Die Neuentdeckung der Schöpfung - Amy Webb - E-Book

Die Neuentdeckung der Schöpfung E-Book

Amy Webb

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Beschreibung

Was fällt Ihnen spontan zu "Synthetische Biologie" ein? Wenn Sie kein Spezia­list sind, dann lautet die Antwort sehr wahrscheinlich: "Nichts!" Synthetische Biologie ist die neueste Entwicklung moderner Biologie. Sie zielt darauf, biologische Systeme – also Moleküle, Zellen oder Organismen – zu erzeugen, die so in der Natur nicht vorkommen. Im Ergebnis kann DNA nicht mehr nur dekodiert oder beeinflusst werden – sie kann geschrieben werden. Best­sellerautorin und Zukunftsforscherin Amy Webb veranschaulicht in ihrem neuen Buch die immensen Chancen, die diese Technologie für Gesundheit, Ernährung und viele andere Bereiche des täglichen Lebens bietet. Sie widmet sich aber auch den gesellschaftlichen, ethischen und religiösen Fragen, die dieser weitere Schritt hin zur Kontrolle unseres Lebens mit sich bringt.

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AMY WEBBANDREW HESSEL

DIENEUENTDECKUNGDERSCHÖPFUNG

WIE (UNSER) LEBEN DURCH SYNTHETISCHEBIOLOGIE NEU DEFINIERT WIRD

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Genesis Machine: Our Quest to Rewrite Life in the Age of Synthetic Biology

ISBN 978-1-5417-9791-8

Copyright der Originalausgabe 2022:

Copyright © 2022 by Amy Webb and Andrew Hessel

This edition published by arrangement with Public Affairs, an imprint of Perseus Books, LLC, a subsidiary of Hachette Book Group Inc., New York, New York, USA. All rights reserved.

Copyright der deutschen Ausgabe 2022:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Matthias Schulz

Coveridee: Pete Garceau

Covergestaltung: Timo Boethelt

Coverabbildung: © iStock/Getty Images

Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek

Lektorat: Egbert Neumüller

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-803-9

eISBN 978-3-86470-804-6

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

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www.plassen.de

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Für Kaiya, weise und hell.Und für Steve, der mich rebootet hat.

– AMY WEBB

Für Hani, Ro und Dax, wegen derLehren über das Leben.

– ANDREW HESSEL

INHALT

Einleitung: Sollte das Leben ein Glücksspiel sein?

TEIL EINS: Ursprünge

1.Schlechte Gene lehnen wir ab: Die Geburt der Genesis-Maschine

2.Wettrennen zur Startlinie

3.Die Bausteine des Lebens

4.Gott, eine Kirche und ein Wollhaarmammut

TEIL ZWEI: Jetzt

5.Die Bioökonomie

6.Das biologische Alter

7.Neun Risiken

8.Die Geschichte vom Goldenen Reis

TEIL DREI: Zukünfte

9.Betrachtungen zum neuerdings Plausiblen

10.Szenario 1: Erschaffen Sie sich Ihr Kind mit Wellspring

11.Szenario 2: Als wir das Altern abschafften

12.Szenario 3: Akira Golds Restauranttipps 2037

13.Szenario 4: Der Untergrund

14.Szenario 5: Das Memo

TEIL VIER: Die Zukunft

15.Ein Neuanfang

Epilog

Danksagung

Endnoten

Bibliografie

Über die Autoren

EINLEITUNG

Sollte das Leben ein Glücksspiel sein?

AMY: Als ich das erste Mal ein scharfes Ziehen im Bauch verspürte, befand ich mich gerade in einem wichtigen Meeting mit einem Kunden. Rund um den Tisch saßen ranghohe Führungskräfte eines multinationalen Informationstechnologie-Unternehmens. Wir arbeiteten gemeinsam an der langfristigen Strategie der Firma, als der stechende Schmerz erneut einsetzte. Rasch übergab ich die Leitung des Meetings an einen Kollegen und rannte auf die Toilette. Als ich dort ankam, hatte eine Schicht klebriges, dunkles Blut bereits meine schwarze Strumpfhose durchnässt und haftete nun an der Innenseite meiner Oberschenkel. Ich konnte nicht atmen. Es war mir buchstäblich unmöglich, meinen Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Ich sackte über der Toilette zusammen und erlaubte mir endlich ein Schluchzen, aber leise, damit es niemand hören konnte.

Ich war in der achten Woche gewesen. Für die folgende Woche war eine erste Ultraschalluntersuchung geplant. Ich hatte mir bereits Namen für das Baby überlegt – Zev für einen Jungen, Sacha für ein Mädchen. Während ich meine Beine und den Boden vom Blut säuberte, suchte ich nach Antworten, kehrte aber immer wieder zur selben Mischung aus Wut und Selbstvorwürfen zurück. Es war meine Schuld. Ich musste etwas falsch gemacht haben.

Als ich das Stechen zum dritten Mal spürte, wusste ich bereits, auf was ich mich einzustellen hatte – Blutverlust und einen peinlichen Gang zur Drogerie, um mir Maxi-Slipeinlagen zu besorgen, gefolgt von tiefer Depression, Schlaflosigkeit und einem Strom von Fragen, auf die es keine Antwort gab. Mein Ehemann und ich suchten die besten Fruchtbarkeitsexperten von Manhattan und Baltimore auf und unterzogen uns sämtlichen Tests, die man uns anbot – Bluttests, um meine Hormonspiegel zu messen, Tests, die feststellen sollten, dass ich ausreichend Eizellen in Reserve hatte, Tests, die feststellen sollten, ob ich gutartige Wucherungen oder Zysten hatte, die für Probleme sorgten. Was wir erhielten, waren keine Antworten, sondern grobe Hightech-Schätzungen.

Wir versuchten es weiter, bei einer erneuten Schwangerschaft schaffte ich es bis zum wichtigen Meilenstein nach vier Monaten, und endlich erlaubten wir uns, aufgeregt zu sein. Wir suchten die gynäkologische Praxis für eine Routineuntersuchung auf. Ich war in der 18. Woche, und mein Bauch begann sich zu wölben. Ich lag auf dem Untersuchungstisch, eine Technikerin spritzte mir kaltes Gel auf den Bauch und verteilte es mit dem Schallkopf des Ultraschallgeräts. Sie gab etwas in ihre Tastatur ein und zoomte dann in ein körniges, überwiegend schwarzes Video hinein. Sie entschuldigte sich, murmelte etwas über ihre alten Gerätschaften und verließ den Untersuchungsraum. Als sie zurückkehrte, hatte sie ein neues Gerät und meinen Arzt dabei. Erneut schmierte sie mich mit dem kalten Gel ein, klickte auf der Tastatur herum und zoomte herein. Sie schaute meinen Arzt an und dann zögernd mich.

An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch, dass der Arzt meine Hand ergriff und mein Mann in Tränen ausbrach. Man würde mir operativ das fötale Gewebe entfernen. Letztlich sagte man mir, dass aus medizinischer Sicht alles mit uns in Ordnung sei. Wir waren beide Anfang 30. Wir waren gesund. Wir konnten schwanger werden. Das Problem schien darin zu bestehen, dass ich nicht schwanger bleiben konnte.

Jede sechste Frau erlebt eine Fehlgeburt, und es gibt nicht den einen Grund dafür. Am häufigsten handelt es sich um eine Chromosomenanomalie. Das bedeutet, bei der Zellteilung des Embryos läuft etwas schief, und es hat nichts mit dem Gesundheitszustand oder dem Alter der Eltern zu tun. Es sei nicht meine Schuld, erklärte man mir. Mein Körper arbeitete einfach nicht mit.1

ANDREW: Seit ich zehn Jahre alt war, stand eines für mich unumstößlich fest: Eigene Kinder wollte ich niemals haben. Wir lebten damals auf einem Hof am Stadtrand von Montreal. Meine Eltern kamen nicht gut miteinander aus, infolgedessen auch nicht mit mir und meinen beiden Geschwistern. Wir drei waren in rascher Folge zur Welt gekommen: Mein Bruder war ein Jahr jünger als ich, meine Schwester ein Jahr älter. Als meine Eltern uns erklärten, dass sie sich trennen würden, war ich nicht aufgebracht, aber ich weiß noch, dass ich dachte: „Als Nonne wäre meine Mutter glücklicher geworden.“ Stattdessen lebte sie fortan als alleinerziehende Mutter und arbeitete als Nachtschwester.

Tagsüber, wenn wir in der Schule waren, schlief sie. Dass wir alle eigenständige, fähige Kinder waren, war in dieser Lage hilfreich. Ich flüchtete häufig in die Bücherei – mein zweites Zuhause –, wo ich zwischen den Regalen lebte. Bergeweise schleppte ich die Bücher nach Hause und verabschiedete meine Mutter, wenn sie um 22 Uhr zur Arbeit ging. Ich passte auf meine Geschwister auf und las ihnen häufig bis zum Morgengrauen vor, wenn meine Mutter nach Hause kam. Geschichten über traditionelle Kernfamilien kamen mir merkwürdig vor, ich hatte zu etwas Derartigem keinen Bezug. Sinn ergaben aus meiner Sicht die verlässliche Logik des Ingenieurwesens, die Wunder der Biologie und die Visionen der Science-Fiction. Manchmal blieb ich, während mein Bruder und meine Schwester einschliefen, noch wach, las und dachte über das Leben nach – woher riesengroße und mikroskopisch kleine Kreaturen wohl kamen, wie sie sich entwickelten und was wohl aus ihnen werden würde.

