Die Post-Kollaps-Gesellschaft - Johannes Heimrath - E-Book

Die Post-Kollaps-Gesellschaft E-Book

Johannes Heimrath

4,8

Beschreibung

Die Welt befindet sich in einer Krise, die massive Umwälzungen mit sich bringt. Johannes Heimrath entwirft ein plastisches Bild davon, wie die Gesellschaft nach dem Zusammenbruch aussehen könnte: Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung, grüne Energien und eine freiwillige Konsumbeschränkung sind die Eckpfeiler dieses Modells, das von Pionieren in aller Welt bereits vorgelebt wird. Eine kraftvolle Vision, die Mut macht, an der neuen Epoche nach dem Ende der industriellen Globalkultur mitzuwirken. Aktuelle Studien zu praktisch allen Lebensbereichen legen den Schluss nahe, dass ein Kollaps der gegenwärtigen Zivilisation nicht mehr aufzuhalten ist. Doch im Niedergang der alten Systeme liegt auch eine ungeheure Chance – für einen gründlichen Neubeginn und eine neue Weltordnung. Johannes Heimrath beleuchtet die wesentlichen Bereiche sozialer, ökonomischer, technischer und kultureller Veränderung. Die Post-Kollaps-Welt wird in vielen Bereichen radikal anders sein als die Welt, die wir heute kennen. Es wird eine Welt sein, in der Communitys eine zentrale Bedeutung bekommen, in der Ressourcen respektvoll genutzt werden und in der die Weichen für eine zukunftsfähigere Gesellschaft gestellt werden. Dabei gründet Heimraths Vision auf festem Boden: Für jedes vorgestellte Szenario gibt es bereits bewährte Modelle, die in Gemeinschaften weltweit erfolgreich praktiziert werden.

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Johannes Heimrath

DIE POST-KOLLAPS-GESELLSCHAFT

Wie wir mit viel weniger viel besser leben werden – und wie wir uns heute schon darauf vorbereiten können

Für Antonia, Aron, Carmen, Emil, Jan-Sören, Jannes, Jannis, Kamila, Luca, Luisa, Luka, Mathilda, Noel, Samuel, Sarah, Siena, Vitus und all die anderen 1,8 Milliarden Enkelinnen und Enkel dieser Welt.1

1. eBook-Ausgabe

© 2012 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München

Umschlaggestaltung und Motiv: David Hauptmann,

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur

Satz: www.humantouch.de

ePub-ISBN 978-3-942166-87-4

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

www.scorpio-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

AUFTAKT

Warum dieses Buch?

TEIL EINS: WESHALB DER KOLLAPS UNAUSWEICHLICH IST

1   Wir stecken den Raum ab, in dem wir uns gegenwärtig bewegen

2   Wir nehmen Abschied von der Welt, wie wir sie kennen

3   Wie kann das Neue aus dem Alten hervorgehen?

4   Déjà-vu

TEIL ZWEI: DIE DREI SZENARIEN UNSERER ZUKUNFT

5   Die Mechanik des Zusammenbruchs

6   Szenario 1: Schrecken ohne Ende

7   Szenario 2: Langsames Siechtum

8   Szenario 3: Die Post-Kollaps-Gesellschaft wird aus Commonien bestehen

TEIL DREI: WAS WIR HEUTE SCHON FÜR DIE ZEIT »DANACH« LERNEN KÖNNEN

9   Das Wörterbuch des Menschen

10   Wer sind wir, und wo sind wir?

11   Von der Schwierigkeit, sich eine Post-Kollaps-Welt vorzustellen

12   Wie wir uns auf die Post-Kollaps-Gesellschaft vorbereiten

ABGESANG

Wir kreieren den Geist der Zeit

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

AUFTAKT

WARUM DIESES BUCH?

Schiff

Wir haben keinen günstigen Wind.

Indem wir die Richtung verlieren,

Wissen wir doch, wo wir sind.

Aber wir frieren.

Und die darüber erhaben sind,

Die sollten nicht allzuviel lachen.

Denn sie werden nicht lachen, wenn sie blind

Eines Morgens erwachen.

Das Schiff, auf dem ich heute bin,

Treibt jetzt in die uferlose,

In die offene See. – Fragt ihr: »Wohin?«

Ich bin nur ein Matrose.

Joachim Ringelnatz, aus »Gedichte dreier Jahre«, 19322

1 Ich möchte in einer Welt leben, die es noch nicht gibt. Seit ich denken kann, wirke ich dafür. Es ist eine ganz einfache Welt: In ihr lebe ich mit den Menschen, denen ich lebenslang zugeneigt bin – das sind relativ viele – und die mir das erwidern – auch das sind mehr als eine Handvoll –, in einem stimmigen Großfamilienverbund zusammen. Mit meinen Nachbarinnen und Nachbarn verbindet mich ein von gegenseitiger Achtung, Wärme und Hilfsbereitschaft getragenes freundschaftliches Verhältnis. Ich habe egalitären Anteil an einem lebendigen Gemeinwesen, das selbst Teil eines lebendigen Verbunds von freundlichen Gemeinwesen in einer überschaubaren Region ist. Meine Stimme wird gehört, ich darf in Freiheit wachsen und kann meine Verantwortung für das Ganze selbstbestimmt erfüllen.

In dieser einfachen Welt habe ich keine Angst vor Notlagen. Nahrung für den Leib, das Herz, den Geist, die Seele ist immer da, und ich kann selbst dazu beitragen, dass alle innerlich und äußerlich satt werden und gesund bleiben.

Es gibt niemanden, der den Menschen und der mehr-als-menschlichen Welt3 Gewalt antut, der zu seinem eigenen Vorteil ein knappes Gemeingut ausbeutet, der sich im alleinigen Besitz der Wahrheit wähnt. Geld ist unbekannt – oder zumindest die Jagd nach ihm. Es gibt kein Ungetröstetsein, kein Frieren, kein Unbehaustsein, nichts, das zur Neige ginge, ohne dass es erneuert werden könnte, denn was ein für alle Mal zur Neige gehen könnte, darf sein und bleiben, was und wie es ist.

Die Menschen nah und fern wissen voneinander, nicht notwendigerweise schon im selben Augenblick auf der anderen Seite der Erdkugel, aber doch so, dass man sich abends beruhigt in die selbst gestopften Kissen bettet und weiß: Alle leben ein gutes Leben, alle sind mit allem versorgt, was den Menschen zur Ausbildung seiner besten Fähigkeiten ermutigt und ermuntert, kein Kind ist allein, auf keinen ist eine Waffe gerichtet, kein Rücken blutet unter der Peitsche. Auf jeder Fieberstirn liegt ein kühlendes Handtuch, niemand steht sprungbereit auf der Balkonbrüstung, weil er oder sie keinen Sinn in dem findet, was er oder sie tut. Was blüht, blüht, was stirbt, stirbt, was getan werden kann, wird getan, was besser nicht getan wird, wird unterlassen. Wissen und Weisheit begleiten sich geschwisterlich, die Künste sind in hohem Kurs, und die Liebe ist die größte unter ihnen.

Diese Welt ist schön, sie ist spannend und abenteuerlich, in ihr darf das Licht scheinen, und der Schatten darf dunkel sein. In ihr wendet man den Blick nicht nur nach oben, wenn der Geist gemeint ist, man schaut auch nach innen, ins eigene Herz, und nach unten – denn unter den Füßen der Menschen ist kein toter Brocken aus Dreck und Gestein, auf immer ohne Sinn und beliebig vernutzbar in einer lebensfeindlichen, irrsinnig kalten All-Schwärze dahintaumelnd. Unter den Füßen der Menschen lebt vielmehr der unbegreifliche Leib einer Leben spendenden Erdenmutter, deren Sehen durch unzählige Augen, darunter auch unsere, geschieht, deren Sprechen sich durch unzählige Schnäbel, Schnauzen und Münder, darunter auch unsere, ereignet, deren Erkenntnis sich durch unzählige sich erinnernde Lebewesen vollzieht, deren unbedingtes Lieben sich durch unzählige Wesen, darunter auch uns, fortpflanzt, und deren Körper strahlend in der Lebensfülle des Bewusstseinsozeans, Universum genannt, dahinschwebt, unendlich sicher gehalten von allem, was existiert, und in fragloser Hingabe uns gestattend zu wachsen, zu reifen und zu vergehen – ohne Aufseher, ohne Steuerformulare, ohne unser Dasein begründen zu müssen.

Eine einfache Welt. Noch niemand hat mir bis heute widerspruchsfrei und einleuchtend erklären können, warum diese einfache Welt nicht möglich sei. Jetzt und sofort. Einfach so. Wo doch alles andere, was da ist, die ganze mehr-als-menschliche Welt jenseits des Bruttosozialprodukts, jenseits von Arbeitsagenturen, Kreditanträgen und Wachstumsanreizen, außerhalb unserer Zollverwaltungen, Forschungslabore, Ganztagsschulen, Vorstandsetagen, Polizeiwachen und Parteizentralen so ist: unbedingt da. Frei, ohne Religionswächter. Unbegründet, auf eine transhumane Art liebend.

Eine Zeit lang dachte ich, ich könne durch meinen eifrigen Einsatz für das Gute einen zwar winzigen, aber doch ehrenhaften Beitrag dazu leisten, dass diese einfache Welt entstehe. Und vielleicht ist das sogar der Fall. Auch durch dieses Buch – wer weiß es? Doch habe ich inzwischen großen Zweifel: In den über 40 Jahren meines bewussten Die-Welt-Anschauens ist die industrialisierte Zivilisation in nicht für möglich gehaltener, aber schon früh befürchteter Beschleunigung zum vollständigen Antagonisten4 meiner einfachen Welt herangewuchert. Ich kann keine Organisation und Institution, keinen Gipfel der großen und kleinen Nationen, keine Einzelperson und kein Parlament erkennen, von denen ein erfolgreiches, nämlich unwiderruflich global und sofort wirksames Zurücknehmen der Gashebel – tatsächlich so gut wie aller, denn es sind der Triebwerke gar viele! – zu erwarten wäre, was den immer steiler dem Strömungsabriss im luftleeren Raum entgegenschießenden »Dreamliner«5 bremsen und ihn wenigstens in eine stabile Fluglage bringen könnte, von einer sicheren Landung auf dem begrenzten Boden der planetaren Leistungsfähigkeit ganz zu schweigen.

