Die Puppe an der Decke - Ingvar Ambjörnsen - E-Book

Die Puppe an der Decke E-Book

Ingvar Ambjörnsen

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Beschreibung

Rebekka fährt an die Südküste Norwegens, um sich zu rächen: Vor vielen Jahren soll ihre Schwester Stina vergewaltigt worden sein. Stina lebt seitdem suizidgefährdet in einer psychiatrischen Anstalt. Jetzt glaubt Rebekka den Vergewaltiger ausfindig gemacht zu haben. Aber ist dieser Mann wirklich der Täter? Oder spielt sich alles nur in Rebekkas Fantasie ab? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Ingvar Ambjörnsen

Die Puppe an der Decke

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Stina hatte wieder versucht, sich in der Dusche aufzuhängen. Sie wollte nicht darüber sprechen. Sie hatte noch an diesem Morgen versucht, sich in der Dusche zu erhängen, aber jetzt schlurfte sie hier durch den Kies, und das von Medikamenten gesättigte Blut pochte in ihren Adern. Seit dem letzten Besuch hatte sie ihre üppige Mähne abgeschnitten. Sie lebte zwar, aber das war ihr scheißegal, jetzt, mit soviel Nozinan im Leib. Rebekka hatte gelernt, mit diesem Schweigen umzugehen. Es gehörte zu ihren monatlichen Treffen, Treffen, die vielleicht durch und durch sinnlos waren.

Und vielleicht auch nicht. Sie dachte, dass niemand wissen könne, welche Wirkung der Stein unten auf dem Grund auslöste, wenn er erst den dunklen Wasserspiegel durchschlagen hätte. Deshalb kam sie, Monat für Monat. Es kostete sie viel, aber sie kam. Seit fast drei Jahren sah sie nun zu, wie ihre Schwester mit dem Drachen Verstecken spielte. Stina fragte nicht nach Harald und den Kindern. Sie fragte nach niemandem. Sie wanderte im Flur auf und ab oder pflügte, so wie jetzt, durch den Kies im Park. In regelmäßigen Abständen versuchte sie sich das Leben zu nehmen.

November. Die Bäume stellten sich für den Winter tot. Schwarze Risse im Grauen.

Rebekka sagte: »Ich komme nicht so bald wieder. Vorher fahre ich zum Haus. Vielleicht verkaufe ich es. Vielleicht bleibe ich dort. Ich weiß nicht. Ganz bestimmt komme ich vor Weihnachten nicht wieder nach Oslo.«

Keine Reaktion, das war immer so. Rebekka war dabei, die Stimme ihrer Schwester zu vergessen.

Bei den Tannen machten sie kehrt und gingen zurück zu den klobigen Gebäuden, die jetzt mehr und mehr zu Stinas Zuhause wurden. Das tat weh, aber so war es nun einmal. Die grün gestrichenen, viel zu hellen Gänge. Der verräucherte Aufenthaltsraum. Das Bett unter dem Fenster. Der Stuhl. Das Waschbecken. Die Jahreszeiten, die kamen und gingen, in einem ewigen Schwarzweiß. Das war so ungefähr das Letzte, was Stina gesagt hatte, ehe sie alle Türen hinter sich geschlossen hatte. Dass sie ihren Farbsinn verloren habe.

 

Sie brachte Stina zur Tür.

Auf dem Weg zum Parkplatz kotzte sie ein wenig. Nur ein wenig. Einen grauen Fleck auf den feuchten Asphalt.

