mit einer Kraft, mit der kein Tugendheld jemals mithalten kann. Wer von uns erinnert sich noch an den Namen der guten Fee in dem Märchen aus Tausendundeine Nacht, das wir bestimmt alle kennen? (Sie heißt Pari Banu.) Aber wer hat Namen wie Rasputin und Torquemada, Hitler und Stalin, Jack the Ripper und Haarmann nicht auf Anhieb parat?

Das Böse scheint offenkundig. Es existiert doch, oder? Es gibt böse Taten und böse Menschen, oder? Folter, das steht fest, ist unbestreitbar böse, egal welche Motive dahinterstehen, und auch dann, wenn die Autodafés und alle anderen Grausamkeiten der Inquisition in der Besorgnis über Hexerei und Ketzerei gründeten. Mord kann nicht anders als böse sein und muß gebrandmarkt werden, wo immer man ihm begegnet. Aber was ist mit der Tötung zu dem Zweck, unnötiges Leiden zu vermeiden, einen schmerzlosen Tod zu beschleunigen? Und wie ist das Töten zu bewerten, das der Staat sanktioniert, ja, das er von uns verlangt? Kann ein Krieg »gut« sein? Hängt das davon ab, für wen beziehungsweise gegen wen ich kämpfe?

Unsere zwiespältige Haltung in all diesen Dingen wird unterstrichen durch die Doppeldeutigkeit mancher Wörter, die wir in einschlägigen Zusammenhängen verwenden. Hören wir zum Beispiel, daß einer Handlungsweise durch Recht oder Sitte die »Sanktion« erteilt ist, so verstehen wir darunter, daß es durch diese Instanzen autorisiert ist. Aber gleichzeitig benutzen wir das Wort »Sanktionen« mit ebensoviel Nachdruck und Überzeugung auch für Maßnahmen, die ein bestimmtes Handeln unterbinden sollen. Es bezeichnet sowohl Bestrafung wie Billigung, und dieser schillernde Charakter scheint die unmittelbare Folge seiner Herkunft zu sein. »Sanktion« ist von dem lateinischen Verbum sancio, »heiligen«, abgeleitet. Und offenbar ist alles erlaubt, wenn man sagen kann, daß es den Interessen eines Gottes dient.

Am Bösen ist zunächst nur so viel gewiß: Es ist schwer auf einen eindeutigen Nenner zu bringen und will mit großer Sorgfalt und Umsicht definiert sein. Ich möchte deswegen gleich zu Anfang meine kategorialen Bezugspunkte so gut ich nur kann verdeutlichen.

Ich werde auf klassische Denkfiguren Bezug nehmen, ja manchmal sie einfach übernehmen, allerdings ohne mich in irgendwelche intellektuellen Debatten über Themen wie Willensfreiheit und Schicksal verwickeln zu lassen. Umgehen werde ich auch die religiöse Fixiertheit auf die Idee der Sünde und auf das zählebige Paradox einer allgütigen Gottheit, die das Übel in der Welt zuläßt. Zu jedem der beiden Themen existiert eine umfangreiche Literatur, die jedoch in meinen Augen keinerlei brauchbare Ergebnisse aufzuweisen hat, jedenfalls keine, die uns bei der Beantwortung der Frage nach Ursprung und Evolution des Bösen weiterhelfen könnten.

Ich werde nur sparsam aus einer immer lebhafter sprudelnden anderen Hilfsquelle schöpfen, nämlich aus den Publikationen über »wahre Verbrechensfälle«, die von grausigen Einzelheiten strotzen, aber nichts sonderlich Erhellendes zu Psychologie und Motivation von Serienmördern wie Myra Hindley, Dennis Nilsen und Jeffrey Dahmer zu sagen haben. Leben und Taten dieser Spezialisten für bestimmte Formen des Bösen üben eine Faszination auf uns aus, wie sie etwa einem Verkehrsunfall gebührt, und sollten vielleicht mit dem gleichen schnell abklingenden Interesse bedacht werden wie ein solcher.

Mir geht es um das Aufspüren, Sammeln und Neubedenken all der im Reich der Natur wie des menschlichen Verhaltens tagtäglich stattfindenden Miniszenarien, die uns unter Umständen zu einer stärker biologisch orientierten Sicht des Bösen als einer Naturkraft verhelfen könnten. Mein Quellenmaterial ist größtenteils Gemeingut und jedermann frei zugänglich. Es tritt in den Aspekten des tierischen Verhaltens zutage, die mit Sexualität, Territorialanspruch und Aggression zu tun haben. Es zeigt sich im Werbeverhalten, im Kampf und in anderen Auseinandersetzungen um knappe Ressourcen, und zwar bei jeder Spezies. Es ist der beharrliche Kehrreim aller Geschichten von Liebe, Haß, Eifersucht oder Habgier unter Menschen. Seine vielerlei Gesichter sind dem Meeresbiologen ebenso vertraut wie dem Ornithologen, den Menschen, denen ein freundliches Schicksal die Vater- oder Mutterrolle zugewiesen hat, ebenso wie denen, die das Pech hatten, als Soldaten in den Krieg ziehen zu müssen. Es steht im Zentrum eines Großteils der faszinierendsten Formen von Ritual und Brauchtum, von Mythos und Folklore. Und die Besorgnis über das Böse scheint nach wie vor zum spirituellen Kernbestand aller großen Weltreligionen zu gehören.

Zum Studium dieser Dinge braucht man nichts weiter als Neugier und die Bereitschaft, zuzugeben, daß die Natur eine Nachtseite besitzt, die dasselbe Maß an Beachtung verdient, das wir bereits wilden Blumen, Schmetterlingen, Regenbogen und Sonnenuntergängen haben zukommen lassen. Und um mein Untersuchungsgebiet einigermaßen deutlich einzugrenzen, habe ich mich entschieden, auf altbewährte Weise mit einer aus dem Oxford English Dictionary (OED) geschöpften Arbeitsdefinition des Bösen anzufangen.

Evil, das englische Wort für »böse« und, substantivisch gebraucht, für »das Böse«, geht wie das deutsche »übel« und das niederländische »euvel« auf ein urgermanisches »ubiloz« zurück. Letzteres bezeichnet alles, was das Gegenteil von »gut« ist. Laut OED zeigt der moderne Sprachgebrauch die Tendenz, das Adjektiv evil zugunsten anderer Ausdrücke, wie beispielsweise bad, zu vermeiden, welch letzteres im Slang sogar die Bedeutung »gut« angenommen habe. Das Substantiv evil ist im Englischen fraglos noch sehr gebräuchlich zur Kennzeichnung eines Sachverhalts, der eine Schädigung, Verwundung, Krankheit oder ein Unglück bedeutet. Nach Meinung der Herausgeber des OED ist jedoch das Adjektiv evil in der alten Bedeutung von »böse«, »verrucht« als Attribut für Personen wohl schon so gut wie ausgestorben.