Die Botschaft des Buchs ist daher ebenfalls recht einfach: Die Weltgesellschaft strebt einem Kollaps entgegen, der durch nichts aufzuhalten ist. Über die Fallhöhe, darüber, welches lebenswichtige System als Erstes überhitzt, ob es langsam oder schnell geschieht und in welcher Weltregion und in welchen gesellschaftlichen Bereichen ein wie großer Schaden entstehen wird, darf spekuliert werden. Noch schmähen die Wachstumsprediger die besonnenen Geister »Steinzeit-Ökologen«.6 Doch lassen sich aus der Kenntnis der Geschichte und dem Versuch einer Adaptation ihrer Lehren an bisher unbekannte Größenordnungen und Dynamiken einige mögliche Kollapsszenarien skizzieren, zumal wenn man die bekannten menschlichen Eigenarten auf die unzähligen Konferenzfolien mit ihren stetig in den roten Bereich weisenden Balken- und Tortendiagrammen in beinahe sämtlichen Bereichen sozio-, öko-, bio- und klimatologischer wie medizinischer, kultureller und sonstiger Forschung projiziert. Ich sage »skizzieren« – nicht »vorhersagen«! Als sicher ausgegebene Voraussagen kommen heute fast ausschließlich von denjenigen, denen die Welt gehört und die obszönen Reibach mit der größten Umgestaltung des Lebens machen, seitdem der »zweimal weise« Mensch7 vor 40 000 Jahren dem armen Neandertaler den Rang abgelaufen hat.

Diese Männer – und betrüblicherweise auch ihre Ehefrauen, ihre Lebensabschnittsgefährtinnen und die Mütter ihrer Kinder – sehen heute wie schon vor 50 Jahren ohne den geringsten Selbstzweifel vorher, dass wir um 2050 in einer perfekt designten »grünen« Welt leben werden, voll herrlicher Elektromobile, prächtiger Windmühlen, durchzogen von vor Intelligenz sprühenden Leitungsnetzen, mit implantierten RFID-Chips8 im Unterarm zum bargeldlosen Bezahlen unserer »nachhaltigen« Konsumgüter, mit Proteinen und Vitaminen aus üppig gedeihenden Hochhausgärten, die von smarten jungen Migrantinnen und Migranten aus den vom Klimawandel betroffenen Dürregebieten in sonniger Harmonie mit einheimischen High Potentials9 gewässert werden, während innovative Unternehmen die ersten wüstentauglichen Gen-Getreidesorten ankündigen, die gar kein Wasser mehr brauchen. Dazu versprechen sie ein Finanzsystem, das nie mehr zusammenbrechen kann und den dann Hyperreichen garantiert keine Verluste mehr bescheren wird – wobei die restlichen 99 Prozent der Menschheit mit einem bedingungslosen Schweigegeld in Form eines auskömmlichen Grundeinkommens ruhiggestellt sind. Und das alles und mehr in einer heroisch-hedonistischen Allianz aus kapitalistischer Wirtschaft und ihr genehmen Pseudoregierungen von Bankers Gnaden. Sie vertrauen darauf, dass sich »die Märkte«, vor allem in ihren indischen, chinesischen und brasilianischen Phänotypen, ständig etwas Neues einfallen lassen werden, das konsumiert werden kann, um immer größeren Wohlstand für alle mit immer weniger Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung und CO2-Ausstoß anzuhäufen. – Mir fehlt nicht nur der Glaube an all das, mich schüttelt es bei dieser »schönen neuen Welt«.

Wer derlei Seifenblasen nicht mit stabilen Expeditionsfahrzeugen für die Reise ins Unbekannte verwechselt, dürfte, wie ich, wohl dazu neigen, nur die eine Aussicht für sicher anzunehmen: dass unser Himmelsritt ein baldiges Ende finden wird, ja muss. Und da zumindest in den heute noch wohlhabenden Multioptionsgesellschaften10 erste Anzeichen zu erkennen sind, dass sich ein nicht mehr ganz unerheblicher Teil der Bevölkerung den Machbarkeitsdogmen der Marktprofiteure nicht länger unterwerfen will, könnte es womöglich auch eine Chance geben, dass nach dem Absturz eine Welt entsteht, die meiner einfachen Welt ähnelt.

Sie kommt aber gewiss nicht von alleine dahergeschlichen, sondern sie hat nur dann – und auch dann noch immer eine verschwindend geringe! – Chance auf Verwirklichung, wenn diejenigen, die die Zeichen der Zeit zu lesen verstehen, jetzt und sofort damit beginnen, sich auf den Durchgang durch das Tal der Tränen vorzubereiten und alles zu tun, was nötig ist, um in einer völlig unbekannten Welt zu überleben, Fuß zu fassen und enkeltaugliche Siedlungen des guten Lebens zu begründen – mit weniger Haben vom heutigen Schein, aber viel mehr vom Wesentlichen, wofür wir Menschen gebaut sind: vom Wahren, Guten und Schönen.

2 Um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich bin nicht katastrophensüchtig. Ich gehöre auch beileibe nicht zur rasant wachsenden Subkultur der »Preppers«11, und ich hoffe, falls dieses Buch überhaupt von der Presse wahrgenommen werden sollte, nicht auf dieselbe Art medial verunglimpft zu werden, wie es den – meist durchaus bürgerlichen – Menschen geschieht, die sich ganz ohne neue gesellschaftliche Zukunftsperspektiven allein um das eigene Überleben bei Zusammenbrüchen aller Art kümmern, ihre bunkerartigen Zuflüchte mit Vorräten füllen und das Gärtnern von Hand erlernen, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Mich beeindruckt nur, dass in der Alltagswelt kaum jemand bei dem Gedanken anhält, dass wir die erste Generation von Menschen auf der Erde sind, von deren Entscheidungen es abhängt, ob wir zugleich auch die letzte sein werden. Das haben einige von uns schon vor Jahrzehnten gesagt, zu Zeiten, wo viele Menschen noch als schlimmste Katastrophe ein nukleares Armageddon befürchteten. Es mag sein, dass ein gewisser Abstumpfungsprozess die Brisanz jener Einsicht gebrochen hat. Es hat ja auch tatsächlich an radioaktiven Desastern »nur« Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima gegeben, alle drei friedliche Anlagen, bei denen sowieso nichts passieren konnte … Die Wahrscheinlichkeit für die Auslöschung eines großen Teils der Menschheit durch einen militärischen GAU ist allerdings 40 Jahre nach dem ersten SALT-I-Vertrag unverändert hoch, wenn nicht durch neu hinzugekommene Uranzündler sogar höher als damals. Doch dürfte – aus heutiger Sicht – der allgemeine systemische Kollaps der Weltgesellschaft das Ausbrechen eines nuklearen Konflikts unterlaufen: Die globale Migration aufgrund sich verschiebender Klimazonen; die ungebremst zunehmende Übernutzung der Ökosphäre; das krebsartige Wirtschaftswachstum auf Kosten der sozialen Integration in den BRICS-Ländern12 bei gleichzeitiger Unfähigkeit des Westens, die eigene Wucherung wenigstens ansatzweise zu dämpfen; massiver Verlust fruchtbarer Böden weltweit; zunehmender Mangel an Trinkwasser; weiterhin steigendes Bevölkerungswachstum; der Fortbestand globaler Armut und gnadenloser Unterversorgung der halben Menschheit trotz hochherziger Millenniumsziele – bei gleichzeitig bizarrem Reichtum weniger einzelner Menschen –; Hunger, Epidemien, Bürgerkriege; unkalkulierbare Wetterextreme; der Verlust der Proteinversorgung aus den Meeren für anderthalb Milliarden Menschen13 oder ein rasanter Anstieg des Meeresspiegels – all das sind vielfach rückgekoppelte Auslöser für den Strömungsabriss am Hightech-Flügel des Dreamliners, und in der immer deutlicheren Zuspitzung dieser Gefahren scheint jene des Atomkriegs nur noch für altmodische Friedensbewegte ein Thema zu sein.

Ein zweites mögliches Missverständnis muss ich ansprechen: Dieses Buch geht zwar die ganze Menschheit an, aber es wendet sich nicht an die ganze Menschheit. Kürzlich habe ich ein Interview mit David Graeber gehört, dem Mann »Inside Occupy«14. Er sprach über sein durchaus beeindruckendes, neues Buch »Schulden«15, mit dem er trotz schier aussichtsloser Lage aufrütteln wolle, um vielleicht das Allerschlimmste zu verhindern. Danach habe ich mich gefragt, ob ich das auch will. Die ehrliche Antwort ist: nein. Mir ist klar, dass dieses Buch nur von vergleichsweise wenigen Menschen gelesen werden wird, und von denen, die es lesen, wird wiederum nur ein Teil meine Argumente diskussionswürdig finden, und davon werden wiederum nur wenige die Auseinandersetzung führen und in irgendeiner Weise Schlüsse daraus ziehen wollen, die sie in einer Änderung ihrer Lebenshaltung bestärken. Mir liegt jeder missionarische Eifer fern. Ob im Kleinen, ob im Großen, Mission hat immer auch mit Eitelkeit zu tun, und da, wo sie mir selbst bewusst wird oder ich freundschaftlich darauf hingewiesen werde, bemühe ich mich, sie zu vermeiden. Im Übrigen ist das Missionarstum mit der Unterhaltungsindustrie verwandt: Es braucht Fans. Und fanatische Anhängerschaft bleibt mir wohl auf immer ein Mysterium. Ich stand staunend in bayerischen Festzelten und hörte Biertrinkern zu, wie sie ihre »Mia-san-mia«-Weltsicht zu formulieren versuchten. Ich stand auf pommerschen Hafenfesten und staunte über die erstaunliche Deckungsgleichheit der vom Bier induzierten Weltsicht. Ich schaute in die jungen Gesichter bierschwerer Punkkonzertbesucher und auf der Toilette der Autobahnraststätte in die glänzenden Gesichter bierseliger Busreisender auf der Heimfahrt von einer Seniorentour. Ich weiß nicht, was geschieht, wenn diese Menschen mitbekommen, dass die Show zu Ende ist – allenfalls habe ich eine eher düstere Ahnung. Die wird gestützt durch Texte wie diesen: »Liebe Leserin, lieber Leser, Du hast dich entschlossen, unsere Internetseite zu besuchen. Damit hast Du den ersten wichtigen Schritt hin zu notwendigen Veränderungen in unserem Land getan. Die Furcht vor dem finanziellen Kollaps, Zukunftsängste und multikulturelle Gewalt kennzeichnen den momentanen Zustand der deutschen Gesellschaft. Auch wenn Du uns noch skeptisch gegenüberstehst, wirst Du dich bald ganz persönlich entscheiden müssen, ob Du in einer multikulturellen Gesellschaft ohne Zukunftsperspektive oder in einer Volksgemeinschaft leben willst.«16 Ja, es gibt auch völlig anders motivierte Gruppierungen, die sich auf den systemischen Wandel vorbereiten, und einige davon sind inzwischen gut organisiert und, wie es nicht zuletzt die Enttarnung der neonazistischen Jenaer Terrorgruppe wieder einmal ins öffentliche Bewusstsein gerückt hat, durchaus bewaffnet.