2

Es war das alte Spiel. Der gelbe Streifen. Sie wollte den gelben Streifen überqueren, wollte auf die linke Fahrspur wechseln; manchmal sehnte sie sich nach der endgültigen Frontalkollision. Ab und zu, nicht oft, aber ab und zu wuchs dieser Impuls zu einem gebieterischen Ungeheuer, das sie an den Straßenrand befahl, das sie zum Anhalten zwang. Einmal war sie die Erste an einem Unfallort gewesen. Januar, spiegelglatte, schmale Straßen in Westnorwegen. Sie hatte den Wagen erst gesehen, als sie schon fast vorüber war. Es war Nacht, klares Wetter, aber Nacht. Sie erinnerte sich daran, wie sie hyperventilierend sitzen geblieben war, ehe sie aus dem Auto steigen konnte, wie sie mit Gott gesprochen hatte, weil sie wusste, dass die Karten, die Er jetzt ausspielte, ihr Leben verändern würden. Der Wagen, an dem sie eben vorübergefahren war, ein weißer PKW, der sich dann als Reste eines Toyota entpuppte, lag wie ein vergessenes Akkordeon vor dem frostglitzernden Hang. Das, was einst ein Motor gewesen war, dampfte, eine weiße Wolke vor dem düsteren Himmel, ein Anblick, der ihr aus irgendeinem Grund vollständig sinnlos erschien. Sie hatte mit Gott gesprochen, eine Art Gebet ohne Anfang oder Ende, während sie mit schlurfenden Schritten den glasierten Asphalt überquerte, auf das Wrack zu. Die schändliche Erleichterung, die sich einstellte, als ihr klar wurde, dass die Insassen des zerquetschten Wagens ihre oder die Tatkraft anderer nicht mehr brauchten. Es konnte sich um zwei oder drei handeln, sie konnten auch zu viert sein, aber in diesem Ball aus verdrehtem Metall, zersplittertem Glas und verbranntem Gummi gab es keine Voraussetzungen mehr für menschliches Leben. Rot. Fleisch. Der Gestank von Benzin und Dreck. Sie hatte es nicht vergessen können. Dass ein Knall wie dieser nach Blut, Benzin und Exkrementen stank.

Sie passierte Drammen. Schneeregen setzte ein. Schwere feuchte Flocken, die aus der grauen Wolkenmasse fielen. Ein LKW mit gelbem Führerhaus, der ihr entgegenkam, verblich, als er vorüberdröhnte. Noch ehe sie Holmestrand erreicht hatte, waren die Tannen schwarz geworden. Sie dachte an Stina, an deren krummen Rücken, der sich über den Gang entfernte, in Richtung Treppe. Sie dachte, dass sie ihre Schwester vielleicht zum letzten Mal gesehen hatte, das dachte sie nach diesen Begegnungen häufiger. Und sie dachte an das Haus, das sie erwartete. Sie hätte gern gewusst, ob Lachen und Lieder noch immer in den Wänden hingen, aber im Grunde wusste sie, dass sie nur eine leere Hülse antreffen würde, eine Art abgenagten Totenschädel, aus dem alle Gedanken sich ins Nichts verflüchtigt hatten.

Der gelbe Streifen, der jetzt weiß war, sie hätte ihn fast überquert, sie zog den Wagen vorsichtig wieder nach rechts und versprach der Puppe, sich zusammenzureißen. Sie würden nicht auf diese Weise sterben. Die Puppe hing am Spiegel über dem Armaturenbrett und starrte sie aus blass gewordenen blauen Augen an.

 

Sie sah ihn schon von fern. Der Schneeregen fiel jetzt dichter, der Wind trieb ihn in schweren Stößen schräg über die Felder, aber sie sah ihn trotzdem von fern. Er war riesengroß, sicher über zwei Meter, und er hob einen nackten Daumen in die Luft.

Sie konnte Tramper nicht leiden. Sie konnte nicht einmal ein Bild von sich selber in dieser Rolle ertragen, einen Schnappschuss aus den siebziger Jahren, sie selbst irgendwo in der Nähe von Celle. Das Gefühl, sich fremden Menschen aufzudrängen, an das schlechte Gewissen zufällig Vorüberkommender zu appellieren. Und im Auto dann: die oft angstgeladene Spannung zwischen zwei Menschen, die einander zum ersten und einzigen Mal begegnen, wer bist du, wohin willst du, oder das Schweigen und die unerträgliche Langeweile. Sie betrachtete es als eine private, fast intime Handlung, an einem Nachmittag im eigenen Auto zu sitzen, in diesem geheizten Raum, und die Außenwelt schwarzweiß zu sehen. Deshalb registrierte sie mit einem gewissen Erstaunen, dass ihr Fuß vorsichtig auf die Bremse drückte. Im Spiegel sah sie, wie er auf die roten Rücklichter zurannte. Sie dachte, es sei noch nicht zu spät, sie sei diesem hochgewachsenen Mann gegenüber zu nichts verpflichtet, aber dennoch blieb sie mit laufendem Motor stehen.