Das mag im Jahr 1989, dem Erscheinungsjahr der zweiten Auflage des OED, durchaus richtig gewesen sein, doch hat sich seither einiges ereignet, was es erforderlich macht, den Stellenwert des aktiv Bösen als einer der in der heutigen Gesellschaft wirksamen Kräfte neu zu bestimmen.

Als Nancy Gibbs 1994 für das Nachrichtenmagazin Time über die jüngste afrikanische Stammesfehde berichtete, in deren Verlauf eine halbe Million Menschen abgeschlachtet worden waren, rang sie vergeblich darum, das Geschehen zu begreifen, und mußte sich schließlich mit der traditionalistischen Erklärung eines Missionars zufriedengeben. »In der Hölle gibt es keine Teufel mehr«, hatte er gesagt. »Sie sind jetzt alle in Ruanda.«140

»Tatsächlich haben sie die Hölle mitgebracht«, schrieb Gibbs. »Wer den Beweis dafür sehen will, braucht nur die Flüsse zu betrachten. Normalerweise sind sie in dieser Jahreszeit, wo die Regenfälle auf die üppige Vegetation in den Tälern niedergehen, mit fettem rotem Erdreich befrachtet. Heuer sind sie stärker befrachtet als je zuvor. Zuerst kommen die Leichen von Männern und älteren Knaben, die niedergemacht wurden, als sie ihre Schwestern und Mütter zu beschützen versuchten. Dann kommen die Frauen und Mädchen, die man aus ihren Verstecken gescheucht und massakriert hat. Als letzte kommen die Säuglinge, die vielleicht nicht einmal Wunden aufweisen: Man wirft sie lebend ins Wasser, wo sie auf dem Weg flußabwärts ertrinken. Leichen und Leichenteile treiben etwa eine halbe Stunde lang vorüber, genauso lange, wie es dauert, eine Dorfbevölkerung auszulöschen, die Opfer zum Flußufer zu schleppen und ins Wasser zu werfen. Dann führt der Fluß eine Zeitlang klares Wasser, bis von neuem Männer und ältere Knaben herantreiben und Frauen und Säuglinge, die an flachen Stellen wieder zusammenfinden in dem Fluß, der ihr Grab wird.«

Analytiker der Lage verweisen auf unterdrückte Stammesrivalitäten, den Zusammenbruch natürlicher Autorität und andere Hinterlassenschaften der Kolonialherrschaft, aber afrikanische Leser von Gibbs’ Bericht zögerten nicht, sich selbst mehr Verantwortung für das Chaos und die Schande zuzuweisen. »Es gibt keine Entschuldigung«, meinten sie. »Wir selbst haben den Boden für dieses Teufelstreiben bereitet.«380 Es scheint Übereinstimmung darüber zu bestehen, daß derlei Konflikte aller Wahrscheinlichkeit nach in den kommenden Jahrzehnten unsere Welt immer häufiger heimsuchen werden, während wir zugleich aus einer Vielzahl von Gründen auf einen beinah mittelalterlichen Stand der Dinge zurückfallen, wo das diabolisch Böse sich in brutaler Realität und Nacktheit zeigt.

Dem Leser der engbedruckten Spalten des OED-Artikels zum Stichwort evil fällt eine interessante Gliederung des Bedeutungsfelds auf. Offenbar hat das Wort eine »starke« und eine »schwache« Bedeutung. Das Böse im starken Wortsinn ist das aktiv Böse, das »moralisch Verderbte«, »wahrhaft Üble und Schlimme«, »ganz und gar Verruchte«. In der schwachen Bedeutungsvariante bezeichnet das Wort »Unangenehmes«, »Nachteiliges«, »Widerwärtiges« oder »mit großer Wahrscheinlichkeit Unbehagen Verursachendes«.

Auf diese nützliche Zweiteilung des Bösen, in der sich die Unterscheidung zwischen »starker« (Fusions-) und »schwacher« (Spaltungs-)Kernenergie in der Natur spiegelt, werde ich bei passender Gelegenheit zurückkommen. Für den Moment genügt es, festzuhalten, daß die urgermanische Form »ubiloz« noch von ihrer vorgermanischen Wurzel her einen Bedeutungskern »hinaufgerichtet«, »überheblich« enthält, das Wort somit eine Grundbedeutung gehabt haben dürfte, die das OED folgendermaßen wiedergibt: »das geziemende Maß Überschreitendes«, »über die Grenzen des Schicklichen Hinausgehendes«. Kurz, es bezeichnete den Exzeß oder das Exzessive, das Un- oder Übermäßige.

Auch dieser Gesichtspunkt mutet richtig und nützlich an, denn selbst in Kulturen, die kein eigenes Wort für das Böse haben, kennt man Unruhe und Besorgnis angesichts von Wirkungszusammenhängen, die Heiles zerstören oder ein Gleichgewicht zerrütten. Zum Übeltäter wird ein Mensch, insofern er es zu einem derartigen Exzeß treibt. Das Ziel seines Treibens ist nicht an und für sich von Übel, kann aber als ein Übel eingestuft werden, wenn das Streben nach ihm das eigene oder anderer Menschen Wohl beeinträchtigt.

Diese universalmenschliche Sehweise wurde vor über zwei Jahrtausenden von einem anderen naturforschenden »Strandläufer« während zwölf an wechselnden Höfen Griechenlands verbrachten Wanderjahren zu einer systematischen philosophischen Ethik ausgestaltet. Als Aristoteles 336 v. Chr. nach Athen zurückkehrte, um hier als Lehrer im Gymnasium Lykeion seine »peripatetische« Philosophenschule zu begründen, trug er die Ideen zu der historisch ersten Ethik als praktischer Wissenschaft im Kopf, die er in den folgenden Jahren lehrend und schreibend an seine Mitwelt weitergab.