Als ich 18 Jahre alt war, wollte ich die Grundlagen des Lebens studieren – Genforschung, Zellbiologie, Mikrobiologie. Aber eigene Kinder? Nein, vielen Dank. Damals schrieb ich Software und Datenbanken, dachte in Gencode und Computercode und sah ein Leben vor mir, das der Forschung gewidmet war. Sex war faszinierend, Kinder nicht. Männliche Geburtenkontrolle gab es nur in mechanischer Form, nicht in medizinischer, und sie war alles andere als verlässlich. Die garantierte Lösung bestand in einer Vasektomie, also suchte ich meinen Arzt auf und bat um eine. Zunächst protestierte er: Ich war 18 Jahre alt, kaum erwachsen und wohl kaum alt genug für eine derart drastische Entscheidung. Vasektomien seien umkehrbar, hielt ich dagegen, und wenn ich Zweifel hätte, könnte ich ja Sperma einfrieren lassen. Ich hatte aber keine Zweifel. Mit meiner Entschlossenheit überzeugte ich ihn, und er verwies mich an Urologen, aber es sollte letztlich trotzdem sechs Jahre dauern, bis die Schere angesetzt wurde. Die meisten Spezialisten hielten mich für voreilig und unreif. Ich argumentierte, dass ich doch bloß versuchte, verantwortungsvoll zu sein. Aber nachdem ich die Vasektomie bekam, gab es keine Garantie, dass ich eines Tages vielleicht doch würde Kinder zeugen können.

30 Jahre später lernte ich bei einer Konferenz eine wunderschöne Frau kennen, deren Augen zu leuchten begannen, wenn ich über Zellen sprach und die meine langatmigen Ausführungen über DNA als Software geduldig über sich ergehen ließ. Eines Morgens lag ich neben ihr in ihrem Apartment in Manhattan, als mich ein furchteinflößendes neues Gefühl überfiel – ich wollte Kinder. Ich wollte diese Familie, mit dieser Frau an meiner Seite. Aber ich war mittlerweile Ende 40 und wusste ganz genau, worauf ich mich medizinisch und biologisch einzustellen hatte. Als wir beschlossen, ein Kind zu bekommen, waren wir beide voller Hoffnung, aber auch realistisch.

Am Tag des Refertilisierungs-Eingriffs hielt ich den Blick starr auf die Decke gerichtet, während mich das Personal in einen Operationsraum schob. Die Lichter schossen in einem rhythmischen Muster vorbei, und mit jedem blitzartigen Lichtschub kehrte ich zurück zur Warnung des Arztes vor so vielen Jahren. Ich dachte, wie überraschend Lebenswege sich doch verändern können. Die Samenleiter, die meine Hoden mit der Harnröhre verbinden und über die das Sperma meinen Körper hätte verlassen können, waren weder geklammert noch abgebunden worden, was den Eingriff leicht gemacht hätte. Nein, bei mir hatte der Chirurg die Samenleiter vollständig durchtrennt und ausgebrannt, damit es nicht zu Leckagen kommt. Bei mir würde ein anspruchsvolles mikrochirurgisches Vorgehen unter Vollnarkose erforderlich werden, um die Samenleiter wieder zu verbinden.

18 Monate lang versuchten wir, schwanger zu werden, aber ohne Erfolg. Ich wusste, was nicht stimmte – und wie wenig ich nun dagegen unternehmen konnte. Die Operation war erfolgreich verlaufen, aber das System in meinem Körper war zu lange heruntergefahren gewesen. Mechanisch war alles in Ordnung mit mir. Mein Körper arbeitete einfach nicht mit.

Hier und heute schreiben Wissenschaftler die Regeln unserer Realität neu. Die Angst und die Qual, die wir beide erlebten, während wir uns bemühten, Eltern zu werden, könnte in wenigen Jahrzehnten zur absoluten Ausnahme geworden sein. Ein neues Forschungsfeld kommt mit dem Versprechen daher, zu zeigen, wie das Leben entsteht und wie es für zahllose unterschiedliche Zwecke nachgebaut werden kann – um uns zu helfen, ohne verschreibungspflichtige Arzneien gesund zu werden; um Fleisch zu züchten, für das keine Tiere sterben mussten; und um in unsere Familienplanung einzugreifen, sollte die Natur uns im Stich lassen. Dieses Feld heißt synthetische Biologie und verfolgt ein einziges Ziel: Zugriff auf Zellen zu erhalten, um neuen – nach Möglichkeit besseren – biologischen Code schreiben zu können.

Im 20. Jahrhundert befasste sich die Biologie vor allem damit, Dinge auseinanderzunehmen (Gewebe, Zellen, Proteine) und zu erforschen, wie sie funktionieren. In diesem Jahrhundert dagegen versucht ein neuer Schlag von Wissenschaftlern, aus den Bausteinen des Lebens neue Materialien zu konstruieren, während viele andere auf dem jungen Feld der synthetischen Biologie bereits Erfolge vorweisen können. Ingenieure entwerfen Computersysteme für Biologie, Start-up-Unternehmen verkaufen Drucker, die Computercode in lebende Organismen verwandeln. Netzwerkarchitekten setzen DNA als Festplattenlaufwerk ein. Wissenschaftler züchten Body-on-a-Chip-Systeme: Stellen Sie sich einen durchscheinenden Dominostein vor, der menschliche Organe im Nanobereich enthält, die leben und außerhalb des menschlichen Körpers wachsen. Gemeinsam haben Biologen, Ingenieure, Computerwissenschaftler und viele andere eine Genesis-Maschine erschaffen – einen komplexen Apparat aus Menschen, Forschungslaboren, Computersystemen, Behörden und Unternehmen, die das Leben neu interpretieren oder völlig neue Formen von Leben erschaffen.

Die Genesis-Maschine wird eine große Umwandlung der Menschheit vorantreiben, ein Prozess, der bereits begonnen hat. Schon bald wird das Leben kein Glücksspiel mehr sein, sondern das Ergebnis von Design, Selektion und Auswahl. Die Genesis-Maschine wird bestimmen, wie wir Familie wahrnehmen und wie wir sie definieren, wie wir Krankheiten identifizieren und wie wir mit dem Alter umgehen, wo wir unser Zuhause aufschlagen und wie wir uns ernähren. Sie wird eine zentrale Rolle bei unserem Umgang mit dem Klima-Notstand spielen und früher oder später auch bei unserem langfristigen Überleben als Spezies.

In der Genesis-Maschine fließen viele unterschiedliche Arten Biotechnologie zusammen, aber sie alle sind dafür angelegt, das Leben zu bearbeiten und umzugestalten. Unter dem Schirm der synthetischen Biologie versammelt sich eine Reihe neuer Biotechnologien und -techniken, die es uns nicht nur erlauben werden, DNA zu lesen und zu manipulieren, sondern auch, sie zu schreiben. Und das bedeutet, dass wir schon bald lebende biologische Strukturen programmieren werden, als handele es sich um winzige Computer.

Dank einer dieser Technologien – CRISPR/Cas9 – ist es seit Beginn der 2010er-Jahre möglich, Gene zu bearbeiten.2 Wissenschaftler sprechen hier gern von einer „Genschere“, weil diese Technologie biologische Prozesse nutzt, um Erbgutinformationen auszuschneiden und wieder einzukleben. CRISPR macht regelmäßig Schlagzeilen im Zusammenhang mit bahnbrechenden medizinischen Interventionen, wenn etwa Gene blinder Menschen so bearbeitet werden, dass sie wieder sehen können. Bei CRISPR werden aus DNA-Molekülen physisch wie mit einer Schere Teile ausgeschnitten und anschließend wie in einer Art biologischer Collage neu sortierter Buchstaben wieder verklebt. Das Problem dabei: Die Wissenschaftler können die Änderungen, die sie an einem Molekül vornehmen, nicht sofort erkennen. Für jeden Schritt sind im Labor Manipulationen erforderlich, die dann per Experiment validiert werden müssen. Das macht diese Arbeit sehr indirekt, arbeitsintensiv und zeitaufwendig.

Synthetische Biologie digitalisiert diese Form der Manipulation. Man gibt DNA-Folgen in Softwaretools ein – stellen Sie sich einen Texteditor für DNA-Code vor – und kann dann Änderungen genauso leicht vornehmen wie bei einem Textverarbeitungsprogramm. Ist der Wissenschaftler zufrieden mit der von ihm geschriebenen oder überarbeiteten DNA, wird mit einer Art 3D-Drucker ein völlig neues DNA-Molekül geschrieben. Dieser Prozess, digitalen Gencode in molekulare DNA zu übertragen, heißt DNA-Synthese, und die dabei verwendete Technologie wird rasant besser. Heute ist es völlig normal, DNA-Ketten mit mehreren Tausend Basenpaaren zu drucken, die dann zu neuen metabolischen Wegen für eine Zelle zusammengesetzt werden oder sogar zum vollständigen Genom einer Zelle. Wir können biologische Systeme nun genauso programmieren, wie wir Computer programmieren.

Diese wissenschaftlichen Innovationen haben dazu geführt, dass eine rasch wachsende Industrie für synthetische Biologie entstanden ist, die Anwendungen von hohem Nutzen erschaffen möchte, beispielsweise Biomaterialien, Treibstoffe und Chemikalien, Arzneien, Impfstoffe und sogar konstruierte Zellen, die als winzigste Roboter fungieren. Die Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) verleihen dem Forschungsbereich spürbar Schub, denn je besser die KI wird, desto mehr biologische Anwendungen können getestet und realisiert werden. Je mächtiger die Softwaretools werden und je besser die Technik zum Drucken und Zusammenfügen von DNA wird, desto einfacher wird für Entwickler die Arbeit an immer komplexeren biologischen Kreationen. Ein wichtiges Beispiel: Wir werden schon bald imstande sein, jedes Virusgenom von Grund auf zu schreiben. Das mag zunächst wie eine furchteinflößende Aussicht wirken, wenn man bedenkt, dass das Coronavirus SARS-CoV-2, das Covid-19 verursacht, während wir dies schreiben, weltweit bereits über 4,2 Millionen Menschenleben gekostet hat.3

Viren wie SARS-CoV-2 und davor SARS, H1N1, Ebola und HIV waren so schwierig einzudämmen, weil es sich bei ihnen um wirkungsvollen mikroskopischen Code handelt, der sich innerhalb eines ungeschützten Wirts ausbreiten und ungehemmt reproduzieren kann. Stellen Sie sich ein Virus wie einen USB-Stick vor, den Sie in Ihren Computer stecken. Ein Virus agiert wie ein USB-Stick, indem er sich an eine Zelle ankoppelt und neuen Code aufspielt. Während wir gerade eine weltweite Pandemie durchleben, mag das bizarr klingen, aber Viren könnten durchaus unsere Hoffnung für eine bessere Zukunft darstellen.

