Die Nadel - Ken Follett - E-Book
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Die Nadel E-Book

Ken Follett

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Beschreibung

April 1944. Die Invasion steht unmittelbar bevor. Um den Deutschen eine Landung bei Calais zu suggerieren, haben die Briten mit Gummipanzern, Pappflugzeugen und potemkinschen Kasernen das größte Täuschungsmanöver aller Zeiten in Südostengland inszeniert. Diese Geisterarmee ist so geschickt in das Funk- und Meldesystem der alliierten Streitkräfte eingewoben, dass selbst Canaris' Abwehrapparat sie für echt hält. Denn was Canaris nicht weiß: Seine Spione in England sitzen hinter Gittern und funken nur Spielmaterial - bis auf einen: Henry Faber, genannt "Die Nadel". Lange vor dem Krieg nach England eingeschleust, hat er es verstanden, unentdeckt zu bleiben. Und ihm gelingt das Unmögliche: Er kommt den Engländern auf die Schliche und enttarnt das Unternehmen "Fortitude". Aber das Schwierigste steht ihm noch bevor: Er muss sein Beweismaterial in die Hände des deutschen Generalstabs bringen. Sein Fluchtweg quer durch Großbritannien wird zur blutigen Spur ...

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Seitenzahl: 528

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Danksagung

Vorwort

Zitat

Erster Teil – Kapitel 1

Erster Teil – Kapitel 2

Erster Teil – Kapitel 3

Erster Teil – Kapitel 4

Erster Teil – Kapitel 5

Erster Teil – Kapitel 6

Zweiter Teil – Kapitel 7

Zweiter Teil – Kapitel 8

Zweiter Teil – Kapitel 9

Zweiter Teil – Kapitel 10

Zweiter Teil – Kapitel 11

Zweiter Teil – Kapitel 12

Dritter Teil – Kapitel 13

Dritter Teil – Kapitel 14

Dritter Teil – Kapitel 15

Dritter Teil – Kapitel 16

Dritter Teil – Kapitel 17

Dritter Teil – Kapitel 18

Vierter Teil – Kapitel 19

Vierter Teil – Kapitel 20

Vierter Teil – Kapitel 21

Vierter Teil – Kapitel 22

Vierter Teil – Kapitel 23

Vierter Teil – Kapitel 24

Fünfter Teil – Kapitel 25

Fünfter Teil – Kapitel 26

Fünfter Teil – Kapitel 27

Fünfter Teil – Kapitel 28

Fünfter Teil – Kapitel 29

Fünfter Teil – Kapitel 30

Sechster Teil – Kapitel 31

Sechster Teil – Kapitel 32

Sechster Teil – Kapitel 33

Sechster Teil – Kapitel 34

Sechster Teil – Kapitel 35

Sechster Teil – Kapitel 36

Sechster Teil – Kapitel 37

Sechster Teil – Kapitel 38

Epilog

Über den Autor

Ken Follett, geboren 1949 in Cardiff, Wales, arbeitete nach dem Studium als Zeitungsreporter. Mit dem Spionagethriller Die Nadel (1979) schaffte er den Durchbruch als Schriftsteller. Seinen größten Erfolg feierte er mit dem Weltbestseller Die Säulen der Erde (1990), das bei der Wahl der Lieblingsbücher der Deutschen 2004 im ZDF den dritten Platz belegte. Neben seinem Interesse für Geschichte engagiert sich Ken Follett auch politisch; seine Frau Barbara gehörte als Labour-Abgeordnete dem britischen Unterhaus an. Außerdem spielt er zum Vergnügen Bass-Gitarre in einer Bluesband und setzt sich im Rahmen einer Stiftung für die Leseförderung ein.

KEN FOLLETT

DIE NADEL

Roman

Aus dem Englischen vonBernd Rullkötter

Neu bearbeitet und ergänztvon Walter Bodemer

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:

»STORM ISLAND«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1978 by Ken Follett

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 1979 by Bastei Lübbe AG, Köln

Coverbild: © stock.xchng

Covergestaltung: Rolf Hörner, Bergisch Gladbach

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-0060-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

DANKSAGUNG

Mein Dank an Malcolm Hulkefür unschätzbare Hilfe,großzügig gewährt.

VORWORT

Zu Beginn des Kriegsjahres 1944 stellte der deutsche Geheimdienst Beweismaterial für die Anwesenheit einer riesigen Armee im Südosten Englands zusammen.

Aufklärungsflugzeuge brachten Photographien von Kasernen und Flugplätzen sowie von Schiffsflotten in The Wash zurück; General George S. Patton wurde gesichtet, wie er in seiner unverwechselbaren blaßroten Reiterhose seine weiße Bulldogge ausführte; es gab immer wieder regen Funkverkehr zwischen Einheiten, die in der Gegend stationiert waren; deutsche Spione in Großbritannien bestätigten die Vorgänge in ihren Berichten.

Natürlich gab es keine Armee. Die Schiffe waren Nachbildungen aus Gummi und Holz; die Kasernen waren reine Filmkulisse; die Funksignale waren ohne Bedeutung; die Spione waren Doppelagenten.

Der Feind sollte fälschlicherweise glauben, die Landung erfolge im Pas de Calais, damit die Landung in der Normandie am D-Day als Überraschungscoup gelingen konnte.

Es war ein gewaltiges, fast unmögliches Täuschungsmanöver. Tausende von Menschen waren an dessen Durchführung beteiligt. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn keiner von Hitlers Spionen je davon erfahren hätte.

Gab es überhaupt Spione? Damals glaubten die Engländer, von Mitgliedern der sogenannten Fünften Kolonne umgeben zu sein. Nach dem Krieg entstand der Mythos, der englische Geheimdienst MI5 habe bis Weihnachten 1939 alle fassen können. In Wahrheit scheint es nur sehr wenige gegeben zu haben, und der MI5 enttarnte fast alle.

Aber einer genügt schon …

Wir wissen, daß die Deutschen in Südostengland das sahen, was sie sehen sollten; daß sie einen Trick vermuteten und daß sie sich sehr bemühten, die Wahrheit herauszufinden.

Soweit ist alles Geschichte. Was folgt, ist frei erfunden. Aber ich glaube, so ähnlich ist es geschehen …

Camberley, SurreyJuni 1977

Fast alle Deutschen wurden getäuscht – nur Hitler hatte eine richtige Vermutung, zögerte aber, ihr gemäß zu handeln.

A. J. P. TaylorEnglish History 1914–1945

ERSTER TEIL – KAPITEL 1

Es war der kälteste Winter seit fünfundvierzig Jahren. Die Dörfer waren eingeschneit, und die Themse war zugefroren. An einem Tag im Januar verspätete sich der Zug von Glasgow nach London sogar um 24 Stunden. Der Schnee und die Verdunklung ließen das Autofahren immer gefährlicher werden: Die Zahl der Unfälle verdoppelte sich, und die Menschen erzählten sich Witze darüber, daß es gefährlicher sei, mit einem Austin Seven nachts durch Picadilly zu fahren, als mit einem Panzer durch den Westwall zu stoßen.

Als der Frühling endlich kam, war es herrlich. Sperrballons trieben majestätisch am hellen, blauen Himmel, und Soldaten auf Heimaturlaub flirteten mit Mädchen in ärmellosen Kleidern auf den Straßen von London.

London wirkte kaum wie die Hauptstadt eines Landes, das sich im Krieg befand. Natürlich gab es Anzeichen dafür. Henry Faber, der mit dem Rad von Waterloo Station nach Highgate fuhr, bemerkte sie: Haufen von Sandsäcken vor wichtigen öffentlichen Gebäuden, Anderson-Schutzräume in den Gärten der Vorstädte, Propagandaplakate über Evakuierung und Luftschutz. Faber fielen diese Dinge auf – er war weit aufmerksamer als ein durchschnittlicher Eisenbahnangestellter. Er sah Scharen von Kindern in den Parks und schloß daraus, daß die Landverschickung ein Fehlschlag gewesen war. Ihm entging nicht die Zahl der Autos, die trotz der Benzinrationierung auf der Straße fuhren, und er las, welche neuen Modelle die Autofirmen ankündigten. Faber wußte, was es bedeutete, daß Arbeiter zur Nachtschicht in die Fabriken strömten, in denen wenige Monate zuvor die Tagschicht kaum genug zu tun gehabt hatte. Vor allem beobachtete er die Truppenverschiebungen per Eisenbahn: Alle Papiere gingen über sein Büro. Daraus ließ sich eine Menge erfahren. Heute hatte er zum Beispiel einen Stoß Formulare abgestempelt, die ihn vermuten ließen, daß eine neue Expeditionsstreitmacht zusammengezogen wurde. Er war sich recht sicher, daß sie aus rund hunderttausend Mann bestehen und für Finnland bestimmt sein würde.

Es gab Anzeichen, ja, aber das Ganze hatte etwas Komisches an sich. Im Radio machte man sich über den Bürokratismus der Kriegsverordnungen lustig, in den Luftschutzbunkern wurde gemeinsam gesungen, und modebewußte Frauen trugen ihre Gasmasken in eigens von Modeschöpfern entworfenen Behältern. Man unterhielt sich über den Sitzkrieg. Er überstieg, wie ein Kinofilm, die eigene Erlebniswelt, war aber zugleich trivial. Und bislang hatte sich noch jeder Fliegeralarm als blinder Alarm erwiesen.

Faber sah die ganze Sache anders – aber er war auch ein ganz anderer Mensch.