Er riss die Tür auf und ließ sich neben sie fallen, der Rucksack lag bereits auf seinem Schoß. Er trug Jeans und eine Windjacke Marke Fjällräven, die dichten braunen Haare klebten an seiner Stirn. Sofort roch ihr Wagen nach nassem Mann.

»Scheiß drauf, wohin ich will. Schaff mich einfach weg von hier!« Er lächelte sie mit starken weißen Zähnen an. »Ich bin froh, wenn ich bis Holmestrand mitfahren kann, damit ich einen Kaffee kriege. Von dort aus komme ich mit Bahn oder Bus weiter.«

Sie starrte lange in den Seitenspiegel, dann bugsierte sie den Wagen vorsichtig wieder hinaus in den spärlichen Verkehr. Die Autos kamen in Gruppen von vier, fünf, sechs. »Lange gewartet?«

»Fast eine Stunde. Ich bin zuletzt mit zwanzig getrampt. Ich hatte total vergessen, wie übel das ist.«

Sie nickte. »Ich wollte dich auch gar nicht mitnehmen. Es passiert soviel Mist. Damals waren andere Zeiten. Oder vielleicht waren wir anders.« Sie sagte »wir«, weil sie annahm, dass er ungefähr im gleichen Alter war wie sie. Mitte vierzig.

»Beides.« Er wischte sich Wasser aus dem Gesicht.

»Aber du hast mit zwanzig zuletzt hier auf dem Feld gestanden?«

»Jetzt im Moment kommt mir das so vor. Nein, ein Kumpel hat mich mitgenommen. Wir hatten ein kleines Missgeschick, nichts Ernstes, aber die Karre wollte nicht mehr. Ich konnte entweder versuchen, auf eigene Faust weiterzukommen oder mit dem Abschleppwagen nach Drammen zurückfahren. Und diese Entscheidung habe ich dann getroffen, als es noch nicht schneite oder regnete oder wie zum Henker man das nennen soll, was sich da draußen abspielt.«

Sie erkundigte sich nach seinem Ziel.

Er hatte dasselbe wie sie. Eine Stadt an einem Fjord. Genauer gesagt, ihm stand ein Ferienhaus weit draußen am Meer zur Verfügung.

»Ein Ferienhaus? Jetzt?«

»Das ist winterisoliert. Ich vermiete es im Sommer und nutze es im Winter. Das ist ein gutes Arrangement.«

Sie nickte. Sie fuhren im Schneckentempo weiter und schwiegen. Sie dachte, dass das hier ein Mann zum gemeinsamen Schweigen sei. Sein langer Körper hatte etwas Entspanntes, er lehnte sich auf seiner Seite an die Tür und widmete sich seinen eigenen Gedanken. Seine Augen waren blassblau, wie die der Puppe. Die hing dort und tanzte an ihrer Schnur hin und her.

Ehe sie den Ort erreichten, bog sie von der Hauptstraße auf den Kreisverkehr ab, der zur Stadt führte, und er sagte: »Ich heiße Leo. Ich sage das nur aus Höflichkeit. Meine Eltern haben immer darauf bestanden, dass wir uns Fremden gegenüber vorstellten.«

Sie sah ihn an: »Und das hast du jetzt mehr als zwei Stunden lang vergessen?«

Er setzte sich gerade. »Manchmal vergesse ich so was wochenlang.«

»Ich kann dich zu deinem Haus fahren, wenn du willst.«

»Nein.« Er schaute auf die Uhr. »Um kurz nach halb neun geht ein Bus. Dann kann ich im Piraten noch ein paar Bier trinken. Aber vielen Dank jedenfalls. Ich war schon kurz vor der Auflösung.«

Vor der Auflösung!

Ihr war aufgefallen, dass er während der letzten Minuten die Stelle angestarrt hatte, an der früher ihr rechter kleiner Finger gesessen hatte. Wo jetzt der Stumpf war. Und das Seltsame war, dass sie trotzdem angeboten hatte, ihn zu seinem Haus zu fahren. Es war ihre Idee gewesen. Jetzt setzte sie ihn stattdessen am Hafen ab. Reichte ihm sogar zum Abschied die Hand. Die rechte. Die schöne Hand, wie es früher geheißen hatte. Ehe die schöne Hand zur hässlichen Hand geworden war. Danach saß sie noch lange im Wagen und sah zu, wie er über den triefnassen Markt lief, auf die Kneipe zu. Den Rucksack über der Schulter, den Körper im Wind leicht gekrümmt.