Ich kenne keine Brücke, die das Ufer meiner Subkultur mit derart kulturell, mental, weltanschaulich und anderweitig weit entfernten Ufern verbindet. Wie also sollte ich diese bedeutende Mehrheit von Menschen je aufrütteln können? Vor allem jene, zu deren ersten Opfern ich zählen könnte, wenn sie »an die Macht« kämen? Auf der anderen Seite weiß ich, dass es paradoxerweise gerade in solchen Kreisen Menschen gibt, die unter dem Druck der Not zu pragmatischen Hilfsgemeinschaften zusammenwachsen, in denen die großen menschlichen Werte auf unreflektierte, handfeste Weise zum Vorschein kommen und leuchten – völlig ohne die Lektüre eines Buchs wie diesem. Ich habe genügend Gesichter von Menschen aus Nachkriegszeiten, von Überlebenden von Naturkatastrophen und Bürgerkriegen studiert – Dank sei den großartigen Fotografinnen und Fotografen, die uns solche Beeindruckung ermöglichen. Diese Menschen müssen nicht aufgerüttelt werden. Sie handeln im Ernstfall instinktiv »artgerecht«, nämlich schlicht sich selbst und ihresgleichen und somit auch ihre Art erhaltend. Und könnte mein Buch Menschen aufrütteln, die so fern von aller Erreichbarkeit sind wie der russische Ministerpräsident, der Chef von Exxon, der Boss eines mexikanischen Drogenkartells oder der Zuchtmeister einer Armee von Kindersoldaten im afrikanischen Busch? Nein, genauso wenig, wie es den vielstimmigen Bemühungen Tausender von Friedensinitiativen, Menschenrechtsgruppen, Biosphärenschützern und UN-Sondertruppen gelingt. Zu welcher Revolte könnte ich einen braven Spenglermeister, eine fröhliche Backwarenverkäuferin, eine liebevolle Kindergartenmutti, einen loyalen Hausmeister, eine penible Sachbearbeiterin im Bauordnungsamt, einen erfolgreichen Kleinstadtbürgermeister aufrütteln, die ihr einstweilen noch ungetrübtes Leben in einem so hohen Maß verbesserte, dass ihnen der Ausstieg hinein in eine unbekannte Welt größter Unsicherheit nach einem ihnen als rein hypothetisch vorkommenden Zusammenbruch als unabdingbare Notwendigkeit erscheinen könnte? Der Appell »Wenn wir uns nicht bald ändern, dann …«, der taugt inzwischen wirklich zu gar nichts mehr.

Wenn nicht aufrütteln, was also dann? Es ist mit diesem Buch nichts anderes als mit den unzähligen Konferenzen, Seminaren, anderen Büchern, Filmen, die sich an ein Publikum innerhalb des eigenen Milieus wenden – das ja schon alarmiert ist und im Prinzip alles weiß, was es über den verhängnisvollen Lauf der unmittelbar auf uns zukommenden Geschichte zu ahnen gibt. Es ist ein großes Eulen-nach-Athen-Tragen, das ich seit Langem beobachte und das mich ob seiner erschütternden Wirkungslosigkeit in all den Jahren immer nachdenklicher gestimmt hat. Würden all die aufrüttelnden Aktionen und Brandbriefe wirklich bei jenen zünden, die kräftig an den Ohren gepackt und durchgerüttelt werden müssten, weil sie all die guten Bürgerinnen und Bürger, die den Sturm noch nicht kommen sehen, ins Verderben führen, hätten wir heute nicht die Lage, in der wir uns befinden. Ich konstatiere, dass meine Kolleginnen und Kollegen Autoren immer nur die Leute ansprechen, die schon »dazugehören«. Ihr innigster Wunsch aber ist, mit ihren Äußerungen »den Mainstream« zu erreichen. Sie hoffen darauf, dass die Medien gerade ihre aufrüttelnde Botschaft in die Wohnzimmer »der anderen« tragen und dort ein Aufspringen auslösen, ein Nicht-mehr-ruhen-Können, bis alle Missstände der modernen Welt ausgeräumt sind.

Ich bleibe lieber auf dem Teppich und schicke dieses Buch hinaus, wie der Löwenzahn auf den überdüngten Fettwiesen seine Segelschirmchen loslässt, wenn sie fortwollen. Der Löwenzahn ist an der Misere seiner Industriewiese unschuldig. Er ist genauso gezwungener Zeuge des dahingegangenen früheren überreichen Biotops aus unzähligen Wiesenblumen, Gräsern und der ganzen zirpenden, springenden, geflügelten, borstigen, sich ringelnden, raschelnden Fauna in ihr – kurz: der chemischen Ackerkriegführung gegen den üppigen Artenreichtum einer kargen Magerwiese –, wie ich ganz und gar unfreiwillig an diesem kapitalen Missverständnis des Daseinsgrunds des Menschen teilnehme, das wir irrigerweise »abendländische Kultur« nennen. Ich fühle es als notwendig, dass von vielen gesagt wird, was ich in diesem Buch sage, und sei es noch so anfänglich, unvollständig und ungeübt. Doch gibt es erst wenige Stimmen, die ich höre, die Ähnliches sagen. Aber das macht nichts. Wenn etwas notwendig ist, muss man es tun, gleich, ob es dafür ein »Ziel«publikum, sagen wir besser: »Wunsch«publikum gibt oder nicht, gleich, ob einem die Adressaten der Botschaft bekannt sind oder nicht, gleich, ob es viele sind oder nur wenige. Gleich, ob die anderen Löwenzahnschirmchen schon fliegen oder nicht.

Im Übrigen zeigt die Tatsache, dass Sie gerade diese Stelle lesen, dass es mindestens einen Menschen gibt, der den Faden aufnehmen könnte: Ja, genau Sie! Doch höchstwahrscheinlich sind Sie dabei nicht ganz allein – trotz meiner nüchternen Einschätzung der potenziellen Leserschaft: Wenn Sie dieses Buch erworben haben, dürften Sie zu der gesellschaftlichen Subkultur gehören, die man seit den Forschungen des amerikanischen Soziologen Paul Ray in den 1990er-Jahren »Kulturkreative« nennt.17 Ihr Profil? Sie sind am gesellschaftlichen Wandel interessiert, vielleicht sind Sie in einer Initiative aktiv, wahrscheinlich sind Sie über 30 Jahre alt, oder, wenn Sie jünger sind, Sie machen sich nicht viel aus Ihren Dancefloor-Altersgenossen. Sie bilden sich in gesellschaftlichen Themenbereichen weiter und sind diskussionserfahren. Sie sind eher links und grün orientiert oder verwechseln das Gute Ihrer Tradition nicht mit dem Heimatmuseum. Sie sind mitfühlend und weltoffen, Sie wissen, dass die Welt der bloß sichtbaren Dinge nicht alles sein kann, was existiert, und Sie glauben an die Fähigkeit des Menschen, sich positiv zu verändern. Sie meinen, Sie und Ihre ähnlich denkenden Freunde seien allein auf weiter Flur. Sie fragen sich, wie das alles weitergehen soll und was Sie persönlich dazu beitragen können, um das zu befürchtende schlimme Ende unserer sogenannten Zivilisation zu verhindern. Sie müssen nicht aufgerüttelt werden. –

Aber vielleicht sind Sie bereit, sich mit ein paar grundlegenden Fragen zu beschäftigen, die bei all den aufgeregten Demos und Aktionen, in Ihren bürgerschaftlichen Foren oder abendlichen Gesprächen im Freundeskreis, ja in all den Krisenbüchern, die Sie in jüngster Zeit auf der Suche nach Orientierung gelesen haben, selten gestellt werden. So eigenartig es ist: In all dem Tumult in der aufgeklärten Szene des bürgerlichen Wandels, von den urbanen Gärtnern über die Transition-Town-Initiativen zu den Anti-Castor-Gruppen und den Occupy-Leuten, von Leadership-Experten, Geldrevolutionären über Ökodörfler bis zu erfolgreich publizierenden Postwachstums-Propheten habe ich bisher keine befriedigende Antwort auf die Frage gehört, wie es denn eigentlich weitergehen soll, nach dem Crash, den alle kommen sehen, nach dem Kollaps – eben, wie eine Post-Kollaps-Gesellschaft, nüchtern und realistisch betrachtet, aussehen könnte.

