Die Partisanen der NATO - Erich Schmidt-Eenboom - E-Book

Die Partisanen der NATO E-Book

Erich Schmidt-Eenboom

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Beschreibung

Im Kalten Krieg existierten in Westeuropa zahlreiche Untergrundorganisationen, die im Fall eines sowjetischen Überfalls hinter der Front als Partisanen Sabotageaktionen ausführen sollten. Dazu wurden Kämpfer geschult und geheime Erddepots mit Waffen, Sprengstoff und Funkgeräten angelegt. In der Bundesrepublik unterstand diese Stay-Behind-Truppe dem Auslandsnachrichtendienst BND, der eigentlich im Inland gar nicht aktiv werden sollte. Das alles geschah hinter dem Rücken der dafür zuständigen parlamentarischen Kontrollgremien, denn auch ein möglicher Putsch gegen gewählte Politiker wurde erwogen. Erst Anfang der 1990er Jahre flogen die illegalen Netzwerke auf. Es dauerte mehr als 20 Jahre, bis der BND Akten über seine Geheimarmee freigab und Interviews mit ehemaligen SBO-Mitarbeitern zuließ.
Anhand dieser Materialien und umfangreicher CIA-Akten geben die Autoren nun einen genauen Einblick in die Aktivitäten, Personalstrukturen und Operationsszenarien der dubiosen Geheimorganisationen und fragen nach dem Funktionieren demokratischer Kontrollmechanismen.

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Erich Schmidt-Eenboom · Ulrich Stoll

Die Partisanen der NATO

Erich Schmidt-Eenboom · Ulrich Stoll

Die Partisanen der NATO

Stay-Behind-Organisationen in Deutschland 1946–1991

Editorische Notiz

Deck- und Tarnnamen von Personen, Organisationen und Operationen wurden in Kapitälchen ausgezeichnet.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, März 2016

entspricht der 2. Druckauflage von Juni 2016

© Christoph Links Verlag GmbH, 2015

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: Ch. Links Verlag, Berlin

Lektorat und Redaktion: Das Verlagsbüro, Andernach

ISBN 978-3-86284-336-7

Inhalt

Staatsgeheimnis Stay Behind

Einleitung

Was ist Stay Behind?

Vorgeschichte und Grundlagen

Stay-Behind-Partisanen: Eine sowjetische Idee

Werwolf – das letzte Aufgebot des Dritten Reiches

W für Widerstand

Jürgen Stroop: Werwolf und Kriegsverbrecher

Werwolf im Osten

Endkampf im Süden

Das Kriminaltechnische Institut

Auftrag: Mord. Geheimer Einsatz für Ilse Hirsch

Der Oppenhoff-Mord

Winke für Jagdeinheiten

Freikorps Adolf Hitler

Werwolf-Propaganda

Fememorde

Das Scheitern von SS und Wehrmacht bei eigenen Partisanenplanungen

Die Zeitenwende nach 1945

Der Bund Deutscher Jugend (BDJ) und sein Technischer Dienst (TD)

Das ehrgeizige Stay-Behind-Netzwerk der CIA zu Anfang der 1950er Jahre

Der Skandal um den Technischen Dienst des Bundes Deutscher Jugend

Die Entstehung des Bundes Deutscher Jugend (BDJ)

Erste Reaktionen auf die Entdeckung: Betroffenheit der bundesdeutschen Politik

Die Bundesführung des Technischen Dienstes (TD): Generalstab und Geheimdienstzentrale

Die Partisanenschule des Technischen Dienstes: Werwolf-Romantik und ein Mord

Die Donelly-Zinn-Erklärung: Das Scheitern der deutsch-amerikanischen Untersuchungskommission

Leidenschaft für die Demokratie? Die problematische Rolle des Oberbundesanwalts Carl Wiechmann

»Fauler Zauber«: Die Bundestagsdebatte über den BDJ

Die politische Kampagne gegen Zinn

Verbot hin, Verbot her: Das Gezerre der Innenminister

Der BDJ in Hessen

Die Nordfront des BDJ: Alte Kameraden in Niedersachsen, Bremen und Hamburg

Das Nordlicht des BDJ: Schleswig-Holstein

BDJ Berlin: Der Nordosten tickt anders

Im Westen nichts Neues: Der BDJ in Nordrhein-Westfalen

Der BDJ-TD im Südwesten: Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg

Spagat im Freistaat: Bayern schlägt Krach und will seine Ruhe

Waffen vom Werwolf für den BDJ: Felix Steiner und der Schutzbund Deutscher Soldaten

»Nadelstiche in den Rüssel eines Elefanten«: Die Diskussion über den militärischen Nutzen des Partisanenkampfes

Die Auflösung des BDJ-TD

Vom BDJ zum KDJ? Die Schmonzette als nachrichtendienstliches Kampfinstrument

Das Stay-Behind-Netzwerk der Karlsruher CIA-Station

Das kurze Leben der KIBITZE

Die »KIBITZ-15-Show«: Das Netz des Walter Kopp

KIBITZ 15 im Rassenkrieg

Stay-Behind-Krieger jenseits der innerdeutschen Grenze

Die Kriegsplanungen amerikanischer, britischer und deutscher Nachrichtendienste für West-Berlin und die DDR

Die Berlin Operating Base: Hochfliegende Pläne und frühe Bruchlandung

Britische Stay-Behind-Planungen für Berlin: Ein Waffenfund im Wald

Ernstfallplanungen der Organisation Gehlen für Berlin und die SBZ/DDR

Mythos AsA: Die in die DDR eingeschleuste BND-Geheimarmee

Panik nach der Berlin-Blockade

Die Stay-Behind-Anfänge in der Organisation Gehlen ab 1949

In drei Tagen am Rhein? Die amerikanische Lagebeurteilung der sowjetischen Streitkräfte

Erste Schritte zur Gründung der Stay-Behind-Organisation: Das F-Netz

Auf Freunde angewiesen: Die Evakuierungsplanungen der Organisation Gehlen

Ein neuer Auftrag für die Org

Der Aufbau von Flucht- und Evakuierungsrouten 1954 bis 1968

Britische Ressentiments: Stolpersteine auf dem Weg der Org zum BND

Der Aufbau des Rettungsprogramms

1966: Die Stunde der Wahrheit

Reinhard Gehlens Schattentruppe

Die Stay-Behind-Organisation des BND 1956 bis 1968

Die Übernahme von ausländisch geführten Netzen

Die Einbindung in die NATO

Gehlens »staatsstreichähnliche Pläne«

Die Entwicklung des SBO-Programms ab Ende der 1950er Jahre

Die Stay-Behind-Manöver des BND

Der Mann, der DIETER GERLACH wurde

Neue Ostpolitik und Kalte Krieger

Die Stay-Behind-Organisation des BND 1968 bis 1990

Pullach gegen die Hardthöhe: BND und Bundeswehr in einem spannungsreichen Verhältnis

Der Auftrag bleibt: Widerstand und Sabotage

Flucht- und Evakuierungsrouten: Evasion and Escape

Kampf der Schattenkrieger gegen den Bedeutungsverlust

Ein U-Boot für Stay-Behind-Aktionen

Waffen und Sprengstoff für die BND-Partisanen

Freundschaftsdienste für die niederländische Stay-Behind-Organisation

Personalprobleme im HOP-Netz

Verschwiegene Freundschaften: Die Zusammenarbeit mit den ausländischen Partnerdiensten

Projekt »Brückenschlag«: Das Stay-Behind-Ausweichquartier

Ein neues Agentenfunksystem: Kampf um HARPOON

Die letzten Jahre: 1987–1990

Stay Behind im Visier östlicher Geheimdienste

Identifizierung von SBO-Agenten durch das MfS

Lauscher und Spione

Geknackte Chiffriercodes

»Danke für die gute Schmetterlingsaufnahme«: Identifizierte SBO-Agenten

Enttarnte Partisanen: Lebensgefahr im Falle eines sowjetischen Einmarschs

Stay-Behind-Kampf im Innern?