 

Das Haus lag in einem Garten, die Fenster klafften wie schwarze Löcher. Trotzdem schien die Hülse, die sie früher damit assoziiert hatte, endlos weit weg zu sein. Sie war ein freundliches Bild an ihrer Netzhaut. Ein Strom von guten Erinnerungen stieg in ihr auf, als sie die abgenutzten Bretter sah, die Treppe und das leicht schiefe Dach. Hier, im Haus und im Garten, waren Wunder geschehen. Marienkäfer über weicher Haut. Reife Stachelbeeren. Der Duft gebratener Makrelen und die Großmutter, die sie zum Essen rief. Der Großvater, der danach wie tot auf dem Rücken im Gras lag. Dort, wo sie jetzt stand, am Tor, die Hände voll von Plastiktüten aus dem Supermarkt, hatte sie plötzlich den Geschmack von Sahne auf den Lippen. Sie dachte, das hier sei ein Denkmal, ein Ort, an dem sie über alles, was einst gewesen war, meditieren könne. Hier bin ich so stark geworden, dass ich später, wenn es notwendig wurde, den Stier bei den Hörnern nehmen konnte. Und seltsamerweise werde ich auch hier, ausgerechnet hier, dem Minotaurus gegenübertreten müssen. Das Labyrinth zieht sich unsichtbar kreuz und quer durch diese Stadt. Dieses Haus wird meine Basis sein. Mein Ruheraum. Wie damals. Sie trug Lebensmittel und Gepäck ins Haus.

In den großen Räumen war es eiskalt. Die Heizkörper im Erdgeschoss und im ersten Stock waren angeschlossen, aber sie konnten doch nur dafür sorgen, dass das Wasser nicht gefror. Sie schaltete im Mädchenzimmer im ersten Stock eine Heizsonne auf die höchste Stufe. Im »Mädchenzimmer«, nach den Mädchen, die in den großen alten Zeiten dort gewohnt hatten, und nach den neuen Mädchen, ihr und Stina. Den Ferienkindern aus Oslo. Sie ging von einem Zimmer ins andere und drehte die Heizkörper so weit auf, wie sie das nur wagte, sie hatte keine Sicherungen mitgebracht. Später schloss sie die Tür zum kleineren Wohnzimmer, dem, das hinter der zum Garten gelegenen Glasveranda lag, und machte in dem großen Kamin aus Speckstein ein Feuer. Sicherungen vergessen, na gut. Aber immerhin hatte sie daran gedacht, vor Ladenschluss den staatlichen Alkoholverkauf in Sandvika anzusteuern. Sechs Flaschen Rotwein. Die waren ja auch eine Art Sicherungen.

Sie zog den feuchten Sessel dicht vor den Kamin und trank Wein. Sie durfte in der jetzt vor ihr liegenden Zeit nichts vergessen. Vor allem nicht jegliche Art von Sicherungen. Sie bereute, den Tramper mitgenommen zu haben.

3

Wenn sie nun, in der Grauzone zwischen Schlaf und wachem Zustand, die Linien zurückverfolgte, dann überkam sie ein Gefühl der Macht. Das Gefühl, dass sie warten konnte. Dass die Zeit ihre Verbündete war. Ganz zu Anfang, vor allem in der Zeit vor der Urteilsverkündung, war sie vom Hass geblendet gewesen. Hatte das Gefühl gehabt, die Sache eile. Vielleicht vor allem, weil sie nicht die nötige Tatkraft besessen hatte. Sie wollte, konnte aber nicht. Sie war verheiratet und fühlte sich zu dem Versuch verpflichtet, die Ehe zu retten. Zwei Kinder im Teenageralter, die alles von ihr verlangten – Scheidung hin oder her. Jetzt lag sie im alten Haus ihrer Großeltern in dieser verschlafenen kleinen Stadt und putzte ihre Waffen. Im Mädchenzimmer. Dem Zimmer der Mädchen. Sie war nicht mehr vom Hass geblendet. Die Zeit hatte alles abgeschliffen, sie war kalt geworden, abgekühlt fast. Ihre Ehe war begraben. Die Kinder standen auf eigenen Beinen. Jeder seither vergangene Tag hatte ihr größere Schlagkraft gegeben. Sie hatte nicht geahnt, dass es so kommen könnte, an jenem Tag vor mehr als fünf Jahren, aber sie wusste jetzt, dass sie die ganze Zeit das Skalpell in die Flammen gehalten hatte.