Stellen Sie sich einen App Store für synthetische Biologie vor, aus dem Sie neue Fähigkeiten für jede Zelle, Mikrobe, Pflanze und jedes Lebewesen herunterladen können. Forscher aus Großbritannien haben 2019 erstmals das Genom von Escherichia coli von Grund auf synthetisiert und programmiert.4 Als Nächstes werden die Gigabasen umfassenden Erbgutinformationen mehrzelliger Organismen – von Tieren, Pflanzen, des Menschen – synthetisiert. Eines Tages werden wir über die technischen Grundlagen verfügen, um jede erbliche Krankheit der Menschheit zu heilen, und auf dem Weg dorthin werden wir eine kambrische Artenexplosion auslösen. Es werden konstruierte Pflanzen und Tiere auftauchen, die für heute nur schwer vorstellbare Zwecke eingesetzt werden, die aber dazu beitragen werden, die globalen Herausforderungen der Milliarden Menschen auf diesem Planeten zu lösen, sei es bei der Ernährung, der Bekleidung, der Unterkunft oder der Betreuung.

Das Leben wird programmierbar, und synthetische Biologie gibt das kühne Versprechen ab, die menschliche Existenz zu verbessern. Wir möchten Ihnen mit diesem Buch dabei helfen, über die Herausforderungen und die Möglichkeiten nachzudenken, die sich am Horizont abzeichnen. Innerhalb der nächsten Dekade werden wir wichtige Entscheidungen treffen müssen: Wollen wir neuartige Viren für die Bekämpfung von Krankheiten programmieren? Wie soll genetischer Datenschutz aussehen? Wem werden lebende Organismen „gehören“? Auf welche Weise sollten Unternehmen mit konstruierten Zellen Geld verdienen können? Wie lässt sich gewährleisten, dass ein synthetischer Organismus nicht unbeabsichtigt aus einem Labor entweicht? Welche Änderungen würden Sie vornehmen, wenn Sie Ihren Körper neu programmieren könnten? Würden Sie darüber nachdenken, Ihre künftigen Kinder bearbeiten zu lassen? Wenn ja, welche Änderungen würden Sie vornehmen? Wären Sie bereit, zur Eindämmung des Klimawandels GVO (genetisch veränderte Organismen) zu essen?

Wir sind gut darin geworden, unsere Spezies mit natürlichen Ressourcen und chemischen Prozessen über die Runden zu bringen. Jetzt erhalten wir die Gelegenheit, neuen Code zu schreiben, der auf derselben Architektur basiert wie alles Leben auf diesem Planeten. Die synthetische Biologie verspricht eine Zukunft, die auf der mächtigsten nachhaltigen Fertigungsplattform beruht, die der Menschheit je zur Verfügung stand. Wir stehen an der Schwelle zu einer atemberaubenden neuen industriellen Evolution.

Sprechen wir heute über künstliche Intelligenz, schlagen sich in diesen Gesprächen unbegründete Ängste und Optimismus nieder, irrationale Begeisterung über das vermeintliche Marktpotenzial und vorsätzliche Ignoranzbekundungen unserer gewählten Vertreter. Ähnliche Gespräche werden wir schon bald zum Thema synthetische Biologie führen, einem Wirtschaftszweig, in den wegen des neuartigen Coronavirus mehr und mehr Investitionen fließen. Das hat zur Folge, dass es rascher zu Durchbrüchen bei mRNA-Impfstoffen, Möglichkeiten der Eigendiagnose und bei antiviralen Medikamenten kommt. Jetzt ist der rechte Zeitpunkt, die Gespräche zu dem Thema ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Wir können uns schlichtweg nicht den Luxus leisten, noch länger zu warten.

Das Versprechen dieses Buches ist einfach und direkt: Wenn es uns heute gelingt, eine Haltung und eine Strategie für den Umgang mit synthetischer Biologie zu entwickeln, dann rücken Lösungen für die unmittelbaren und langfristigen existenziellen Herausforderungen näher, die der Klimawandel, die unsichere globale Lebensmittelversorgung und die immer längere Lebensdauer der Menschen darstellen. Wir können uns heute darauf vorbereiten, den nächsten Virusausbruch mit einem Virus zu bekämpfen, das wir konstruieren und in die Schlacht schicken. Zögern wir, aktiv zu werden, könnte die Zukunft der synthetischen Biologie von Grabenkämpfen über Urheberrechte und nationale Sicherheit entschieden werden, von langwierigen Gerichtsverfahren und Handelskriegen. Wir müssen gewährleisten, dass die Fortschritte bei der Genforschung der Menschheit helfen und ihr nicht unumkehrbaren Schaden zufügen.

Der Code für unsere Zukunft wird heute geschrieben. Indem wir diesen Code erkennen und seine Bedeutung entziffern, läuten wir die neue Schöpfungsgeschichte der Menschheit ein.

In diesem Buch geht es um das Leben – darum, wie es entsteht, wie es codiert ist und welche Werkzeuge es uns bald erlauben werden, unser genetisches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Es geht auch um das Recht, Entscheidungen über das Leben zu treffen, für eine neue Generation definiert entlang wissenschaftlicher, aber auch ethischer, moralischer und religiöser Begriffe. Wem werden wir angesichts der mächtigen Systeme die Autorität gewähren, Leben zu programmieren, neue Lebensformen zu erschaffen und möglicherweise sogar frühere Lebensformen wieder zum Leben zu erwecken? Die Antworten auf diese Frage werden die Menschheit zwingen, wirtschaftliche, geopolitische und gesellschaftliche Spannungen zu lösen.

•Wer das Leben manipulieren kann, der kann Kontrolle über unsere Lebensmittelversorgung, Arzneimittel und die für unser Überleben unabdingbaren Rohstoffe übernehmen.

•Gesundheit und Wohlergehen hängen künftig zumindest teilweise von den Unternehmen ab, die in die Rechte an Gencode und die für Veränderungen notwendigen Prozesse investieren und sie kontrollieren.

•Genome Editing und DNA-Synthese sind die technischen Eckpfeiler der synthetischen Biologie, und der Weltmarkt für diese Werkzeuge boomt. Es herrscht allerdings starke Uneinigkeit, ob diese Werkzeuge und unsere genetischen Rohdaten allen zur Verfügung stehen sollten oder ob man sie stattdessen in proprietären Datenbanken aufbewahrt und Lizenzen nur an jene vergibt, die sich den Zugang leisten können.

•Start-up-Unternehmen, die mit Wagniskapital ausgestattet werden, können allein mit Grundlagenforschung die Investitionen nicht zurückzahlen, insofern stehen sie häufig unter Druck, innerhalb überschaubarer Zeitrahmen Produkte zu entwickeln, die sich vermarkten lassen. Privat finanzierte Unternehmen haben den Freiraum für Innovation, während staatlich finanzierte Biotechnologie-Forschung eher langsam vonstattengeht und traditionellen Praktiken folgt.

•Ohne ein Mandat („Wir wollen das Rennen ins All gewinnen“, „Wir benötigen einen wirksamen Impfstoff“) belohnen staatliche Fördermittel Kompetenz und Konservatismus, anstatt Anreize für Schnelligkeit, Innovation oder weit vorausschauende Ansätze zu geben.

•Die Kreise, die Gesetze erlassen, die Politik beeinflussen, Regulierungen entwickeln und durchsetzen und die Einhaltung von Gesetzen überwachen, verfügen über gewaltige Macht, was unsere Zukunft anbelangt. Derzeit herrscht kein Konsens, was beim Manipulieren von menschlichem, tierischem oder pflanzlichem Leben akzeptabel ist und was nicht.

•Ebenfalls kein Konsens herrscht bei der Frage, wie Entscheidungen zu treffen sind, von denen die Menschheit auf planetarer Ebene profitieren könnte. In den Vereinigten Staaten sind völlig neue Lebensformen in der Entwicklung, wie es sie nie zuvor gegeben hat, einige haben bereits den Sprung von Computercode zu lebendem Gewebe hinter sich.

•Chinas Präsident Xi Jinping hat verkündet: „China muss Wissenschaft und Technologie energisch entwickeln und danach streben, der führende Wissenschaftsstandort und ein innovatives Hochland zu werden“, wobei ein zentraler Schwerpunkt darauf liegen soll, Leben umschreiben zu können.5 Chinas strategischer Fahrplan sieht eine umfassende Datenbank für Erbgutinformationen ebenso vor wie einen aggressiven Zeitrahmen für die Kommerzialisierung konstruierter lebender Systeme. Die Landesführung will innerhalb der Wertschöpfungskette aufsteigen – weg vom Image als „Werkbank der Welt“ und hin zum globalen Anführer in modernen Wirtschaftszweigen wie Biotechnologie und künstliche Intelligenz.6

•Die Vereinigten Staaten und China mögen voneinander abhängig sein und einander benötigen, damit die eigene Volkswirtschaft gedeihen kann, aber das Streben Chinas, zur Nummer 1 in Technologie, Forschung und Wirtschaft aufzusteigen, belastet das Verhältnis der beiden Staaten seit Langem. Ein abgestimmter und umsetzbarer Plan ist von zentraler Bedeutung, denn unsere aktuellen geopolitischen Spannungen verlaufen anders als frühere Konflikte.

•Die Möglichkeit, Leben zu überarbeiten und neu zu schreiben, bringt tiefgreifende gesellschaftliche Folgen mit sich. Wir müssen nach einem Gleichgewicht streben, das dafür sorgt, dass die Öffentlichkeit nicht das Vertrauen verliert, gleichzeitig aber den biotechnologischen Fortschritt nicht allzu stark bremst. Wir werden unseren Wunsch nach Datenschutz mit den Neuerungen vereinbaren müssen, die gewaltige Gencode-Datensätze mit sich bringen.

•Wir müssen festlegen, wie diese Technologie gerecht und allen zugänglich gestaltet werden soll. Eine Spaltung ist dennoch unvermeidbar, denn nicht jeder wird der Wissenschaft trauen oder Zugang zu den modernsten Werkzeugen haben. Aus diesem Grund müssen wir uns darauf einstellen, dass es schwierige Gesellschaftsthemen zu verhandeln geben wird, etwa was den Umgang mit einer „genetischen Kluft“ anbelangt. Teil des Problems wird der Graben zwischen Menschen mit verbessertem Gencode (vielleicht verfügen sie über besondere Fähigkeiten oder genießen spezielle Privilegien) und Menschen sein, die keinerlei Eingriffe in ihr Erbgut haben vornehmen lassen.