Das Rätsel der Oktoberfestbombe

Die Gruppe Hepp

Operation WANDERVOGEL

Geständnis oder Angeberei: »Das waren wir!«

Wo war Hoffmann vor dem Anschlag?

War Heinz Lembke ein Schattenkrieger?

Woher stammten Lembkes Waffen?

War Lembke Überrollagent 27?

Ende der Ermittlungen?

Das Tabu: V-Leute

Tarnen und Täuschen

Die stille Abwicklung von Stay Behind ab 1990

Schlussbetrachung

Unentdeckte Schattenarmeen in Deutschland?

Anhang

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abkürzungen, Kryptonyme, Glossar

Zeittafel

Personenregister

Danksagung

Angaben zu den Autoren

Staatsgeheimnis Stay Behind

Einleitung

Am 29. Juni 1951 bog eine amerikanische Militärkolonne nahe der württembergischen Kleinstadt Schriesheim von der Landstraße ab und verschwand im Wald. Die Geschwister Marianne und Karl-Heinz Beckenbach, die im Schriesheimer Forst Heidelbeeren pflückten, wunderten sich, als ein amerikanischer Jeep, zwei Militärlastwagen und ein Tankwagen vor ihnen im Wald auftauchten. Die Soldaten machten Feuer und schlugen ein Zelt auf, als ob sie im Wald kampieren wollten. Und die Kinder belauschten sie. »Ich habe […] Geräusche gehört, Arbeitsgeräusche, Spaten und so weiter«, berichtete der heute 77-jährige Karl-Heinz Beckenbach in einem Hörfunkinterview: »Sie haben ein Loch gegraben und haben dann Kisten abgeladen, aus den LKWs und da rein. Sie haben irgendwas verbuddelt.«1

Als der damals 13-jährige Schüler, von Neugier getrieben, am Abend noch einmal in das Waldstück lief, waren die Männer verschwunden. An der Stelle, wo das Zelt gestanden hatte, entdeckte er eine zwei Meter breite Grube, die wieder zugeschaufelt und mit Zweigen getarnt worden war. Beckenbach berichtete seinem Nachbarn, dem 27-jährigen Fritz Gönnawein, von dem Fund. Der holte eine Schaufel und begann zu graben. In zwei Meter Tiefe stieß er auf handkoffergroße Blechcontainer, in denen er Pistolenmunition und »schlecht riechende Kernseife« fand. Gönnawein hatte, ohne es zu ahnen, ein Munitions- und Sprengstoffdepot der amerikanischen Stay-Behind-Organisation entdeckt, einer Schattenarmee, die im Kriegsfall als Partisanentrupp gegen die Sowjets kämpfen sollte. Doch dies sollte noch Jahrzehnte im Dunkeln bleiben.2

Wenige Wochen später bemerkte der Bahnwärter Sepp Scheurer an der Strecke zwischen Bamberg und Hof eine Kolonne von etwa zehn Militärfahrzeugen, die kurz vor dem Bahnübergang, an dem Scheurer seinen Posten hatte, in den Wald bei Marktschorgast fuhren. Als Scheurer sich dem Waldstück näherte, wurde er durch US-Soldaten am Weitergehen gehindert. In einiger Entfernung konnte er aber etwa 25 Soldaten erkennen, die Zelte aufschlugen und das Waldstück zu vermessen begannen. In der kommenden Nacht verschwand der Militärkonvoi. Sepp Scheurer berichtete dem Bauern Hans Kolb, dem Besitzer des Waldstücks, von seinen Beobachtungen. Kolb fand dort aber nur ein zugeschüttetes Loch von zwei mal zwei Metern Größe vor: »Ich dachte mir, die haben da eine Latrine gehabt und (die) dann wieder zugeschmissen.«3

An einem sonnigen Sonntag Anfang Oktober suchten die Arbeiter Hans Heissinger und Michael Feulner mit Kolbs Erlaubnis in dessen Waldstück nach Feldspat, einem Mineral, das zur Porzellanherstellung benötigt wird. Neben einem kleinen Weiher, etwa 100 Meter vom Bahndamm und wenige hundert Meter von einer Autobahnbrücke entfernt, stießen die Männer beim Graben auf ein Dutzend Metallkisten. Die Männer brachen die Container auf. In einem fanden sie Schokolade, Kekse und Zigaretten, in einem anderen Verbandszeug, Spritzen und Penicillin. Eine weitere Metallbox enthielt gelbe, in Ölpapier eingewickelte Stangen. Feulner und Heissinger hielten sie erst für Seife und versuchten erfolglos, sie im Weiher zum Schäumen zu bringen. Dann zündeten sie eine Stange an, die mit hellblau zischender Flamme abbrannte. Als Feulner den Aufdruck »Danger! Explosives!« entdeckte, ließen sie von der gelben »Seife« ab. Beim Öffnen der nächsten Kisten wurde den Männern, zu denen inzwischen auch der Bahnwärter Sepp Scheurer und der Anwohner Linhardt Hoffmann gestoßen waren, noch mulmiger: Sie fanden Tausende Schuss Munition, Pistolen und Maschinenpistolen – eine »vollständige Ausrüstung für eine Partisanenarmee«, wie Feulner feststellte – nagelneu und wasserdicht verpackt. Die TNT-Stangen waren offenbar in dem Erdversteck abgelegt worden, um die Autobahnbrücke oder die Bahngleise in der Nähe zu sprengen.4

Nachdem sie ihren Fund der Kulmbacher Polizei gemeldet hatten, gerieten Kolb, Heissinger und Feulner zunächst selbst in Verdacht, das Waffenversteck angelegt zu haben. Heissingers und Feulners Wohnungen wurden durchsucht. Die Ermittler fanden bei Feulner Flugblätter und Zeitungen aus der Sowjetischen Besatzungszone – Feulner war Mitglied der damals noch nicht verbotenen westdeutschen KPD. Mitentdecker Hoffmann war »bestürzt, dass man das auf die andere Seite ziehen wollte«, also das Depot kommunistischen Guerillatruppen zuordnete.5

Doch die Ermittlungen der bayerischen Polizei wurden sehr rasch durch das U.S. Army Criminal Investigation Command (CID) gestoppt. Die Fahnder der Besatzungsmacht interessierten sich nicht sonderlich für die Verdächtigen, denn sie wussten es besser. Es ging nur noch darum, die Partisanenausrüstung verschwinden zu lassen. Elmar Feulner war damals als Sechsjähriger Augenzeuge des Abtransports der Waffenkisten: »Plötzlich waren Amerikaner da, amerikanische Armeepolizei und Kripo. Die haben dann alles abgesperrt und haben niemanden mehr hergelassen.«6

Auch in Schriesheim rollte das CID an, nachdem Fritz Gönnawein der örtlichen Polizei den Waffenfund gemeldet hatte. Wie in Marktschorgast wurde das Waldstück abgesperrt und das Depotmaterial – 21 Kisten mit TNT-Sprengstoff – auf US-Militärlastwagen abtransportiert. Als der Spiegel im November 1951 bei der Besatzungsmacht nachfragte, ob zwischen den Depots in Marktschorgast und Schriesheim eine Verbindung bestehe, verneinte das US-Hauptquartier in Heidelberg die Vermutung der Reporter. Auch das CID warf Nebelkerzen: »Wir wissen nicht, woher das Zeug stammt. Es ist auch nicht gesagt, dass Leute in amerikanischer Uniform immer amerikanische Soldaten sein müssen.«7

Nach dem Abtransport der Kisten wurde es still um die spektakulären Sprengstoff- und Waffenfunde von Schriesheim und Marktschorgast. Die Regionalpresse in Franken veröffentlichte lediglich knappe 30 Zeilen, in denen von einem geheimen Waffenlager »in einer Feldscheune« die Rede war, mit dem sich deutsche und amerikanische Polizei- und Sicherheitsbehörden jetzt befassten: »Eine klare Spur zu den Kreisen, von denen das geheime Arsenal errichtet wurde, scheint bis jetzt noch nicht gefunden worden zu sein. Es konnte auch noch nicht festgestellt werden, ob bereits Verhaftungen erfolgt sind.«8

Die vom US-Geheimdienst CIA in Westdeutschland aufgebauten Stay-Behind-Netzwerke standen Anfang der 1950er Jahre mehrfach kurz vor der Enttarnung. Im September 1952, ein Jahr nach den Depotfunden von Waldschorgast und Schriesheim, flog die aus ehemaligen SS-Männern gebildete Terrororganisation Technischer Dienst des Bundes Deutscher Jugend (BDJ-TD) auf, eine von mehreren US-geführten Schattenarmeen. Der BDJ-TD hatte Listen unliebsamer westdeutscher Politiker angelegt, die er im Kriegsfall »kaltstellen« wollte. Die Adenauer-Regierung behinderte die Aufklärung dieses Skandals und ließ zu, dass sich die ehemaligen SS-Männer der Verhaftung entziehen konnten. Und die US-amerikanischen Stellen in Deutschland ließen Beweismittel verschwinden.