Es war kalt im Zimmer. Kein Laut zu hören. Kein Wind, kein Regen, der gegen die Scheibe schlug, nichts. Der Luxus der Stille, sie selber unter der warmen Decke, die Zeiger des Weckers, die sich auf halb zehn zu bewegten. Sie beugte sich aus dem Bett und schaltete die Heizsonne auf dem Boden ein. Das Geräusch des elektrischen Gebläses kam ihr vertraut vor, wiegte sie in den Schlaf. Der Geruch von verbranntem Staub führte sie in die Vergangenheit zurück. Rotglühende Drähte im herbstdunklen Zimmer. Stinas dünne Stimme aus dem anderen Bett. Und wenn uns jetzt etwas passiert, Rebekka. Wenn Oma und Opa sterben. Oder Mutter und Vater.

Schlaf jetzt. Du wirst erwachsen und dann begegnet dir ein Prinz. Das wird passieren.

Und du? Begegnet dir auch ein Prinz?

Das weiß ich nicht. Doch, vielleicht.

Stinas mageres Hinterteil auf dem Nachttopf. Das Zischen, die Pisse, die gegen das Porzellan prasselte.

Ich wollte keinem Prinzen begegnen. Ich wollte immer hier sein. So wie jetzt.

 

Sie stand erst auf, als das Zimmer mollig warm geworden war. Sie duschte ausgiebig, dann frühstückte sie unten in der altmodischen Küche. Eier. Speck. Schwarzer Kaffee und Toast. Ihr ging auf, dass sie noch nie allein in diesem Raum gewesen war. Und dass es ihr rein gar nichts ausmachte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Großmutter noch immer am Herd stand und ihr Großvater mit der Zeitung im Sessel vor dem Fenster saß. Stina, das Gesicht halb von ihr fortgewandt, mit über die Tischkante baumelnden Beinen, ein Stück Brot mit Marmelade in der einen Hand, die Puppe in der anderen. Die Neun-Uhr-Nachrichten im Radio, vielleicht auch eine Andacht.

Kein Laut.

 

Im Garten hatte der Wind alle Blätter von den alten Obstbäumen gefegt. Nur an den Johannisbeersträuchern hing noch hier und dort ein gelbes Blatt an den schwarzen Zweigen. Es roch herb und würzig, und unter ihren Stiefeln gurgelte es. Sie lief durch den Garten und rauchte die erste Zigarette dieses Morgens. Der blaue Drache löste sich in nichts auf. Unter ihr, hinter dem grün überwucherten Bretterzaun, lagen Stadt und Fjord. Sie konnte nasse Dächer sehen, und weiter draußen einen Frachter, der über den schwarzen Wasserspiegel glitt. Zwei Möwen balancierten auf den Windfängern über den Speicherhäusern am Hafen. Auf dem anderen Fjordufer: Nybyen, die Neustadt. Niedrige Villen an den bewaldeten Hängen. Offene Wunden dort, wo das Dynamit den Granit zerfetzt hatte, Baumaterialien, lehmige Böschungen. Eine Neusiedlergesellschaft, wo junge und ältere Menschen sich niedergelassen hatten, Kinder der Stadt und Zugezogene.

Sie glaubte, dass sie das alte Haus behalten würde. Sie wusste nicht warum, aber etwas am Anblick all dieses Neuen, dieser grauen, weiß und grün gebeizten Wände, der Aussichtsfenster, der Doppelgaragen und Terrassen, machte ihr klar, dass sie das Haus ihrer Großeltern wohl kaum zum Verkauf ausschreiben würde, so lange sie noch aufrecht stehen konnte.

Danach besuchte sie sie. Sie machte sich am Grab zu schaffen, entfernte zwei tote Stauden und stellte frische Blumen in die Vase vor dem polierten Stein. Plauderte mit ihnen, so wie damals, als sie noch lebten, nur ohne Bewusstsein. Sie hatten sich innerhalb von zwei Wochen verabschiedet, er zuerst, sie bald darauf; sie waren im selben Krankenhauszimmer eingeschlafen. Ein guter Tod. Sie erzählte ihnen, dass Stina sich offenbar nach ihnen sehnte, dass sie sich jedenfalls fort von hier sehnte.