Er bog mit seinem Rad in die Archway Road und beugte sich ein wenig vor, um die Steigung besser zu bewältigen; seine langen Beine pumpten so unermüdlich wie die Kolben einer Lokomotive. Für sein Alter war er sehr fit. Er war neununddreißig, was er allerdings verschwieg; er log fast in allem, um sich nicht unnötig zu gefährden.

Faber begann zu schwitzen, während er den Hügel nach Highgate hochstrampelte. Das Haus, in dem er wohnte, war eines der am höchsten gelegenen Londons, deshalb hatte er es sich ausgesucht. Es war ein viktorianischer Ziegelbau am Ende einer Terrasse von sechs gleichartigen Bauten. Die Häuser waren hoch, schmal und finster – wie der Geist der Männer, für die sie gebaut worden waren. Jedes besaß drei Stockwerke und ein Untergeschoß mit einem Dienstboteneingang. Für das gehobene Bürgertum des 19. Jahrhunderts war ein Dienstboteneingang unverzichtbarer Bestandteil, selbst wenn man keine Diener hatte. Faber war zynisch, was die Engländer anging.

Nummer sechs hatte Mr. Harold Garden gehört, dem Besitzer von Garden’s Tea and Coffee, einer kleinen Firma, die während der Weltwirtschaftskrise pleite ging. Da er nach dem Prinzip gelebt hatte, daß Zahlungsunfähigkeit eine Todsünde ist, war dem bankrotten Mr. Garden nichts anderes übriggeblieben, als zu sterben. Das Haus war alles, was er seiner Witwe hinterlassen hatte, die nun Zimmer vermieten mußte. Sie hatte Spaß an ihrer Rolle als Hauswirtin, obwohl die Etikette ihres gesellschaftlichen Standes verlangte, daß sie so tat, als schäme sie sich dessen ein bißchen. Faber hatte ein Zimmer mit Dachfenster im Obergeschoß. Er wohnte dort von Montag bis Freitag und erzählte Mrs. Garden, daß er das Wochenende bei seiner Mutter in Erith verbringe. In Wirklichkeit hatte er eine weitere Hauswirtin in Blackheath, die ihn Mr. Baker nannte und ihn für den Handelsreisenden einer Papierwarenfirma hielt, der die ganze Woche unterwegs war.

Er schob sein Rad unter den finsterabweisenden, hohen Vorderzimmerfenstern vorbei den Gartenpfad hinauf. Dann stellte er es in den Schuppen und kettete es mit einem Vorhängeschloß am Rasenmäher an – es war nämlich verboten, ein Fahrzeug unverschlossen abzustellen. Die Saatkartoffeln in den Kisten, die überall im Schuppen standen, trieben Keime. Mrs. Garden pflanzte jetzt auf ihren Blumenbeeten Gemüse an – ihr Beitrag zum Krieg an der Heimatfront.

Faber betrat das Haus, hängte seinen Hut an den Ständer im Flur, wusch sich die Hände und ging hinein zum Abendessen. Drei der anderen Mieter aßen schon: ein pickeliger Junge aus Yorkshire, der unbedingt Soldat werden wollte, ein Süßwaren-Vertreter mit Geheimratsecken und sandfarbenem Haar und ein pensionierter Marineoffizier, der nach Fabers Überzeugung an Altersschwachsinn litt. Faber nickte ihnen zu und setzte sich.

Der Vertreter erzählte gerade einen Witz. »Der Staffelführer sagte:›Sie sind entschieden zu früh zurück!‹ Da drehte sich der Pilot um und sagte: ›Warum? Ich habe meine Flugblätter bündelweise abgeworfen. War das nicht richtig?‹ Da meinte der Staffelführer: ›Um Gottes willen, Sie hätten jemanden verletzen können!‹«

Der Marineoffizier lachte gackernd, und Faber lächelte. Mrs. Garden kam mit einer Teekanne herein. »Guten Abend, Mr. Faber. Wir haben schon ohne Sie angefangen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«

Faber bestrich eine Scheibe Vollkornbrot dünn mit Margarine und sehnte sich für einen Moment nach einer Scheibe fetter Wurst. »Ihre Saatkartoffeln können gepflanzt werden«, sagte er.

Er beeilte sich mit dem Essen. Die anderen diskutierten darüber, ob Chamberlain entlassen und durch Churchill ersetzt werden solle. Immer, wenn Mrs. Garden etwas sagte, blickte sie Faber an und schien auf seine Reaktion zu warten. Sie hatte ein gerötetes Gesicht und war ein bißchen übergewichtig. Obwohl sie in Fabers Alter war, trug sie die Kleidung einer Dreißigjährigen. Faber hatte schnell gemerkt, daß sie nach einem neuen Mann Ausschau hielt. Er beteiligte sich nicht an der Diskussion.

Mrs. Garden drehte das Radio an. Es summte eine Weile, dann sagte ein Sprecher: »Hier ist der BBC Home Service. It’s That Man Again!«

Faber kannte die Sendung. Regelmäßig trat ein deutscher Spion namens Funf auf. Faber entschuldigte sich und ging auf sein Zimmer.

Nach der Sendung It’s That Man Again blieb Mrs. Garden allein im Wohnzimmer zurück. Der Marineoffizier war mit dem Vertreter in den Pub gegangen, und der Junge aus Yorkshire, der fromm war, in eine Gebetsstunde. Sie saß mit einem kleinen Glas Gin im Wohnzimmer, betrachtete die Verdunklungsvorhänge und dachte an Mr. Faber. Wenn er nur nicht soviel Zeit in seinem Zimmer verbringen würde! Sie brauchte Gesellschaft, und zwar seine.

Solche Gedanken weckten Schuldgefühle in ihr; um diese zu beschwichtigen, dachte sie an Mr. Garden. Bilder der Erinnerung kamen in ihr hoch, vertraut, aber so verschwommen wie eine alte Filmkopie mit ausgeleierter Spule und einem unverständlichen Tonstreifen. Obwohl sie sich gut daran erinnern konnte, wie es war, ihn bei sich im Zimmer zu haben, konnte sie sich nur mit Mühe sein Gesicht oder seine Kleidung oder seine Bemerkungen zu den Kriegsnachrichten des Tages vorstellen. Er war ein kleiner, flinker Mann gewesen, erfolgreich im Geschäft, wenn das Glück ihm lächelte, und erfolglos, wenn nicht, zurückhaltend vor anderen und von unersättlicher Zärtlichkeit im Bett. Sie hatte ihn sehr geliebt. Wenn dieser Krieg erst einmal richtig angefangen hatte, würde es viele Frauen in ihrer Lage geben. Sie goß sich einen weiteren Drink ein.

Mr. Faber war so ruhig – das war das Problem. Er schien keine Laster zu haben. Er rauchte nicht, er roch nie nach Alkohol, und er verbrachte fast jeden Abend in seinem Zimmer und hörte im Radio klassische Musik. Außerdem las er viele Zeitungen und machte lange Spaziergänge. Sie vermutete, daß er trotz seiner niederen Stellung sehr klug war. Seine Beiträge zum abendlichen Gespräch im Eßzimmer waren immer etwas durchdachter als die der anderen. Sicher könnte er eine bessere Stelle bekommen, wenn er es versuchte. Doch offenbar interessierte ihn das nicht.

Das gleiche galt für sein Aussehen. Er hatte eine gute Figur, war hochgewachsen, mit recht muskulösem Nacken und breiten Schultern, ohne ein Gramm Fett. Er hatte lange Beine, ein kräftiges Gesicht mit hoher Stirn, nicht zu kurzem Kinn und hellblauen Augen; es war nicht hübsch wie das eines Filmstars, doch ein Gesicht, das einer Frau gefällt. Sein Mund allerdings war klein und dünnlippig. Sie stellte sich vor, daß er grausam sein konnte. Mr. Garden war zu jeder Grausamkeit unfähig gewesen.

Trotzdem gehörte Mr. Faber auf den ersten Blick nicht zu den Männern, nach denen eine Frau sich umdrehen würde. Die Hose seines alten, abgetragenen Anzugs war immer ungebügelt – sie hätte das mit Freuden für ihn getan, doch er bat sie nie darum –, und er trug immer einen schäbigen Regenmantel und eine flache Schauermannsmütze. Er hatte keinen Schnurrbart. Sein Haar ließ er alle zwei Wochen kurz schneiden. Es war, als wolle er nach nichts aussehen.

Er brauchte eine Frau, darüber gab es keinen Zweifel. Sie fragte sich einen Moment lang, ob er das war, was man als »weibisch« bezeichnete, verwarf den Gedanken jedoch sofort. Er brauchte eine Frau, die ihn herausputzte und seinen Ehrgeiz weckte. Sie brauchte einen Mann, der ihr Gesellschaft leistete und – sie liebte.

Aber er machte nicht den geringsten Annäherungsversuch. Manchmal hätte sie vor Enttäuschung schreien können. Dabei war sie sich sicher, daß sie attraktiv aussah. Während sie sich einen weiteren Gin einschenkte, schaute sie in den Spiegel. Sie hatte ein nettes Gesicht, blondes lockiges Haar und genug, an dem sich ein Mann festhalten konnte … Sie kicherte. Wahrscheinlich war sie beschwipst.