Dieser Frage gehe ich nach. Dabei versuche ich mir vorzustellen, wie Sie dieses Buch gerade lesen und was ich vernünftigerweise von Ihrer Lektüre erwarten darf. Ich schreibe nicht immer sehr einfach, meine aber, dass ich die komplexen Dinge, die meist mehrere Ebenen zugleich ansprechen, den Intellekt, das Gefühl, das Menschsein als Ganzes, den Zweifel, die Hoffnung, die Verzweiflung und die leuchtende Kraft der positiven Vision, einigermaßen nachvollziehbar zu Papier bringe. Aus langjähriger Erfahrung mit Rückmeldungen zu den unterschiedlichsten Schreibstilen, mit denen ich versuche, das Lebendige in unseren Bemühungen für eine gute Welt in all seinen vielen Facetten zu würdigen und zu fördern, will ich Sie darauf vorbereiten, dass Sie Sätzen und Bildern begegnen werden, die Sie vielleicht zweimal lesen müssen, damit sich alle Ober- und Untertöne in Ihnen regen und in Resonanz zu der Empfindung geraten, die mir beim Schreiben durchs Herz gezogen ist. Gelegentlich werfen mir junge Menschen vor, ich schriebe zu anstrengend, meine Sätze seien zu lang. Ich möchte mich aber nicht auf das Niveau von Twitterbotschaften hinunterzwingen lassen, auch wenn ich dadurch zum Stein des Anstoßes werden sollte. Immerhin ist ein Stein, an dem ich mir die Zehe schmerzhaft stoße, eben etwas anderes als ein noch so hochaufgelöstes Digitalfoto desselben Steins auf einem Smartphone, der verschwindet, wenn ich mit dem Finger über das Hightech-Display wische.

Das Buch ist also kein Werk der erweiterten Lebenshilfe. Es ist kein So-retten-Sie-die-Welt-Buch. Es sagt Ihnen nicht, was Sie tun sollen, um die Lage ein wenig besser zu machen, irgendwelche Globalisierungsschäden zu vermeiden oder was »wir« tun »müssten«, um das Ruder noch herumzureißen. Wer das will, sollte sich beispielsweise um eine winzige Änderung der Steuerformulare bemühen: Es bräuchte nur ein paar Kästchen zum Ankreuzen, wofür mein Steuergeld bestimmt ist – Rüstung, Kernkraft, Schulen, Gesundheit, organische Landwirtschaft, Euro-Rettungsschirm, Frieden, Schrumpfung, Weisheitsbildung. Schon würde sich das Ganze besser anfühlen. Der Aufwand wäre minimal. Am Ende wäre in jedem Töpfchen etwas drin, monatlich, wie wir die Miete bezahlen. Dann müsste die Finanzagentur GmbH der Bundesrepublik Deutschland18 nicht Tag für Tag frisches Geld für die Regierung »am Markt besorgen« – ein Euphemismus für »ausleihen« bzw. »Schulden machen« –, sondern diese würde wie noch zu Urgroßmutters Zeiten mit dem Geld haushalten, das in harter Münze im Töpfchen ist.

Ich lobe auch nicht die erkennbaren Anstrengungen eines Teils der Industrie, endlich so wirtschaften zu wollen, wie er das Wort »nachhaltig« versteht. Zu durchsichtig ist die Verkleidung: Man will im allerletzten Moment noch die Absolution dafür erteilt bekommen, dass man mindestens die letzten 40 Jahre – denn so alt ist die Kenntnis der »Grenzen des Wachstums«19 nun mal schon – konsequent alle Warner als Spinner, Apokalyptiker und Miesmacher fertiggemacht hat. Es ist mir völlig gleichgültig, ob dieses oder jenes Unternehmen nun einen »Award« für soziales, innovativ ökologisches oder besonders transparentes, »faires« Geldverdienen bekommt: Solange sich das Wirtschaftssystem nur durch Konsum, übersetzt: »Verschwendung« bzw. »Vernichtung«20, erhält, solange drastische Schrumpfung nicht als Notwendigkeit der sogenannten entwickelten Welt insgesamt, sondern als neues Geschäftsmodell für die ansonsten so weitermachende Gesellschaft ausgebeutet wird, solange in lohnabhängigen Beschäftigungen, in spätkolonialistischen Import- und Exportmechanismen, in lobbygesteuerten Subventionsschubladen oder lediglich in Partizipationsmodellen21 statt in egalitärer Teilhabe gedacht wird, bleibt alles beim Alten, auch wenn es ein bisschen grüner schimmern mag.

Das Buch führt Ihnen auch keine positiven Projekte vor, die alles schon so viel besser machen. Sie erhalten keine Anleitung, wie Sie Menschen »abholen« können, die schlicht noch nicht glauben, dass der Zeitpunkt gekommen ist, in die Rettungsboote zu steigen. Sie lesen nichts über Bürgerforen, Ermutigung zum Selbermachen, urbane Gärten und dergleichen, die höchst selten über den Komparativ hinausgehen: Mach die Welt besser – egal, ob nur ein bisschen oder viel besser! Zum einen gibt es über all diese zum Teil äußerst erfreulichen Dinge schon exzellente Bücher. Zum anderen bin ich selbst Herausgeber der Zeitschrift »Oya – anders denken, anders leben«. Das ist ein solidarisches Ökonomieprojekt, das Ihnen alle zwei Monate genau solche ermutigende Beispiele von Menschen ins Haus liefert, die sich bereits auf den Weg gemacht haben, für die Post-Kollaps-Gesellschaft zu üben.

Das Buch wendet sich nicht an Technikgläubige, und ich will über Technik auch gar nicht streiten. Ich will nur die Fragen stellen, zu denen es mich drängt. Unter den guten Gründen, nicht an den Segen der Technik zu glauben, ist für mich der handfesteste der, dass die Probleme dieser Welt exakt darin begründet liegen, dass Menschen geglaubt haben, mit der richtigen Technik ließe sich dieses und jenes Beschwernis einwandfrei lösen. Nun sind die Einwände alle da und stehen mit großen Lettern an der Wand. Und ausgerechnet dasselbe Mittel soll helfen, das zu der ganzen Misere geführt hat? Kaum zu glauben. – Bevor ich mich wieder auf irgendeine »segensreiche« Technik einlasse, möchte ich mich erst an der Erfahrung erfreuen können, dass wir ein anderes Verständnis von unserem Dasein und unserem Wirken in dieser Welt entwickelt haben. Dann mag es vielleicht eine Technik geben, die nichts nimmt, was nicht in gleichem Maß wieder zurückgegeben werden kann, die nicht ein Loch stopft und damit zwei neue aufreißt, die sich demütig in den Dienst nicht nur des Menschen, sondern auch der mehr-als-menschlichen Welt stellt und die ihren Anspruch, alleinige Weltherrscherin zu sein, ein für alle Mal aufgibt.

3 Das Buch ist die Zwischensumme aus den vergangenen Dutzend Jahren verschärften Nachdenkens über den Sinn meines eigenen Tuns und des Tuns von vielen anderen engagierten Menschen, die alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Die sich mit Energie, Spaß, Freude, Verantwortungsbewusstsein und ziemlich oft auch mit Verzweiflung um Elemente des guten Lebens22 bemühen, die in dem aktuellen Gesellschaftssystem nur unter großen Schwierigkeiten zu verwirklichen sind. Und die erstaunlicherweise nur sehr selten eine Vorstellung davon entwickelt haben, wie die Welt »danach« beschaffen sein soll. Das ist es, was mich interessiert, nicht, wie wir das Heute noch irgendwie überstehen, sondern, wie wir das gute, das Leben fördernde, enkeltaugliche Morgen so kraftvoll beginnen, dass es eine Chance bekommt, Wirklichkeit zu werden.

Aber kann dieses Buch so etwas tatsächlich bewirken? Es ist – bis auf Weiteres – nur Leserinnen und Lesern zugänglich, die des Deutschen mächtig sind, und selbst wenn es eine größere Leserschaft gewänne, dürfte die Kaskade der Wirksamkeit vom angeregten Interesse über das gelegentliche Gespräch im Freundeskreis bis zum Empfinden einer Aufforderung, sich nunmehr ernsthaft an die Erarbeitung einer persönlichen Vision von einem guten Leben nach dem Kollaps zu machen, am Ende zu höchstens einigen Hundert Menschen führen, die ich mit meinen Gedanken wirklich, wirklich erreiche. – Vielleicht gehören Sie ja zu jener Gruppe? Oder sind Sie zumindest an der – ja, bitte unbedingt kritischen! – Vertiefung der hier vorgetragenen Gedanken interessiert? Unter www.postkollaps.de habe ich eine einfache Seite ins Internet gestellt, die Sie für Ihren Kommentar, für Nachfragen und Ihren das Thema fortschreibenden Beitrag nutzen können. Und wenn Sie zu denjenigen gehören sollten, die dieses Buch enttäuscht, lade ich Sie dennoch ein, mir Ihre Gründe für die Ablehnung mitzuteilen. Das Thema ist von großer Komplexität und den ganz normalen Unwägbarkeiten unterworfen, die unser Leben so spannend – und heute in ihrer unübersehbaren Menge und unendlichen gegenseitigen Verknüpftheit eben auch außerordentlich instabil – machen. Es versteht sich von selbst, dass keine einzelnen Menschen und keine Gruppe in der Lage sind, das Thema konsequent und in jedem Detail folgerichtig zu Ende zu denken. Selbst als Momentaufnahme, die keinen Anspruch darauf erhebt, die Zukunft in irgendeiner Weise »exakt« vorherzusagen, kann das Buch nur eine schmale Sammlung von Gedankensplittern sein: Denn um das Ganze völlig zu erfassen, bräuchte es ja die gesamte Menschheit – und damit dreht sich die Sache im Kreis.

Es ist keine Frage: Die »Renaissance der Menschheit«23 kann nicht von einem einzelnen Buch ausgelöst werden, das haben noch nicht einmal die Bibel, der Koran, »Das Kapital« oder die »Worte des Vorsitzenden Mao« geschafft. Und von einer Renaissance, wörtlich: »Wiedergeburt«, träumen viele. So verspricht der neue ägyptische Präsident Mohammed Mursi, Exkandidat der Muslimbruderschaft, seinen Landsleuten eine »Renaissance der islamischen Werte«24, es gibt die »Renaissance des Sozialismus« in Lateinamerika25. Dank neuer Bohrtechniken sieht die amerikanische Erdölindustrie eine »stille Renaissance des Erdöls«26 heraufziehen. Und so fort. Und als was sollte sich die Menschheit eigentlich »wiedergebären«? Gibt es denn ein historisches Modell, dem nachzueifern sich lohnte, wie es weiland die Antike für die in die Renaissance aufbrechenden Menschen des ausgehenden Mittelalters in Europa oder die Lehren des Konfuzius aus dem 6. und 5. Jahrhundert vor dem Jahr null des westlichen Kalenders für die Neokonfuzianisten der chinesischen Song-Zeit waren? Müssten wir angesichts der beispiellosen Herausforderungen, vor denen wir alle stehen, nicht eher von der Notwendigkeit zu einem Quantensprung sprechen, der sich aus allen bisherigen Epochen hinausbewegt, die ja in ihrer fürchterlich logischen Konsequenz der Abfolge nicht nur das, was wir heute an Kultur wertvoll erachten, sondern zugleich sämtlich die konzeptionellen und technischen Vorbedingungen zu unserer heutigen Notlage geschaffen haben?