Als sie die Stadt erreichte, hielt sie am Markt. Am Zeitungskiosk kaufte sie einen Stadtplan und eine Packung weiße Briefumschläge. Fast hätte sie auch die Osloer Zeitungen mitgenommen, riss sich aber zusammen. Sie wollte jetzt hier sein, wollte zu hundert Prozent hier sein; sie nahm stattdessen die Lokalzeitung. Es regnete, als sie den Kiosk verließ. Sie überquerte den Marktplatz und rettete sich ins Fønix, sie war seit zehn Jahren nicht mehr dort gewesen, das alte Hotel verfügte über eine Kombination aus Bar und Bistro mit Aussicht auf den Fjord.

An einem Fenstertisch beugten zwei Geschäftsmänner sich über Kaffee und Papiere. Ihre Mobiltelefone waren achtlos auf der Fensterbank abgelegt. Die beiden waren außer ihr die einzigen Gäste. Automatisch steuerte sie einen der anderen freien Fenstertische an, hielt dann aber inne und ging zum Tresen. Sie kletterte auf einen der hohen Hocker, mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, ein Tabu zu brechen. Es war halb eins, sie saß in der Gebetshausstadt am Tresen, sie beschloss, den Wagen stehen zu lassen, und bat um einen trockenen Sherry.

Der Barmann lächelte sie an. Seine Haare waren dunkel gefärbt, mit einem Stich lila, und über seinem wohlgeformten Kopf nach hinten gestrichen. Am linken Ohr baumelte ein Ohrring der alten Sorte, das Ohrläppchen selber war unversehrt. »Eine gute Entscheidung, meine Liebe.« Er senkte die Stimme und nickte diskret zu den beiden Männern am Fenstertisch hinüber. »Mit dem Kaffee hier im Haus könnte man Nilpferde umbringen. Ich habe sie gewarnt, aber sie wollten nicht hören. So sind Jungs eben. Flirten gern mit dem Risiko. Sie wollten nicht einmal Sahne. Ja, ja. Gut, dass auf der Herrentoilette kein Gedränge herrscht.« Er zog die grüne Flasche aus einem Fach über dem Tresen und stellte ein Glas auf die Messingplatte. »Was zum Knabbern?«

»Nein, danke.« Sie lächelte.

Als ihr Glas gefüllt wurde, fragte sie: »Läuft hier abends irgendwas?«

Er lehnte sich mit der Hüfte ans Spülbecken und fischte eine Prince aus der Packung in seiner Brusttasche. »Was heißt schon, laufen … doch, es gibt eine gewisse Bewegung.« Er gab ihr mit einem altmodischen Ronson Feuer. »Aber dann gibt es ja auch noch das, was Lebensqualität genannt wird. Und die wirst du hier nicht finden.«

»Und wo finde ich sie dann?«

»Qualität?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Stil.«

»Na ja. Die Frage ist doch, ob dieser Laden hier nicht das Anständigste in der ganzen Stadt ist. Jedenfalls nach zwölf. Aber es fehlt noch ganz schön viel, das kann ich dir sagen. Wir haben hier im Haus zwar keine rumänische Tanzkapelle, aber einige unserer Stammgäste würden sich sicher sehr darüber freuen. Wenn du Sinn für übergewichtige Gebrauchtwagenhändler mit gelben Schweißringen unter den Armen hast, dann schau am Freitagabend mal rein!«

Sie nickte. »Ich hab schon verstanden, dass du hier am Umsatz nicht beteiligt bist.«

Er zwinkerte ihr zu und ging dann zum Telefon, das am anderen Tresenende losfiepte. »Das wäre auch keine gute Idee, glaube ich.«

Sie überflog die Zeitung. Ein Neunzehnjähriger hatte draußen im Fjord einen Heilbutt von fast neunzig Kilo erwischt. Nach den starken Regenfällen der vergangenen Wochen war ein Teil der Küstenstraße eingebrochen. Die Diskussion über die Eingemeindung lief auf vollen Touren. Auf der Anzeigenseite, im Schatten von Bratwürsten, Apfelsinen und der lokalen Colavariante fand sie »Bauunternehmen Holand & Malmstrøm AS.« Strandgate 3. Zwei Telefonnummern. Fax. Sie faltete die Zeitung ordentlich zusammen und steckte sie zu Stadtplan und Briefumschlägen in die Einkaufstüte. Sie griff nach der Getränkekarte und legte das Geld auf den Tresen, dann ging sie. Er winkte ihr mit der rauchenden Zigarette zu, als sie sich in der Tür umdrehte.