Aristoteles war, auch wenn Francis Bacon dies im siebzehnten Jahrhundert bestritt, der erste Vertreter einer wahrhaft empirischen Wissenschaft. Anders als Bacon, der nie ein Meßglas auch nur in der Hand gehabt hat, war Aristoteles ein vorzüglicher, peinlich genauer Beobachter, ein Experimentator und Sezierer, der jede erdenkliche Hypothese ausprobierte, bei alledem ebensosehr Lernender wie Lehrender. In markantem Gegensatz zum größten Teil der im alten Griechenland vorherrschenden Wissenschaftspraxis betrieb er als Naturforscher aktive »Feldforschung«, hinter der die Überzeugung stand, daß man die wirkliche Welt nicht erkennt, indem man im stillen Kämmerlein über sie nachsinnt, sondern indem man vor die Tür tritt und sich den Gegenstand seiner Wißbegierde ansieht. Er erlag Irrtümern, gewiß, aber die sind nur für den auf Anhieb als solche durchschaubar, der aus der Epoche der Quantentheorie und des Elektronenmikroskops in die Vergangenheit zurückblickt. Die Biologie des Aristoteles, die durchweg in genauer Naturbeobachtung gründet, hat sich über Epochen hinweg bewährt. Seine Philosophie und seine innovative Logik sind bis heute die Grundlage des spekulativen Denkens geblieben. Und seine Ausführungen über Moral und ethische Trefflichkeit (Tugend) stellen die Ethik auf ein und dieselbe praktische Ebene wie die Politik; Ziel beider Disziplinen ist es, nicht nur den Unterschied zwischen Richtig und Falsch zu erkennen, sondern auch ein dieser Erkenntnis gemäßes Handeln zu begründen.

Die Nikomachische Ethik – so benannt nach Aristoteles’ Sohn Nikomachos – ist keine leichte Lektüre.15 Ihr mäandrierender Gedankenfluß folgt mehr dem Duktus der gesprochenen als dem der geschriebenen Sprache, was insofern nicht überraschen dürfte, als die einzige überlieferte Textfassung nur die Ausarbeitung von Notizen zu sein scheint, die Schüler des Aristoteles sich vom »peripatetischen« – das heißt beim Umherwandeln in den schattigen Baumgängen (peripatoi) des Lykeion gehaltenen – Vortrag des Meisters anlegten. Die Grundgedanken des Texts sind jedoch klar, und das Ganze ist überstrahlt von jener Art praktisch-nüchternem, weltoffenem gesunden Menschenverstand, die man von einem aufmerksamen Naturforscher erwartet.

Schlüsselbegriff der aristotelischen Moralphilosophie ist das »Begehren«. Der Philosoph kennt ein »richtiges« und ein »falsches« Begehren und scheint der Meinung zu sein, daß falsches Handeln verziehen werden kann – wir machen alle einmal einen Fehler –, aber niemals falsches Begehren. Auf seiner Liste einschlägiger moralischer Verfehlungen finden sich Völlerei, Wollust, Habsucht, Trägheit, Zorn, Neid und Hochmut – womit alle sieben Todsünden beisammen wären. Es ist aufschlußreich, die schwarze Liste des Aristoteles in jener Beziehung mit den Zehn Geboten des jüdisch-christlichen Moralkanons zu vergleichen. Nur eine von den wohlbekannten »Du sollst nicht«-Anweisungen – das Verbot des Sich-Gelüsten-Lassens nach dem, was der Nächste hat – betrifft falsches Begehren. Die übrigen beziehen sich auf Handlungen. Es sind die Regeln einer Gesellschaft, in der man sich mehr dafür interessiert, was man tun und lassen soll, als dafür, die Motive hinter Mord, Diebstahl, Ehebruch und »falsch Zeugnis wider den Nächsten« einzusehen.

Aristoteles wollte die Hintergründe begreifen. Er hatte eine sehr moderne Art, an die Welt heranzugehen, insofern die Wissenschaft seit seiner Zeit bemüht ist, zwischen Einzelheiten zu differenzieren, die in der Masse betrachtet ununterscheidbar erscheinen. Sein Geist legte Wert auf Ordnung und brachte deshalb in alles System, sogar in das Begehren. Außer dem richtigen und dem falschen Begehren kannte er auch noch ein »erworbenes«, das von Mensch zu Mensch variiert, und ein »natürliches«, das ein unveränderlicher Bestandteil der menschlichen Natur ist. In dieser Polarität werden die meisten von uns unschwer das heute geläufigere Gegensatzpaar »Wunsch« und »Bedürfnis« wiedererkennen.2 Bedürfnisse stellen ein unvermeidliches und zwangsläufig gutes Begehren dar. Bedürfnisse können schlechterdings nicht falsch sein. Problematischer ist es mit den Wünschen bestellt, die Aristoteles unter dem quantitativen Gesichtspunkt bewertete. Gute Wünsche, meinte er, sind ein richtiges Begehren, solange sie mit unseren Bedürfnissen konform gehen. Sie werden zu schlechten Wünschen und können dem falschen Begehren zugeschlagen werden, wenn wir zuviel wünschen. Aber – und dies ist meines Erachtens Aristoteles’ wichtigster Beitrag zur Diskussion um das Böse, mit dem er allen Propagandisten des härenen Gewands widerspricht, die aus asketischen Rekordleistungen eine Tugend machen wollen – Begehren kann auch schlecht und falsch sein, wenn zuwenig gewünscht wird.

Die aristotelische Ethik ist eine Ethik des richtigen Maßes, des »nicht zuwenig und nicht zuviel«. Genug ist genug – auch des Guten. Was darüber hinausgeht oder darunterbleibt, liegt außerhalb dessen, was Aristoteles die »goldene Mitte« nennt, und ist somit kein Fortschritt auf dem Weg zum »höchsten menschlichen Gut«. Auch sittliche Vorzüge wie Mut sind nur so lange gut, wie sie in dem schmalen Bereich zwischen Übermaß und Unzulänglichkeit bleiben. Wer sich vor allem und jedem fürchtet, ist ein Feigling, wer sich jedoch vor gar nichts fürchtet, ist ein gefährlicher Narr.

So gesehen sind Gut und Böse keine Sache des Geschmacks oder der Mode, des Gefallens oder Nichtgefallens. Es sind Ideen, die in unserem Fleisch und Blut verankert sind. Es sind Naturgesetzen unterworfene Kräfte, die ausschließlich nach ihrer Wirkung beurteilt werden wollen, danach, wieweit sie das, was die alten Griechen eudaimonia nannten, vermehren oder vermindern. Das Wort wird gewöhnlich mit »Glück« oder »Glückseligkeit« übersetzt, wobei allerdings eine Bedeutungskomponente auf der Strecke bleibt, denn die Eudämonie der Griechen hatte einen aktiven Aspekt; sie schloß zielbewußtes Handeln ein. »Wohlergehen« kommt dem vielleicht näher, was Aristoteles als Ziel des guten Lebens vorschwebte. Liest man zwischen den Zeilen der Nikomachischen Ethik, sieht es so aus, als ginge es dem Verfasser nicht so sehr um das »Überleben der Tüchtigsten«, vielmehr um die »Ertüchtigung möglichst vieler zum Überleben«.