Wie aber kann sich ein solcher Quantensprung ereignen? Angesichts der Wirklichkeit, deren Fakten durchgängig von Menschen normiert werden, die mit ihrer ganzen Machtfülle – gleich, ob es sich um die »Macht der Massen«, um von Wählern verliehene oder mit Gewalt usurpierte politische Macht oder die Macht der größeren Finanzmittel handelt – dafür sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist, erscheint so ein Quantensprung unmöglich. Es führen auch keine kleinen umstürzlerischen Schritte dorthin, denn solche erlauben dem System die ständige Möglichkeit zur Fehlerkorrektur. Nur ein Zusammenbruch des derzeit dominierenden Zivilisationsmodells, der so viele seiner technischen, ökonomischen und politischen Stützen samt ihrer theoretischen Begründungen pulverisiert, dass es nicht wieder in gleicher Art aufgebaut und »wiedergeboren« werden kann, kann die nötige Energie für einen fundamentalen Neuanfang liefern. Ohne den wird es kein gutes Leben für unsere Enkel geben. Ohne den gründlichen Kollaps des westlich geprägten, globalen Macht- und Ausbeutungsmodells wird kein Wandel hin zu einer wahrhaft nachhaltig guten27 Welt für alles, was lebt, möglich sein. Das ist Ausgangspunkt, These und Hoffnung dieses Buchs.

Das mag unmöglich erscheinen, und unter den wenigen Menschen, die es inzwischen überhaupt wagen, den Kollaps furchtlos zu denken, dominiert die Meinung, das System werde sich unter denselben Vorzeichen fortsetzen, je nach Tiefe des Absturzes auf mehr oder weniger demselben Niveau wie heute. Für etwas anderes sei der Mensch nicht gebaut. Ich mag aber meinen Traum von einer einfachen Welt voller Lebendigkeit nicht aufgeben. Unter den vielen pessimistischen Szenarien für einen Kollaps gibt es auch eines, in dem die Überlebenden – oder wenigstens eine nennenswerte Anzahl von ihnen – sich weigern, zu jenen heutigen Verhaltensweisen zurückzukehren, die ihnen die Last des Überlebens durch ihre fatalen Auswirkungen erst auferlegt haben. Es gilt: Das Vorhandensein eines Schattens beweist, dass es auf der anderen Seite des schattenwerfenden Hindernisses Licht gibt. In dieser demnach doch recht wahrscheinlichen Weigerung einiger, zum Alten – dem Heutigen – zurückzukehren, liegt das Fünkchen Zuversicht, das mich antreibt, weiterhin an der Schaffung der Voraussetzungen dafür mitzuwirken, dass dies dann auch tatsächlich geschehen kann.

Um nicht mehr zum Alten zurückzukehren, wird denjenigen, die dieses Fünkchen Zuversicht mit mir teilen, nichts anderes übrigbleiben, als bis zur kathartischen (von griechisch »κάθαρσις, kátharsis«, »Reinigung«) Entfaltung des sich anbahnenden Desasters eine Vision davon erträumt zu haben, was das Neue ist. Wir – und ich schließe mich ein – werden die wesentlichen Elemente des Neuen erarbeitet und erprobt haben müssen, und wir sollten uns im Umgang mit den neuen Werkzeugen, die uns das nicht mehr am Alten orientierte Überleben nach dem Kollaps sichern helfen, üben und ausüben – noch während das alte System, sich beschleunigend, dem Desaster entgegenbraust, noch während ein großer Teil der Menschheit für unsere Vorschläge taub ist, noch während wir nicht anders können, als dem Desaster durch unser eigenes Verhalten, unsere Mobilität, unsere weltweite Kommunikation und unseren ressourcenzehrenden, urbanen Lebensstil permanent zuzuarbeiten.

Wenn also das Neue nichts weniger als ein Quantensprung in der Evolution der Menschheit sein kann, bedeutet es auch nichts weniger als die Entfaltung eines neuen Denkens, die Manifestation einer neuen Qualität unserer Beziehung zum All-Bewusstsein – das wohl vorhanden sein muss. Wie sonst könnte unser Bewusstsein mit der mehr-als-menschlichen Welt kommunizieren? Das neue Bewusstsein setzt die dauerhafte Veränderung der neuronalen Strukturen in unserem Gehirn voraus – etwas, das immer schon möglich war und was die akademische Welt inzwischen auch bemerkt und mit dem Etikett »Epigenetik«28 beklebt hat. Dazu müssen wir als Erstes unser Denken mit Erfahrung verbinden, den Intellekt mit dem Gefühl und beides mit dem Körper verkoppeln. Wir müssen unsere Subjektivität, unsere Emotionen, unsere Bilder, die ganze Welt unserer ästhetischen, sozialen und lebensfördernden Empfindungen der heute einseitig aufs Höchste entwickelten sogenannten objektiven Wissenschaft als gleichberechtigte und gleichermaßen taugliche Faktoren der Welterkennung und -gestaltung gegenüberstellen.

Die gegenwärtige Gesellschaft bietet so gut wie keine Freiräume, in denen wir diese essenzielle, an der höchstwahrscheinlichen Zukunft orientierte Lernaufgabe angehen können. Und selbst in den mühsam freigehaltenen Räumen der weltweit noch immer verschwindend wenigen intentionalen Gemeinschaften29 gedeiht mancher Unsinn, den ihre sinnsuchenden Mitglieder aus der Epoche des Alten mitgebracht haben.

Soll es um eine Kultur gehen, die sich nach dem Kollaps womöglich als integral beschreiben lässt, dann sind wir jetzt, heute, herausgefordert zu prüfen, wie integral wir bereits denken und fühlen, wie integrativ wir unsere Pläne entwickeln, wie integrierend wir tatsächlich leben. Dabei ist einer der wichtigsten Prüfsteine für unsere Integrationsfähigkeit die Frage, wie wir mit unseren »Gegnern« umgehen, mit den Menschen, die genau das, was wir als Ursachen für das Desaster identifiziert haben, ihrerseits als erstrebenswertes Ziel ihres Lebens und der gesamten Zivilisation betrachten.

4 Das Desaster entwickelt sich derzeit noch schleichend, die eigentliche Zusammenbruchsphase aber dürfte sich vermutlich rasch eskalierend gestalten. Darauf lassen ansteigender Stress und zunehmende Beschleunigung in praktisch allen dynamischen Systemen der Biosphäre schließen. Warum diese Faktoren zum Kollaps führen müssen, skizziere ich im ersten Teil des Buchs.

Dieser Prozess ist insgesamt zu begrüßen, denn ein langsames, gleichförmiges Dahinsiechen beinahe der ganzen Weltgesellschaft – nämlich desjenigen 99-Prozent-Teils, dem der Zugang zu den zukunftsbeherrschenden Ressourcen verwehrt ist30 –, dem durch immer restriktivere Reformen ständig der Anschein baldiger Besserung der Lage gegeben wird, wäre die schlechtere Variante. Mit diesen Szenarien werde ich mich im zweiten Teil des Buchs beschäftigen.

Im dritten Teil des Buchs versuche ich schließlich, die Voraussetzungen für ein positives Modell einer Post-Kollaps-Gesellschaft des guten Lebens zu umreißen. Das kann derzeit nur in Grundzügen geschehen, und ich bin fern davon, auf alle Fragen schlüssige Antworten geben zu wollen. Am allerwenigsten kann und will es ein Plan sein, den man nur zu kopieren brauchte, um ab sofort friedlich und versorgt in einer anderen Welt zu leben. Das Modell steckt vielmehr voller Arbeit; es bedingt die konkrete Auseinandersetzung mit dem Gegenwärtigen. Und es fordert zwei Tugenden heraus, die heute sträflich unterbewertet erscheinen: Geduld und Demut. Wie immer es nämlich schließlich zur Eskalation kommt, sie wird zwar einigermaßen erwartet, aber dennoch in Zeitpunkt und Ursache überraschend eintreffen, und sie wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von den heute dominierenden Großfaktoren ausgelöst werden, auf die wir alle starren wie das Kaninchen auf die Schlange: Politik, Finanzen, Ökologie. Zündfunke könnte vielmehr ein zunächst unbedeutend erscheinender lokaler Konflikt sein, ein Aufstand einer scheinbar kleinen Interessensgruppe, eine aus dem Ruder laufende Epidemie oder eine Naturkatastrophe, die eine große Volkswirtschaft härter trifft als das Fukushima-Erdbeben. Es könnte ein gewaltiger Sonnensturm sein, der unsere elektronischen Geräte für Wochen oder Monate außer Funktion setzt und damit die globale Industrie zum Erliegen bringt. Die Astronomen erwarten so ein Ereignis seit Langem.31

Ein System kurz vor dem Tipping Point, dem qualitativen Umschlagpunkt, schlingert, und die Kräfte, die aufzuwenden sind, es immer wieder in die Spur zurückzuzwingen, fressen die verfügbaren Ressourcen zunehmend auf – bis der bekannte Strohhalm-Effekt eintritt: Man kann ein Kamel mit erstaunlichem Gewicht beladen. Solange man das nach und nach und in kleinen Portionen tut, wird das Kamel sich der gestiegenen Last anpassen und stehen bleiben, bis die Grenze seiner Tragkraft erreicht ist. An diesem Punkt genügt ein weiterer zusätzlicher Strohhalm, um dem Kamel den Rücken zu brechen. Man nennt dieses Phänomen Nichtlinearität, und genauso verhalten sich alle natürlichen und somit auch menschlichen Systeme. Ein natürliches System passt sich steigendem Stress so lange an, bis der kritische Punkt erreicht ist, an dem es entweder plötzlich zusammenbricht – oder mutiert. Das ist die Herausforderung: Können wir – oder zumindest ein nennenswerter Teil der Menschheit – zu einem neuen »Wesen« mutieren? Zu einem Wesen, das gewissermaßen eine neue Denkdimension im Gehirn entwickelt? Bevor es zu spät ist – oder doch wenigstens so zeitig, dass die Kollaps-Überlebenden eine realistische Chance haben, das Neue zu manifestieren?