In diesem Buch geht es auch um Sie und Ihr Leben und um die Entscheidungen, die Sie im Verlauf Ihres weiteren Lebens werden treffen müssen. Wir stehen vor gewaltigen Veränderungen, und Sie müssen Ihre eigene Zukunft aktiv mitbestimmen, indem Sie heute wohldurchdachte Entscheidungen fällen. Sie werden Entscheidungen treffen müssen, die Konsequenzen haben – etwa, ob Sie Ihr eigenes Erbgut sequenzieren lassen möchten und was Sie mit diesen Daten anstellen wollen. Vielleicht möchten Sie auch Kinder und stehen vor der Frage, ob Sie Ihre Eizellen einfrieren lassen, ob Sie Reproduktionstechnologie wie In-vitro-Fertilisation (IVF) in Anspruch nehmen möchten oder ob Sie mithilfe einer genetischen Untersuchung unter Ihren Embryos den stärksten aussuchen wollen. Das sind Entscheidungen, mit denen wir sehr vertraut sind. Tatsächlich sind sie der Grund dafür, dass wir dieses Buch schreiben wollten.

Um erkennen zu können, welche Zukunft die Genesis-Maschine eines Tages errichten könnte, ist es wichtig, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Im ersten Teil des Buches werden wir die Ursprünge der synthetischen Biologie erläutern und erzählen, wie Wissenschaftler das Leben entschlüsselten – und es schließlich sogar manipulierten –, in der Absicht, synthetische Organismen zu erschaffen, deren Eltern Computer sind. Im zweiten Teil stellen wir die neue Bioökonomie vor, die durch die Genesis-Maschine entsteht. Dazu gehören die unzähligen fantastischen Arzneien, Lebensmittel, Beschichtungen, Stoffe und sogar Biere und Weine, an denen Unternehmer arbeiten. Wir gehen auf die möglichen Lösungsansätze ein, die uns Biotechnologie etwa für die Ausbreitung von Plastik in den Weltmeeren bietet, für die Zunahme von Extremwetter und für die fortwährende Möglichkeit, dass gefährliche Viren uns angreifen und eine neue Pandemie verursachen. Wir sprechen über die Risiken, die die synthetische Biologie darstellt, sei es durch Cyberbiologie-Hacker oder durch die drohende „genetische Kluft“, bei der sich vermögende manipulierte Menschen und Menschen gegenüberstehen, die nicht über die Mittel verfügen, sich mithilfe von Technologie fortzupflanzen. In Teil drei spielen wir unterschiedliche Zukünfte durch, kreative, spekulative Szenarien, die für die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten stehen, wie die Genesis-Maschine die Welt umkrempeln könnte. In Teil vier schließlich geben wir Empfehlungen ab, wie man dafür sorgen kann, dass die Genesis-Maschine die beste dieser möglichen Zukünfte hervorbringt.

Aber erst einmal sollten Sie einen jungen Mann kennenlernen. Sein Name ist Bill.

TEIL

1

URSPRÜNGE

1

SCHLECHTE GENE LEHNEN WIR AB

Die Geburt der Genesis-Maschine

Die Tage wurden wieder kürzer, die Nächte kühler. Der Herbst setzte ein in Duxbury, Massachusetts, einer schönen Küstenstadt gleich südlich von Boston. Bill McBain war ein begabter Schüler mit vielen Interessen, etwa an Fotografie, Mathematik und Journalismus. In anderer Hinsicht war er unauffällig – am ersten Tag in der achten Klasse, war es offensichtlich, dass Bill genau wie seine Freunde im Sommer einen echten Wachstumsschub hingelegt hatte. Er war nun zehn Zentimeter größer. Aber im Gegensatz zu den anderen Kindern hatte er dabei abgenommen. Seine Freunde wurden massiger und legten sich jugendliche Muskeln zu, aber Bill war spindeldürr und schien nur aus Ellenbogen, Rippen und Knien zu bestehen.

Jeden Abend ging Bill früh zu Bett, jeden Morgen erwachte er ganz erschöpft. Er begann, Wasser zu trinken, sehr viel Wasser, aber sein Durst schien unstillbar. Man schrieb das Jahr 1999, und durchsichtige Nalgene-Trinkflaschen, die eigentlich für Aktivitäten wie Märsche durch die Wildnis gedacht waren, waren an Bills Schule der letzte Schrei. Für Bill war die Flasche jedoch mehr als ein Modeartikel – er füllte sie zwischen den Stunden ständig auf und trank und trank. Einmal starrte er beim Trinken auf die Markierungen auf der Flasche, und weil er Mathe liebte, stellte er im Kopf einige Berechnungen an. Er schätzte, dass er ungefähr 15 Liter Wasser am Tag trank, an manchen Tagen auch 19 Liter. Eines Nachmittags im Februar war eine Freundin der Familie zu Besuch und verfolgte nervös, wie Bill wieder und wieder zur Wasserflasche griff. Als Krankenschwester erkannte sie auf der Stelle die Signale und holte sich bei einem diskreten Abstecher ins Badezimmer die Bestätigung für ihre Vermutung: Der Toilettensitz fühlte sich klebrig an, und als sie sich darüberbeugte, umwehte ein unangenehm süßer Geruch ihre Nase.

Sie bat Bills Eltern, am nächsten Tag mit ihrem Sohn ins Krankenhaus zu fahren und sein Blut untersuchen zu lassen.

Auf dem Weg dorthin hielt die Familie für ein rasches Frühstück. Bill bestellte einen Zimt-und-Zucker-Bagel und dazu ein großes Glas Gatorade. Das war definitiv nicht die beste Mahlzeit kurz vor einer Nüchternblutzucker-Untersuchung, aber das wusste Bill nicht. Im Krankenhaus stach der Arzt Bill mit einer winzigen Nadel in den Finger und drückte einen Tropfen Blut auf einen Teststreifen an einem Messgerät. Nach wenigen Sekunden piepte das Gerät, und auf dem Bildschirm war „hoch“ zu lesen, was bedeutete, dass der Blutzuckerspiegel bei über 500 Milligramm pro Deziliter (mg/dL) lag. Bei Menschen mit einer gesunden Bauchspeicheldrüse erwartet man einen Nüchternwert zwischen 70 und 99 mg/dL, was knapp einem Tausendstel Gramm pro Zehntelliter entspricht … oder anders formuliert: kaum zu bemerken, denn im Körper eines gesunden Menschen wird der Zucker rasch aufgespalten und in Energie umgewandelt, sodass gar nicht erst viel Zucker ins Blut gelangt. Wenn eine gesunde Person diesen Test direkt nach einer Mahlzeit durchführt, wird der Wert, einige Stunden lang höher ausfallen, während der Körper die Nahrung verarbeitet aber er sollte noch immer unter 140 mg/dL liegen.

Der Arzt nahm Bill noch mehr Blut ab und schickte es für ausführlichere Untersuchungen ins Labor. Die Ergebnisse machten ihn sprachlos. Er ging mit Bill und seinen Eltern in sein Büro und setzte sich. Er blickte von der Akte auf Bill und seine Eltern, dann wieder auf die Akte. Bills Blutzucker lag bei atemberaubenden 1.380 mg/dL. Natrium, Magnesium und Zink waren dermaßen hoch, dass sich sogar der pH-Wert von Bills Blut verändert hatte. Bill stand kurz davor, in ein diabetisches Koma zu fallen … und das wäre möglicherweise noch das geringere Übel, denn bei solchen Blutwerten können Menschen sterben.

Bill und seine Eltern erhielten einen Crashkurs in der Funktionsweise von Typ-1-Diabetes und wie man diese Krankheit behandelt. Eine gesunde Bauchspeicheldrüse sondert ständig langsam das Hormon Insulin ab, das unsere Zellen benötigen, um Energie zu produzieren. Wenn man etwas isst, erhöht die Bauchspeicheldrüse die Insulindosis, um den Zucker, den man mit der Nahrung aufnimmt, verstoffwechseln zu können. Bei Bill jedoch hatte die Bauchspeicheldrüse die Insulinproduktion schlagartig eingestellt. Typ-1-Diabetes macht sich üblicherweise in der Pubertät bemerkbar, und Bill wies alle klassischen Symptome auf – Erschöpfung, übermäßiger Durst, klebrig-süßer Urin und ständig das Gefühl, auf die Toilette zu müssen. Der Drang, ständig zu trinken, war der hilflose Versuch von Bills Körper, sich selbst zu behandeln – viel Wasser hilft, den nicht verstoffwechselten Zucker aus dem Körper zu spülen. Früher oder später jedoch würde eine lebensbedrohliche Kettenreaktion in Gang kommen. Um an die Energie zu gelangen, die der Körper zum Überleben benötigte, würde er Fett verbrennen. Bei diesem Prozess werden Ketone freigesetzt. Diese stark sauren Chemikalien würden im Blutkreislauf hängenbleiben und dort giftig wirken. Bei zu hohen Werten würde Bill in eine diabetische Ketoazidose fallen, auch bekannt als „diabetisches Koma“. Unbehandelt würde dies rasch zum Tod führen.