Was mich an Aristoteles am stärksten beeindruckt, ist das Gespür für Ökologie, das er mehr als zweitausend Jahre vor dem Aufkommen dieser Wissenschaft bewies. Er erkannte sogar das eigentümliche Dilemma, das sich für den Menschen daraus ergibt, daß für ihn das Leben nicht von selbst mit dem guten Leben zusammenfällt, und formulierte den Gedanken, daß rechtes Begehren sich eher von den letzten und höchsten als von den unmittelbaren Zielen her bestimme. Und daß eine Handlung nicht beurteilt werden könne, solange sie nicht abgeschlossen, und ein Begehren nicht, solange es nicht erfüllt sei, sondern daß beide ihr Ziel erreicht haben müßten, ehe ein Urteil über sie möglich sei. In einem Geniestreich, mit dem er Thomas Jefferson lange zuvorkam, stellte Aristoteles klar, daß wir kein natürliches Grundrecht auf Glück besitzen, sondern lediglich ein Recht auf das »Streben nach Glück«. Zwangsläufig schlecht war ihm zufolge jede Gesellschaft, die nicht auch noch dem letzten ihrer Mitglieder die Möglichkeit zum Streben nach Glück bot. Und unbestreitbar böse war jeder Mensch, der wissentlich oder vorsätzlich einem anderen diese Chance raubte.

So weit ein knappes Resümee der aristotelischen Ethik, das zwar reichlich dürftig ist, aber nichtsdestoweniger einen kategorialen Bezugsrahmen für meine Erkundung der Evolution des Bösen abzugeben vermag. Wenn »gut« ist, was dem Heil des Ganzen frommt, dann ist alles »böse«, was diesen heilen Zustand beeinträchtigt oder zerrüttet. Alles Zügellose und Exzessive. Kurz, alles, was der Ökologie schadet.

Erstes Kapitel … und sah, daß es gut war …

Die Ökologie des Bösen

Wir leben in einer Designer-Welt. Die Dinge in ihr neigen so wunderbarer- wie beunruhigenderweise zum Schönsein, und es leuchtet nicht auf Anhieb ein, warum das gerade so und nicht anders ist.

Wenn die Evolution einzig und allein vom Zufall regiert wird, müßten Plumpheit und Häßlichkeit die gleichen Chancen haben. Aber so geht es in der Natur selten zu. Noch ihre unbeständigsten Kreationen sind faszinierend, und die geglückten nehmen einem den Atem. Und das zumeist durch ihre Einfachheit. Mit der Art und Weise, wie sie ökonomisch und ohne Schnörkel komplexe Umweltprobleme lösen und dabei nicht nur funktionieren, sondern auch den Betrachter ästhetisch befriedigen.

Ich verbringe viel Zeit an Niedrigwasserlinien, wo die langgezogenen Rhythmen von Land und See sich vereinigen. Hier ist eine Zone der Ruhelosigkeit, eine schwankende Grenze, längs deren die Schöpfungsgeschichte weitergeht. Kein hier verbrachter Tag gleicht dem anderen, und an den meisten hat man Begegnungen mit Wunderwerken der Formgestaltung.

Ich finde Erquickung und Erhebung im Anblick von Muschelschalen, wie die Menschen aller Zeiten, die sie zum Dank dafür zu Ritualgegenständen, Symbolen und Metaphern für tausenderlei andere Dinge machten. Etwas im Bau der Schalen begünstigt diesen Assoziationsreichtum, indem es Bilder von Festungen und Gräbern, von Tod und Wiederauferstehung heraufbeschwört. Und keine Schale besitzt größere Evokationskraft als die des Nautilus (oder »Perlboots«), der gleichsam als lebendes Fossil in geringem Abstand über dem Boden des Pazifiks treibt und hier als letztes überlebendes Genus der im erdgeschichtlichen Altertum weitverbreiteten Ordnung der Nautiloidae seit fünfhundert Millionen Jahren erfolgreich dem Aussterben trotzt. Das Tier ist ein weiß-braun marmorierter Kopffüßer – also eine Art Tintenfisch – mit bis zu 94 Tentakeln und einem natürlichen Sinn für Geometrie. Aus seinen Mantelzellen sondert er ein glattes Kalksteingehäuse ab, das ihn in sanfter Krümmung umschließt und dessen Zeichnung seiner Körperzeichnung entspricht. Mit fortschreitendem Wachstum erweitert der Nautilus sein ursprünglich aus einer einzelnen Kammer bestehendes Haus entlang einer spiralig gedrehten Linie um neue und immer größere Kammern, in deren jeweils äußerster er wohnt, bis das Ganze etwa 36 Kammern zählt und einen Durchmesser von etwa 25 Zentimetern hat. Und die Krümmung der Kammernfolge bildet eine vollkommene logarithmische Spirale.

Die Spirale ist die natürliche Kurve des Lebens und des gleichförmigen Wachstums. Sie umkreist immerfort einen Mittelpunkt und kommt dennoch kein zweites Mal an einen Punkt, den sie einmal hinter sich gelassen hat. Sie ist die einzige Kurve, deren Abschnitte in Polarkoordinaten sich in der Größe, aber nicht in der Form unterscheiden. Die Spirale dreht sich in zwei Richtungen, vom Ursprung weg und zum Ursprung hin. Sie umschreibt und beleuchtet das zurückliegende Geschehen und führt zugleich unaufhaltsam zu größeren Dingen und neuen Entdeckungen. Sie erklärt die Vergangenheit und weist auf die Zukunft voraus. Und in ihrer Optimalform, zu der auch die Spirallinie des Nautilus gehört, weist sie einen Quotienten der geometrischen Progression des Radiusvektors von exakt 1:1,618034 auf und stellt damit die einzige Kurvenform dar, die sich ins Unendliche fortsetzen läßt.79

Das alles zusammen mag als schwere Bürde für eine kleine Tiefseemolluske erscheinen, aber der Nautilus zeigt sich ihr vollkommen gewachsen und hat es geschafft, das Ordovizium für sich über ein Dutzend Erdperioden hinweg in die Jetztzeit zu retten und es auf allen Stränden des Indischen und des Pazifischen Ozeans abzulagern. Im Gegensatz zu ihm sind seine Verwandten, die Ammoniten, vollständig ausgestorben. Ihre spiraligen Versteinerungen finden sich in großer Zahl in allen Meeresablagerungen vom Devon bis zur Kreide, aber der letzte von ihnen starb vor über sechzig Millionen Jahren. Und der Schlüssel zur Erklärung ihres Untergangs könnte darin liegen, daß ihre Spiralform unvollkommen war. Der Bogen war etwas enger, nicht weit genug für eine wahrhaft vitale Expansion, nicht so nahe der vollkommenen Wachstumskurve wie die Spirallinie der bis heute überlebenden Nautiloiden. Nicht die Guten sterben jung, sondern die mit mangelhaftem Design.