Und wie macht man das – mutieren?

Mutation ist ein Urprinzip der Evolution. Dabei wird nichts hinter sich gelassen, sondern das gesamte Erbe wird integriert und neu interpretiert. Unsere eigene Entwicklung vollzieht im Embryonalstadium alle stammesgeschichtlichen Phasen nach, die die Evolution auf unserem Weg zum »Homo not so sapiens« durchlaufen hat. Und noch immer leben wir von und mit den allerersten Lebewesen, die die Erde geboren hat: Unser Körper ist ein auf freiwilliger Kooperation basierendes Ökotop unzähliger Einzeller, die, statt autonom zu bleiben, eine Haut, einen Fingernagel, eine Herzklappe, einen Schließmuskel bilden. Dazu hausen 100 Billionen selbständige Einzeller in unseren Eingeweiden und sonst wo im und auf dem Körper32, Bakterien, ohne die wir nicht das kleinste Stärkekorn verdauen könnten und die uns erfolgreich vor dem Gefressenwerden durch andere Einzeller schützen.

Das Bild des Körpers lässt sich auch für die angestrebte integrale Gesellschaft der Kollaps-Überlebenden mit Gewinn heranziehen: Kohärenz; Ordnung ohne Machtgefälle; Ausgleich der Kräfte; kollektive Intelligenz; Autonomie bei der Gestaltung der Schaffensdomänen; unverbrüchliches Einverständnis, den angestrebten Lebensweg gemeinsam zurückzulegen; ständige Bereitschaft, sich zu erneuern; konzertierte Aktion beim Bewältigen komplexer Aufgaben; schlagartige Mobilisierung aller Kraftreserven beim Schultern einer schweren Last; Schönheit als Ergebnis des freien Ausdrucks der Lebensfreude; Konsensgemeinschaft; Klugheit und Augenmaß bei der Anwendung notwendig werdender Schutzstrategien; unmittelbares Handeln; Empathie etc. – das alles und mehr sind Eigenschaften unserer organismischen Wirklichkeit, die wir nur von den Funktionen unseres eigenen Körpers abzugucken bräuchten, um uns als Menschheit (über-)lebensfähig zu machen.

Das Ganze ist in keiner Weise abstrakt – es ist vielmehr der Inbegriff des Pragmatischen, des Geerdeten, des stofflich Manifesten! Es ist das, was in jeder Lebenssekunde konkret da ist, was wirkt und uns wirken lässt, was uns ausmacht. Einen Gedanken ohne das denkende Gehirn gibt es nicht, die pure Information in kosmologischer Sicht ist etwas anderes. Gäbe es nur die Information ohne stoffliche Repräsentanz, gäbe es uns nicht. Hier hatte René Descartes recht: Ich denke, also bin ich – wirklich, anfassbar, fühlend und als körperbegabtes, sinnliches Wesen mit allem verbunden, da.

5 Und da bin ich wieder bei der einfachen Welt: Um dorthin zu gelangen – zu einer utopischen Menschheit, deren Bewusstsein zu dem eines planetaren »Superorganismus«33 mutiert ist und die sich der neuen, mutierten Qualität entsprechend verhält –, reicht es nicht, sich innerlich von den Auswüchsen des »megatechnischen Pharaos« – wie der Philosoph Jochen Kirchhoff die von uns immer hektischer mit unserer Lebensenergie gefütterte Weltmaschine nennt34 – wegzubewegen und äußerlich zu den Graswurzeln zurückzukehren. Wir können uns physisch nicht vom alten System trennen, sosehr wir uns auch innerlich davon bereits gelöst haben mögen.

Ich sehe vielmehr die Fortsetzung des Bilds vor mir: Aus dem Geflecht der Graswurzelbewegung sind in den vergangenen 40, 20, fünf Jahren überall Triebe gesprossen, viele, wirklich viele. Erst wenige nehmen sie wahr, und noch weniger ahnen ihre große Zahl, denn die hochgeschossenen Gräser des letzten Sommers, dürr und braun und von den Herbststürmen gebeutelt, verdecken sie noch. Doch sie sind da und warten unter der vor Frost schützenden Decke des absterbenden Alten den Winter lang auf den Sonnenstrahl, der den Auftakt zum nächsten Lebenszyklus gibt.

Das müssen wir schaffen: Während das Alte dem Desaster entgegeneilt, müssen wir eine neue – integrale, lebensfördernde, enkeltaugliche – Kultur aus dem Keimstadium in die Frühlingsbereitschaft hineinführen. Das genügt schon. Niemand erwartet von uns, dass wir vorwegnehmen, was unsere Enkel tun werden. Und es reicht, wenn wir diejenigen mit in den Frühling nehmen, die bereit sind, die im Winter muffig gewordenen Kleider abzulegen. Wenn es wenigstens einem kleinen Teil der Menschheit gelingt, sich zu sammeln und die Bausteine im Fundament der neuen Kultur so zu formen und auszurichten, dass sich nur sinnvolle Anschlüsse ergeben, wenn die Folgebausteine dieselbe integrative Kraft, denselben Willen zum Maßhalten, dieselbe Liebe zum Leben der ganzen Erde verkörpern, dann kann zumindest an einigen Orten auf dem Erdenrund diese neue Kultur entstehen.

Die Wurzeln unserer neuen Welt-Wiese sind stellenweise bereits gut entwickelt; nach einem halben Jahrhundert Graswurzelbewegung können wir einige der »Roots« sich selbst überlassen. Jetzt geht es um die jungen Triebe, die das Grassroots-Netzwerk hervorgebracht hat, die »Sprouts«. Das beste Wissen, das beste Können, das beste Wollen und einiges an Erfahrung für die Zukunft nach dem Desaster sind inzwischen vorhanden und sichtbar – nicht nur in indigenen Kulturen, die gar nichts anderes kennen, sondern auch an einigen Orten der westlich geprägten Welt. Die Herausforderung heißt herauszufinden, wie wir uns gegenseitig stärken, weiterbilden und organisieren können, wie wir Gärtnerinnen und Gärtner des Neuen werden, in harmonischem Aufwärtsschwung komplementär zum Prozess des Absterbens des Alten in uns und um uns herum, ohne erneut in technologischen Träumen nach Höhen fern von der Erde zu streben. Es scheint mir an der Zeit, dass wir »Sprouts Gardeners« werden, Hüterinnen und Hüter der Lebensgrundlagen unserer globalen Post-Kollaps-Dorfgemeinschaft – und das müssen wir jetzt, heute, hier, an unserem Lebensort beginnen, wenn wir auch Hüterinnen und Hüter der Zukunft unserer Enkelinnen und Enkel sein wollen.

6 In Anbetracht der Probleme, über die uns die Medien tagtäglich informieren, mag jedoch alles, was in diesem Buch steht, vollkommen eitel, hohl und sinnlos erscheinen. Allein am Beispiel Syrien könnte man verzweifeln. Die Weltgemeinschaft – ein schönfärberisches Wort für eine tatsächlich lächerlich kleine Schar von Regierungsmitgliedern und UNO-Delegierten, die die Entscheidungsmacht über Sanktionen bis hin zum militärischen Eingreifen haben – schafft es nicht, die Situation dort zu befrieden, aus Angst, der ganze Nahe Osten könnte explodieren. Das wäre ein weiterer Anlass für den Kollaps. Im Übrigen sind dort auch Atomwaffen vorhanden …

Wie um Himmels willen kommen Gutmeinende immer noch auf die Idee, es gäbe irgendwo auf der Welt einen Schalter, der, wenn wir ihn gemeinsam umlegen, aus all den Assads und Kims und Taylors schlagartig Mutter Teresas und Dalai-Lamas machte? Was immer in diesem Buch so klingen mag, als wäre mir diese harte Wirklichkeit entfallen, klingt nur so, es wird mir schlicht entgangen sein. Holen Sie dann, wenn Sie an eine solche Stelle kommen, mein Bekenntnis hervor: Die Chance, dass die menschliche Zivilisation als Ganze zum Guten hin kollabiert, beträgt 0,01 Prozent. Das ist nicht null, es ist eine Chance – eine extrem unwahrscheinliche, aber sie ist da. Sie wird größer, wenn wir uns nicht mehr auf die ganze Menschheit beziehen. Wie gesagt, es ist durchaus wahrscheinlich, dass sich nach dem Kollaps Regionen finden, in denen wenigstens einige Aspekte der Vision, die ich im dritten Teil des Buchs skizziere, verwirklicht werden. Freilich ist das dann, solange ich weiß, dass es in anderen Regionen nach wie vor Menschenschlächter gibt, noch lange kein gutes Leben. Das lässt die Empathie nicht zu. Aber das gute Leben wäre immerhin überhaupt in der Welt, und genauso wenig, wie wir voraussagen können, wann und wie sich der Kollaps ereignet, können wir voraussagen, ob und wann und wie jene zukünftigen Orte des guten Lebens derart ansteckend wirken werden, dass sie zum attraktiven Lebensziel so vieler Menschen werden, dass sie schlicht keinen Al-Bashir, Lukaschenko, Ahmadinedschad, Putin oder Wen mehr dulden. Ach ja, und freilich auch keine Drogenbosse, keine Waffenhändler, keine Urwaldabholzer, keine Saatgutmonopolisten, Finanzjongleure, Uranmineure und dergleichen mehr – sind da tatsächlich keine Frauen darunter?

Und wenn ich mit diesem Buch auch nur wenige Menschen erreiche, die aber mitten in ihren Herzen, dann ist es gut. Der Versuch lohnt sich. Darum gibt es dieses Buch.