Bills Eltern waren besorgt, dass sie auf irgendeine Weise zu dieser Erkrankung beigetragen hatten, deshalb fragten sie, was Bills Zustand verursacht hatte. Das Frühstück mit einem hastig heruntergeschlungenen Bagel und einer Gatorade sei nicht typisch, versicherten sie dem Arzt. Normalerweise würden sie gesunde Mahlzeiten essen und sich viel bewegen. „Das sind einfach schlechte Gene“, erwiderte der Arzt. Die Wissenschaft könne nicht genau erklären, warum bei manchen Menschen der Körper resistent gegen Insulin wird oder warum bei manchen Heranwachsenden – wie Bill – die Bauchspeicheldrüse auf einmal nicht mehr richtig arbeitet. Es gebe jedoch einen Hoffnungsschimmer: einen Behandlungsplan, bei dem all die Aufgaben, die sein Körper eigentlich automatisch erledigen sollte, manuell abgearbeitet würden. Dazu würde Bill sich ein Medikament namens Humulin Normal spritzen müssen, ein künstlich hergestelltes menschliches Insulin, das zu den Mahlzeiten kurze Insulinschübe liefern würde, sowie Humulin NPH (Neutral Protamin Hagedorn), das ihm während der Nacht langsam Insulin verabreichen würde.1

Die Entdeckung des Insulins

Häufiges Wasserlassen, Verwirrung, Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und manchmal auch der Tod – die klinischen Symptome, die mit Typ-1-Diabetes einhergehen, wurden vor rund 3.500 Jahren in Ägypten erstmals verzeichnet. Etwa um 1550 vor unserer Zeitrechnung empfahl ein Ägypter, bei übermäßigem Harndrang „ein Messglas gefüllt mit Wasser aus dem Vogelteich, Holunderbeere, Fasern der Asit-Pflanze, frischer Milch, Bier, Blüte der Gurke und grünen Datteln“ zu trinken. Die ägyptischen Ärzte vermuteten bereits damals, dass eine Verbindung zwischen dem bestand, was die Menschen aßen, und den Symptomen, die wir heute Diabetes zuschreiben. Doch es sollte weitere 1.500 Jahre dauern, bevor der Griechisch sprechende kappadokische Arzt Aretaios ein „Abschmelzen des Fleisches und der Gliedmaßen in den Urin“ beschrieb und die Erkrankung nach dem griechischen Wort für den „Weinheber“ Diabetes taufte. Zur selben Zeit machten Ärzte in China und Südasien ähnliche Entdeckungen.2

1674 begann Thomas Willis, ein Arzt der Universität Oxford, mit seiner eigenen Forschung. Dafür griff er zu einer Prozedur, die ziemlich eklig klingt. Er ließ Patienten, die Diabetes-Symptome aufwiesen, in ein kleines Glas urinieren, aus dem er dann (Sie essen hoffentlich gerade nicht) einen Schluck nahm und an dem er roch. Ähnlich wie später das elektronische Messgerät, das die Milligramm Zucker pro Deziliter in Bills Blut maß, suchte Willis nach übermäßiger Süße.3

Bis die Medizin ein klares Verständnis der Ursachen von Diabetes entwickelte, gingen allerdings noch einige Jahrhunderte ins Land. Im frühen 20. Jahrhundert empfahlen einige Ärzte eine „Hungerdiät“ mit der Logik, wenn man den Patienten Zucker in sämtlichen Formen vorenthalte, verschwinde der Diabetes möglicherweise von allein. Wenig überraschend verschlimmerte dies die Probleme bloß, denn die Patienten hungerten sich zu Tode, anstatt dass sich ihr Zustand besserte.

1921 erfolgte ein Durchbruch.4 Damals kursierte in medizinischen Kreisen seit Langem die – noch unbewiesene – Theorie, wonach ein Sekret aus der Bauchspeicheldrüse für die Regulierung des Blutzuckers verantwortlich war. Nun arbeiteten der kanadische Arzt Frederick Banting und sein Schüler Charles Best mit der Hypothese, Verdauungsenzyme würden dieses Sekret zerstören, bevor ein Wissenschaftler es extrahieren konnte. Sie beabsichtigten, die Pankreasgänge abzuschnüren, bis die Enzyme produzierenden Zellen verfielen, dann wollten sie die Überreste analysieren.5 Unglücklicherweise besaß keiner der beiden Männer eine chirurgische Ausbildung, und die ersten an Laborhunden durchgeführten Versuche verliefen gelinde gesagt gruselig – die meisten Hunde starben. Sie begannen, auf dem Schwarzmarkt Streuner zu kaufen, und nach einigem Üben gelang es ihnen endlich, eine Bauchspeicheldrüse zu entfernen, ohne das Tier dabei zu töten. Sie froren die Bauchspeicheldrüse ein, zermahlten sie zu einer Paste, filterten sie und injizierten dem Hund diese Flüssigkeit. Sie nahmen ihm alle 30 Minuten Blut ab, um zu kontrollieren, ob sich sein Blutzuckerwert überhaupt veränderte. Zu ihrem Erstaunen kehrte der Spiegel in den Normalbereich zurück – und das, obwohl der arme Hund nun keine Bauchspeicheldrüse mehr hatte. Sie beobachteten messbare Veränderungen dessen, was später als Insulin bekannt werden sollte.6

Bei Hunden hatte es funktioniert, warum also nicht auch beim Menschen? Aber woher die Bauchspeicheldrüse eines gesunden Menschen nehmen, ganz zu schweigen davon, dass man, sollte sich die Behandlung als erfolgreich erweisen, Tausende benötigen würde, um der Nachfrage Herr zu werden? Das war ein offensichtliches Problem. Also befassten sich Banting, Best und das nunmehr erweiterte Forschungsteam mit Rindern. Bei einer örtlichen Schlachterei bestellten sie Bauchspeicheldrüsen und drehten sie durch einen Fleischwolf. Stellen Sie sich eine gewaltige Maschine vor, in die jemand mit übergroßen Handschuhen eine Bauchspeicheldrüse nach der nächsten hineinschiebt, während unten aus einem Ausguss pulverisiertes Gewebe in einen Eimer strömt.

Sie extrahierten Insulin, reinigten es und spritzten es einem heranwachsenden jungen Mann wie unserem Bill – 14 Jahre alt, juveniler Diabetes mellitus und ohne medizinische Behandlung dem Tode geweiht. Der Teenager erholte sich dramatisch. In einem Gefühl von Großzügigkeit und Voraussicht vergaben die Forscher Lizenzen an Arzneimittelhersteller, die es ihnen erlauben würden, ihre Arbeit kostenlos zu reproduzieren. Das war der Startschuss für die kommerzielle Herstellung von Insulin. Banting, Best und ihr Team wurden 1923 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, es war die Anerkennung dafür, wie sehr sich ihre Arbeit auf das Leben von Millionen Menschen in aller Welt ausgewirkt hatte.7 Dennoch nahm im Verlauf der Zeit die Zahl der Diabetiker immer weiter zu. Die Menge an geeigneten Rinder-Bauchspeicheldrüsen hingegen war begrenzt.

Die Geburtsstunde der Biotechnologie

Gab man Rinder-Insulin, behandelte man das Problem der „schlechten Gene“, von dem Bills Arzt gesprochen hatte, aber es löste das eigentliche Problem nicht. Und es half auch nicht bei der wachsenden Zahl Erwachsener, denen die Diagnose Typ-2-Diabetes gestellt wurde. Für Typ-2-Diabetes sieht die Wissenschaft die Hauptursachen bei Umweltfaktoren wie Fettleibigkeit, Inaktivität und übermäßigem Konsum zuckerhaltiger Lebensmittel. Veranlagung ist ebenfalls ein Faktor, weshalb scheinbar topfitte, sportliche Menschen auf geheimnisvolle Weise dieselben Warnsignale entwickeln können wie Bill. Es gibt Theorien zu der Frage, was da möglicherweise schiefläuft: Das körpereigene Immunsystem hat den Auftrag, schädliche Viren und Bakterien zu bekämpfen, aber manchmal gerät es in Verwirrung und beginnt stattdessen, Insulin produzierende Zellen zu attackieren. Laut anderen Theorien wird Diabetes von einem Virus verursacht oder könnte eine nachrangige Folge eines Virus sein, das still und heimlich den Körper auf andere Weise attackiert. Die Standardbehandlung hat sich in den vergangenen 100 Jahren nicht groß verändert: Man bittet die Patienten, genau Buch darüber zu führen, was sie essen und wie viel Energie sie verbrauchen. Dazu werden ganz stumpf Kalorien gezählt, seit einiger Zeit arbeiten die Ärzte aber auch verstärkt mit digitalen Blutzuckermessgeräten. Mithilfe von Medikamenten, sei es Insulin oder Tabletten, versucht man, den Blutzuckerspiegel im Normbereich zu halten.

Wie gelangten wir vom Zertrümmern und Mahlen einer Kuh-Bauchspeicheldrüse zu den Hightech-Pumpen und dem synthetischen Humaninsulin, das der mittlerweile erwachsene Bill heutzutage verwendet? Banting und Best hatten kurz zuvor bewiesen, dass Rinder-Insulin funktionierte, da begann das Pharmazieunternehmen Eli Lilly bereits mit der Herstellung. Damals, 1923, war das ein langwieriger und kostspieliger Prozess, der zu einem unvorhergesehenen Problem in der Lieferkette führte – die Liste der Menschen, die auf Insulin warteten, wuchs viel schneller, als die Bauern Vieh züchten und schlachten konnten.8 Wissenschaftler stießen auf andere Methoden, die beim Menschen funktionierten, beispielsweise ließ sich aus den Bauchspeicheldrüsen von Schweinen nutzbares Insulin gewinnen. Doch es gab keine nachhaltige Methode, Vorräte in einer vernünftigen Größenordnung zu produzieren. Um ein Pfund Insulin zu gewinnen, benötigte man 8.000 Pfund Bauchspeicheldrüse, wofür ungefähr 23.500 Tiere geschlachtet werden mussten. Aus diesem Pfund Insulin ließen sich etwa 400.000 Ampullen Insulin gewinnen, in etwa genug, um 100.000 Patienten pro Monat behandeln zu können. Angesichts der steigenden Nachfrage war das nicht viel.9 1958 benötigten etwa 1,6 Millionen Menschen Insulin, bis 1978 stieg die Zahl allein in den Vereinigten Staaten auf mehr als fünf Millionen.10 Das bedeutete, allein für die Versorgung der amerikanischen Patienten mit Insulin würde Eli Lilly 56 Millionen Tiere im Jahr schlachten müssen. Das Unternehmen benötigte eine andere Methode, und zwar rasch.