Sie nippte an ihrem Drink und überlegte, ob sie den ersten Schritt machen sollte. Mr. Faber war offensichtlich schüchtern – chronisch schüchtern. Das andere Geschlecht war ihm nicht gleichgültig – das hatte sie bei zwei Gelegenheiten an seinen Augen ablesen können, als er sie im Nachthemd gesehen hatte. Sollte sie ihm gegenüber vielleicht keß auftreten? Was hatte sie schon zu verlieren? Sie versuchte, sich das Schlimmste vorzustellen. Angenommen, er würde sie zurückweisen. Nun, es wäre peinlich – sogar demütigend, aber niemand brauchte etwas davon zu erfahren. Er würde eben ausziehen müssen.

Der Gedanke, einen Korb zu bekommen, hatte ihr die ganze Lust verdorben. Sie stand langsam auf. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Wenn sie im Bett noch einen Gin trank, würde sie schlafen können. Sie nahm die Flasche mit nach oben.

Ihr Schlafzimmer lag unter dem von Mr. Faber. Während sie sich auszog, konnte sie Geigenmusik aus seinem Radio hören. Sie zog ein neues Nachthemd an – rosa, mit besticktem Ausschnitt, und niemand würde es bewundern! Wie Mr. Faber wohl nackt aussehen würde? Wahrscheinlich hatte er keinen Bauch, aber Haare auf der Brust und hervorstehende Rippen. Er war ja schlank. Vieleicht war sein Hintern auch nicht sehr groß? Sie kicherte wieder und dachte: »Ich bin unmöglich.«

Dann goß sie sich ihren letzten Drink ein. Sie nahm den Drink mit ins Bett und holte ihr Buch; aber es war ihr zu anstrengend, sich auf die Buchstaben zu konzentrieren. Außerdem war sie der Abenteuer aus zweiter Hand überdrüssig. Geschichten über gefährliche Liebschaften sind angenehm zu lesen, wenn einem der eigene Ehemann treu und sicher ist, aber eine Frau braucht mehr als die Romane von Barbara Cartland. Sie nippte an ihrem Gin und wünschte sich, daß Mr. Faber das Radio abstellen würde. Es war, als versuche man, bei einem Tanztee zu schlafen!

Natürlich könnte sie ihn bitten, es abzuschalten. Sie schaute auf die Uhr neben ihrem Bett: Es war nach zehn. Sie könnte ihren Morgenrock anziehen, der zu ihrem Nachthemd paßte, ihr Haar ein wenig durchkämmen, dann in ihre Hausschuhe schlüpfen – ganz hübsche, mit einem Rosenmuster –, hinauf zum nächsten Treppenabsatz huschen, ja – und einfach leise an seine Tür klopfen. Er würde aufmachen, vielleicht mit Hose und Unterhemd bekleidet, und sie dann so ansehen, wie er sie angesehen hatte, als sie im Nachthemd auf dem Weg ins Badezimmer gewesen war …

»Du dumme alte Kuh«, sagte sie laut zu sich selbst. »Du suchst doch nur nach einer Ausrede, um hinaufgehen zu können.«

Warum brauchte sie überhaupt einen Vorwand? Sie war erwachsen, es war ihr Haus, und in zehn Jahren hatte sie keinen Mann kennengelernt, der genau der Richtige gewesen wäre. Und, zum Teufel, sie brauchte einen starken, harten, behaarten Mann über sich, der auf ihren Brüsten liegen, ihr in die Ohren keuchen und ihr mit seinen breiten, flachen Händen zwischen die Schenkel fahren würde. Denn schon morgen könnten die Deutschen Gasbomben abwerfen, und alle würden sie röchelnd an dem Gift sterben. Und sie hätte ihre letzte Chance verspielt.

Sie leerte ihr Glas, stand auf, zog ihren Morgenrock an, schlüpfte in ihre Hausschuhe und holte ihren Schlüsselbund, falls er die Tür abgeschlossen hatte und ihr Klopfen wegen des Radios nicht hören konnte.

Niemand war auf dem Treppenabsatz. Sie fand die Treppe in der Dunkelheit. Zwar hatte sie vor, die knarrende Stufe auszulassen, doch sie stolperte auf dem losen Teppich und machte dadurch besonders viel Lärm. Aber niemand schien sie zu hören, deshalb ging sie weiter und pochte ganz oben an die Tür. Vorsichtig drückte sie den Griff hinunter. Die Tür war abgeschlossen.

Das Radio wurde leiser gestellt, und Mr. Faber rief: »Ja, bitte?«

Er hatte eine gute Aussprache: Seine Stimme war weder die eines Cockneys noch die eines Ausländers, sie war ganz einfach angenehm akzentfrei.

Sie fragte: »Dürfte ich mit Ihnen sprechen?«

Er schien zu zögern, dann antwortete er: »Ich bin schon ausgezogen.«

»Ich auch«, sagte sie kichernd und öffnete die Tür mit ihrem Zweitschlüssel. Er stand mit einer Art Schraubenzieher in der Hand vor dem Radio. Er trug eine Hose, aber kein Unterhemd. Sein Gesicht war weiß, er schien zu Tode erschrocken.

Sie trat ein und schloß die Tür hinter sich. Was sollte sie sagen? Plötzlich erinnerte sie sich an einen Satz aus einem amerikanischen Film und fragte: »Würden Sie ein einsames Mädchen zu einem Gläschen einladen?« Es war eigentlich albern, da sie wußte, daß er keinen Alkohol auf dem Zimmer hatte, und ihr Aufzug zum Ausgehen bestimmt nicht geeignet war. Aber es klang verführerisch.

Es schien die gewünschte Wirkung zu haben. Ohne ein Wort zu sagen, kam er langsam auf sie zu. Sie machte einen Schritt nach vorne, seine Arme umfingen sie, sie schloß die Augen und hob das Gesicht. Er küßte sie, und sie bewegte sich ein wenig in seinen Armen. Dann spürte sie einen entsetzlichen, unerträglich stechenden Schmerz im Rücken und öffnete den Mund, um zu schreien.

Er hatte sie auf der Treppe stolpern hören. Wenn sie noch eine Minute länger gewartet hätte, wären der Sender wieder in seinem Koffer und die Codebücher in der Schublade gewesen, und sie hätte nicht zu sterben brauchen. Bevor er das Beweismaterial jedoch hatte verstecken können, war der Schlüssel im Schloß zu hören gewesen. Als sie die Tür öffnete, hatte das Stilett schon in seiner Hand gelegen.

Da sie sich in seinen Armen wand, verfehlte Faber ihr Herz mit dem ersten Stich der Waffe. Er mußte ihr die Finger in den Rachen stecken, um sie am Schreien zu hindern. Noch einmal stieß er zu, doch sie bewegte sich wieder, so daß die Klinge eine Rippe traf und nur ihre Haut oberflächlich ritzte. Dann spritzte das Blut heraus, und er wußte, daß es keine saubere Arbeit sein würde. Das war es nie, wenn man nicht mit dem ersten Stoß traf.

Sie zappelte jetzt zu sehr, um mit einem Stich getötet zu werden. Er ließ die Finger in ihrem Mund, packte sie mit dem Daumen am Kinn und stieß sie gegen die Tür zurück. Ihr Kopf knallte gegen das Holz. Wenn er nur das Radio nicht leiser gestellt hätte! Aber wie hätte er so etwas auch ahnen sollen?

Er zögerte, bevor er sie umbrachte, denn es wäre viel besser, wenn sie auf dem Bett stürbe – besser für die Vertuschung, die er schon zu planen begann –, aber wie konnte er sie dorthin schaffen, ohne Lärm zu machen. Er packte ihr Kinn noch fester, preßte ihren Kopf gegen die Tür, so daß sie ihn nicht bewegen konnte, und holte weit aus. Die Klinge riß ihr fast die ganze Kehle auf, denn das Stilett war kein Messer mit scharfer Schneide. Faber mochte diese Tötungsart nicht sonderlich.

Er sprang zurück, um den Blutspritzern auszuweichen, und machte dann wieder einen Schritt nach vorne, um sie aufzufangen, bevor sie zu Boden fiel. Danach schleppte er sie zum Bett, wobei er versuchte, ihren Hals nicht anzusehen, und legte sie hin.

Faber hatte schon vorher getötet, weshalb er mit der Reaktion rechnete: Sie kam immer, sobald er sich sicher fühlte. Er ging hinüber zu dem Ausguß in der Zimmerecke und wartete darauf. Sein Gesicht war in dem kleinen Rasierspiegel zu sehen. Es war weiß, und seine Augen blickten starr. Er betrachtete sein Spiegelbild und dachte: Mörder. Dann übergab er sich.

Danach fühlte er sich besser. Jetzt konnte er an die Arbeit gehen. Er wußte, was zu tun war. Noch während er sie getötet hatte, waren ihm die Einzelheiten klargeworden.

Er wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne und säuberte das Waschbecken. Dann setzte er sich an den Tisch neben das Funkgerät. Er schaute in sein Notizbuch, fand die Stelle und begann, den Code zu senden. Es war eine lange Meldung – über die Aufstellung einer Armee für Finnland. Mittendrin wurde er unterbrochen; er schrieb die Mitteilung in Chiffre auf den Notizblock. Als er fertig war, verabschiedete er sich mit: »Grüße an Willi.«

Nachdem Faber das Sendegerät säuberlich in einen Spezialkoffer eingepackt hatte, verstaute er seine restlichen Habseligkeiten in einen zweiten Koffer. Er zog seine Hose aus, tupfte die Blutflecke mit einem Schwamm ab und wusch sich dann am ganzen Körper.

Schließlich blickte er zu der Leiche hinüber.