Ich habe noch nie einen lebenden Nautilus gesehen. Sie treiben in Tiefen, die außerhalb meines Aktionsraums liegen, aber ich freue mich über jedes Zeichen ihres anhaltenden Überlebenserfolgs und besehe mir eingehend jede leere Schale, die ich an tropischen Stränden finde, nur um mich zu überzeugen, daß sie dem Glauben an die Mathematik und dem Formprinzip die Treue halten. So weit ist noch alles in Ordnung.

Die Spirale scheint in der Natur unentbehrlich zu sein. Sie ist das vollendete Symbol von Wandel und Wachstum, der Ordnung im Chaos, der Identität der Gegensätze. Was Wunder, daß der Schweizer Mathematiker Jakob Bernoulli (1654–1705) von dem Zauber und dem Geheimnis ihres Ebenmaßes so fasziniert war, daß er auf seinen Grabstein eine Spirale einmeißeln ließ und dazu in Latein die Unterschrift: Eadem mutata resurgo (Obgleich verwandelt, stehe ich als dieselbe wieder auf).

Bernoulli fiel als erstem auf, daß die Luft, das Wasser und selbst ganze Galaxien eine sonderbare Vorliebe für die Spiralförmigkeit haben. Bei unserem Sternsystem jedenfalls ist das so. Die hundert Milliarden Sterne, die wir als Milchstraße oder Galaxis bezeichnen, sind in einem langsam rotierenden scheibenförmigen Gebilde konzentriert, in dem alle Sterne, jeder auf eigener Umlaufbahn, nach einfachen physikalischen Gesetzen in einer Richtung das Zentrum umkreisen. Die Sterne ziehen ihre Bahn mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und sind so zahlreich, daß sie insgesamt zu einem gestaltlosen Nebel verschwimmen. Eigentlich sollte dieses Gebilde kein spezielles Formschema aufweisen, sollten Elemente dieses Gewimmels nicht zu sichtbaren und dauerhaften Gruppierungen zusammentreten. Sie tun es trotzdem. Unser Sternsystem gehorcht, wie andere in seiner Nähe, einer sorgfältigen Choreographie. Es ist so schön wie dauerhaft in Spiralarme gegliedert, die vom Kern in anmutigen Kurven nach auswärts schwingen wie die Leuchtspuren eines Feuerrads.

Diese Geordnetheit ist seltsam. Ein Sachverhalt, der Bände spricht. Ganz entschieden ein Zeichen dafür, daß irgend etwas Gegenstrebiges im Gange ist, das den üblichen Prozeß des langsamen Degenerierens und Zu-Ende-Gehens der Dinge aufhält. Das Milchstraßensystem ist viel älter, als es eigentlich sein dürfte. Alles übrige hat eine naturgegebene Lebensdauer, einen Zeitraum, in dem es sich verausgabt und zerfällt, aber wir haben unser Haltbarkeitsdatum bereits überschritten und gehen einem Fortleben entgegen, das nach den neuesten Berechnungen 1040mal länger dauern wird, als wir mit Fug und Recht hätten erwarten dürfen. Irgend etwas hält uns am Laufen und gibt unserem Sternsystem wenn schon nicht eine Richtung, so immerhin eine unvorhergesehene und unwahrscheinliche Form, die – wie der Zufall so spielt – sich auf der Erde wiederholt in den Lebensbedingungen eines bestimmten Tintenfischs, um dann vom Meer zur Erbauung von Spaziergängern auf entlegene Strände gespült zu werden.

Wirklich nur eine zufällige Laune der Natur? Ich bezweifle es. Die Übereinstimmung ist zu groß, als daß man sie dem blinden Zufall zuschreiben könnte. Und die Konstante 1,618034 ist dafür um mindestens fünf Dezimalstellen zu präzise. Ich bin nicht besonders geschickt im Umgang mit Zahlen, doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie zuweilen ein Eigenleben entwickeln. Eine Selbständigkeit, die es angezeigt erscheinen läßt, eher von der Entdeckung als von der Erfindung der Arithmetik zu sprechen.277

Zu den frühesten Entdeckern auf diesem Gebiet zählt wiederum ein »Strandläufer«, ein Insulaner, der um 287v. Chr. in der griechischen Kolonie Syrakus auf Sizilien geboren und in Ägypten erzogen wurde. Archimedes leistete für die Mathematik, was ein Jahrhundert vor ihm Aristoteles für die Biologie geleistet hatte: Er leitete aus dem im Rahmen von eigenen Experimenten Beobachteten Gesetzmäßigkeiten ab. Bei diesem Geschäft fand er den Tod: »Noli turbare circulos meos« (Störe meine Kreise nicht!), rief er dem römischen Soldaten zu, der bei der Eroberung von Syrakus durch die Römer im Jahr 212 v. Chr. in seinen Garten eindrang, wo er gerade dabei war, Figuren in den Sand zu zeichnen, um über sie nachzusinnen; aber der Eindringling stach ihn nieder.

Zum Glück hatte Archimedes zu diesem Zeitpunkt seine Gedanken bereits in dauerhafterer Form niedergelegt, so etwa in einer dem König von Syrakus zugeeigneten Abhandlung mit dem aparten Titel Der Sandrechner.13 In dieser Schrift wandte er sich gegen die Behauptung, die Zahl der Sandkörner an der sizilischen Küste sei größer als die Zahlenreihe, die das menschliche Denken zu konstruieren und zu notieren vermöge. Archimedes machte sich nicht nur anheischig, diese Behauptung zu widerlegen, sondern ging sogar einen Riesenschritt weiter; mit seinem neu erfundenen Notationssystem könne er die Zahl der Sandkörner in einem Haufen angeben, der so groß sei wie die Erde, ja wie das ganze Universum. »Manche Leute glauben, König Gelon, … es sei noch nie eine Zahl genannt worden, die die des Sandes übertrifft. Ich aber will dir zu zeigen versuchen, daß unter den von mir benannten Zahlen einige nicht nur die eines Sandhaufens von Erdgröße übersteigen, sondern auch die Zahl eines Haufens, der das Weltall erfüllt.« Die Zahl, die er für diesen Haufen von der Größe des Kosmos nannte, kommt den jüngsten Schätzungen – ca. 1040 – erstaunlich nahe.

Zahlen dieser Größenordnung sind schon an und für sich für den menschlichen Verstand schwer vorstellbar, doch seit Anbeginn seiner Beschäftigung mit ihnen bringen sie ihn immer wieder mit erstaunlichen Koinzidenzen in noch ärgere Verlegenheit. Solche Fälle sammelt und bedenkt man heute unter dem verheißungsvollen Namen »Lehre von den großen Zahlen«.110

Es ist kein Grund ersichtlich, warum zwischen dem Alter des Universums in natürlichen Atomeinheiten und der Gesamtzahl der Teilchen im Universum eine Beziehung bestehen sollte, und trotzdem gibt es eine direkte Parallele. Beide Größen liegen sehr nah bei 1040.