Aber auch 1981 stellte der damalige Generalbundesanwalt Kurt Rebmann viel zu rasch Ermittlungsverfahren ein, die sich mit dem Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest und der möglichen Beteiligung eines Rechtsextremisten aus Niedersachsen befasst hatten. Damals war erneut ein gigantisches Waffenlager entdeckt worden, das den Ausrüstungsdepots von Stay-Behind-Truppen ähnelte. Angelegt hatte es – angeblich ganz allein – der Rechtsextremist Heinz Lembke aus Uelzen. 9-Millimeter-Pistolen, Panzerfäuste samt Munition und 156 Kilogramm Sprengstoff fanden sich in mehreren Dutzend Erddepots. Jahre später, nach der Aufdeckung der Stay-Behind-Netze in Europa aufgrund von Ermittlungen in Italien, kamen Spekulationen in der Öffentlichkeit auf, ob Lembke die Waffen und den Sprengstoff für die NATO-Partisanentruppe angelegt hatte.9 Lembke konnte dazu nicht mehr befragt werden, er erhängte sich nach der Festnahme in seiner Zelle.

Der Bundesnachrichtendienst (BND) – der deutsche Auslandsgeheimdienst – hat nach jahrzehntelangem Schweigen rund 20 Aktenbände der von ihm geführten Stay-Behind-Organisation aus vier Jahrzehnten freigegeben und den Autoren dieses Buches Gespräche mit ehemaligen Mitgliedern der BND-Partisanentruppe ermöglicht. Den Bundestagsabgeordneten hatte die Regierung Kohl Ende 1990 noch erklärt, man habe keine Akten aus der Gründungsphase der Schattenarmee gefunden. Erst jetzt, fast ein Vierteljahrhundert später, lässt die Bundesregierung einen ersten Blick auch auf bislang angeblich verschollene Akten zu.

Sie geben einen Einblick in die Denkwelten des Kalten Krieges. Der BND unter seinem Präsidenten Reinhard Gehlen hatte Bedrohungsszenarien entworfen, die die illegalen Aktivitäten der BND-Partisanentruppe rechtfertigen sollten – bis hin zum Putsch gegen gewählte Politiker.

Das Bild, das sich anhand dieser Dokumente zeichnen lässt, bleibt aufgrund der geringen Dokumentenzahl unvollständig, doch es ist das erste Mal seit 1990, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst überhaupt Auskunft über seine Partisanentruppe gibt. Damals, nach der Enttarnung der Partnerorganisation GLADIO in Italien im Herbst 1990, hatte der BND sich nur knapp zur anstehenden Auflösung der Stay-Behind-Organisation gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) geäußert; journalistische Anfragen wurden jahrelang negativ beschieden. 1990, in den Wirren des Wiedervereinigungsprozesses, verdrängten Themen wie Stasiseilschaften und Treuhandskandale die BND-Schattenarmee von der politischen Agenda.

Kurzum: Der Skandal um die Stay-Behind-Schattenarmeen ging in Deutschland unter – und das trotz der klaren Forderung des Europäischen Parlaments an die Mitgliedsstaaten, »die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, gegebenenfalls im Rahmen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, um eine komplette Bestandsaufnahme der auf diesem Gebiet tätigen Organisationen zu erstellen, gleichzeitig ihre Verbindung zu den jeweiligen Geheimdiensten und zu den terroristischen Aktionsgruppen und/oder ihre Affinität mit anderen illegalen Praktiken zu überprüfen.«10

Nichts davon fand in Deutschland statt. Die Stay-Behind-Organisation wurde stillschweigend abgewickelt. Und das, obwohl in ganz Westeuropa Schattenarmeen außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle existiert hatten und zum Teil in schwere Straftaten verwickelt waren. Die italienische Partnerorganisation GLADIO, mit der die BND-Truppe gemeinsame Übungen veranstaltet hatte, war offenbar in die Machenschaften der rechtsextremen Terrororganisation Ordine Nuovo verstrickt, die für Bombenanschläge und Polizistenmorde verantwortlich war.

Dieses Buch ist der erste Versuch, anhand von Akten des US-Nationalarchivs (National Archive and Record Administration – NARA) und des Bundesnachrichtendienstes, aber auch mit Hilfe von privaten Nachlässen und Zeitzeugengesprächen Licht in das Dunkel zu bringen, das die Stay-Behind-Organisationen in Deutschland jahrzehntelang umgeben hat. So wurde immer wieder darüber spekuliert, inwieweit die jeweilige Bundesregierung über das Treiben der Schattentruppe informiert war und ob die BND-Krieger in Straftaten verstrickt waren wie ihre Partnerorganisationen in Italien und anderswo. Ausgelöst durch den »Nazi War Crimes Disclosure Act«, den US-Präsident Bill Clinton 1998 erließ, gab die CIA 2001 zunächst zögerlich, ab 2007 jedoch in großem Umfang Personal- und Sachakten frei. Der Zugriff auf diese US-amerikanischen Akten erlaubt, einen wesentlichen Teil des Führungspersonals auch namhaft zu machen.

Was ist Stay Behind?

Vorgeschichte und Grundlagen

Stay-Behind-Partisanen: Eine sowjetische Idee

Das Konzept, Schläferagenten bei einem militärischen Rückzug im vom Feind besetzten eigenen Gebiet zu platzieren, stammt aus den Anfangsjahren der UdSSR. Diese Agenten sollten bei der Rückeroberung im Rücken des Gegners durch Aufklärung und Sabotage zum militärischen Erfolg beitragen. So analysierte es eine umfangreiche Studie des amerikanischen 7707th Military Intelligence Service Center vom 27. Januar 1947. Diesem Sonderbericht Nr. 32 zufolge hatte der sowjetische Nachrichtendienst NKWD bereits in den 1920er Jahren ein Netz aus Schläferagenten aufgebaut. Sie sollten nach einem Überfall auf die Sowjetunion Informationen sammeln und diese an Kuriere übermitteln. Der NKWD stützte sich auf einheimische Informanten, die schon in Friedenszeiten zur Kontrolle der Bevölkerung eingesetzt worden waren und eine paramilitärische Ausbildung genossen hatten. 1941 gelang es dem NKWD in den ersten Monaten des Krieges jedoch nicht, aktive Agenten (Operateure) in das von den Deutschen besetzte Gebiet einzuschleusen. Die Schläferagenten bekamen daher den Auftrag, zunächst die Spionage einzustellen und sich bei der deutschen Militär- und Zivilverwaltung als verlässliche Mitarbeiter zu bewähren, bis sie reaktiviert würden. Hingegen hatten sich nur wenige kleine Partisanengruppen – geführt von Geheimdienstoffizieren – in die Wälder zurückgezogen. Nach der Konsolidierung der Fronten wurde dieses Schläfernetz durch Fallschirmjägeragenten verstärkt, die, begünstigt durch die brutale deutsche Besatzungspolitik und das Ausrufen des »Großen Vaterländischen Kriegs«, auf die Unterstützung durch weite Kreise der Bevölkerung zählen konnten. Bereits im Winter 1941 verübten sie eine wachsende Anzahl von Sabotageakten.