Kurz vor seinem Tod im Jahr 1977 rief Eli Lilly Jr., der Enkel des Firmengründers, eine strategische Initiative ins Leben, die darauf abzielte, das Problem mit den Bauchspeicheldrüsen aus der Welt zu schaffen.11Wenn Rinder und Schweine geeignet waren, würde es im Tierreich doch gewiss zahlreiche weitere geeignete Kandidaten geben. Lilly vereinbarte mit mehreren Universitäten, darunter Harvard und die University of California in San Francisco (UCSF), gemeinsam aus anderen Tierarten neue Insulin-Prototypen zu entwickeln. Die Hochschulen begannen mit der Arbeit an Rattenversionen des Insulingens. Der Einrichtung, die das Lieferproblem beseitigen und die Insulinproduktion endlich beschleunigen konnte, stellte Lilly einen lukrativen Kontrakt in Aussicht.12

Eine andere Gruppe von Wissenschaftlern verfolgte parallel dazu eine radikal andere Idee – eine, bei der überhaupt keine Organentnahme nötig wäre. Solange es für Diabetes keine Heilung gab und solange die Zahl der Erkrankten weiter stieg, würde Eli Lilly – und natürlich auch jeder andere Pharmakonzern – irgendwann erneut in Lieferprobleme geraten. Aus Sicht dieser Gruppe gab es zwei lösbare Probleme, die einen längeren Zeithorizont umfassten. Problem eins waren die Versorgungsengpässe. Die ließen sich lösen, indem man für die Insulingewinnung nicht länger Tiere züchtete und das Insulin praktisch aus ihnen herausquetschte, sondern stattdessen manipulierte Bakterien Humaninsulin produzieren ließ. Das zweite Problem sollte zu einem späteren Zeitpunkt angegangen werden, denn dabei ging es darum, die „schlechten Gene“ so umzuprogrammieren, dass sie sich wie gewünscht verhielten. Harvard, die USCF und das Start-up-Unternehmen Genentech arbeiteten alle mit der rDNA-Technologie. Der Unterschied bestand darin, dass Genentech beschloss, sofort zum Klonen überzugehen und Humaninsulin aus E. coli zu gewinnen.

Genentech war erst ein Jahr zuvor gegründet worden, und die Forscher dort arbeiteten an einer umstrittenen neuen Technologie namens rekombinante DNA. Die alteingesessenen Universitäten und Pharmakonzerne mit ihren Heerscharen hochdekorierter Biomedizinforscher verfeinerten etablierte Vorgehensweisen, aber Genentech werkelte auf molekularer Ebene herum, nahm sich zwei unterschiedliche DNA-Stränge und rekombinierte sie zu einem einzigen Strang.13 DNA (kurz für Desoxyribonukleinsäure) ist die genetische Grundlage des Lebens und mithilfe der Rekombinante-DNA-Technologie ist es möglich, Genmaterial unterschiedlicher Spezies (beispielsweise Mensch und Bakterie) zu spleißen, sodass sie sich replizieren, synthetisieren und unser bestehendes Erbgut verbessern können.14

1977 konnte Genentech erste Erfolge vorweisen, aber in der Forschungsgemeinde nahm man das Unternehmen dennoch nicht erst. Dafür gab es mehrere Gründe: Erstens war „Synthetisieren“ dem „Klonen“ von Genmaterial ähnlich, und das konnte im weiteren Verlauf zu Risiken wie genetischen Manipulationen führen. Mit Blick auf die Fortschritte, die bei einer anderen umstrittenen Technologie erzielt wurden, nämlich der In-vitro-Fertilisation (IVF), sahen einige eine Zukunft aufziehen, bei der sich die Menschen Designerbabys mit Haarfarbe, Augenfarbe, Muskulatur und anderen Aspekten nach Wunsch zusammenstellten. Es gab wilde, dystopische Spekulationen und heftigen Widerstand gegen diese Entwicklung.15 Aus diesem Grund galt die rDNA-Technologie, mit der Genentech arbeitete, als hochgradig unorthodox und als sehr gründlich zu regulieren.

Verschlimmert wurde die ganze Angelegenheit dadurch, dass die Mittel für Genentechs Forschungsarbeit von Wagniskapitalgebern stammten und nicht von der Bundesregierung, ein weiteres rotes Tuch für das Establishment. Der damals als Kleiner Perkins Caufield & Byers firmierende Wagniskapitalgeber steckte Berichten zufolge eine Million Dollar (was inflationsbereinigt heute etwa 4,6 Millionen Dollar entspricht) als Startfinanzierung in Genentech.16,17 Auch die Partner waren neu in diesem Feld und hatten sich zuvor hauptsächlich mit Halbleitern befasst. Mit Genentechs Zukunftsvision gingen sie ein Risiko ein – ebenso wie sich Genentech auf ein Risiko einließ, indem es mit Gründern arbeitete, die im Gegensatz zur Bundesregierung eine Rendite einfordern würden.

Als neugegründetes Unternehmen hatte Genentech kein Geld für große Sperenzchen übrig. Während etwa zur selben Zeit Steve Jobs und Steve Wozniak in einer Garage Computer bauten, errichtete Genentechs wissenschaftliche Abteilung ein Biochemie-Labor in einem Luftfracht-Lagerhaus in einem entschieden unattraktiven Industriegebiet in South San Francisco. Mit der rekombinanten DNA erzielte Genentech einige erste Erfolge und stellte in den Laboren beispielsweise synthetisches Somatostatin her, ein Hormon aus der Bauchspeicheldrüse, das zur Regulierung des Hormonhaushalts beiträgt. Dann wurde bekannt, dass Eli Lilly einen Insulin-Wettbewerb ins Leben gerufen hatte. Bei Genentech war man überzeugt, eine zwar völlig andersartige, aber dennoch tragfähige Lösung für die Lieferprobleme anbieten zu können.

Genentechs Arbeit mit rekombinanter DNA stellte herkömmliche Denkweisen infrage, insofern standen die Forschungs-Unis nicht gerade Schlange, um mit dem Unternehmen zusammenarbeiten oder Labore für entsprechende Arbeiten zur Verfügung stellen zu dürfen. Wollte Genentech eine echte Wettbewerbschance haben, würde es mehr Wissenschaftler an Bord holen müssen, die bereit waren, für die Herstellung von Insulin die Grenzen dessen auszuloten, was mit rekombinanter DNA möglich ist. Der Hauptpreis war immens, aber Silber- und Bronzemedaillen würde Eli Lilly nicht verteilen. Das Unternehmen war nur an dem Team interessiert, das ein sicheres, skalierbares Produkt liefern konnte. Genentech würde entweder Erster werden und den Großauftrag erhalten, oder es würde später über die Ziellinie kommen und für all die fieberhafte Arbeit nicht das Geringste vorweisen können.

Man würde rund um die Uhr daran arbeiten müssen, die Genspleiß-Methode zu verbessern, die Genentech für Somatostatin entwickelt hatte. Lilly schoss Geld zu, und die Gründer erweiterten ihr Team um junge Wissenschaftler, die direkt von der Uni kamen. Anstelle der üblichen Kohorten stellte Genentech eine Supergruppe mit einer breiten Spanne von Fachgebieten zusammen, darunter Organiker (Dennis Kleid und David Goeddel, die am Stanford Research Institute daran gearbeitet hatten, DNA zu klonen), der Biochemiker Roberto Crea (ein Fachmann für das Modifizieren von Nukleotiden), der Genforscher Arthur Riggs (der das erste künstliche Gen in Bakterien produziert hatte) und der Molekular- und Zellbiologe Keiichi Itakura, der an der Entwicklung der rekombinanten DNA mitgewirkt hatte.18,19

Bei der künstlichen Herstellung des Insulinmoleküls stand Genentech nun vor der Herausforderung, dass Insulin über lange Stränge von Aminosäuren verfügt (51, während es bei Somatostatin 14 sind) und dass es zwei Ketten gibt, A und B, die chemisch miteinander verbunden sind. Man würde für jede Kette die korrekten Abschnitte des DNA-Codes zusammenfügen müssen, sie in zwei unterschiedliche Bakterienstränge übertragen müssen und für die künstliche Herstellung der Ketten die Zellmaschinerie des Bakteriums kapern müssen. War man so weit gekommen, hatte man trotzdem erst die Hälfte des Weges zurückgelegt. Für das Genentech-Team war eines klar: Um Insulin zu züchten, würde es auf die Proteine ankommen, denn sie katalysieren den Hauptteil der Reaktionen in lebenden Zellen und kontrollieren nahezu alle zellulären Prozesse.

Vorausgesetzt, dem Team gelang es, 51 Aminosäuren – also die Moleküle, die sich zur Herstellung von Proteinen zusammenfügen – in exakt die richtige Reihenfolge zu bringen, würde es sie immer noch neu erschaffen müssen, um Insulin herstellen zu können.20 Dazu müsste man chemisch die richtigen Schnipsel von DNA-Sequenzen verbinden, sie miteinander verknüpfen, in Bakterien einsetzen und die Bakterien dann dazu zwingen, die künstlichen Insulinketten zu produzieren. Keine leichte Aufgabe. Und wenn bis dahin alles gut lief, würde man die Insulinketten noch reinigen müssen, sie so wieder kombinieren, dass sie ein vollständiges Molekül ergeben, und dann hoffen, dass es exakt dem Molekül entsprach, wie es in einer menschlichen Bauchspeicheldrüse hergestellt wird.

Was eine kleine Gruppe finanziell schlecht ausgestatteter Forscher, deren Ideen für die Zukunft auf einige mysteriös wirkten und auf andere ausgesprochen gefährlich, da in Angriff nahm, war sozusagen ein Griff nach den Sternen auf Zellebene. So komplex war die Aufgabe und so stark die Konkurrenz, dass das Genentech-Team gezwungen war, geheim in den eigenen vier Wänden zu arbeiten, sich Zeit in Laboren zu erschnorren und ansonsten in einem vergessenen Lagerhaus zu arbeiten, weit entfernt von den geheiligten Hallen Harvards und der University of California, ständig unter gewaltigem Stress stehend und eine unerbittliche Deadline vor Augen. Als Erstes musste das Team ein künstliches Gen bauen, das über exakt die korrekte DNA-Sequenz verfügte, um als Befehl für ein Protein fungieren zu können. Dann musste dieses Gen an die richtige Stelle eines Organismus übertragen werden, der die Anweisungen verarbeiten und das gewünschte Protein, in diesem Fall Insulin, produzieren konnte.