Klein Jasedow, im Sommer 2012

Johannes Heimrath

TEIL EINS

WESHALB DER KOLLAPS UNAUSWEICHLICH IST

1 WIR STECKEN DEN RAUM AB, IN DEM.. WIR UNS GEGENWÄRTIG BEWEGEN

Die Wahrheit packt dich wie die Scheißerei.

Aus dir will alles raus, was drinnen ist,

Klemm ruhig das Loch zu, da hilft keine List,

Kein Baucheinzieh’n und keine Kneiferei.

So ist’s auch mit dem Mund: so stur du bist,

Du kneifst ihn zu, da ist’s auch schon vorbei,

Raus ist die Wahrheit, eins, zwei, drei,

Wenn’s nicht mehr anders geht, schweigt kein Trappist.

Wozu die Lügen und die Heuchelei’n,

Wo sich die Wahrheit doch so einfach spricht?

Man muss das Maul auftun und herzhaft schrei’n.

Gott hat uns doch den Mund in das Gesicht

Getan zum Reden, anders kanns nicht sein,

Nein, laut die Wahrheit sagen, das ist Pflicht.

Giuseppe Gioachino Belli, Rom, am 11. Februar 1833

Aus dem Romanesco übersetzt von Otto Ernst Rock35

1 Wir sind eine endliche Spezies. Unsere Auslöschung ist sicher. Nicht nur, dass wir alle dem Tod dessen ins Auge schauen, was wir als »Körper« bezeichnen, und damit zumindest der erdianischen Repräsentanz dessen, was die Neuronen im Körperteil »Gehirn« auf rätselhafte Weise dazu bringt, sich als »Ich« zu denken: Auch als Art und, nach allem, was wir über das Aussterben von Lebewesen wissen, irgendwann auch als Gattung wird von dem Menschen einst nur noch das eine oder andere Fossil übrig sein – ein versteinerter Kiefer, ein versteinerter Kothaufen. Irgendeine andere Art, die womöglich mit vergleichbarem Interesse an sich selbst die nachmenschlichen Zeitalter der Erde bewohnt, ordnet ein solches Petrefakt dann in den nun vielleicht etwas längeren Stammbaum der Menschenaffen ein, so wie wir es mit den Australopitecinen und den Homines erecti, habiles und neanderthalenses getan haben. Es ist eine eigenartige, im Wortsinn nur dem modernen Menschen abendländischer Prägung eigene Art der Weltbetrachtung, sich für so wichtig anzusehen, dass wir nicht untergehen dürften, angesichts des akademisch wohl unstrittigen Befunds, demnach 99,9 Prozent aller Lebewesen, die diese Erde jemals hervorgebracht hat, auch schon wieder verschwunden sind – zum geringsten Teil ganz und gar spurlos von irdischen Kataklysmen vernichtet, von sich wandelnden Lebensbedingungen in die Knie gezwungen, in Sintfluten infolge einschlagender kosmischer Körper untergegangen und zum weitaus größten Teil wegen Erschöpfung des genetischen Potenzials still ausgestorben.36

Die Wahrheit ist: Der Menschheit geht es nicht gut. Bezweifelt wird das nur von jenen, die in Politik, Wirtschaft und der veröffentlichten Meinung dem Modernismus mit seinem Machbarkeitsdogma verpflichtet sind – und das sind leider in der Regel diejenigen, denen wir unbegreiflicherweise gestatten, nach ihrem Belieben die Hebel der Macht zu bedienen. Doch auch unter jenen, die mit offenen Augen sehen, die zuhören können, bevor sie eine »Lösung« aus dem Hut zaubern, gehen die Meinungen über die Art des Problems in viele Richtungen. Die große, schweigende Mehrheit akzeptiert, was ihnen die anzeigenfinanzierten Medien, allen voran die unternehmensgesteuerten Kommunikationsinstrumente, ganz ohne Scham »Corporate Media« genannt37, als Fakten anbieten, und streitet höchstens am Stammtisch über die Ursachen und die möglichen Lösungen für das, was alle »Krise« nennen. Dabei ist »die Krise« zu einem wohlfeilen Container für eine je nach politischer Lage opportune Mixtur aus allen möglichen Anlässen geworden, die – so der Eindruck, den man beim aufmerksamen Beobachten der Meldungslage gewinnt – je nach den Bedürfnissen der sich mehr und mehr grün tünchenden Industrie vorgebliche Entrüstung hervorrufen oder mit irgendwelchen punktuellen Positivnachrichten oder Forschungsergebnissen abgewiegelt werden.

Ist »die Krise« nur herbeigeredet? Geht es um eine groß angelegte Manipulation zugunsten eines mit Riesengewinnen verbundenen Umbaus der Weltwirtschaft – was, für sich genommen, auch schon ausreichte, um es der Menschheit schlechtgehen zu lassen? Oder ist sie tatsächlich materieller Natur? Geht es den stofflichen Ressourcen an den Kragen? Den realen Lebensgrundlagen? Oder ist sie sozialer Natur und betrifft die Art, wie wir uns als Gesellschaften auseinandergelebt und von der mehr-als-menschlichen Welt entfernt haben? Kommen wir sieben Milliarden Menschen nicht mehr vernünftig miteinander aus? Oder ist die Krise mentaler Natur? Produzieren wir lediglich Angstgebilde, bar jeder physikalisch manifesten Grundlage, aus denen die schlaue Schar der Lobbyisten politischen Profit schlägt, um den babylonischen Turm unserer Zivilisation unter den Heilsversprechen »Wachstum« und »Arbeitsplätze« immer weiter in die Höhe zu treiben?

Im Griechischen bedeutet »κρίσις, krisis« »Entscheidung«, »entscheidende Wendung von Krankheiten«, auch »Urteil« und »Gericht«. All das passt. Zumindest der westlich geprägte Teil der Welt hat sich in den letzten 250 Jahren, seit der Erfindung der Dampfmaschine, so oft für das technisch Machbare und gegen das der Vielfalt des Lebens auf der Erde Zuträgliche entschieden, dass sich die ganze Planetin heute in einem Zustand befindet, den man getrost als Krankheit bezeichnen kann. – Planetin? Ja, die Erde ist weiblich, Frau Welt, Gaia. Wenn wir von der Erde im weiblichen Genus sprechen, sage ich fairerweise auch »Planetin« zu ihr. – Gelingt es uns nicht, das Blatt zu wenden und Gaia zu einem gesunden Zustand zurückzuverhelfen, wird das Urteil unserer Enkel, so sie denn überhaupt Gelegenheit haben, über uns und unsere Mütter und Väter zu richten, vernichtend ausfallen. Das will ich nicht erleben. Ich will nicht von meinen Enkeln für all das haftbar gemacht werden, was höchstwahrscheinlich demnächst schiefgehen wird.

Ein gesunder Zustand – damit kann nur eine Welt gemeint sein, in der niemand über die Verhältnisse lebt und alles dauerhaft ein gedeihliches Auskommen findet – der Mensch zusammen mit der mehr-als-menschlichen Welt. Bevor jedoch die entscheidende Wendung der planetaren Krankheit einsetzen kann, so fürchte ich, muss es noch ein ganzes Stück tiefer in das Fieber hineingehen. Noch glaubt die glitzernde Welt der Einkaufsmeilen von Shanghai bis Mumbai, von Bochum bis Rio, es handle sich um eine simple Erkältung, und geht mit leichtem Schweiß auf der Stirn den gewohnten Verrichtungen nach. Doch eine Vielzahl von Symptomen – nicht allzu schwer zu erkennen, sobald wir den Blick auf die staubigeren oder eisigeren Regionen der wenig bis gar nicht elektrifizierten Welt richten –, deuten auf einen gravierenden Infekt hin. Die Anzeichen mehren sich, dass bald keines der Medikamente mehr nützen wird, die bisher noch immer geholfen haben: Der Bogen ist überspannt, das System steht vor dem Zusammenbruch. Vor dem Kollaps.

Wie das Wort »Krise« stammt auch »Kollaps« aus der medizinischen Terminologie des 19. Jahrhunderts. Vom lateinischen »collabi«, »in sich zusammensinken, einsinken, ohnmächtig zusammensinken«, abgeleitet, bezeichnet es dort einen Schwächeanfall, insbesondere einen Kreislaufzusammenbruch. Ist es nicht in vielerlei Hinsicht bezeichnend, dass wir zur Beschreibung des Zustands unserer Welt zwei Begriffe aus der Heilkunst gewählt haben? Wer sich in unserer empathiearmen Zeit noch einen Rest Sensibilität bewahrt hat – oder vielleicht nach einer persönlichen Krise gerade erst dazu erwacht ist –, spürt, dass hier tatsächlich ein Körper gemeint ist: Die allgemeine Diagnose wird deshalb richtig gestellt, weil wir die Welt auf unseren Körper abbilden, wenn wir sie nicht sogar mit unserem Körper identifizieren – und deshalb in uns fühlen, wie es dem Menschheitsganzen geht. – Ein Kollaps führt nicht notwendigerweise immer zum Exitus. Man kann ihn überleben, doch wenn es ein wirklicher Kollaps war – was man daran bemerkt, dass man die Gefahr, das Leben auszuhauchen, intensiv erkennt –, dann fallen Krise und Kollaps zu jenem einen und einzigartigen Wirbel höchster Implosionskraft38 zusammen, die einer grundlegenden Transformation den nötigen Schwung schenkt.