Während der deutschen Kaukasusoffensive 1942 nahm die Bedrohung durch Anschläge im Rücken der Heeresgruppen Mitte und Nord zu, aber erst 1943 war die vom NKWD geführte Partisanenarmee zur »Dritten Front« geworden. Von allen zwischen Frühjahr 1943 und Frühjahr 1944 von der Leitstelle III Ost identifizierten Agenten waren 82 Prozent Partisanen. Das Konzept des sowjetischen Geheimdienstes von »Stay Behind« war voll aufgegangen. »Die mächtige Partisanenbewegung der Jahre 1943 bis 1945 basierte nicht auf einer spontanen Erhebung der friedliebenden russischen Bevölkerung gegen die deutschen Eroberer, wie die sowjetische Propaganda behauptete. Vielmehr war sie seit dem Ende der Revolution offiziell für jede mögliche Krise vorbereitet worden«11, resümierte die amerikanische Geheimdienststudie. In der Schlussoffensive der Roten Armee sah sich die deutsche Abwehr – mit nur 300 hauptamtlichen Mitarbeitern als Kommando IV (später WALLI III) unter Führung von Major Heinz Schmalschläger in das Unternehmen Barbarossa gestartet – einer Übermacht sowjetischer Geheimdienstoffiziere gegenüber.12

Der 1985 in den Westen übergelaufene KGB-Oberst Oleg Gordiewsky hat 1990 dem NKWD eine »führende Rolle im Partisanenkampf um den siegreichen Vormarsch der Roten Armee« zugesprochen, seine Stärke von 53 Divisionen und 28 Brigaden mit einer Dreiviertelmillion Menschen hervorgehoben und auf die zentrale Rolle bei der brutalen Beherrschung zurückeroberter Gebiete hingewiesen.13

Um es vorwegzunehmen: Die Vorstellungen der westlichen Nachrichtendienste und Militärs, wie brutal ein sowjetisches Besatzungsregime in Westdeutschland aussehen könnte, basierten auf den Erkenntnissen, die sie über den Übergang der Kriegsstrukturen in die Militäradministration in Ostmitteleuropa und der sowjetisch besetzten Zone gewannen. »Die nach der Armee vorrückenden NKWD-Truppen zum Schutz des Hinterlandes sollten breit angelegte Razzien und Verhaftungen aller ›verdächtigen und feindlichen Elemente‹ vornehmen. Die NKWD-Einheiten sollten die Ordnung gewährleisten und die sowjetische Besatzungsmacht in den neuen Gebieten stabilisieren«14, analysiert die Sammelbiografie über die Mitarbeiter beim NKWD-MVD-Bevollmächtigten in Deutschland. Bevor sich der sowjetische Nachrichtendienst (1946 inzwischen in MGB und dann in KGB umbenannt) 1953 weitgehend auf Beraterfunktionen für die Staatssicherheitsorgane der DDR zurückzog, hatte er bis 1949 ein dichtes Netz von sechs Operativsektoren in den Ländern und Provinzen der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) mit 40 MGB-Stadt- und 91 Kreisabteilungen aufgebaut.15

Werwolf – das letzte Aufgebot des Dritten Reiches

Der Nachrichtendienst der 12ten US-Armee befürchtete im April 1945, dass die Nachrichtendienste des Dritten Reichs und andere Teile der NS-Elite die bedingungslose Kapitulation nicht widerstandslos hinnehmen würden: »Mit dem Eindringen unserer Streitkräfte in Deutschland wird Spionageabwehr, insbesondere der Sicherheitsaspekt darin, vital. Vor dem Sieg über die regulären organisierten militärischen Kräfte des Feindes wird Sicherheit noch wichtiger werden. Die Geheimdienste des Feindes verstärken, unterstützt von fanatischen und mit ihnen sympathisierenden Zivilisten, ihre Anstrengungen. Unsere Streitkräfte stehen einem skrupellosen Feindstaat gegenüber, der seinen letzten Kampf auf eigenem Boden gegen die bedingungslose Kapitulation führt. Vom feindlichen Nachrichtendienst, Sicherheits- und Geheimpolizei sowie paramilitärischen Organisationen, wird angenommen, dass er Pläne ausgearbeitet und Vorkehrungen getroffen hat, um bei Vordringen unserer Kräfte schrittweise in den Untergrund zu gehen. Es wird angenommen, dass die Organisationen, vereint mit anderen Elementen der NSDAP, eine große Bedrohung für die erfolgreiche Erfüllung unserer militärischen Mission in Deutschland darstellen. Derzeit wurden keine größeren Untergrundoperationen verdeckter oder offener Art festgestellt. Dennoch wird angenommen, dass die grundlegende Politik des organisierten Untergrunds einen weitreichenden Charakter besitzt, anfangs mit niedriger Intensität, Teilhabe an der Art von Spionage, Sabotage und subversive Aktionen, die die Organisation selbst nicht gefährdet, wartend auf eine Gelegenheit, die aktive Kontrolle unter besseren Umständen wieder zu gewinnen. In späteren Stufen werden Guerilla-Kampfführung und sporadischer Widerstand in Form von Sabotage und umstürzlerischen Aktivitäten, einschließlich von Angriffen auf einzelne Angehörige unserer Streitkräfte und auf Menschen, die mit ihnen zusammenarbeiten, von organisierten und halborganisierten Gruppen sowie von fanatischen Einzelnen wahrscheinlich ein viel größeres Ausmaß annehmen.«16

Die Sorge vor einem kampfbereiten Untergrund war im US-Militär und im US-Geheimdienst weit verbreitet. Kurt Hälker erinnerte sich, dass er als deutscher US-Agent aus dem französischen Widerstand vor einem Einsatz in Deutschland in St. Germain auch den Auftrag erhalten hatte, nach der Besetzung Deutschlands Werwolf-Gruppen zu bekämpfen.17

Das Office of Strategic Services hatte 1944 ein zweibändiges Werk mit Personenangaben zu mehreren tausend deutschen Geheimdienstmitarbeitern aufgelegt, um diese festzusetzen und ihre Beteiligung am Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens zu verhindern. Registriert war da auch Else Boedigheimer, die Landesverbandsführerin des Deutschen Amateursendedienstes und Ehefrau des Funkleiters Ost Ferdinand Bödigheimer, ansässig An der Bitz 12 in Frankfurt-Praunheim. Das OSS unterstellte, die Amateurfunker würden wahrscheinlich nach der Besetzung Deutschlands als Agenten genutzt.18

Noch ausgeprägter war die Befürchtung vor einem Vierten Reich beim britischen Nachrichtendienst, der vor allem durch Vernehmungen gefangener deutscher Geheimdienstler ein möglichst vollständiges Bild vom Verbleib nachrichtendienstlicher Führungskader gewinnen wollte. Erst 2011 sind 168 Seiten der Geheimdienstakte »SS-Fourth Reich Plans«19 von der britischen Regierung freigegeben worden. Es handelt sich um Berichte aus dem Zeitraum von November 1944 bis November 1949. Aussagen von Nachrichtendienstlern bestärkten Londons Geheimdienstmitarbeiter in ihrer Sorge, es gäbe deutsche geheimdienstliche Vorkehrungen für einen NS-Nachfolgestaat: Ein Plan sähe vor, in einer Milchpulverfabrik in der Schweiz, die angeblich unterernährte Kinder in Deutschland versorge, die neue Abwehr aufzubauen. Ein Memorandum des MI 5 basierte auf der Befragung des Geheimdienstoffiziers Bruno Nikoll, in dem er ausgesagt hatte, dass die Bemühungen zur Wiedergeburt Deutschlands bereits begonnen hätten. Das Hauptziel sei, gestützt auf Abwehr- und SD-Mitarbeiter in Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Untergrund und einer polnischen Brigade, den Alliierten ihre Nachkriegsaufgabe so schwer wie möglich zu machen und Misstrauen zwischen Amerikanern und Russen zu säen. Verschiedenste Einrichtungen würden dazu zur Tarnung der Agenten genutzt. Der deutsche Geheimdienstoffizier Heinrich von Berseviczy hatte zudem im Juni 1945 behauptet, die Überlebenden der NS-Nachrichtendienste würden versuchen sich neu aufzustellen und neue Agenten rekrutieren. Hinzu kamen Ergebnisse aus der Vernehmung des Frontaufklärers Julius Hagemann, der auf den Nachkriegsplan »Friedensorganisation« der Abwehr verwies. Ein auf mehreren Quellen fußender Bericht vom Juni 1945 kam zu dem Ergebnis, der SD habe bereitwillige Mitarbeiter der Reichspost ausgebildet, um seine Arbeit fortzusetzen. Dieses Netz bestehe aus zahlreichen Posteinrichtungen und habe ihr Hauptquartier am Nordufer des Bodensees.