Die moderne Physik kennt zwei natürliche Zeitskalen: die Hubble-Zeit, die das Maß kosmischen Wandels ist, und die Nuklearzeit, deren Einheit die Zeit ist, die das Licht zum Durchqueren eines einzelnen Protons benötigt. Zwischen den beiden Skalen, die an entgegengesetzten Enden des kosmischen Spektrums situiert sind, gibt es keinen direkten Zusammenhang, das Zahlenverhältnis zwischen ihnen ist jedoch 1:1040.

Die Untersuchung der verschieden starken Kernkräfte und die Bestimmung des thermodynamischen Zustands des Universums im Frühstadium seiner Entwicklung fallen jede in den Aufgabenbereich eines eigenen Zweigs der Physik, und dennoch gelangen beide zu derselben natürlichen Konstante 1040. Eine Verbindung zwischen der Feinstrukturkonstante für die Gravitation und der für den Elektromagnetismus könnte nur Zufall sein, so scheint es, aber auch hier zeigt sich wieder, daß beide den Zahlenwert 1040 haben.314

Das sind nur einige Beispiele für Koinzidenzen im Bereich der großen Zahlen. Die Liste ließe sich verlängern. In der Tat ist die Zahl der ähnlichen Fälle so groß, daß der 1938 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Physiker Paul Dirac schrieb: »Wir dürfen annehmen, daß Koinzidenzen dieser Art auf einen tiefliegenden Zusammenhang in der Natur zurückgehen.« Ja, solchen Koinzidenzen begegnet man so häufig, daß man versucht ist, noch weiter zu gehen und zu sagen, hier spiele sich in der Tat etwas höchst Merkwürdiges ab. Eine Art kosmischer Konspiration.195

Der britische Physiker Paul Davies spricht von einem »kosmischen Zusammenwirken so exorbitant unwahrscheinlichen Charakters, daß man sich des Eindrucks kaum zu erwehren vermag, hier wirke irgendein Elementarprinzip«. Die neuesten Entdeckungen über die Anfänge des Alls, so hebt er hervor, deuten alle darauf hin, daß der Kosmos mit erstaunlicher Präzision in Gang kam. Seine Beschaffenheit begünstigt nicht nur die Koinzidenz der großen Zahlen und viele andere numerische »Zufälle«, sondern setzt sie förmlich voraus. Ohne sie wäre ein Stern wie die Sonne gar nicht entstanden. »Hätte die Natur sich für ein auch nur geringfügig anderes Zahlenwerk entschieden, wäre die Welt bei weitem nicht der Ort, der sie heute ist. Wahrscheinlich würden wir sie nicht sehen, weil es uns nicht gäbe.«99

Aber es gibt uns – dank einer langen Liste glücklicher Zufälle und einer hochgradigen Präzisionsarbeit, die der britische Astrophysiker John Gribbin dem von ihm so genannten »Goldlöckchen-Effekt« zuschreibt. Wir erinnern uns: Goldlöckchen ist eine Märchenheldin und als solche wahrscheinlich auch die erste aktenkundig gewordene Hausbesetzerin. Sie machte es sich in dem unbewachten Heim der drei kleinen Bären gemütlich, probierte deren Betten, Stühle und Haferbrei aus, bis sie das Bett gefunden hatte, das nicht zu weich und nicht zu hart war, den Stuhl, der nicht zu groß und nicht zu klein war, und die Schale mit dem Brei, der nicht zu heiß und nicht zu kühl war – Bett, Stuhl und Brei, die »gerade richtig« für sie waren. Diese Richtigkeit ist eine wichtige Idee, eine Idee mit Konsequenzen von großer Tragweite nicht nur für die Kosmologie, sondern auch für das Leben in all seinen Formen. Und sie hängt, wie ich glaube, direkt mit dem Problem von Gut und Böse zusammen – die beide sogar eine kosmische Wurzel haben könnten.

Wie kosmische Koinzidenzen unsere Existenz begünstigen, ist wahrhaft erstaunlich.

Daß wir uns auf festem Untergrund befinden, obschon der größte Teil der Materie im Universum die Form von Gaswolken oder heißem Plasma hat, und daß wir uns in der Nähe eines stabilen Sterns befinden, obschon es unter den Sternen zahlreiche veränderliche gibt oder solche, die keine Planeten zu binden vermögen – diese Gegebenheiten dürften kein Zufall sein. Sie sind wohl unausweichlich. Was uns betrifft, hätten die Dinge nicht anders kommen dürfen. Das Leben setzt viele ausgefallene Umstände voraus, wie sie vielleicht nur in räumlich und zeitlich eng begrenztem Rahmen eintreten können. Die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens aller unerläßlichen Vorbedingungen an ein und demselben Punkt der Raumzeit ist unendlich gering. Aber jetzt, wo diese Umstände gegeben und wir da sind, ist es nur recht und billig, einen Zusammenhang zwischen unserer eigenen Existenz und der des Kosmos herzustellen und mit John Wheeler, dem Professor der Physik in Princeton, zu fragen: »Hier ist der Mensch – was muß demnach das Universum sein?«411

Nicht auszuschließen, daß es sogar etwas Lebendes ist.

Das Leben ist ein sonderbar’ Ding. Ganze Wissenschaften haben sich erfolglos bemüht, es zu definieren. Doch selbst wenn wir uns noch schwertun, genau zu sagen, was es ist, dürfen wir sicher sein, daß es eines ganz bestimmt nicht ist: Es ist niemals chaotisch. Was man von den meisten anderen Systemen nicht sagen kann. Sich selbst überlassen, neigen sie dazu, sich aufzulösen und immer mehr in Unordnung zu geraten, bis sie zuletzt nur mehr eine Zufallsverteilung von Materie sind. Das ist der natürliche Zustand der Dinge. Ihre Zukunft ist im Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik niedergelegt, der besagt, daß die Entropie, der Grad der Unordnung eines Systems, stets zunimmt, bis das Maximum, das vollendete Chaos, erreicht ist. Dieser Zielpunkt der Entwicklung, das Endstadium des kosmischen Auflösungsprozesses, wird üblicher- und höchst aufschlußreicherweise als »Kältetod des Universums« bezeichnet.

Lassen wir den Wahrheitsgehalt der in dieser Formel unausgesprochen enthaltenen Annahme, daß der Kosmos etwas Lebendes sei, für den Moment einmal auf sich beruhen, so finden wir hier immerhin eine Arbeitsdefinition davon, was es heißt, lebendig zu sein. Das Leben ist geordnet. Es trägt Ordnung in Beliebigkeit hinein. Es kehrt die allgemeine Tendenz um, indem es zufällige Zusammentreffen fördert. Es gedeiht durch Unnatürlichkeit und fügt Elemente, deren Vorkommen extrem unwahrscheinlich ist, in einer Weise zusammen, die jeder statistischen Wahrscheinlichkeit hohnspricht. Das Leben ist etwas Ausgefallenes und Irrationales. Es schwimmt gegen den Strom und ist noch am ehesten an seinem Eigenbrötlertum zu erkennen. Mitten in einem Umfeld von Verworrenheit besitzt es Gestalt und Ordnung.