Jetzt war sie ihm gleichgültig. Es war Krieg, und sie waren Feinde. Sie oder er! Die Frau war eine Bedrohung gewesen; nun verspürte er nur noch Erleichterung darüber, daß diese Bedrohung beseitigt war. Sie hätte ihn nicht erschrecken sollen.

Trotzdem war der letzte Schritt widerwärtig. Er öffnete ihren Morgenrock, hob ihr Nachthemd und zog es bis zu ihrer Hüfte hoch. Sie trug einen Schlüpfer. Er zerriß ihn, so daß ihr Schamhaar zu sehen war. Arme Frau, sie hatte ihn nur verführen wollen! Aber er hätte sie nicht aus dem Zimmer bekommen, ohne daß sie den Sender gesehen hätte. Die britische Propaganda hatte eine Art Agentenhysterie verbreitet, die ans Lächerliche grenzte. Wenn die Abwehr tatsächlich über so viele Spione verfügte, wie die Zeitungen behaupteten, hätten die Briten den Krieg schon längst verloren.

Er trat zurück und betrachtete die Leiche mit gesenktem Kopf. Irgend etwas stimmte nicht. Er versuchte, sich in die Lage eines Sexualverbrechers hineinzuversetzen. Wenn ich wahnsinnig vor Begierde nach einer Frau wie Una Garden wäre und sie getötet hätte, nur um mich an ihr auszutoben, was würde ich dann tun?

Natürlich: So ein Wahnsinniger würde ihre Brüste sehen wollen. Faber beugte sich über den Körper, packte den Ausschnitt des Nachthemdes und riß ihn bis zur Hüfte auf. Ihre großen Brüste sackten zur Seite.

Der Polizeiarzt würde bald herausfinden, daß sie nicht vergewaltigt worden war, aber das spielte keine Rolle. Faber hatte auf einem Kriminalistenlehrgang in Heidelberg erfahren, daß viele Sexualverbrechen nicht vollendet wurden. Außerdem hätte er die Täuschung nicht so weit treiben können, auch nicht für Deutschland. Er verdrängte den Gedanken.

Faber wusch sich noch einmal die Hände und zog sich an. Es war fast Mitternacht. Er würde noch eine Stunde warten, bevor er verschwand. Das war sicherer.

Er setzte sich, um zu überlegen, was er falsch gemacht hatte.

Zweifellos hatte er einen Fehler gemacht. Wenn er wirklich an alles gedacht hätte, wäre er völlig sicher gewesen, hätte niemand hinter sein Geheimnis kommen können. Mrs. Garden war dahintergekommen, oder besser gesagt, sie wäre dahintergekommen, wenn sie ein paar Sekunden länger gelebt hätte. Also war er nicht völlig sicher gewesen, also hatte er keine vollkommene Tarnung gehabt, also hatte er einen Fehler begangen.

Er hätte einen Riegel an der Tür anbringen sollen. Es war besser, für chronisch schüchtern gehalten als nachts heimlich von Hauswirtinnen im Nachthemd und mit Zweitschlüsseln besucht zu werden.

Das war der äußere Fehler. Der entscheidende, grundlegende Fehler aber bestand darin, daß er eine zu gute Partie war, um Junggeselle zu sein. Es war ein ärgerlicher, kein selbstgefälliger Gedanke. Er wußte, daß er ein netter, attraktiver Mann war und es keinen offensichtlichen Grund dafür gab, weshalb er unverheiratet sein sollte. Er begann, darüber nachzudenken, wie er das in Zukunft erklären sollte, um sich Frauen wie Mrs. Garden vom Hals zu halten.

Der Grund war in seinem eigentlichen Wesen zu suchen. Warum war er noch ungebunden? Voller Unbehagen rutschte er auf seinem Stuhl herum, weil er ungern Selbstbespiegelung betrieb. Die Antwort war einfach. Er hatte keine Frau, weil er Agent war. Weitere Gründe, sollte es sie geben, interessierten ihn nicht.

Er würde die Nacht im Freien verbringen müssen – im Highgate Wood. Am nächsten Morgen würde er seine Koffer in der Gepäckaufbewahrung eines Bahnhofes abgeben und dann abends zu seinem Zimmer in Blackheath fahren.

Seine zweite Identität würde ihm Schutz bieten. Es war kaum zu befürchten, daß die Polizei ihn fassen würde. Der Handelsreisende, der das Zimmer in Blackheath an Wochenenden bewohnte, war ein ganz anderer Typ als der Eisenbahnangestellte, der seine Hauswirtin ermordet hatte. In Blackheath kannte man ihn als gesprächig, vulgär und aufdringlich; er trug auffallende Krawatten, schmiß im Pub Runden und kämmte sein Haar anders. Die Polizei würde nach einem schäbigen kleinen Triebtäter fahnden, der nicht piep sagen konnte, bis er sexuell erregt war. Niemand würde einen zweiten Blick auf den gutaussehenden Vertreter im gestreiften Anzug verschwenden, der offensichtlich ständig auf Frauen scharf war und es nicht nötig hatte, sie umzubringen, damit sie ihm ihren Busen zeigten.

Er würde sich noch eine weitere Identität zulegen müssen – zwei waren das mindeste. Er brauchte eine neue Arbeitsstelle und neue Papiere: Paß, Kennkarte, Markenheft und Geburtsurkunde. Zum Teufel mit Mrs. Garden. Warum hatte sie sich nicht wie gewöhnlich betrunken, bis sie einschlief?

Es war ein Uhr. Faber schaute sich ein letztes Mal im Zimmer um. Es war ihm gleichgültig, daß er Spuren hinterließ. Seine Fingerabdrücke waren natürlich im ganzen Haus zu finden; niemand würde daran zweifeln, wer der Mörder war. Auch verspürte er kein Bedauern, den Ort zu verlassen, der zwei Jahre sein Zuhause gewesen war. Er hatte ihn nicht als sein Zuhause betrachtet. Noch nie hatte er etwas als sein Zuhause angesehen. Dies hier würde für ihn immer nur das Zimmer sein, in dem er gelernt hatte, daß an eine Tür ein Riegel gehört.

Er knipste das Licht aus, nahm seine Koffer, schlich die Treppe hinunter, aus der Tür hinaus und verschwand in der Nacht.

ERSTER TEIL – KAPITEL 2

Heinrich II. war ein bemerkenswerter König. In einem Zeitalter, in dem der Begriff »Blitzbesuch« noch nicht geprägt worden war, eilte er mit einer solchen Geschwindigkeit zwischen England und Frankreich hin und her, daß man ihm magische Kräfte zumaß – ein Gerücht, das er verständlicherweise mitnichten zu unterdrücken suchte. Im Jahre 1173 – entweder im Juni oder im September, je nachdem, welche Quelle man bevorzugt – kam er nach England und reiste so schnell wieder nach Frankreich ab, daß kein zeitgenössischer Schreiber es je festhalten konnte. Später entdeckten Historiker Aufzeichnungen über die Kosten seiner Unternehmungen in den Schatzkammerrollen. Damals wurde sein Königreich im Norden und Süden von seinen Söhnen angegriffen – an der schottischen Grenze und im Süden von Frankreich. Aber was genau war der Zweck seines Besuches? Mit wem traf er sich? Warum wurde der Besuch geheimgehalten, obwohl der Nimbus von der magischen Reisegeschwindigkeit des Königs eine Armee aufwog? Was erreichte er damit?

Dieses Problem beschäftigte Percival Godliman im Sommer des Jahres 1940, als Hitlers Armeen wie eine Sichel über die französischen Kornfelder fegten und die Briten in heillosem Durcheinander unter blutigen Verlusten aus dem Kessel von Dünkirchen flohen.

Professor Godliman wußte mehr über das Mittelalter als irgend jemand sonst. Sein Buch über den Schwarzen Tod hatte alle bisherigen Thesen der Mittelalterforschung über den Haufen geworfen; es war sogar ein Bestseller gewesen und als Penguin-Taschenbuch herausgekommen. Danach hatte er sich einer etwas früheren und noch schwerer zugänglichen Periode zugewandt.

Eine der Sekretärinnen des Instituts fand Godliman um 12.30 Uhr an einem strahlenden Junitag in London über eine Handschrift gebeugt. Er übersetzte mühsam das mittelalterliche Latein und machte Notizen in seiner eigenen, noch weniger leserlichen Handschrift. Der Sekretärin, die ihren Lunch im Garten des Gordon Square essen wollte, gefiel der Handschriftenraum nicht, weil er nach Tod roch. Man brauchte auch ungefähr so viele Schlüssel, um dorthin zu kommen, wie bei einem Grabgewölbe.

Godliman stand wie ein Vogel auf einem Bein am Lesepult; ein Scheinwerfer strahlte sein Gesicht von oben unfreundlich an. Er hätte der Geist des Mönchs sein können, der das Buch verfaßt hatte und nun in der Kühle bei seiner geliebten Chronik wacht. Das Mädchen räusperte sich und wartete darauf, daß er sie bemerkte. Godliman war ein kleiner, kurzsichtiger Mann mit runden Schultern, der einen Tweedanzug trug. Sie wußte, daß er völlig vernünftig sein konnte, wenn man ihn einmal aus dem Mittelalter herausgezerrt hatte. Wieder hüstelte sie und sagte: »Professor Godliman?«

Er blickte auf und lächelte, als er sie erkannte. Jetzt wirkte er nicht mehr wie ein Geist, sondern eher wie ein vertrottelter Familienvater.

»Hallo!« sagte er erstaunt, als begegne er seiner Hausnachbarin mitten in der Sahara.