Der bretonische Nationalist und Gründer der bretonischen Nationalpartei Olivier Mordrelle (1901–1985) war 1939 von der Abwehr angeworben worden. Im Mai 1945 geriet er in Bozen in Kriegsgefangenschaft und wurde ausführlich vernommen, bevor er am 11. März in Rom aus der Internierung fliehen konnte. Er gab an, er hätte im Mai 1945 in Deisenhofen bei München an einer Konferenz eines ihm unbekannten SS-Obergruppenführers mit Vertretern aus 15 deutschen Ländern teilgenommen, auf der die Pläne für die Verbreitung von Unruhen in der Nachkriegszeit diskutiert worden seien. Dabei sei zur Sprache gekommen, dass beträchtliche Geldmittel und vertrauenswürdige Banker nach Lateinamerika, hauptsächlich nach Argentinien, nach Spanien und in die Schweiz gebracht worden seien. Die Agenten seien angewiesen worden, sich nach dem Krieg zunächst bedeckt zu halten, bevor sie nationale Bewegungen ins Leben rufen sollten, die den Alliierten ihre Aufgabe so erschweren würden, dass eine Nazi-Partei in passender Verkleidung wieder auferstehen und ein Viertes Reich aufbauen könne.20

Die West-Alliierten sahen also die doppelte Gefahr eines militärischen Stay-Behind-Netzes zur verdeckten Kriegführung im Endkampf um Deutschland und eines politischen neo-faschistischen Untergrundnetzes nach der Kapitulation des Dritten Reichs. In Österreich waren diese Ideen auf fruchtbaren Boden gefallen. Der Grazer Kaufmann und fanatische Nationalsozialist Theodor Soucek hatte von Graz aus in der britischen Besatzungszone eine Werwolf-Bewegung aufgebaut. 1948 schritt der britische Nachrichtendienst dagegen ein und verhaftete ihn und eine Reihe seiner Anhänger, darunter den SS-Offizier Adolf Urban – ab 1951 Mitarbeiter der Organisation Gehlen – als Spiritus Rector der Organisation. Soucek wurde zum Tode verurteilt, dann zu lebenslangem Kerker begnadigt, aber bereits nach drei Jahren wieder aus der Haft entlassen, Urban durfte während seiner Haftzeit als Freigänger weiterhin für eine Reihe westlicher Nachrichtendienste arbeiten.21

In Nordrhein-Westfalen war die ohnehin rechtslastige FDP seit 1950 systematisch von ehemals hochrangigen Nationalsozialisten im so genannten Gauleiterkreis unter Werner Neumann unterwandert worden, der etwa 100 Mitglieder umfasste. Auf Geheiß des britischen Hochkommissars Sir Ivone Kirkpatrick wurden die führenden Mitglieder im Januar 1953 verhaftet. Kirkpatrick und das Londoner Außenministerium verlauteten gemeinsam, »den britischen Behörden [sei] seit einiger Zeit bekannt, dass sich eine Gruppe ehemaliger führender Nazis mit Plänen zur Wiederergreifung der Macht in Westdeutschland befasse.«22

Aber wie sah es generell aus, was die Werwolf-Aktivitäten in den letzten Kriegstagen und was die Pläne zur Wiedererrichtung einer faschistischen Diktatur in Westdeutschland betrafen?

W für Widerstand

Dass das Dritte Reich in der letzten Kriegsphase einen asymmetrischen Kampf von Werwolf-Partisanen gegen die alliierte Übermacht plante, deutete der Reichsführer SS Heinrich Himmler erstmals in einer Rundfunkrede am 18. Oktober 1944 anlässlich der Aufstellung des Volkssturms an: »Unsere Gegner müssen begreifen lernen: Jeder Kilometer, den sie in unser Land vordringen wollen, wird sie Ströme ihres Blutes kosten […], auch in dem Gebiet, das sie glauben erobert zu haben, wird immer wieder in ihrem Rücken deutscher Widerstandswille auflodern, und wie die Werwölfe werden todesmutige Freiwillige dem Feinde schaden und seine Lebensfäden abschneiden.«23

Einen Monat zuvor, am 19. September 1944, hatte Himmler den SS-Obergruppenführer Hans-Adolf Prützmann zum Generalinspekteur für Spezialabwehr beim Reichsführer SS und damit zum Leiter der Werwolf-Organisation ernannt. Prützmann, der schon 1929 der SA beigetreten war, fungierte ab März 1937 als Höherer SS- und Polizeiführer erst in Hamburg, dann in Königsberg. In dieser wichtigen Funktion unterstand ihm der gesamte SS- und Polizei-Apparat des jeweiligen Wehrkreises. Prützmann sammelte von November 1941 bis April 1944 an der Ostfront Erfahrungen mit russischen Partisanen und hatte sich bei der Räumung der Region um Donezk in der Ukraine als äußerst brutal erwiesen. Er hatte Himmlers Anweisung umgesetzt, wonach »kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene zurückbleiben [darf], dass kein Haus stehen bleibt, kein Bergwerk vorhanden ist […]. Der Gegner muss ein total zerstörtes und verbranntes Land vorfinden.«24

Wenige Monate vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches schien Prützmann für Himmler der richtige Mann zu sein für die schwierige Aufgabe, aus Soldaten, Parteifunktionären, Hitlerjungen und BDM-Mädels eine wirkungsvolle Partisanenorganisation aufzubauen, »in die jeder Deutsche zum aktiven oder passiven Widerstand in den vom Feind besetzten Gebieten einberufen werden sollte.« So stellte Prützmanns Mitarbeiterin Irmgard Reschke später die Aufgabe des Werwolfs gegenüber den US-Vernehmern im Mai 1945 dar.25 Die Kämpfer sollten sich, so Reschke, als Zivilisten im besetzten Gebiet tarnen: »Sie bekamen falsche Papiere, auf denen ein normaler Beruf stand. Unter der Tarnung als normale Bürger sollten sie aktiven oder passiven Widerstand in besetzten Gebieten leisten und die deutsche Bevölkerung zur Rebellion gegen die Besatzer aufstacheln. Sie sollten ein richtiges Partisanenleben führen. Sie sollten Waffen und Munition bekommen, außerdem Gift und Sprengstoff, um alle Arten von Anschlägen durchzuführen«.26

Derart deutlich hatte keiner der Werwolf-Verantwortlichen gegenüber den Amerikanern die Tarnung der Partisanen als Zivilisten geschildert. Immer wieder wurde die Ausstattung der Werwolf-Kämpfer mit SS-Uniformen und -papieren geschildert. Offenbar wussten die für den Werwolf verantwortlichen Offiziere, dass sie eine Anklage wegen Kriegsverbrechen zu erwarten hätten, wenn sie zugeben würden, dass ihre Kämpfer ohne Uniformteile agieren sollten, ihre Befehlshaber somit bewusst gegen die Haager Landkriegsordnung verstoßen hätten.