Wer auf einen Kollaps vorbereitet ist, wird nicht von ihm überrascht. Wenn man in der Prä-Kollaps-Phase das kritische System genau studiert und mit ihm eine intensive anamnestische Befragung begonnen hat, ist die Chance hoch, dass sich allein schon aus der aufkeimenden Verdachtsdiagnose – und tiefere diagnostische Erkenntnisse dürften sich angesichts der Komplexität der Patientin Weltgesellschaft kaum gewinnen lassen – bestimmte wahrscheinliche Verläufe bei eingetretenem Kollaps vorwegnehmen lassen. So kann man dann im Moment des Zusammenbruchs an der richtigen Stelle die Hand aufhalten, um etwas aufzufangen, dessen Verlust wirklich traurig wäre, oder das richtige Verbandszeug bereithalten, um ein Organ, das überlebenswichtige Fähigkeiten besitzt, vor dem Ausbluten zu bewahren. Während der vom Kollaps Überraschte vom Blitzknall der Implosion noch geblendet und geschockt ist und orientierungslos umherirrt, haben die Gewarnten von den erhaltenswerten Preziosen schon gerettet, was zu retten möglich war. Sie sind nicht nur ideale Helfer am Ort des Geschehens, sie stellen zugleich auch die Weichen für den Weg aus der Krise, da sie in der Zeit allgemeiner Planlosigkeit Wegweiser errichten, denen dann selbst diejenigen zu folgen bereit sind, die zuvor die Möglichkeit eines Kollapses weit von sich gewiesen haben.

Auf den Zustand unserer Gesellschaft angewendet, ist der Kollaps überfällig, ja er erscheint nötig und rettend. Der Patient Menschheit zeigt sich verstockt, uneinsichtig und weiß alles besser. Das zeigen nicht nur die autokratischen Betonköpfe der totalitär regierten Mehrheit der Staaten, sondern auch die Mehrheiten in den sich demokratisch brüstenden Ländern, deren politische Kaste wider alles bessere Wissen hochtrabend von einer populistischen »Lösung« nach der anderen schwafelt, wobei sich die Lebensdauer solcher »Rettungsaktionen«, siehe etwa die Euro-»Krise«, meist nur in Wochen bemisst. Die Hilflosigkeit, mit der die Politik im Kleinen wie im Großen zwischen dem eigentlich als notwendig Erkannten und dem in Hinblick auf die Wähler oder auf die eigenen Pfründe Dienlichen laviert, wird von den Massenmedien nicht etwa gegeißelt, wie es zumindest in den mit Pressefreiheit gesegneten Gesellschaften Aufgabe und Pflicht wäre. Die als Respekt vor der »öffentlichen Person« getarnte, joberhaltende Speichelleckerei gegenüber den Politikern, die als irgendwie »gleichere Bürger als die anderen«39 taxiert werden – und die deshalb bei Verletzung des Stillhalteabkommens mit den Medienmächtigen oder bei Entwicklung von zu viel Eigenbrillanz sofort öffentlich guillotiniert werden müssen –, taucht noch die ungeheuerlichste Mitteilung über den Zustand unserer Welt in das milde Eintageslicht einer ganz normalen Meldung unter vielen weiteren belanglosen. Die leichte Schwäche, in der sich daher unsere westliche Zivilisation vorübergehend wähnt, ist den allermeisten Zivilisierten kein Anlass zum Innehalten, zum Kürzertreten, geschweige denn zu Neuorientierung und Umkehr. Nur der Kollaps, in dem sich Schock, Staunen und Einsicht schmerzhaft mischen, hat die Kraft, bis zur Krise im Wortsinn durchzuschlagen: Erst dann kann die »entscheidende Wendung der Krankheit« eintreten. Erst dann ist die Chance da, den aufsteigenden Weg zu Heilung und Genesung zu beschreiten – vorausgesetzt, man hat überlebt. Und erst in jener Phase nach dem Zusammenbruch, im Wendepunkt der Krise, reift für gewöhnlich die Einsicht über die begangenen Fehler, die zur Krankheit geführt haben. Erst dann gewinnt man die Kraft zur fundamentalen Veränderung der Lebensführung – umso nachhaltiger, je näher man dem Ende war. Der Heilkunst Mächtige kennen diesen Verlauf. Sie pumpen den Patienten nicht voll mit lindernder Medizin oder zwingen ihn zu therapeutischen Übungen, die er nicht einsieht. Sie warten geduldig ab, halten aus, dass sich der Zustand des Kranken verschlechtert, so lange, bis die entscheidende Wendung eintritt. Und in der Zwischenzeit bereiten sie sorgfältig alles vor, was nötig ist, den kollabierenden Patienten aufzufangen, ihn durch den Tiefpunkt seiner Krise zu geleiten und ihm im Zustand größter Empfänglichkeit und Bereitschaft zur Einsicht die Impulse zu vermitteln, die ihm in neuem Kontext zur Heilung gereichen.

Darüber meditiere ich in diesem Buch: über die Zeit nach dem Kollaps, über die Post-Kollaps-Gesellschaft.

Bevor wir aber darangehen, den visionären Denkraum zu erkunden, in dem wir das, was den Menschen am tiefsten ausmacht, das Gute, Schöne und Wahre, als Grundlage zu einem gemeinschaftlichen Neubau unserer Gesellschaft »danach« setzen, müssen wir die Großbaustelle, in der wir uns gerade bewegen, so weit erkunden, dass wir wissen, wovon wir reden, wenn wir die sich entwickelnde Krise meinen. Wir wollen ein paar Zweige an markanten Ecken in den zukünftigen Baugrund stecken, damit wir uns später in den zu erwartenden Trümmern der Türme unserer Zivilisation nicht verlaufen. Zu oft habe ich in den vergangen 40 Jahren den Satz gelesen: XYZ fordert politische Maßnahmen, die den Einfluss von ABC in diesem existenziellen Bereich endlich einschränken, wahlweise: die DEF endlich zum Einlenken bewegen, wahlweise: die GHI endlich verbieten, und so fort. Desgleichen den Satz: Wir müssen endlich anfangen, ABC zu tun, wahlweise: DEF zu fordern, wahlweise: unsere Angst vor GHI abzulegen, und so fort. Wunderbar! Schön, dass es diese Appelle gibt. Und wichtig auch, dass es Mahnerinnen und Mahner gibt, die uns gesagt haben und weiter sagen, was geschehen wird, wenn wir das eine nicht tun und das andere nicht schleunigst gestoppt wird. Und es gibt ja vereinzelte Teilerfolge, für die man sogar Auszeichnungen wie den Right Livelihood Award, den Alternativen Nobelpreis, bekommt.

Aber das reicht nicht. Die Preisträger stehen im Regen. Die kulturkreative Bewegung, die sie und viele andere seit Jahrzehnten in Gang setzen wollen, um gemeinsam mit so vielen – den vielen Graswurzelgruppen – eine neue Kultur zu schaffen, dass die übrigen vielen sich nicht entziehen können und einstimmen, sie kommt nicht zustande. Ist der Zeitgeist womöglich jetzt so weit? Ich weiß es nicht. Mein kleines Elaborat will jedoch ein Anstoß sein, ein allererster Anstoß, die Augen aufzureißen und mit dem Träumen erst zu beginnen, wenn wir die Realität ganz in uns aufgenommen haben.

Lassen Sie sich also von den nächsten Passagen nicht abschrecken. Das meiste wissen Sie vermutlich im Großen und Ganzen. Und nörgeln Sie nicht, dass es schon genug entmutigende Literatur gebe. Tatsächlich geht es hier um das Gegenteil: Dieses Buch will Sie ermutigen, etwas zu tun, was über reines Wunschdenken und bloßen Aktionismus hinausgeht. Es möchte Sie ermutigen, eine Kraft zu entfalten, die erst wirksam wird, wenn Sie sich von aller Illusion befreit haben. Es geht um die Kraft Ihrer Vision. Und die kommt aus Ihrem fühlenden Herzen. Deshalb wollen wir Fühlung aufnehmen, mit dem, was ist.

Schauen wir also die Dinge nochmals an, so, wie sie wirklich sind. Es lohnt sich, für einen Moment so zu tun, als wären die Dinge neu. Das erhöht die Kraft der Empörung in uns, die nicht nur Stéphane Hessel herbeisehnt.40 Denn neben der Kraft unserer Vision werden wir auch die Kraft der Empörung brauchen, wenn es darum geht, alles zu mobilisieren, damit das Gute mindestens bleibt, besser aber viel stärker wird, um eine dem Leben nachhaltig zugewandte Welt durch das Nadelöhr vor uns in die Hände unserer Enkelinnen und Enkel durchzufädeln. Und wenn wir dabei nicht untergehen, gilt die Wahrheit weiter, dass es die Liebe auch in Zeiten der Cholera gibt und Menschen auch mitten im Krieg Frieden finden, dass wir mit viel weniger viel besser leben können – und werden.

2 Für die meisten ist derzeit der sogenannte Klimawandel das Hauptproblem. Die einen, weitaus in der Mehrzahl, haben die Zunahme der Treibhausgase in der Atmosphäre als Ursache ausgemacht, und einige haben daraus inzwischen ein einträgliches Marktsegment gebastelt. Andere meinen, der Anstieg der globalen Temperaturen sei weniger menschengemacht als eher ein Ergebnis natürlicher Schwankungen. Dritte versuchen, unabhängig von den Ursachen Finanzmittel lockerzumachen, um den Temperaturanstieg technisch einzudämmen: Schwefeltröpfchen in der Stratosphäre sollen die UV-Strahlung reflektieren, bevor sie die unteren Schichten der Atmosphäre aufheizt.41 Eine Eisendüngung der Ozeane soll das Wachstum der Algen anregen, die das schädliche CO2 binden42 und zusätzlich schützende Wolken über dem Meer erzeugen.43 Ein gewaltiger Sonnenschirm irgendwo weit draußen im All, dort, wo sich die Gravitationswirkung von Sonne und Erde die Waage hält, soll unserer schwitzenden Planetin Schatten spenden.44

In meinem Ohr klingt das Wort »Klimaschutz« unsinnig: Jede schnelle Recherche außerhalb der Tagespresse zum angeblich gesicherten Wissen über die Ursachen des nun mal tatsächlich zu beobachtenden Temperaturanstiegs führt zu derart widersprüchlichen Interpretationen der herangezogenen Daten, dass Otto Normalbürger nicht weiß, was von wem vor wem oder was warum geschützt werden soll. An vielen Orten schmelzen die Gletscher, an anderen wachsen sie. Erst wenn man sich an die Arbeit macht, sich durch viele Detailstudien durchzuarbeiten, ergibt sich das eindeutige Bild eines an allen Ecken bis hoch hinauf ins Dach brennenden Hauses. So wandelt sich beispielsweise die Behauptung, der gestiegene CO2