Mühsam mischten die Forscher Chemikalien zusammen und testeten wieder und wieder unterschiedliche Abwandlungen auf der Suche nach der richtigen Abfolge von DNA-Strängen. Parallel dazu mussten sie auch mit dem Bakterium selbst arbeiten und herausfinden, wo genau sie E. coli mit dem künstlichen Gen spleißen mussten, um das gewünschte Protein zu erhalten. Stellen Sie sich diesen Prozess in etwa so wie einen Backwettbewerb vor: Die Preisrichter übergeben Ihnen eine Kiste mit sämtlichen Zutaten, eine weitere Kiste mit Küchenutensilien, sie zeigen Ihnen den Ofen und erklären Ihnen, Sie hätten nun einen zwölfschichtigen Schokoladenkuchen zu backen – das Ganze unter dem irren Zeitdruck einer Realityshow, in einer alten heruntergekommenen Küche und ohne jegliche Anweisung.

Doch tatsächlich holten die Wissenschaftler in den frühen Morgenstunden des 21. August 1978 einen perfekten Kuchen aus dem Ofen – deutlich früher als die Konkurrenz und zur großen Überraschung aller (das schließt die eigenen Teammitglieder ausdrücklich ein).21 Genentech war es gelungen, die exakte DNA-Sequenz zu produzieren und einen Organismus anzuweisen, Befehle umzusetzen und Humaninsulin herzustellen. Es war die Geburtsstunde der Biotechnologie und die Genesis eines neuen wissenschaftlichen Feldes, der synthetischen Biologie.

Lilly und Genentech vereinbarten einen viele Millionen Dollar schweren Vertrag mit 20 Jahren Laufzeit über die Herstellung und Vermarktung des weltweit ersten Biotechnologieprodukts: Humulin, das von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA 1982 zugelassen wurde.22

Die Fabrik des Lebens

Genentech war etwas wahrlich Erstaunliches gelungen, und es lenkte die Menschheit auf einen neuen Kurs. Erstmals hatte der Mensch in einen biologischen Prozess eingegriffen und Zellen und Moleküle so manipuliert, dass sie abänderten, was der Körper von Natur aus tun würde. Bei gesunden Menschen sind die Zellen eine Art futuristische, automatisierte und computerisierte Fabrik, die extrem effizient arbeitet. Stellen Sie sich Netzwerke hochmoderner Roboter vor, die alle zusammenarbeiten: 3D-Drucker stellen alles Benötigte in beliebigen Mengen her. Die Lieferkette und die Logistik sind für maximalen Output optimiert. Und im Hintergrund läuft ein Betriebssystem, das gleichzeitig Milliarden Zeilen Code ausführt. Keine Maschine, keine Fabrik in der Geschichte der Menschheit war jemals derart fortschrittlich oder elegant. Ihr Körper ist schlicht ein mobiler Gigakomplex, in dem nahezu 40 Billionen futuristische Zellfabriken untergebracht sind, die alle gemeinsam daran arbeiten, Sie am Leben zu erhalten.23

Jede einzelne Zellfabrik setzt sich vor allem aus drei Komponenten zusammen – einem Satz Anweisungen, einem Kommunikationssystem, das diese Anweisungen übermittelt, und einer Produktionsanlage, die das vorgegebene Produkt herstellt. Diese Komponenten sind die DNA, die RNA und Proteine. Das genetische Ökosystem, das für sämtliche Lebensformen verantwortlich ist, ist unvorstellbar groß, besteht aber dennoch in erster Linie einzig aus diesen drei Faktoren.

Im Biologieunterricht haben wir alle die verdrehte Leiter der DNA-Doppelhelix kennengelernt. Sie ist einzigartig und legendär, und sie besteht aus Nukleotiden – repräsentiert durch die Buchstaben A (Adenin), T (Thymin), G (Guanin) und C (Cytosin) –, die chemisch an ein Gerüst aus Zucker (Desoxyribose) und Phosphat gebunden sind. Paart man diese Nukleotide, verzahnen sie sich fest. Gleichzeitig lassen sie sich aber auch relativ einfach wieder trennen. Auf diese Weise kann sich die Doppelhelix teilen, ein Prozess ähnlich wie bei einem Reißverschluss. Wird die DNA aufgezogen, kann eine Zelle präzise Kopien ihrer DNA erstellen, indem sie die offene DNA als Vorlage dafür nutzt, ergänzende Stränge zu schreiben, bevor sie beide Stränge wieder hochzieht. Die Reihenfolge der vier Nukleotide in der DNA-Kette enthält sämtliche Informationen, die die Zelle zum Leben und Gedeihen benötigt. Die DNA speichert unsere genetischen Anweisungen, und während andere Mikroben (wie beispielsweise Viren) imstande sind, ihre eigenen Anweisungen zu tragen, ist es innerhalb der Zelle die DNA, die das Sagen hat. Es wäre wohl nicht übertrieben, zu behaupten, dass das DNA-Molekül das wichtigste Molekül aller Zeiten ist (obwohl auch Wasser und Koffein ihre Anhängerschaft haben).

Die DNA speichert die genetischen Anweisungen innerhalb der Zellen, benötigt aber Ribonukleinsäure (RNA), um der Zellfabrik zu übermitteln, was sie zu tun hat. Die RNA wird im Rahmen der sogenannten Translation in eine Sequenz von Aminosäuren umgewandelt. Das findet in einer komplexen Vorrichtung innerhalb der Zelle statt, dem Ribosom. Während die RNA sich auf den Weg in das Ribosom macht, geschieht etwas Magisches. Boten-RNA (mRNA) hängt sich an das Ribosom und sucht nach dem biologischen „Start-Schalter“, einer aus drei Buchstaben bestehenden, Codon genannten Sequenz. Das Ribosom verarbeitet den mRNA-Strang und liest jeden 3-Buchstaben-Satz, bis es zum „Stopp-Schalter“ kommt. Während dieser Zeit wird das Produkt der Zellfabrik hergestellt – Protein.

Proteine sind Ketten von Aminosäuren und das strukturelle Hauptmaterial von Zellen. Sie übernehmen den Großteil der operativen Arbeit, und es gibt Tausende unterschiedliche Arten, die eine Spanne von Funktionen abdecken. Es gibt beispielsweise Strukturproteine wie Kollagen, die für Sehnen und Knorpel verantwortlich sind. Hämoglobin ist ein Transportprotein, das in roten Blutkörperchen den wichtigen Sauerstoff transportiert. Antikörper sind Y-förmige Proteine mit besonderen Fähigkeiten im Wiedererkennen: Treffen sie das erste Mal auf eine Mikrobe, koppeln sie an diese an und versuchen gemeinsam, die Mikrobe zu zerstören oder daran zu hindern, andere Zellen zu befallen. Wenn Sie einen Infekt überwunden haben, bleibt eine kleine Menge Antikörper produzierender Immunzellen im Körper und dient als Gedächtniszelle. Bekommen Sie es erneut mit der Mikrobe zu tun, die den Infekt verursacht hatte, werden die Gedächtniszellen wieder aktiv. Impfstoffe sind darauf ausgelegt, dieselbe Reaktion herbeizuführen. Es sind über 500 Aminosäuren bekannt, aber nur 20 tauchen regelmäßig in biologischen Systemen auf.24

Wenn die Zelle eine futuristische Fabrik ist, ist das Genom ein futuristisches Betriebssystem, bei dem Gene ein- oder abgeschaltet werden können. Zwei Organismen können über dasselbe Gen für ein bestimmtes Merkmal verfügen, aber wenn dieses Gen nicht eingeschaltet ist, wird es nicht exprimiert. Die Kontrolle darüber, welche Gene eingeschaltet und welche abgeschaltet werden und in welchem Maß, ist ein komplexer und regulierter Prozess. Involviert sind codierende Nichteiweiß-Sequenzen wie Promotoren und Enhancer sowie diverse Protein-Transkriptionsfaktoren. Diese Faktoren lassen sich in Echtzeit kaum messen, was ihr Studium erschwert, aber hier ist ein wildes Beispiel: Der Winterrochen schaltet automatisch seine Gene ein, um seine Körperstruktur zu verändern. Auf diese Weise passt er sich daran an, dass der Klimawandel für wärmere Wassertemperaturen im Winter sorgt.25

In einer traditionellen Fabrik oder bei einem herkömmlichen Computer sind Logikmaschinerie und Strukturmaschinerie getrennt. Das Betriebssystem für das Leben dagegen verlangt eine uneingeschränkte Kompatibilität. Wie das alles ineinandergreift und zusammenarbeitet, beginnen wir gerade erst zu deuten. Ein Beispiel: Auf einem neuen PC ist üblicherweise die aktuellste Windows-Version installiert, aber Sie müssten Spiele und Arbeitssoftware separat erstehen und installieren. In der Biologie ist das nicht so, hier sind Maschine und Information voll und ganz miteinander verwoben. Die heutigen Computer sind im Vergleich dazu wenig mehr als aufgemotzte Taschenrechner.

Nicht nur das: Sie sind energiehungrig, können zerbrechen, können sich nicht eigenständig reparieren oder herstellen, und ohne angeschlossenen Drucker können sie nichts Greifbares produzieren. Zellen sind die Art Computer, die ein Computer gern werden würde, wenn er träumen könnte: Ein Computer, der selbstständig Dinge herstellen kann, der sich selbst reparieren kann und der mit nahezu jeder Energiequelle betrieben werden kann.

Genau aus diesem Grund war die Pionierarbeit, die Genentech geleistet hat, so bahnbrechend, und genau aus diesem Grund wird die synthetische Biologie das Leben, wie wir es kennen, ganz neu prägen. Sobald wir die Sprache der Biologie beherrschen und sie manipulieren können, haben wir ein Mitspracherecht bei dem, was in Zellen geschieht. Wir werden nicht nur den Code lesen und ändern können, etwa um Insulin zu klonen oder kleinere Reparaturen vorzunehmen, nein, wir werden auch neue Anweisungen schreiben können, diese Anweisungen überbringen lassen können und dafür sorgen, dass am anderen Ende neue biologische Produkte hergestellt werden. Humulin war ein frühes Produkt der synthetischen Biologie, eines Feldes, das noch immer brandneu ist, sich aber entwickelt. Forscher, die auf diesem Feld aktiv sind, haben Mühe, es zu definieren, aber unter seinem Dach kommen Chemie, Biologie, Informatik, Ingenieurwesen und Design zusammen, um an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten: Zugang zur Zellfabrik und zum Betriebssystem des Lebens zu erlangen, um dann neuen – und möglichst besseren – biologischen Code schreiben zu können.