»Ich sollte Sie daran erinnern, daß Sie im Savoy mit Colonel Terry zum Lunch verabredet sind.«

»Oh, ja.« Er nahm seine Uhr aus der Westentasche und schaute auf das Ziffernblatt. »Wenn ich zu Fuß gehe, wird es Zeit.«

Sie nickte. »Ich habe Ihre Gasmaske mitgebracht.«

»Sie sind sehr aufmerksam!« Er lächelte wieder, und sie kam zu dem Schluß, daß er ganz nett aussah. Er nahm die Gasmaske. »Brauche ich meinen Mantel?«

»Sie hatten heute morgen keinen dabei. Es ist ziemlich warm. Soll ich hinter Ihnen abschließen?«

»Vielen Dank, vielen Dank.« Er zwängte sein Notizbuch in die Jackentasche und ging hinaus.

Die Sekretärin blickte sich um, erschauerte und folgte ihm.

Colonel Andrew Terry war ein Schotte mit rotem Gesicht, und er war spindeldürr, was daran liegen mochte, daß er schon ein Leben lang stark rauchte. Er hatte schütteres dunkelblondes Haar, das ausgiebig pomadisiert war. Godliman traf ihn an einem Ecktisch im Savoy Grill an; er trug Zivil. Drei Zigarettenstummel lagen im Aschenbecher. Terry stand auf, um ihm die Hand zu schütteln.

Godliman sagte: »Morgen, Onkel Andrew.« Terry war der jüngere Bruder seiner Mutter.

»Wie geht’s, Percy?«

»Ich schreibe ein Buch über die Plantagenets.« Godliman setzte sich.

»Sind deine Handschriften immer noch in London? Das überrascht mich.«

»Wieso?«

Terry zündete sich eine weitere Zigarette an. »Du solltest sie aufs Land bringen, um sie vor Bomben zu schützen.«

»Wirklich?«

»Die halbe Nationalgalerie ist in ein Riesenloch irgendwo in Wales verpflanzt worden. Wäre vielleicht vernünftig, auch dorthin zu verschwinden. Der junge Kenneth Clark ist mehr auf Zack als du. Du hast doch bestimmt nicht mehr viele Studenten.«

»Das stimmt.« Godliman ließ sich von einem der Kellner die Speisekarte geben und sagte: »Ich möchte nichts zu trinken.« Terry sah seine Speisekarte nicht an. »Im Ernst, Percy, warum bist du noch in der Stadt?«

Godlimans Augen schienen klar zu werden wie das Bild auf einer Leinwand, wenn der Projektor scharf eingestellt wird, als müsse er zum erstenmal nachdenken, seit er das Restaurant betreten hatte. »Es ist richtig, wenn Kinder und Leute von der Bedeutung eines Bertrand Russell nicht hier bleiben. Aber ich – mir käme es vor, als liefe ich davon und ließe andere für mich kämpfen. Das ist natürlich kein sehr rationales Argument, sondern reine Gefühlssache, nichts Logisches.«

Terry lächelte wie jemand, dessen Erwartungen sich erfüllt haben. Doch er ließ das Thema fallen und studierte die Speisekarte. Nach einer Weile sagte er: »Du meine Güte, Le-Lord-Woolton-Pastete!«

Godliman grinste. »Ich bin sicher, daß es trotzdem nur Kartoffeln und Gemüse sind.«

Als sie bestellt hatten, fragte Terry: »Was hältst du von unserem neuen Premierminister?«

»Der Mann ist ein Esel. Aber Hitler ist immerhin ein Narr, und sieh nur, wie erfolgreich er dabei ist. Und was meinst du?«

»Wir können mit Winston auskommen. Wenigstens ist er entschlossen, Krieg zu führen.«

Godliman zog die Augenbrauen hoch. »Wir? Bist du wieder dabei?«

»Ich habe eigentlich nie damit aufgehört.«

»Aber du hast doch gesagt – «

»Percy. Kannst du dir eine Dienststelle vorstellen, wo alle ausnahmslos behaupten, nicht für die Armee zu arbeiten?«

»Das ist doch nicht zu glauben. Die ganze Zeit … «

Der erste Gang wurde gebracht. Sie brachen eine Flasche weißen Bordeaux an. Godliman aß eingelegten Lachs und wirkte nachdenklich.

Schließlich sagte Terry: »Denkst du an das letzte Mal?«

Godliman nickte. »Ich war noch jung damals. Eine schreckliche Zeit.« Doch seine Stimme klang sehnsüchtig.

»Dieser Krieg ist ganz anders. Meine Leute gehen nicht hinter die feindlichen Linien und zählen Biwaks wie ihr. Na ja, das kommt noch vor, aber das ist heutzutage nicht mehr so wichtig. Wir hören einfach den Funkverkehr mit.«

»Senden sie nicht verschlüsselt?«

Terry zuckte die Achseln. »Codes können geknackt werden. Wir erfahren heute fast alles, was wir wissen wollen.« Godliman blickte sich um, aber niemand war in Hörweite. Er brauchte Terry nicht zu sagen, daß solch sorgloses Gerede lebensgefährlich sein konnte.

Terry fuhr fort: »Meine Aufgabe ist es eigentlich, dafür zu sorgen, daß sie nicht die Informationen kriegen, die sie über uns benötigen.«

Als nächster Gang folgte Hühnerpastete. Rindfleisch stand nicht auf der Karte. Godliman schwieg, doch Terry sprach weiter.

»Canaris ist ein komischer Bursche. Admiral Wilhelm Canaris, Chef der Abwehr. Ich habe ihn einmal getroffen, bevor es losging. England gefällt ihm. Ich würde sagen, daß er von Hitler nicht sehr begeistert ist. Jedenfalls wissen wir, daß er den Befehl erhielt, eine großangelegte Geheimdienstoperation gegen uns einzuleiten, als Vorbereitung auf die Landung in England – aber er tut nicht viel. Einen Tag nach Kriegsausbruch haben wir seinen besten Mann in England verhaftet. Er sitzt im Wandsworth-Gefängnis. Unbrauchbar, die Spione von Canaris. Alte Damen in Pensionen, verrückte Faschisten, kleine Gauner!«

Godliman unterbrach: »Hör zu, mein Lieber, jetzt reicht’s.« Er zitterte leicht, er war wütend und wurde aus dem Gesagten nicht schlau. »All das ist geheim. Ich will davon nichts wissen!«

Terry war unbeeindruckt. »Möchtest du noch etwas? Ich nehme Schokoladeneis.«

Godliman stand auf. »Nein, danke. Ich gehe zurück an meine Arbeit, wenn es dir nichts ausmacht.«

Terry blickte kühl zu ihm hoch. »Die Welt kann auf deine Neueinschätzung der Plantagenets warten, Percy. Wir haben Krieg, mein Guter. Ich möchte, daß du für mich arbeitest.«

Godliman starrte ihn lange an. »Was in aller Welt könnte ich schon tun?«

Terry lächelte wie ein Wolf. »Spione fangen.«

Auf dem Rückweg zum College war Godliman trotz des Wetters niedergeschlagen. Keine Frage, er würde Colonel Terrys Angebot annehmen. Sein Land führte Krieg. Es war ein gerechter Krieg. Wenn er auch zu alt war, um an der Front zu kämpfen, war er immer noch jung genug, um zu helfen.

Doch der Gedanke, seine Arbeit unterbrechen zu müssen – und für wie viele Jahre? –, deprimierte ihn. Seine Liebe galt der Geschichte. Seit dem Tode seiner Frau vor zehn Jahren hatte ihn das mittelalterliche England ganz in Beschlag genommen. Ihm gefielen die Entwirrung von Geheimnissen, die Entdeckung kaum sichtbarer roter Fäden, die Lösung von Widersprüchen, die Demaskierung von Lügen, Propaganda und Mythen. Sein neues Buch würde auf seinem Gebiet das beste der letzten hundert Jahre sein, und die nächsten hundert würde sich kein anderes mit ihm vergleichen lassen. Es hatte sein Leben so lange Zeit beherrscht, daß der Gedanke, es im Stich zu lassen, fast unwirklich schien, so schwer zu verdauen wie die Nachricht, daß man Waise ist und überhaupt nicht verwandt mit den Menschen, die man immer Mutter und Vater genannt hat.

Das schrille Heulen der Sirenen unterbrach seine Gedanken. Er überlegte, ob er den Alarm ignorieren sollte. So viele Menschen taten es, und zu Fuß würde er nur zehn Minuten bis zum College brauchen. Aber er hatte keinen wirklichen Grund mehr, in sein Arbeitszimmer zurückzukehren – er wußte, daß er heute nicht mehr arbeiten würde. Deshalb eilte er in eine U-Bahn-Station und schloß sich der dichten Menge von Londonern an, die sich die Treppe hinab auf den verschmutzten Bahnsteig drängten. Dort blieb er an der Wand stehen, starrte ein Reklameplakat für Bovril-Brühe an und dachte: Aber es geht nicht nur um das, was ich aufgeben muß.

Es deprimierte ihn auch, wieder dem Geheimdienst zuarbeiten zu sollen. Es gab einiges, was ihm daran gefiel: die Bedeutung von Kleinigkeiten, der Wert, den man der Intelligenz zumaß, die Gewissenhaftigkeit, die Detektivarbeit. Doch er haßte Dinge wie Erpressung, Verrat und Betrug und die Art und Weise, wie man dem Feind das Messer in den Rücken stieß.