Von seinem Werwolf-Kommandostand in Königs Wusterhausen aus, einem Eisenbahnzug, nahm Prützmann Kontakt zu allen Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) in den Wehrkreisen des untergehenden Reiches auf: Sie sollten jeweils einen »Widerstands«(W)-Beauftragten benennen, der wiederum alle verfügbaren Kämpfer in NSDAP, HJ, BDM, Gestapo, Polizei, Gendarmerie und Wehrmacht, aber auch Zivilisten zu mobilisieren hatte, sofern sie »politisch zuverlässig, fanatisch gehorsam, intelligent und mutig« genug für die Werwolf-Organisation waren.27

Sogar 300 Offiziere der bereits kaum noch einsatzfähigen Luftwaffe sollten laut Irmgard Reschke als »Fuß-Sturzkampfbomber« für den Werwolf im Rücken der Alliierten Sabotageeinsätze durchführen. Dass sich Prützmanns Mitarbeiterin diese abenteuerliche Geschichte nicht aus den Fingern gesogen hatte, beweist eine Vernehmung von sechs Angehörigen des Sonderkommandos »Bienenstock« durch den Feindlagebearbeiter der 1. US-Armee vom 3. Mai 1945. Am 2. und 3. Mai 1945 waren drei einmotorige Schulflugzeuge der deutschen Luftwaffe hinter der Kampflinie der 1. US-Armee gelandet. Die Piloten ergaben sich und berichteten, sie gehörten einem Sonderkommando an, das Ende April aus freiwilligen Fluglehrern und Piloten aufgestellt worden war. Am Standort Einring bei Salzburg gäbe es 20 zweiköpfige Teams, im oberbayerischen Bad Aibling 50 Zwei-Mann-Crews sowie ausreichend Flugzeuge. Nach kurzer Einweisung in die Sprengstoffhandhabung sollten diese Kleinstgruppen mit zweisitzigen Schulflugzeugen vom Typ Bücker Bü 181 im Rücken der US-Truppen im Raum Würzburg-Nürnberg landen. Die am 1. Mai gestarteten Zweierteams sollten ihre Flugzeuge nach der Landung aufgeben und mit Sprengstoff und Handgranaten Sabotageakte gegen militärische Ziele durchführen: Sprengung von Nachschubdepots, kleinen Brücken, Eisenbahnlinien, Flugzeugen und Fahrzeugen. Anschließend sollten sie ihre Luftwaffenuniformen ablegen, in Zivilkleidung schlüpfen und sich nach Hause durchschlagen.28

Vor allem die Führung der Hitler-Jugend sei »vom Widerstandsplan begeistert« gewesen, berichtete ein Werwolf-Rekrutierer den Amerikanern im August 1945. Reichsjugendführer Artur Axmann habe im November 1944 den Befehl gegeben, alle HJ-Mitglieder als Werwölfe auszubilden.29 Die potenziellen Untergrundkämpfer sollten in Schulen der HJ, der Waffen-SS und der SS-Jagdverbände sowie in eigens gegründeten W-Schulen zu Partisanen ausgebildet werden, fassten die US-Vernehmer im Juli 1945 ihre Befragungen der Werwolf-Verantwortlichen zusammen. Demnach übten die Werwölfe in zwei- bis dreiwöchigen Kursen ab Herbst 1944 Sabotage, Morsen, Geländeerkundung, Fremdsprachen, Umgang mit Funkgeräten, Kompass und Sprengstoff. Waffen und Ausrüstung sollte die Wehrmacht stellen, Uniformen und Dienstpapiere die SS. Für die Beschaffung der Spreng- und Sabotagemittel sollte SS-Hauptsturmführer Otto Skorzeny vom Reichssicherheitshauptamt zuständig sein.30

Jürgen Stroop: Werwolf und Kriegsverbrecher

Im Rahmen seiner Unterrichtung der Wehrkreisverantwortlichen reiste Prützmann auch nach Wiesbaden, um SS-Gruppenführer Jürgen Stroop, dem obersten SS- und Polizeichef des Wehrkreises XII, die Widerstandspläne des Reichsführers SS Heinrich Himmler mitzuteilen: »Im September 1944 teilte mir SS-Oberstgruppenführer Hans-Adolf Prützmann, nachdem er mir einen Eid abgenommen hatte, Stillschweigen zu bewahren, im Vertrauen mit, dass in ganz Deutschland ein Geheimbund mit dem Namen Werwolf vorbereitet werde.« Das erzählte Stroop nach dem Krieg in polnischer Haft seinem Mithäftling Kazimierz Moczarski.31

Er behauptete, Prützmann habe den Aufbau der Werwolf-Organisation anhand wissenschaftlicher Studien über Partisanenbewegungen geplant: »Die Studien waren von einer supergeheimen Dienststelle der SS betrieben worden […] Wenn ein Angehöriger dieser Sondereinheit erfuhr, dass die Gestapo, die Sipo oder der SD jemanden wegen politischer Verbrechen gegen das Dritte Reich verhaftet hatte, konnte er diese Person sogar aus der Todeszelle herausholen […] unter der Bedingung, dass jener Häftling ihm behilflich war, Erkenntnisse über das Wesen der betreffenden konspirativen Bewegung zu gewinnen.«32

Stroops Wehrkreis, in dem »Jungen und Mädchen, ja sogar Frauen und Kinder« ausgebildet werden sollten, um »Sabotageakte zu verüben, den Gegner und seine Agenten zu liquidieren, Lebensmittel und Trinkwasser zu vergiften, Anschläge auf das feindliche Transportwesen zu unternehmen«,33 umfasste drei Gaue: Moselland (mit Luxemburg), Westmark (mit Lothringen) und Hessen-Nassau. Stroop war nach Einschätzung seiner US-Vernehmer »ein überzeugter und arroganter Nazi«, der »bereit war, alles für Hitler, Himmler und das Vaterland zu tun.«34 Stroop will Prützmann aus der gemeinsamen »herrlichen Zeit« als Höheren SS- und Polizeiführer in der Ukraine gekannt haben: »Damals bin ich mit Prützmann spazieren geritten. Wir führten lange, herzliche Gespräche.«35 Seit Februar 1943 war Stroop in Polen für »Säuberungsaktionen« zuständig gewesen und hatte aus Ghettos geflohene Juden gejagt und ermordet. Im April/Mai 1943 hatte er die grausame Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto geleitet, bei der SS- und Wehrmachtsverbände 17 000 Juden ermordeten. Weitere 49 000 Warschauer Ghettobewohner wurden nach der Räumung in die Vernichtungslager geschickt.

Stroop, seit November 1943 in seiner Leitungsfunktion im Wehrkreis XII, ließ nach Prützmanns Besuch bei den drei Gauleitern seines Wehrkreises und bei den Bürgermeistern nach Kandidaten für die Werwolf-Ausbildung suchen. Die mussten dann, so schilderte er es nach dem Krieg den US-Vernehmern, in seinem Büro in der Wiesbadener Uhlandstraße antreten: »Er teilte ihnen die Gefahren mit, denen sie ausgesetzt sein würden, erläuterte aber nicht die genauen Aufgaben, die sie zu erfüllen hätten. Er versprach gutes Essen, Kleidung und Ausrüstung sowie Bezahlung in der Höhe ihrer zivilen Berufe.«36

Zur Ausbildung gelangten die Kandidaten mit LKW in das Kloster Tiefenthal bei Eltville, das zuvor als BDM-Hauptquartier gedient hatte und ab Oktober 1944 eine W-Schule war.37 In einem Bericht fassten die US-Befrager das Trainingsprogramm der ersten Sabotage-Kurse von Oktober bis Dezember 1944 in der SS-Kampfschule Tiefenthal zusammen:

»1. Sabotage kalt:

Bäume und Wrackteile als Straßensperren

Drähte über Straßen spannen

Schrauben von Eisenbahnschwellen lösen.

2. Sabotage warm:

Da sie nur mit kleineren Sprengkörper ausgestattet werden würden, sollten die Werwölfe Hilfsbrücken der Alliierten sprengen.