Das Leben ist etwas, das einem förmlich in die Augen springt, ein Blickfang wie die Erde selbst vom Mond aus gesehen, wenn sie sich – wie die denkwürdigen Fotografien der Apollo-Astronauten es festhalten – über den kahlen Horizont des toten Gestirns erhebt. Mit seinen Nachbarn im Sonnensystem verglichen ist unser Planet ein Einzelgänger von dem sanften Blau einer Oase in der Wüste. Selbst aus der Ferne ist nicht zu verkennen, daß dort innerhalb der schützenden Dunstblase etwas Ungewöhnliches, etwas Frisches und Beschwingtes im Gange ist.

Unser Planet bricht alle Regeln. Theoretisch und von Rechts wegen müßte die Erde sich heute schon in einem Zustand der Ödnis und Unordnung befinden. Die fünf Milliarden Jahre, die es ihn jetzt gibt, hätten mehr als ausreichen müssen, um den heißen jungen Planeten in einen erschöpften alten Planeten zu verwandeln, auf dem alles in einen homöostatischen Zustand eingetreten und zur Ruhe gekommen ist. Eigentlich müßten alle energetischen Reaktionen abgelaufen sein, das gesamte Potential an zufälligen, unvorhersehbaren Störungen sich zu einer berechenbaren Gleichförmigkeit zurückgebildet haben. Der dritte Planet des nicht sonderlich bemerkenswerten Sterns Sonne müßte sich jetzt in einem stationären Zustand befinden, öde und leer und ohne Leben sein. Bekanntlich ist das nicht der Fall.

Unsere Welt ist ein Hort kreativer Energien und in unwahrscheinlichster Weise mit einer Fülle unwahrscheinlichster chemischer Substanzen gesegnet. Im Erdboden tobt Anarchie und wirkt letztlich, Gott weiß warum, erfolgreich dem Chaos entgegen. Und gegen alle Wahrscheinlichkeit ist das Ergebnis – Ordnung. Die Ozeane wogen, Regen fällt, Küsten heben sich, der Wind weht, und Leben blüht auf – und das alles, weil irgend etwas den Launen der Sonne und der Zeit zum Trotz unsere Umwelt stabil erhält. Das Ganze sieht mehr nach einem Kunstgebilde als nach einem Zufallsprodukt aus. Und ein Kunstgebilde könnte es tatsächlich auch sein – ein vom Leben für seine eigenen Zwecke geschaffenes und erhaltenes Ökosystem.

Um ganz erfassen zu können, in welchem Ausmaß das Leben dafür verantwortlich ist, daß die Erde so ist, wie wir sie kennen, müssen wir uns vorstellen, wie unser Planet ausgesehen haben muß, ehe vor vier Milliarden Jahren das Leben auf ihm erschien. Sprühend von Strahlungsenergie, die von der Explosion einer benachbarten Supernova zurückgeblieben war, kam das Sonnensystem gerade zur Ruhe. Noch immer kollidierten Trümmer aus der Katastrophenregion mit den sich zusammenziehenden Planeten, so daß geschmolzenes Gestein und überhitztes Gas umherspritzten wie Gebräu aus einem Hexenkessel. Dieses Stadium der Erdgeschichte bezeichnet man heute passenderweise als das Hades-Zeitalter.

Es war eine alptraumartige Zeit. Noch gab es keine physikalische Kohäsion. Die Sonne war noch jung und kühl, aber das Erdinnere war dreimal so heiß, wie es heute ist. Das Magma war allerorten vulkanisch aktiv, der Ozean der Frühzeit infolgedessen warm und bewegt. Die stark kohlensäurehaltige Atmosphäre war so dicht und neblig trüb, daß der Himmel für unsere Augen von unveränderlichem Orangerot und das Meer von schmutzbrauner Farbe gewesen wäre. Die blauen und weißen Töne, die wir von unserem mit Wolken und Wölkchen garnierten Planeten kennen, kamen als Produkt der Bleichkraft des Sauerstoffs erst später. Die erste Erdatmosphäre enthielt keinen Sauerstoff, sondern viele für uns giftige und übelriechende Gase, die in dem herrschenden Treibhausklima Zucker und Aminosäuren ausfällten. Zufälligerweise gerade das richtige Ambiente für die Anfänge des Lebens.

Einfache Anfänge. Handfeste Daten über die damalige Zeit sind naturgemäß rar, doch scheint außer Zweifel zu stehen, daß ausreichend organische Substanzen für die Entstehung und Ernährung der ersten Mikroorganismen – wahrscheinlich Bakterien – vorhanden waren. Bei den Urbakterien dürfte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Vielzahl verschiedener Arten gehandelt haben, die von dem gegebenen Ressourcenüberfluß profitierten, Strategien erprobten und sich in die Risse und Spalten der allmählich entstehenden Ökologie des Planeten hineintasteten. Diese Mikroben wurden zur »schweigenden Mehrheit« des Lebens auf der Erde und sind es bis heute geblieben. Ihre Zahl ist größer als die aller anderen Lebewesen zusammen. Die Grundstoffindustrie des organischen Stoffwechsels liegt vollständig in der Hand von Bakterien. Bakterien setzen Stickstoff aus dem Boden frei und erzeugen durch das Anregen von Gärungsprozessen Wasserstoff. Großenteils Produkte bakterieller Aktivitäten sind auch Methan und Ammoniak sowie über vierzig weniger wichtige andere Gase, die zusammen mit ihnen die anomale Atmosphäre der Erde bilden. Sie alle sind »biogen«, das heißt ausschließlich von – zumeist mikroskopischen – Kleinlebewesen produziert, die diese Substanzen ohne Rast und Ruh in erstaunlichen Mengen aus ihren Werkstätten ausstoßen. Diese Mikroorganismen waren die ersten Anfänge unseres Kopien seiner selbst erzeugenden Systems und die Hauptverantwortlichen für die Kolonisierung der Erde durch das Leben. Und nachdem erst einmal einer von ihnen entdeckt hatte, wie er sich nicht allein von den begrenzten Rohstoffen in seiner unmittelbaren Umgebung, sondern auch aus dem unerschöpflichen Energievorrat, den das Sonnenlicht zur Verfügung stellte, ernähren konnte, verwandelte sich unsere Welt aus einem toten Planeten, der das Leben wie einen Gast aus der Fremde beherbergte, in einen Himmelskörper, der ganz den Eindruck von etwas durch und durch Lebendigem macht.