Mehr Leute drängten auf den Bahnsteig. Godliman setzte sich, solange es noch Platz gab, und bemerkte, daß neben ihm ein Mann saß, der die Uniform eines Busfahrers trug. Der Mann lächelte und sagte: »Oh, in England zu sein, nun da es Sommer ist. Wissen Sie, wer das gesagt hat?«

»Da es April ist«, korrigierte Godliman. »Es war Browning.«

»Ah, ich habe gehört, es sei Adolf Hitler gewesen«, sagte der Fahrer. Eine Frau neben ihm quiekte vor Lachen, und er wandte sich ihr zu. »Haben Sie gehört, was der Evakuierte zu der Frau des Farmers sagte?«

Godliman schaltete ab und erinnerte sich an einen April, in dem er sich nach England gesehnt hatte. Er hatte hoch oben auf dem Ast einer Platane gehockt und durch den kalten Nebel über ein französisches Tal hinweg hinter die deutschen Linien gespäht. Selbst durch sein Fernrohr hatte er nichts als verschwommene dunkle Gestalten sehen können. Er hatte gerade hinunterrutschen und vielleicht noch ein oder zwei Meilen weiter gehen wollen, als ganz plötzlich drei deutsche Soldaten aufgetaucht waren. Sie hatten sich um den Fuß des Baumes herum gesetzt und Zigaretten angezündet. Nach einer Weile hatten sie Karten hervorgeholt und zu spielen begonnen. Dem jungen Percival Godliman war klargeworden, daß sie es irgendwie geschafft hatten, sich zu drücken, und daß sie den ganzen Tag hier sein würden. Er war auf dem Baum geblieben, fast ohne sich zu bewegen, bis er erbärmlich fror, seine Muskeln sich verkrampften und seine Blase zu platzen drohte. Da hatte er seinen Revolver gezogen und die drei erschossen – einen nach dem anderen, von oben durch ihre kurzgeschorenen Schädel. Drei Menschen, die gelacht und geflucht und ihren Sold verspielt hatten, waren einfach ausgelöscht worden. Es war das erste Mal gewesen, daß er getötet hatte, und er hatte nichts denken können als: Nur weil ich pinkeln mußte.

Godliman rückte auf dem kalten Beton des Bahnsteigs zur Seite und ließ die Erinnerung verblassen. Ein warmer Wind wehte aus dem Tunnel, und ein Zug fuhr ein. Die Menschen, die ausstiegen, suchten sich einen Platz, um auf die Entwarnung zu warten. Godliman lauschte den Stimmen.

»Hast du Churchill im Radio gehört? Wir haben ihn im Duke of Wellington gehört. Der alte Jack Thornton hat geheult. Blöder alter Trottel … «

»Anscheinend ist Kathys Junge in einem Herrenhaus und hat seinen eigenen Diener! Mein Alfie melkt die Kuh … «

»Wir haben schon so lange kein Filetsteak auf der Speisekarte gehabt, daß ich ganz vergessen habe, wie das schmeckt … «

»Das Weinkomitee sah den Krieg kommen und kaufte zweihunderttausend Flaschen, Gott sei Dank … «

»Ja, eine Hochzeit im kleinen Kreis, aber warum soll man warten, wenn man nicht weiß, was morgen passiert?«

»Sie nennen es Frühling, Ma, sagt er mir, und dort gibt’s jedes Jahr einen … «

»Sie ist wieder schwanger, mußt du wissen … Ja, dreizehn Jahre seit dem letzten Mal … Dabei dachte ich, ich weiß, was man tun muß!«

»Nein, Peter ist nie aus Dünkirchen zurückgekommen … «

Der Busfahrer bot ihm eine Zigarette an. Godliman lehnte ab und zog seine Pfeife hervor. Jemand begann zu singen.

Ein Luftschutzwart kam her und schrie:

»Ma, mach den Laden dicht –

Man sieht ja alles!« – »Ach«, rief sie,

»Das stört uns beide nicht.«

Oh! Hoch die Knie, Mother Brown …

Es dauerte nicht lang, bis alle sangen. Godliman fiel ein. Er wußte, daß dies eine Nation war, die einen Krieg verlor und sang, um ihre Angst zu verbergen, wie ein Mann pfeift, der nachts an einem Friedhof vorbeigeht. Er wußte, daß die plötzliche Zuneigung, die er für London und die Londoner verspürte, ein Gefühl von kurzer Dauer war, verwandt mit Massenhysterie. Er mißtraute seiner inneren Stimme, die flüsterte: »Darum geht es; deswegen führen wir Krieg, dafür lohnt es sich zu kämpfen.« Er wußte es, doch er machte sich nichts daraus, da er zum erstenmal seit vielen Jahren das unverfälschte körperliche Gefühl von Kameradschaft fühlte und genoß. Als Entwarnung gegeben wurde, gingen alle singend die Treppe hinauf zur Straße. Godliman fand eine Telefonzelle und rief Colonel Terry an, um ihn zu fragen, wann er anfangen könne.

ERSTER TEIL – KAPITEL 3

Die kleine Dorfkirche war alt und sehr schön. Eine Feldsteinmauer umschloß den Friedhof, auf dem wilde Blumen wuchsen. Die Kirche selbst – jedenfalls Teile davon – hatte schon hier gestanden, als Großbritannien zuletzt von einer wirklichen Invasion heimgesucht worden war, vor fast einem Jahrtausend. Die Nordwand des Hauptschiffs, mehrere Fuß breit und nur von zwei winzigen Fenstern durchbrochen, würde sich an diese letzte Landung erinnern können. Sie war gebaut worden, als Kirchen nicht nur Schutz vor geistiger, sondern auch vor körperlicher Verfolgung boten. Die kleinen halbrunden Fenster waren besser dazu geeignet, Pfeile hinauszuschießen, als den Sonnenschein des Herrn einzulassen. Tatsächlich hatte die örtliche Bürgerwehr detaillierte Pläne für die Verwendung der Kirche, falls und wenn die gegenwärtigen Barbaren vom europäischen Festland den Kanal überqueren sollten.

Aber in diesem August des Jahres 1940 dröhnten keine Armeestiefel auf den Fliesen des Chors – noch nicht. Die Sonne glühte durch die bunten Fensterscheiben, die Cromwells Bilderstürmer und die Habgier Heinrichs VIII. überlebt hatten; das Dach vibrierte unter den Klängen einer Orgel, die noch nicht von Holzwürmern und Trockenfäule zerfressen war.

Es war eine wunderschöne Hochzeit. Lucy trug natürlich ein weißes Kleid. Ihre fünf Schwestern in aprikosenfarbenen Kleidern waren Brautjungfern. David hatte die Ausgehuniform eines Oberleutnants der Royal Air Force an; sie war noch ganz steif und neu, da er sie zum erstenmal trug. Sie sangen den 23. Psalm ›Der Herr ist mein Hirte‹ zu der Melodie von Crimond.

Lucys Vater sah stolz aus, wie es sich für einen Mann an dem Tag gehört, da seine älteste und schönste Tochter einen prächtigen Jungen in Uniform heiratet. Er war Farmer, doch er hatte seit langem nicht mehr auf einem Traktor gesessen, weil er sein Ackerland verpachtet hatte, um von den Einkünften Rennpferde zu züchten. Aber in diesem Winter würde seine Weide natürlich gepflügt werden, so daß man Kartoffeln anpflanzen konnte. Obwohl er im Grunde mehr Gentleman als Farmer war, besaß er die von der frischen Luft gebräunte Haut, die breite Brust und die kurzen, kräftigen Hände der Menschen vom Land. Die meisten Männer in den Bänken auf seiner Seite der Kirche ähnelten ihm: Sie waren breitschultrig und hatten rote Gesichter. Einige, die keinen Frack trugen, hatten Tweedanzüge und festes Schuhwerk an.

Auch die Brautjungfern sahen entsprechend aus; sie waren Landmädchen. Doch die Braut war wie ihre Mutter. Ihr Haar war von einem tiefen Dunkelrot, lang und kräftig, glänzend und prachtvoll. Sie hatte weit auseinanderstehende bernsteinfarbene Augen in einem ovalen Gesicht. Als sie den Pfarrer mit ihrem offenen, direkten Blick anschaute und mit ihrer festen, deutlichen Stimme »Ja« sagte, war er verblüfft und dachte: »Mein Gott, sie meint es ernst!« – welch seltsamer Gedanke eines Pfarrers mitten in einer Trauung.

Die Familie auf der anderen Seite des Kirchenschiffs hatte auch gewisse Kennzeichen. Davids Vater war Rechtsanwalt. Sein ständiges Stirnrunzeln war berufsbedingt und verbarg ein sonniges Gemüt. (Er war im letzten Krieg Major der Infanterie gewesen und dachte, daß all das Gerede über die RAF und den Luftkrieg eine Modeerscheinung sei, die bald vorübergehen werde.) Doch niemand sah so aus wie er, nicht einmal sein Sohn, der jetzt am Altar stand und versprach, seine Frau bis in den Tod zu lieben, der vielleicht, was Gott verhüte, unmittelbar bevorstand. Nein, sie alle mit ihrem fast schwarzen Haar, der dunklen Haut und den langen, schlanken Gliedern glichen Davids Mutter, die jetzt neben ihrem Mann saß.