Schienen zerstören mit genau platziertem Plastik-Sprengstoff

Sprengen und Verbrennen von Nachschubdepots

Zerstören von Ersatzteildepots

3. Karten lesen

4. Kompass lesen

5. Handfeuerwaffen

Es wurde viel Arbeit darauf verwendet, die Werwölfe an verschiedenen ausländischen Waffen auszubilden. In den meisten Ausbildungsklassen wurden Maschinenpistolen benutzt. Sie wurden ausgebildet an

a. französischer Maschinenpistole

b. Sten-Maschinenpistole

c. amerikanischer Maschinenpistole

d. italienischer Maschinenpistole

6. Brandmittel

Es gab eine spezielle Ausbildung zur Herstellung von Brandmitteln aus leicht beschaffbaren Materialien. Obwohl keiner der befragten Männer die genaue Formel kannte, waren sie imstande, folgende Bestandteile aufzuzählen:

a. Zucker

b. Mehl

c. Sägemehl

d. Sulphat

e. Eisenspäne

f. Salpeter

g. Kalzium-Permanganat

7. Explosivstoffe

a. Füllpulver 02

Es wurde vorgeführt, wie man aus Füllpulver 02 durch Zufügen von Wasser eine Paste herstellen kann, die in jede Form gebracht werden kann.

b. Nipolit (nicht im Ausbildungsprogramm des 2. Kurses, aber bei einem Auffrischungskurs 10.–16. Januar 1945 vorgeführt).«38

Die Ausbildung war demnach von Anfang an darauf ausgerichtet, dass die Werwolf-Partisanen im besetzten Gebiet auf improvisierte Spreng- und Sabotagemittel angewiesen sein würden, falls der neu entwickelte Sprengstoff Nipolit nicht verfügbar wäre. Außerdem sollte die Bewaffnung zum Teil aus erbeuteten Waffen bestehen. Tatsächlich funktionierte die Beschickung der Waffen- und Sprengstoffdepots des Werwolfs Anfang 1945 wegen des unerwartet raschen Vormarsches der Alliierten häufig nicht.

In seiner Vernehmung durch die US-Besatzungsmacht beschrieb Stroop den für seinen Wehrkreis vorgesehenen organisatorischen Aufbau des Werwolfs: Jeder Gau war als »W-Abschnitt« definiert, der wiederum in sechs bis acht Sektoren unterteilt war. Pro Sektor sollten sich zwischen sechs und zehn vierköpfige Werwolf-Gruppen (»Zellen«) in Höhlen, Bergwerken oder Steinbrüchen verstecken. Zwischen den »Zellen«-Stützpunkten sollte ein Abstand von höchstens zwölf Kilometern bestehen. In einem Report vom Mai 1945 analysierte die US-Army, wie sich die in Tiefenthal ausgebildeten Werwolf-Gruppen im Ernstfall im besetzten Gebiet verhalten hätten: »Jede Gruppe hatte den Befehl, zwei gut ausgebaute Verstecke zu errichten. Der Sprengstoff, den sie erhalten sollten, sollte an verschiedenen Orten versteckt werden, ein spezieller Bunker war für Nahrungsvorräte vorgesehen. Wenn die Alliierten ihren Sektor besetzten, sollte die Gruppe sich in nur einem der beiden Verstecke aufhalten und dort 10 bis 14 Tage bis zum Einsatz ausharren. Nach der Wartezeit sollten sie Patrouillen aussenden und die Gegebenheiten erkunden. Die Späher sollten zunächst feststellen, wie nah der Feind an den Verstecken stand; Anzahl und Position der Wachen, Zeit und Frequenz des Wachwechsels und Erkundung, welche Wege die Wachen benutzten. Die Späher sollten Ort, Struktur und Wichtigkeit der Einrichtungen erkunden, die sie zerstören könnten. […] Sie sollten nie versuchen, eine Beton- oder Stahlbrücke zu zerstören, weil sie nicht dafür ausgerüstet waren. Sie sollten sich auf Holz- und Ponton-Brücken konzentrieren. Unmittelbar nach Erfüllung ihres Auftrags sollten sie ihr erstes Versteck aufgeben und das zweite Versteck aufsuchen. Dort sollten sie erneut warten, weil die Alliierten wahrscheinlich ihre Wachen nach einem Anschlag verdoppeln würden. Sie sollten sich niemals auf ein Feuergefecht mit den Alliierten einlassen, nur in aussichtsloser Lage. In diesem Fall sollte ein einzelner Schütze zurückbleiben, während die anderen fliehen würden.«39

Die hier beschriebene Guerillataktik, die Ende 1944 in Tiefenthal und anderen W-Schulen vermittelt wurde, erinnert an die Schilderungen des asymmetrischen Krieges in dem von SS-Sturmbannführer Arthur Ehrhardt bereits 1935 verfassten Buch »Kleinkrieg«, das in der zur Jahreswende 1944/45 erschienenen Werwolf-Fibel »Winke für Jagdeinheiten« fortgeschrieben wurde.

Die Zahl von nur etwa 150 Absolventen der Kampfschule Tiefenthal, die die Amerikaner durch Befragungen ermittelten, hätte kaum gereicht, diese Einsatzpläne zu erfüllen. Bereits im Februar 1945 musste der Standort Tiefenthal nach starker Bombardierung aufgegeben werden. Die Schule wurde erst nach Wiesbaden, dann nach Wallrabenstein verlegt.40 Im Gau Hessen-Nassau soll die Werwolf-Organisation aus Personalmangel gar nicht erst zustande gekommen sein.

Werwolf im Osten

Ein Schlüsseldokument über den Aufbau der Werwolf-Organisation in Ober- und Niederschlesien sowie im ehemaligen Tschechien (Protektorat Böhmen und Mähren und Reichsgau Sudetenland) vom 31. März 1945 gibt Einblick in die Werwolf-Aktivitäten im Bereich der Heeresgruppe Mitte. Der vom dortigen Werwolf-Beauftragten, SS-Obersturmbannführer Bruno Müller, verfasste 12-seitige Bericht ist in den Akten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit erhalten. Die für strafrechtliche Ermittlungen zuständige Hauptabteilung IX hatte Originaldokumente aus der NS-Zeit zusammengetragen, um gegen NS-Täter ermitteln zu können.41

Der promovierte Jurist Müller fungierte seit November 1944 als Chef der Prager Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD). Vor seiner Prager Zeit war Müller 1941 als SS-Einsatzgruppenleiter in der Ukraine an der Ermordung zehntausender Menschen beteiligt. Im besetzten Polen hatte Müller 1939 die Verhaftung von polnischen Hochschullehrern organisiert. Ziel war die Ermordung sämtlicher polnischer Intellektuellen, um aus der verbliebenen Bevölkerung Polens ein kaum gebildetes Sklavenvolk zu formen.

Am 11. Februar 1945 hatte Werwolf-Chef Prützmann SS-Obersturmbannführer Müller an dessen Dienstsitz in Prag persönlich zum »Beauftragten für Spezialabwehr im Bereich der Heeresgruppe Mitte« ernannt. Müllers Dienststelle war zunächst bei der Gauleitung in Reichenberg angesiedelt und ab 17. März 1945 im Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte. Müller ernannte sofort drei Unterführer, die der Werwolf-Organisation in Oberschlesien (Chef W I), in Niederschlesien (Chef W II) sowie in Böhmen, Mähren und dem Sudetenland (Chef W III) vorstanden.42 Die drei »W«-Führer hatten ab Mitte März 1945 die Aufgabe, Freiwillige für die Partisanentruppe zu werben und auszubilden.