Die synthetische Biologie überschneidet sich mit dem Feld der Informatik und insbesondere dem Feld der künstlichen Intelligenz. Sie arbeitet mit maschinellem Lernen und findet in großen Datenmengen Muster von Bedeutung. Maschinelles Lernen steckt hinter vielen Dienstleistungen, die Sie die ganze Zeit verwenden, etwa den Empfehlungen auf Youtube oder Spotify, und hinter Interaktionen mit Sprachassistenten wie Alexa und Siri. Im biologischen Kontext können Wissenschaftler mithilfe von maschinellem Lernen unzählige Muster testen. Wenn man ein Experiment mit mehreren Variablen durchführt, werden häufig winzige methodische Korrekturen an Messungen, Materialien und Eingaben erforderlich – und am Ende des Prozesses ist ein brauchbares Produkt keineswegs garantiert. Die Google-Sparte DeepMind studiert und entwickelt KI-Systeme, die dann auf vertrackte Probleme angesetzt werden. Sie hat einen Weg entwickelt, die komplexen Faltmuster langer Aminosäureketten zu testen und zu modellieren. Auf diese Weise konnte ein Problem gelöst werden, an dem Wissenschaftler lange verzweifelt waren. Das DeepMind-System AlphaFold prognostizierte die Struktur von über 350.000 Proteinen des Menschen und 20 Modell-Organismen. 2022 dürfte der Datensatz über 130 Millionen Strukturen umfassen.26 Wissenschaftler können mithilfe dieser Informationen deutlich rascher Arzneimittel zur Behandlung von Krankheiten entwickeln als mit der Trial-and-Error-Methode, mit der Genentech bei Humulin vorging.27 Diese Methode und andere Entwicklungen aus der synthetischen Biologie können dazu führen, dass Labore vielversprechendere Ansätze verfolgen und auch mehr davon. Das senkt die Entwicklungskosten neuer Arzneien.

Als das Genentech-Team sein Humaninsulin künstlich herstellte, war das Zeitalter der künstlichen Intelligenz und der Computer, die mit gewaltigen Datensätzen, maschinellem Lernen und tiefen neuralen Netzen arbeiten, die klüger sind als die klügsten Köpfe der Menschheit, noch nicht angebrochen. Heute stehen riesige Datenbanken zu Proteinen und zum Stoffwechsel bereit, und Computer können auf der Suche nach Lösungen Milliarden Simulationen wieder und wieder durchspielen. Würde sich dieselbe Forschergruppe heute daran machen, das Insulinproblem zu lösen, müsste sie dafür nicht monatelang rund um die Uhr im Labor schuften, gebeugt über Reagenzgläser und Petrischalen. Mithilfe einer KI-gesteuerten Plattform könnte sie alle nur denkbaren Kombinationen dieser 3-Buchstaben-Codes durchspielen und innerhalb weniger Stunden die ideale Lösung entwickeln.

40 Billionen winzige Fabriken befolgen Anweisungen, treffen Entscheidungen, kopieren, kommunizieren autonom miteinander, und das den ganzen Tag lang, ohne dabei jemals Ihre Erlaubnis oder Ihre Meinung einzuholen. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts wird die synthetische Biologie die Macht, den ultimativen Supercomputer – Zellen – zu programmieren, in die Hände der Menschheit legen.

Schlechte Gene überschreiben

Was, wenn wir eine fest verwurzelte Annahme hinterfragen, nämlich dass schlechte Gene wie die, die bei Bill Typ-1-Diabetes verursacht haben, schlicht und einfach Pech sind und zum Menschsein dazugehören? Bill hatte Glück. Seine Eltern wussten, wie sie ihm sehr gute Betreuung zukommen lassen konnten, und wichtiger noch: Sie konnten es sich finanziell erlauben. Sein Zustand wurde zu einem Familienprojekt. Nach Abschluss des Schuljahrs meldeten ihn seine Eltern für den Sommer in Diabetes-Lagern an, wo er Zeit mit anderen Kindern und Ärzten verbrachte und dabei lernte, wie er mit seinem Diabetes umzugehen hatte. Doch selbst heute würde ein Kind wie Bill, das ein besonderes Ferienlager besucht und Eltern hat, denen seine Gesundheit sehr am Herzen liegt, vor Ungewissheiten stehen, was seinen Diabetes anbelangt.

Auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie verloren Millionen Amerikaner ihre Arbeit und damit auch ihre Krankenversicherung. Auf Facebook schossen Untergrund-Netzwerke für Diabetiker wie Pilze aus dem Boden.

Versicherte, die Ampullen mit Insulin übrig hatten, gaben sie an Menschen ab, die sich das Insulin nicht leisten konnten und zu sterben drohten.28,29 Wir sprechen hier nicht von zwielichtigen Drogengeschäften, die in den dunkelsten Ecken des Internets ablaufen. Hier nutzten Menschen das System, um Leben zu retten. Aber selbst vor Covid-19 waren 25 Prozent der Diabetiker in den Vereinigten Staaten gezwungen, ihr Insulin wegen der hohen Kosten zu rationieren.30 (Das gilt insbesondere für lateinamerikanische, indigene und schwarze Menschen, Bevölkerungsgruppen also, in denen der Anteil von Diabetikern und Armen überdurchschnittlich hoch ist.) Bevor aufgrund der Pandemie die Grenzen geschlossen wurden, fuhren amerikanische Diabetiker häufig nach Mexiko oder Kanada, um dort Insulin zu erstehen, denn es kostete nur einen Bruchteil dessen, was in den USA verlangt wurde.31

Schätzungen zufolge benötigen zehn Prozent der Amerikaner jeden Tag Insulin. Hergestellt wird es ausschließlich von den drei Unternehmen Sanofi, Novo Nordisk und Eli Lilly, und der Preis ist explodiert.32,33 Von 2012 bis 2016 verdoppelten sich die monatlichen Kosten von 234 auf 450 Dollar.34 Heute kann eine einzige Ampulle Insulin 250 Dollar kosten. Einige Menschen benötigen sechs Ampullen im Monat, weshalb manche Amerikaner, die nicht über eine gute Krankenversicherung verfügen, ihre Dosen rationieren müssen – oder sich entscheiden müssen: Bezahlen sie für Insulin? Für das Essen ihrer Familie? Die Miete? Die Pharmaunternehmen behaupten, die steigenden Preise würden die Innovationskosten spiegeln. Immer wirksamere Formeln, Tests und Technologien zu entwickeln kostet Geld und Zeit – wie wir bei Genentech und Banting/Best gesehen haben – und als börsennotierte Unternehmen müssen sie das, was sie in die Forschung und Entwicklung investiert haben, auch wieder einspielen.

Das Ganze entbehrt nicht einer historischen Ironie. Wir erinnern uns: Als Banting, Best und ihr Team 1923 das Insulin entdeckten und erschufen, weigerten sie sich, ihre Erfindung kommerziell zu nutzen oder Geld damit zu verdienen. Sie verkauften das Patent für einen Dollar an die Universität Toronto, denn sie wollten, dass alle Menschen, die die lebensrettende Arznei benötigten, sie sich auch würden leisten können. „Während man über Lösungen der Insulinkostenkrise nachdenkt, lohnt es sich, sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass [sowohl Banting als auch Best] der Meinung waren, Insulin gehöre der Allgemeinheit“, schrieb die Redaktionsleitung des New England Journal of Medicine. „Jetzt, nahezu 100 Jahre später, steht Tausenden Amerikanern wegen der hohen Kosten kein Insulin zur Verfügung.“35

Heutzutage wird Insulin synthetisch in Fabriken hergestellt, aber es wurde einfach dafür entwickelt, das nachzuahmen, was der Körper eigentlich von sich aus tun sollte. Wenn sich die synthetische Biologie weiterentwickelt, müssen wir uns nicht mehr mit Imitationen begnügen – wir können dann einen maßgeschneiderten Strang insulinproduzierender Zellen entwerfen, der viel präziser arbeitet und viel ausgeklügelter ist. Im Mittelpunkt einer der vielversprechendsten Entwicklungen stehen Zellen, die so überarbeitet sind, dass sie Insulin nur im Bedarfsfall herstellen. Die Folgen wären gravierend: Was, wenn in Zukunft keine kostspieligen Insulin-Ampullen mehr benötigt würden? Was, wenn Diabetiker ihre Pumpen und Spritzen wegwerfen könnten und man ihnen stattdessen eine einzige Dosis synthetischer Zellen verabreicht, die auf den Blutzuckerspiegel reagieren und dann eigenständig Insulin produzieren?

Das mag nach Zukunftsmusik klingen, aber diese Zukunft ist näher, als Sie es vielleicht vermuten würden. 2010 leitete John Craig Venter, einer der weltweit führenden Biotechnologen, ein Team an, das die DNA eines ganzen Bakteriums synthetisierte. Aber die Wissenschaftler kopierten nicht einfach nur etwas, das es in der Natur bereits gab, sondern fügten ihm eine eigene Note hinzu. Das neue Genom enthielt die Namen der 46 Wissenschaftler, die geholfen hatten, das Projekt zu schreiben, dazu Zitate von J. Robert Oppenheimer, Gedichte von James Joyce und geheime Botschaften, die sich wie ein Puzzle entschlüsseln ließen. Als sich das Bakterium reproduzierte, gab es diesen neuen biologischen Code an künftige Generationen weiter, Gedichte, Zitate und Botschaften inklusive. Es war der erste Beleg dafür, dass der Mensch eine neue Lebensform erschaffen kann, die dafür programmiert ist, vorgegebene Aufgaben zu erschaffen, und dass diese Lebensform auch überleben kann.36