David war der größte von allen. Er hatte im letzten Jahr an der Cambridge University eine Reihe von Hochsprungrekorden gebrochen. Für einen Mann sah er beinahe zu gut aus – sein Gesicht wäre feminin gewesen, hätte es nicht den dunklen, nicht zu beseitigenden Schatten eines starken Bartes gehabt. Er rasierte sich zweimal am Tag. Seine Wimpern waren lang, und er sah intelligent aus, was stimmte, und feinfühlig, was nicht stimmte.

Es war ein Idyll: Zwei glückliche, hübsche Menschen, Kinder von großbürgerlichen, wohlhabenden Familien, wie sie das Rückgrat Großbritanniens bildeten, heirateten bei schönstem Sommerwetter, das England bieten kann, in einer Dorfkirche.

Als sie zu Mann und Frau erklärt wurden, waren die Augen beider Mütter trocken, und beide Väter weinten.

Während ein weiteres Paar klebriger, champagnernasser Lippen mittleren Alters ihre Wange küßte, dachte Lucy, daß der Brauch, die Braut zu küssen, doch etwas Barbarisches an sich hatte. Wahrscheinlich leitete er sich von noch barbarischeren Bräuchen im Mittelalter ab, als es jedem Mann des Stammes gestattet war – jedenfalls wurde es Zeit, daß die Leute sich endlich zivilisiert benahmen und die ganze Sache abgeschafft wurde.

Lucy hatte gewußt, daß ihr dieser Teil der Hochzeit nicht gefallen würde. Sie mochte Champagner gern, aber sie war nicht gerade verrückt nach Hühnerschlegeln oder unförmigen Kaviarhäufchen auf kaltem Toast. Und dann die Reden und die Photographien und die Witze über die Flitterwochen … Aber es hätte schlimmer kommen können. Im Frieden hätte ihr Vater die Albert Hall gemietet.

Bis jetzt hatten neun Leute gesagt: »Mögen all eure Sorgen klein sein«; einer hatte mit kaum zu übertreffender Originalität erklärt: »Ich wünsche mir, daß mehr als ein Zaun um euren Garten läuft.« Lucy hatte zahllose Hände geschüttelt und so getan, als überhöre sie Bemerkungen wie: »Ich hätte nichts dagegen, heute nacht in Davids Pyjama zu stecken.« David hatte eine Rede gehalten, in der er Lucys Eltern dafür dankte, daß sie ihm die Hand ihrer Tochter gegeben hatten, als wäre sie etwas Lebloses, das man wie ein Geschenk in weißen Satin wickelt und dem verdientesten Bewerber überreicht. Lucys Vater war einfallslos genug gewesen zu verkünden, daß er keine Tochter verliere, sondern einen Sohn gewinne. Alles war hoffnungslos gaga, aber man tat es eben für seine Eltern.

Ein entfernter Onkel tauchte, leicht schwankend, aus der Richtung auf, wo die Bar war. Lucy unterdrückte ein Schaudern. Sie stellte ihn ihrem Mann vor: »David, das ist Onkel Norman.« Onkel Norman schüttelte kräftig Davids knochige Hand. »Na, mein Junge, wann beginnt dein Einsatz?«

»Morgen, Sir.«

»Was, keine Flitterwochen?«

»Nur vierundzwanzig Stunden.«

»Aber wie ich höre, hast du gerade erst deine Pilotenausbildung beendet.«

»Ja, aber ich konnte schon vorher fliegen. In Cambridge gelernt. Bei der gegenwärtigen Lage wird jeder Pilot gebraucht. Ich nehme an, daß ich schon morgen in der Luft bin.«

Lucy sagte ruhig: »David, bitte!« – er schenkte ihr jedoch keine Beachtung.

»Was wirst du fliegen?« fragte Onkel Norman mit der Begeisterung eines Schuljungen.

»Eine Spitfire. Ich habe sie gestern gesehen. Tolle Mühle!« David hatte sich bewußt den ganzen RAF-Jargon angeeignet – Mühlen und Kisten und der Bach und Banditen um 2 Uhr. »Sie hat acht Kanonen, fliegt 350 Knoten und kann in einem Schuhkarton gewendet werden.«

»Großartig, großartig. Ihr Jungs haut die Luftwaffe ganz schön in die Pfanne, was?«

»Gestern haben wir sechzig runtergeholt und nur elf von unseren verloren«, sagte David stolz, als hätte er sie alle selbst abgeschossen. »Vorgestern, als sie Yorkshire angriffen, haben wir dem verdammten Pack eine Abfuhr erteilt, daß sie mit dem Schwanz zwischen den Beinen wieder nach Norwegen abgezischt sind. Und keine einzige Kiste dabei verloren!«

Onkel Norman packte David an der Schulter mit der Inbrunst des Beschwipsten. »Nie«, zitierte er schwülstig, »hatten so viele so wenigen so viel zu verdanken. Das hat Churchill gesagt.«

David versuchte ein leichtes Grinsen. »Er muß von den Kasinorechnungen gesprochen haben.«

Lucy war die Art zuwider, wie sie Blutvergießen und Zerstörung verharmlosten. Sie sagte: »David, wir sollten jetzt gehen und uns umziehen.«

Sie fuhren getrennt zu Lucys Heim. Ihre Mutter half ihr aus dem Hochzeitskleid. »Nun, mein Kind, ich weiß nicht genau, was du heute nacht erwartest, aber du solltest wissen – «

»Oh, Mutter, laß das!« unterbrach Lucy. »Es ist ungefähr zehn Jahre zu spät, um mich aufzuklären. Wir schreiben das Jahr 1940!«

Ihre Mutter errötete leicht. »Na gut, Kind«, sagte sie sanft. »Aber wenn du über irgend etwas sprechen möchtest, später vielleicht … «

Lucy fiel ein, daß es ihre Mutter einige Mühe kosten mußte, so etwas zu sagen, und es tat ihr leid, daß sie so schroff reagiert hatte. »Danke.« Sie berührte die Hand ihrer Mutter. »Ich denke daran.«

»Dann lass’ ich dich jetzt allein. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.« Sie küßte Lucy auf die Wange und ging hinaus.

Lucy saß im Unterrock vor dem Frisiertisch und begann ihr Haar zu bürsten. Sie wußte genau, was heute nacht auf sie zukommen würde. Es wurde ihr ein wenig warm ums Herz, als sie sich erinnerte.

Es war eine wohlüberlegte Verführung gewesen, obwohl Lucy damals nicht daran gedacht hatte, daß David jeden Schritt geplant haben könnte.

Es geschah im Juni, ein Jahr nachdem sie sich beim »Fröhlichen Lumpenball« kennengelernt hatten. Inzwischen trafen sie sich jede Woche, und David hatte einen Teil der Osterferien bei Lucys Familie verbracht. Mutter und Vater waren mit ihm einverstanden: Er sah gut aus, war klug, benahm sich wie ein Gentleman und stammte aus genau derselben Gesellschaftsschicht wie sie. Ihr Vater hielt ihn für etwas zu überheblich, doch ihre Mutter meinte, daß der Landadel das seit sechshundert Jahren über Studenten in unteren Semestern gesagt habe; sie selbst glaubte, daß David gut zu seiner Frau sein werde, was auf lange Sicht schließlich am wichtigsten sei. Im Juni verbrachte Lucy also ein Wochenende auf Davids Familienwohnsitz.

Es war die viktorianische Imitation eines Landsitzes aus dem 18. Jahrhundert, ein rechteckiges Haus mit neun Schlafzimmern und einer von Bäumen umgebenen Terrasse. Lucy fand es besonders beeindruckend, daß es den Leuten, die den Garten angelegt hatten, wohl klar gewesen sein mußte, daß er erst lange Zeit nach ihrem Tod voll erblühen würde. Es war sehr behaglich, und die beiden tranken in der Nachmittagssonne auf der Terrasse Bier. David erzählte, daß er zusammen mit vier Freunden aus dem Fliegerclub der Universität zur Offiziersausbildung der RAF angenommen worden war. Er wollte Jagdflieger werden.

»Ich fliege nicht schlecht«, sagte er, »und man wird Leute brauchen, wenn dieser Krieg erst richtig losgeht. Die Leute sagen, daß er diesmal in der Luft entschieden wird.«

»Hast du keine Angst?« fragte sie leise.

»Kein bißchen«, antwortete er. Dann legte er eine Hand auf seine Augen und sagte: »Doch, ich habe Angst.«

Sie fand, daß er sehr tapfer sei, und hielt seine Hand.

Etwas später zogen sie Badezeug an und gingen zum See hinunter. Das Wasser war klar und kühl, aber die Sonne schien noch kräftig, und die Luft war warm. Sie plätscherten fröhlich umher, als wüßten sie, daß ihre Kindheit zu Ende war.

»Kannst du gut schwimmen?« fragte er.

»Besser als du!«

»Schön, um die Wette bis zur Insel.«

Lucy hielt eine Hand vor ihr Gesicht, um von der Sonne nicht zu sehr geblendet zu werden. Sie blieb eine Weile so stehen, als wisse sie nicht, wie begehrenswert sie mit ihren erhobenen Armen und den nach hinten gereckten Schultern in ihrem nassen Badeanzug aussah. Die Insel war ein kleines Fleckchen Erde mit Büschen und Bäumen in der Mitte des Sees – knapp dreihundert Meter entfernt.

Sie ließ die Hände sinken, rief »Los!« und begann schnell zu kraulen.