Die Strandgate 3 war ein architektonisches Missgeschick aus der Mitte der sechziger Jahre. Ein dreistöckiges Betongebäude, belegt mit verschossenen Eternitplatten in Grün und Blau. Ein grobes Mosaik schmückte die Eingangspartie, sozialrealistische Darstellungen von Fischern und Industriearbeitern im Einsatz. Die Bilder erinnerten an die Graphikdrucke, die in ihrer Volksschulzeit in den Klassenzimmern gehangen hatten. Kunst für die heranwachsende Generation. Gruß, die sozialdemokratische Regierung.

Die Firma hatte sich im ersten Stock angesiedelt. Im Erdgeschoss befanden sich eine Bankfiliale, ein Herrenausstatter und die Löwenapotheke. Im zweiten trieben zwei Zahnärzte und ein Orthopäde ihr Unwesen. Bauunternehmen Holand & Malmstrom teilte sich die Etage mit »BÜRORÄUME ZU VERMIETEN«.

Sie betrat den Löwen und kaufte eine Packung mit zwölf Paar Gummihandschuhen. Als sie wieder auf der Straße stand, beschloss sie, das wilde Leben fortzusetzen und doch den Wagen zu nehmen.

Nach dem Essen richtete sie sich im Wohnzimmer im ersten Stock ein Büro ein. So viel Platz war ein Luxus, sie schob den großen Esstisch ans Fenster, sie schmückte die Wände mit Bildern aus den unteren Wohnzimmern. Den abgenutzten Ledersessel konnte sie mit großer Mühe die Treppen hochschleppen und vor den Kamin stellen. Jetzt hatte sie alles auf einer Ebene, abgesehen von der Küche. Alles auf einer Ebene, Luft und Raum – und Aussicht. Unter ihr lag der Garten im schwindenden grauen Licht, lagen Bäume und totes Gras. Eine zerbrochene Dachrinne gurgelte. Sie stellte ihren Laptop auf die große kahle Fläche und schloss den Drucker an. Ehe sie Papier hineinlegte, zog sie Gummihandschuhe an, sie waren aus weichem Gummi und klebten an ihrer Haut. Sie blieb eine Weile im Sessel sitzen und kostete das fremde Gefühl von Gummi auf Haut aus, betrachtete ihre Hand unter der grauweißen Haut, den fehlenden kleinen Finger als weiche Falte. Sie empfand ein leichtes Unbehagen, eine Art Klaustrophobie, und sie fragte sich, ob Männer sich so fühlten, wenn sie ein Kondom benutzten. Etwas an diesen engsitzenden Handschuhen, am Gummiduft, erregte sie. Nicht wirklich sexuell, jedenfalls nicht in erster Linie sexuell; es hatte eher mit Macht zu tun. Und mit Distanz. Sie nahm das Mobiltelefon aus der Tasche und gab ihren Code ein.

Der Anrufbeantworter hatte zwei Mitteilungen gespeichert. Die erste stammte von Harald. Er wollte wissen, wie es Stina ging. »Melde mich wieder.« Typisch Harald. Immer »melde mich wieder«, niemals »melde dich«. Deshalb rief sie ihn nie zurück, vielleicht wusste er das ja im Grunde schon. Die andere Nachricht stammte von Leo.

»Hallo, hier ist Leo. Das war verdammt frech von mir, das weiß ich, aber egal. Ich will hier wirklich nicht die Klette spielen, wenn ich also bis Freitag nichts von dir gehört habe, dann buche ich das als Klartext. Aber wenn du noch immer in der Stadt bist und Lust auf eine Runde Gerede hast, dann gehe ich davon aus, dass ich dir ein Bier oder zwei schulde. Auf jeden Fall danke ich dir vielmals fürs Mitnehmen. Du erreichst mich unter dieser Nummer.«

Und dann die Nummer.

O verdammt. Sie hatte ihm nicht einmal ihren Namen genannt. Sie war eine elende Dilettantin und sie beschloss, sich dem Schreibtisch niemals ohne Gummihandschuhe zu nähern.