In Oberschlesien war kurz zuvor das Freikorps Oberschlesien gebildet worden, das seinen Auftrag, nämlich die Rückeroberung der schlesischen Industriegebiete, nicht erfüllen konnte. Aus dieser »Panzervernichtungseinheit« meldeten sich daraufhin 161 Freiwillige für den Widerstand. Müllers »W«-Führer und die Hitlerjugend konnten lediglich weitere 41 Partisanen-Anwärter in Oberschlesien verpflichten.43 In Niederschlesien rekrutieren die »W«-Beauftragten 250 Mann, darunter allein 108 minderjährige Hitler-Jungen. In Böhmen und Mähren konnten Müllers Männer 321 Freiwillige für den Werwolf verpflichten. Hinzu kamen noch 350 bis 400 Männer, Frauen und Hitler-Jungen aus dem Sudetenland, so dass das Partisanen-Netzwerk im Bereich der Heeresgruppe Mitte Ende März 1945 aus knapp 1150 Personen bestand, die allerdings noch keine Spezialausbildung abgeschlossen hatten.44 Für ihre Partisanen-Ausbildung standen fünf Kampf- und Nachrichtenschulen zur Verfügung, die laut Müller-Bericht Mitte März »voll beschickt« waren, an denen also ausgebildet wurde.

1. In der für die Volkssturm-Ausbildung genutzten Kampfschule Hirschberg am See fanden 14-tägige »W«-Lehrgänge für 60 Rekruten statt.

2. In der vom Amt VI des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA, Auslandssicherheitsdienst) betriebenen T-Schule Eger konnten 25 Werwölfe zweiwöchige Partisanenkurse durchlaufen.

3. An der Nachrichtenschule in Prag wurden 25 Mann in fünf- bis sechswöchigen Kursen im Agentenfunk ausgebildet.

4. An der Kampfschule der Hitlerjugend in Wartha befanden sich 80 Werwolf-Rekruten. Da die Schule nicht über genügend Ausbilder verfügte, konnte die Werwolf-Schulung nur durch Lehrkräfte erfolgen, die ihrerseits lediglich eine Kurzausbildung durchlaufen hatten.

5. An der Volkssturmschule Sonderlager Ludwigsdorf bei Hirschberg im Riesengebirge konnten 40 bis 50 Rekruten geschult werden, es war aber nicht ein einziger Fachausbilder vorhanden.

Weitere »W«-Ausbildungsmöglichkeiten bestanden bei den Frontaufklärungstruppen in Reiners und Odrau, die auch Werwölfe in so genannten »Heimabenden« schulten.45

Nach den NARA-Akten gab es eine weitere Schule im Osten, die Heeresschule II in Türkenberg in der Nähe von Bratislava. Dort befand sich die Kampfgruppe Paul. Sie war – so die US-Papiere wörtlich – eine fünfzigköpfige »Stay-Behind-Einheit« der Wehrmacht, die den Auftrag hatte, sich von den Sowjets überrollen zu lassen und im Rücken des Feindes Sabotage zu verüben. Mitte Februar 1945 trafen rund 150 Werwolf-Anwärter in Türkenberg ein, um eine zweiwöchige Ausbildung zu absolvieren. Eine zweite Gruppe von weiteren 150 Kämpfern beendete die Ausbildung am 26. März 1945. Ausbilder der Werwölfe waren die Anti-Guerilla-Experten der Heeresschulen-Lehrabteilung B, die die angehenden Partisanen in der Geländeerkundung sowie im Umgang mit Waffen und Sprengstoff ausbildeten. Kurz darauf, im April 1945, musste die Partisanenausbildung eingestellt werden, da die Rote Armee Türkenberg einnahm. Auch die in den US-Dokumenten erwähnte Schule der SS-Jagdverbände im tschechischen Koleschnowitz könnte für die Partisanenausbildung im Osten genutzt worden sein.46

Der von SS-Obersturmbannführer Bruno Müller aufgebaute 33-köpfige Werwolf-Leitungsstab wurde im Frühjahr 1945 als »Stabskompanie B« der Prager Stabskompanie des RSHA, also der SS, unterstellt und sei, so Müller, »ordnungsgemäß« bekleidet, untergebracht und ausgerüstet worden.47 Seine Werwolf-Einheiten dürften sich in einem schlechteren Zustand befunden haben. Müller berichtete, er verfüge über 21 »W-Gruppen im Aufbau« diesseits der Hauptkampflinie (also 21 noch nicht einsatzbereite 3–4-Mann-Trupps) und über vier Gruppen im Rücken der Sowjetarmee. Drei Gruppen, bestehend aus 20 Mann und drei Frauen, lägen im Tillowitzer Forst bei Ratibor, hätten Proviant für vier Wochen und seien erst »im letzten Augenblick vor dem Überrollen« mit Waffen und Sprengstoff ausgestattet worden. Die vorgesehene Funkausrüstung sei bei den Überrollten nicht mehr rechtzeitig angekommen, somit war eine Kommunikation mit den Partisanen hinter der Front nicht möglich.48

Ende März 1945 plante der Werwolf im Osten fünfzehn Aktionen hinter den feindlichen Linien. Als bedeutendstes »W«-Unternehmen schildert Müller den geplanten Einsatz von 25 Hitler-Jungen, die sich allerdings erst in der Ausbildung bei den Frontaufklärungstruppen befänden.49

Selbst wenn sich im Verantwortungsbereich Müllers im März über 1100 Werwölfe in der Kurzausbildung befunden hätten und einige bereits hinter den Linien platziert waren, deutet wenig darauf hin, dass die NS-Partisanen der Roten Armee hätten zusetzen können. Konkret erwähnt Müller in seinem Arbeitsbericht einen Ausbildungsbereich, die »Kalte Sabotage«, für die er lediglich vier Ausbilder stellen konnte.50 Diese Widerstandsform ohne Waffen und Sprengstoff besteht aus dem Anlegen einfacher Straßensperren durch gefällte Bäume oder durch Sabotage von Fahrzeugen durch Zucker im Tank. Es ist zu vermuten, dass der Werwolf auch im Osten völlig ungenügend für den Partisanenkampf ausgerüstet war. Die Werwolf-Nachrichten, ein Flugblatt vom April 1945, jedenfalls konnten keinen einzigen Erfolg der NS-Partisanen im Osten melden.

Endkampf im Süden

Im April 1945, wenige Wochen vor Kriegende, verlegte Werwolf-Chef Prützmann sein Hauptquartier nach Süddeutschland. Der rollende Kommandostand, der Eisenbahnzug Krista, wurde in der Nähe von Steinebach am Wörthsee stationiert. Erst zu diesem späten Zeitpunkt forderte Prützmann den Höheren SS- und Polizeiführer des Wehrkreises VII, SS-Gruppenführer Friedrich Karl von Eberstein, auf, einen Werwolf-Verantwortlichen im südlichen Teil Bayerns zu benennen. Prützmann verließ seinen Befehlsstand Richtung Berlin und ließ einen Major seiner Dienststelle den entsprechenden Befehl Himmlers an von Eberstein übergeben. Der war nun aufgefordert, auch Frauen für Werwolf-Kampfschulen und gebrechliche Alte für Spionagetätigkeiten zu rekrutieren. Weder von Eberstein noch der von ihm zum W-Beauftragten ernannte Sturmbannführer Ernst Wagner glaubten, dass eine derart spät aufgestellte Werwolf-Truppe überhaupt Wirkung entfalten könnte. Wagner gab in seiner Vernehmung an, überhaupt nur drei Briefe in seiner Funktion als W-Beauftragter geschrieben zu haben. Eine eigene W-Schule des Wehrkreises VII kam offenbar gar nicht erst zustande. In den US-Papieren ist die Rede davon, dass die bayerischen Werwolf-Anwärter zur Ausbildung nach Böhmen geschickt werden sollten, was angesichts der ständigen Bombardierung der Verkehrswege im Reich und des Vormarsches der Roten Armee im April 1945 als wenig realistisch erscheint. Auch eine Werwolf-Ausbildung in Bad Tölz wird erwähnt. Es ist aber zu vermuten, dass von Ebersteins Werwolf-Rekruten nicht in Bad Tölz trainiert wurden, sondern dass die SS-Absolventen der dortigen Junkerschule nach ihrer Ausbildung versuchten, in den Alpen eine Widerstandsorganisation aufzubauen, als Teil der von Himmler in der Kriegsendphase geplanten »Alpenfestung«. Die Funk- und Sabotageausrüstung, die von Eberstein versprochen worden war, kam vermutlich nie beim nordbayerischen Werwolf an.

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