David mit seinen langen Armen und Beinen gewann natürlich. Lucy geriet in Schwierigkeiten, als sie noch fast fünfzig Meter von der Insel entfernt war. Sie versuchte es mit Brustschwimmen, doch selbst dafür war sie zu erschöpft, so daß sie sich auf den Rücken legen und treiben lassen mußte. David, der schon am Ufer saß und wie ein Walroß prustete, glitt wieder ins Wasser und schwamm ihr entgegen. Er hielt sie von hinten mit dem korrekten Rettungsschwimmergriff unter den Armen fest und zog sie langsam zur Insel. Seine Hände lagen genau unter ihren Brüsten.

»Das macht Spaß«, sagte er, und sie kicherte trotz ihrer Atemlosigkeit.

Kurz darauf meinte er: »Vielleicht sollte ich’s dir doch sagen.«

»Was?« keuchte sie.

»Der See ist nur vier Fuß tief.«

»Du Schuft!« Sie wand sich prustend und lachend aus seinen Armen heraus und fand Boden unter den Füßen.

David nahm ihre Hand und führte sie aus dem Wasser heraus, zwischen den Bäumen hindurch. Er zeigte auf ein altes Ruderboot, das kieloben dalag und vor sich hin faulte. »Als Junge bin ich damit immer hierher gerudert. Ich hatte eine von Papas Pfeifen, eine Schachtel Streichhölzer und ein bißchen Tabak in einem gerollten Stück Papier bei mir. Hier hab’ ich dann immer geraucht.«

Sie waren auf einer völlig von Büschen umsäumten Lichtung. Der grasbedeckte Untergrund war sauber und federte unter ihren Schritten. Lucy ließ sich zu Boden fallen.

»Wir schwimmen langsam zurück«, sagte David.

»Reden wir doch nicht jetzt schon davon«, erwiderte sie.

Er setzte sich neben sie und küßte sie, dann drückte er sie sanft nach unten, bis sie auf dem Rücken lag. Während er ihre Hüfte streichelte und ihren Hals küßte, hörte sie auf zu frösteln. Als er die Hand vorsichtig und schüchtern auf den Hügel zwischen ihren Beinen legte, wölbte sie den Körper nach oben, damit er fester zudrückte. Sie zog sein Gesicht an sich und küßte ihn feucht und leidenschaftlich. Seine Hände glitten zu den Trägern ihres Badeanzugs, und er schob sie über ihre Schultern nach unten. Sie sagte: »Nein.«

Er vergrub das Gesicht zwischen ihren Brüsten. »Lucy, bitte.«

»Nein.«

Er sah sie an. »Es könnte meine letzte Chance sein.«

Sie rollte sich auf die Seite und stand auf. Dann – wegen des Krieges, wegen des bittenden Ausdrucks auf seinem geröteten jungen Gesicht und wegen des beharrlichen Glühens in ihrem Innern – zog sie ihren Badeanzug auf einen Schlag aus und nahm die Badekappe ab, so daß sich ihr dunkelrotes Haar über ihre Schultern ergoß. Sie kniete sich vor ihn hin, nahm sein Gesicht in die Hände und führte seine Lippen an ihre Brust.

Sie verlor ihre Jungfräulichkeit schmerzlos, mit Begeisterung und nur ein wenig zu schnell.

Ihr Schuldbewußtsein würzte die Erinnerung und machte sie noch angenehmer. Es mochte eine geschickt eingefädelte Verführung gewesen sein, aber sie war ein bereitwilliges, um nicht zu sagen begieriges Opfer gewesen, besonders am Ende.

Lucy zog ihre Reisesachen an. Sie hatte ihn an jenem Nachmittag auf der Insel zweimal schockiert: Zuerst, als sie wollte, daß er ihre Brust küßte, und dann, als sie ihm mit den Händen geholfen hatte, in sie einzudringen. Anscheinend geschah so etwas nicht in den Büchern, die er las. Wie die meisten ihrer Freundinnen hatte Lucy D. H. Lawrence gelesen, um etwas über Sex zu erfahren. Sie vertraute seiner Choreographie, mißtraute aber der Begleitmusik. Das, was seine Romanfiguren miteinander anstellten, klang angenehm, aber so toll nun auch wieder nicht. Sie erwartete keine Trompetenstöße, Blitzgewitter und das Schlagen von Zimbeln bei ihrem sexuellen Erwachen.

David war noch ein wenig unwissender als sie. Aber er war rücksichtsvoll und fand Vergnügen an ihrem Vergnügen. Sie war sicher, daß das am wichtigsten war.

Seit dem ersten Mal hatten sie es nur einmal wieder getan. Genau eine Woche vor der Hochzeit hatten sie wieder miteinander geschlafen. Es hatte ihren ersten Streit ausgelöst.

Diesmal war es im Hause ihrer Eltern – morgens, als alle weg waren. Er kam im Morgenmantel in ihr Zimmer und schlüpfte zu ihr ins Bett. Fast hätte sie an Lawrence’ Trompetenstöße und Zimbeln geglaubt. David stand sofort danach wieder auf.

»Geh nicht«, sagte sie.

»Und wenn jemand kommt?«

»Das nehme ich auf meine Kappe. Komm wieder ins Bett.« Sie fühlte sich wohlig, schläfrig und zufrieden, und sie wollte ihn neben sich haben.

Er zog seinen Morgenmantel an. »Es macht mich nervös.«

»Vor fünf Minuten warst du nicht nervös.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Leg dich zu mir. Ich möchte deinen Körper kennenlernen.«

»Mein Gott, du bist schamlos.«

Sie blickte ihn an, um zu sehen, ob er scherzte. Als sie merkte, daß er es ernst gemeint hatte, wurde sie wütend. »Was, zum Teufel, soll das bedeuten?«

»Du benimmst dich nicht … wie es sich gehört!«

»Was für ein Blödsinn – «

»Du benimmst dich wie eine – eine Nutte.«

Nackt und wütend sprang sie aus dem Bett. Ihre schönen Brüste wogten vor Zorn. »Was verstehst du denn schon von Nutten?«

»Nichts!«

»Und was verstehst du von Frauen?«

»Ich weiß, wie sich eine Jungfrau benehmen soll!«

»Ich bin … ich war … bevor du … « Sie setzte sich auf die Bettkante und brach in Tränen aus.

Das war natürlich das Ende des Streits. David legte die Arme um sie und sagte: »Es tut mir leid, ehrlich, wirklich. Für mich bist du auch die erste. Ich weiß nicht, was ich erwarten soll, und ich bin verwirrt … Schließlich wird einem darüber nie etwas gesagt, oder?«

Sie schniefte und schüttelte zustimmend den Kopf. Was ihn wirklich nervös machte, war bestimmt die Gewißheit, daß er in acht Tagen mit einem zerbrechlichen Flugzeug starten und über den Wolken um sein Leben kämpfen mußte. Sie verzieh ihm also, er trocknete ihre Tränen, und sie legten sich wieder ins Bett. Danach war er sehr lieb zu ihr …

Lucy war jetzt fast fertig. Sie musterte sich in einem bis zum Boden reichenden Spiegel. Ihr Kostüm wirkte mit seinen geraden Schultern und Epauletten leicht militärisch, doch die Bluse darunter war zum Ausgleich sehr weiblich. Ihr Haar war unter einem eleganten, flachen runden Hut in Ringellöckchen gelegt. In diesem Jahr wäre es nicht richtig gewesen, todschick angezogen daherzukommen. Aber sie hatte den Eindruck, daß es ihr gelungen war, flott, aber praktisch und doch zugleich attraktiv auszusehen, wie es jetzt immer mehr Mode wurde.

David wartete schon im Flur auf sie. Er küßte sie und sagte: »Sie sehen wunderbar aus, Mrs. Rose.«

Sie wurden zurück zur Hochzeitsgesellschaft gefahren, damit sie sich von allen verabschieden konnten, bevor sie abreisten, um die Nacht in London, im Claridge’s, zu verbringen. Danach würde David weiter nach Biggin Hill fahren und Lucy nach Hause zurückkehren. Sie würde bei ihren Eltern wohnen. Wenn David Urlaub hatte, konnten sie ein Landhaus benutzen.

Eine halbe Stunde lang wurden nochmals Hände geschüttelt und Küsse ausgetauscht, dann gingen sie hinaus zum Auto. Ein paar von Davids Cousins hatten sich sein MG-Kabrio vorgenommen. Konservendosen und ein alter Stiefel waren mit Bindfäden an den Stoßstangen befestigt, die Trittbretter waren voller Konfetti, und »jung verheiratet« war mit hellrotem Lippenstift überall auf den Lack gekritzelt.

Sie fuhren lächelnd und winkend ab, während die Gäste fast die ganze Straße hinter ihnen füllten. Eine Meile weiter hielten sie an und säuberten das Auto.

Es dämmerte bereits, als sie wieder losfuhren. Davids Scheinwerfer waren verdunkelt, aber er fuhr trotzdem ungemein schnell. Lucy fühlte sich sehr glücklich.

David sagte: »Im Handschuhfach ist eine Flasche Schampus.«

Lucy öffnete das Fach. Der Champagner und zwei Gläser waren sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt. Er war noch recht kalt. Der Korken löste sich mit einem lauten Knall und schoß hinaus in die Nacht. David zündete sich eine Zigarette an, während Lucy den Sekt einschenkte.

»Wir kommen zu spät zum Abendessen«, sagte er.

»Na und?« Sie reichte ihm ein Glas. Sie war im Grunde zu erschöpft und müde, um zu trinken. Das Auto schien schrecklich schnell zu fahren. Sie überließ David fast den ganzen Champagner. Er begann den St. Louis Blues zu pfeifen.