Die Spezialforschung zu der Frage, in welcher Weise das Leben die Umwelt direkt beeinflußt, kommt mit Riesenschritten voran – mit manchmal verblüffenden Ergebnissen …

Riffkorallen zum Beispiel brauchen warmes Meerwasser zum Leben, aber nicht zuwenig und nicht zuviel davon. Sie vertragen es nicht, der Luft ausgesetzt zu sein, und ihre Bauten sind durch bewegte See leicht zu zerstören, also tun sie ihr möglichstes, um über der für sie idealen Tiefe Zonen von ruhigem Wasser zu schaffen. Manche Arten sondern eine fettartige Substanz ab, die mit dem Wasser reagiert und sich zu einem stark wirkenden Oberflächenglättungsmittel aufspaltet, das sozusagen Öl auf die Wogen gießt: Es setzt die Oberflächenspannung des Meerwassers herab, vermindert dadurch Wellengang und Winddruck und bewirkt so, daß die See in der Umgebung von Saumriffen sehr viel ruhiger ist, als es sonst der Fall wäre. Für jeden, der in tropischen Gewässern segelt, ist dieser Effekt augenfällig. Schon von weitem kann ich erkennen, ob das Wasser vor mir über Felsenklippen oder Korallenbauten hinwegspült. Über einem lebenden Korallenriff ist die See viel ruhiger als über einer leblosen Felsenbank. Und die Satellitenüberwachung der Erdoberfläche dokumentiert den Effekt in großem Maßstab; Mikrowellenradiometer registrieren in stark korallenbewachsenen Küstengebieten ungewöhnlich kurze Wellenlängen.103

In der Sparte Umweltregulierung ähnlich aktiv ist auf offenem Meer das Phytoplankton. Diese winzigen grünen Algen treiben an der Wasseroberfläche, leben vom Sonnenlicht und geben sich alle Mühe, sicherzustellen, daß ihre Welt sich nicht allzu stark erwärmt. Ein Abfallprodukt ihres Stoffwechsels entweicht in die Atmosphäre und bildet dort submikroskopische Sulfatärosole, die als Kondensationskerne für Wasserdampf wirken. Ohne diese Kerne gäbe es in so großer Entfernung vom Land nur wenige Wolken. So aber kommt es problemlos zur Wolkenbildung, die Sonneneinstrahlung wird vermindert, die Oberflächentemperatur des Meeres bleibt unter Kontrolle, der Wind bläst mit größerer Stärke, die See ist öfter aufgewühlt, und Nährstoffe werden aus der Tiefe hoch und in erschöpfte Oberflächenschichten gewirbelt.67

Auf dem Land üben tropische Feuchtwälder mit ihrer Mikroflora und -fauna eine ähnliche Regulierungsfunktion aus. 75 Prozent des Niederschlags werden vom Blätterdach und dem feuchten Boden in einer Art Sofortrecycling in die Atmosphäre zurück abgedampft und enden in regionaler Wolkenbildung, die das darunterliegende Gebiet vor übermäßiger Sonneneinstrahlung schützt. Jede der schätzungsweise dreißig Millionen Arten, die auf der Erde leben, spielt ihren eigenen Part in solchen Prozessen. So zum Beispiel versprüht das gewaltige Ameisenheer im Amazonasgebiet im Zuge von Kommunikations- und Verteidigungshandlungen jährlich schätzungsweise zweihunderttausend Tonnen Ameisensäure in die Luft. Dadurch gewinnt der Regen in dem Flußbecken eine leichte Azidität, dank deren er die Kompostierung von totem Holz beschleunigt, wobei Bakterien in die Atmosphäre freigesetzt werden, die dort die Eiskeimbildung anregen und damit aus vorüberziehenden Wolken wiederum sauren Regen freisetzen. Und so weiter und so fort …338

Wir haben es hier meines Erachtens mit mehr als lediglich einer Folge von glücklichen Zufällen zu tun. Die Entstehung des Lebens mag ein Glückstreffer beim Würfeln gewesen sein, eine physikalische und chemische Zufallskonstellation, die nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit irgendwann einmal irgendwo auftreten mußte. Sie mag schon viele Male zuvor andernorts aufgetreten sein, aber in unserem Fall, auf unserem Planeten, war das Experiment dann von wunderbarem Erfolg gekrönt. Erfolg, der noch andauert, weil sich eine Menge Rückkoppelungsschleifen herausbildeten, die unsere Welt zu einer gastfreundlichen Umgebung für das Leben machen und so verhindern, daß es wieder erlischt, wie es anderswo durchaus der Fall gewesen sein könnte.

Unsere Welt ist sorgsam durchkomponiert und fein ausbalanciert. Sie steckt voller überraschender Koinzidenzen und jener Art unnatürlicher Instabilität, die aus Chaos Ordnung schafft. Sie weist außerordentliche Dauerhaftigkeit und ein schönes Ebenmaß auf und dazu so viel mathematische Kohärenz, daß es schwerfällt, ihre Existenz für einen bloßen Zufall zu halten. Das Erstaunlichste, was man an ihr entdeckt hat: Sie ist zum größten Teil weit entfernt von jener gleichmäßigen Häufigkeitsverteilung von Elementen oder Partikeln, die zur Entropie gehört, und schafft es irgendwie, diesen Abstand zu halten. Die Regulierungsprozesse, die das voraussetzt, funktionieren mit solcher Präzision, daß sogar die ganze Galaxis, die man sich einst als eine bloße Zusammenballung unbelebter Materie dachte, heute in vieler Beziehung ein Ansehen von Leben gewinnt.

Das Leben des einzelnen Sterns ist begrenzt. Wenn der Wasserstoffvorrat in seinem Kern aufgebraucht ist, dehnen sich die äußeren Regionen, bis er zu einem mächtigen »roten Riesen« von weit über hundert Millionen Kilometer Durchmesser angeschwollen ist. Unsere Sonne wird es in etwa fünf Milliarden Jahren treffen; dann schwenkt sie auf den allgemeinen Kurs ein und bewegt sich auf den Zustand der Stabilität zu, die Endstation, die sie erreicht hat, sobald sie vollständig in das schwere, inaktive Eisen 56, das Element mit der geringsten bisher bekanntgewordenen Kernenergie, umgewandelt ist.

So entwickeln sich die Dinge, weil Eisen 56 die effizienteste Form ist, eine Anhäufung von Materie zu verdichten und abzulagern. Falls allerdings der Stern, der auf diese Weise für die Stillegung vorbereitet wird, ein sehr großes Exemplar ist – mehr als achtmal so groß wie die Sonne –, kann die Sache noch einen Schritt weiter gehen. Wenn die Masse des Eisens 56