Die Reichskanzler der Weimarer Republik - Bernd Braun - E-Book

Die Reichskanzler der Weimarer Republik E-Book

Bernd Braun

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Beschreibung

Die Kanzler der Weimarer Republik wirkten in einer Epoche, den "Goldenen Zwanzigern", die durch extreme Gegensätze gekennzeichnet war: Kriegsniederlage, wirtschaftliche Dauerkrise und langsam heraufziehende Diktatur auf der einen Seite, demokratischer Neuanfang, Aufbruch in die Moderne und kulturelle Blüte auf der anderen Seite. Der Band stellt in einer Gruppenbiographie die Regierungschefs dar, arbeitet anhand persönlicher Lebenswege das Typische ihrer Zeit heraus und liefert auf diese Weise eine personenbezogene Geschichte der Weimarer Republik. Spannend ist es außerdem, anhand dieser Biographien zu verfolgen, wie die nach Herkunft, parteipolitischer Bindung und Persönlichkeit sehr unterschiedlichen Reichskanzler die eng gesteckten Möglichkeiten ihres Amtes zu nutzen verstanden, um die krisengeschüttelte erste deutsche Demokratie bis zum Beginn der 1930er Jahre am Leben zu erhalten.

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Mensch – Zeit – Geschichte

Herausgegeben von Julia Angster, Peter Steinbach, Reinhold Weber

Die Herausgeber: Professor Dr. Julia Angster lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim. Professor Dr. Steinbach lehrt Neuere Geschichte an der Universität Mannheim. Dr. Reinhold Weber ist Publikationsreferent bei der Landeszentrale Baden-Württemberg und Lehrbeauftragter am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen.

Bernd Braun

Die Reichskanzler der Weimarer Republik

Von Scheidemann bis Schleicher

Für Eva Marie Stadler

Alle Rechte vorbehalten © 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print: 978-3-17-021899-4

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-023316-4

epub:

978-3-17-023315-7

mobi:

978-3-17-026012-2

Inhalt

Irrwege der Erinnerungskultur

Der Kanzlerposten als Schleudersitz – Die kurzen Amtszeiten

Viele junge Kanzler, geprägt vom Kaiserreich – Alter und Generation

Drei Badener, neun Preußen – Herkunft und Heimat

Mehrheitlich „bescheidene Heimstätten“ – Der Familienhintergrund

Das Leben vor der Politik – Ausbildungen und Berufe

„Dein Vater hat aach den Soz gewählt!“ – Politische Prägungen

Wie wurde man „kanzlerabel“? – Die Kanzlerkompetenzen

Karrierehöhepunkte in der Dauerkrise – Die Kanzlerschaften

Das Leben nach der Kanzlerschaft – Die Altreichskanzler

Von der „Reichskanzlerin“ und ihren Kindern – Die Kanzlerfamilien

Im Zweifel für die Reichskanzler – Ein Schlussplädoyer

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Irrwege der Erinnerungskultur

In seiner Zeit als Patriarch von Venedig schrieb Albino Luciani für die Zeitschrift Messagero di Sant’Antonio (Sendbote des Heiligen Antonius) monatlich eine Kolumne in Gestalt eines Briefes an eine berühmte Persönlichkeit, sei sie nun historisch belegter oder fiktiver literarischer Natur. In einem dieser Briefe schildert der 1978 mit dem Namen Johannes Paul I. zum Papst gewählte Luciani die folgende Parabel: Ein Verrückter betritt mit einem Knüppel in der Hand ein Porzellangeschäft und schlägt alles Geschirr darin kurz und klein. Vor dem Schaufenster versammelt sich eine sensationslüsterne Menge, um die spektakuläre Aktion zu beobachten. Wenig später betritt ein alter Mann mit einem großen Kübel Leim den Laden und beginnt, die Scherben nach und nach mühsam wieder zusammenzusetzen. Für diesen wesentlich wertvolleren Vorgang interessiert sich keiner der vorbeieilenden Passanten.

Die Aussage der Parabel, dass Destrukteure immer eine größere Aufmerksamkeit erzielen als Konstrukteure, wird eindrucksvoll durch das der Weimarer Republik gewidmete Heft der Reihe Geo-Epoche aus dem Jahr 2007 bestätigt. Nach Aussage des Verlages Gruner + Jahr wurden von diesem Magazin 286 220 Exemplare gedruckt, womit es eine höhere Auflage erzielt haben dürfte als alle in diesem Jahr zur Geschichte der Weimarer Republik erschienenen Publikationen zusammengerechnet. Den Umschlag zieren unter dem Titel „Die Weimarer Republik – Drama und Magie der ersten deutschen Demokratie“ vier Porträtfotos, von denen die Redakteure annahmen, sie stünden stellvertretend für die erste deutsche Demokratie oder würden doch zumindest zum Kauf stimulieren, denn anders ist die Auswahl nicht zu erklären. Zu sehen sind Marlene Dietrich neben Albert Einstein, darunter Paul von Hindenburg neben Adolf Hitler. Es muss an dieser Stelle nicht erörtert werden, ob Marlene Dietrich wirklich die berühmteste Schauspielerin der Weimarer Republik war oder ob man Albert Einstein wirklich als den bekanntesten unter dem guten Dutzend deutscher Nobelpreisträger ansehen kann, die während der Weimarer Jahre in Medizin, Chemie oder Physik ausgezeichnet wurden; entscheidend ist, dass mit Hindenburg und Hitler die beiden Schlüsselfiguren der Zerstörung der Weimarer Demokratie an prominenter Stelle abgebildet sind.

Die Macher dieses Heftes sehen in Hitler also nicht nur das „Gesicht des Dritten Reiches“, sondern auch dasjenige der Weimarer Republik, die sie damit ihrer Eigenständigkeit als Epoche berauben und zur Brutstätte des Nationalsozialismus degradieren. Folgerichtig ist Hitler auch der mit Abstand am häufigsten abgebildete Politiker auf den 186 Seiten dieses „Magazins für Geschichte“. Auswahl und Anordnung der vier Porträts des Covers vermitteln dem Betrachter außerdem den Eindruck, positive Faktoren in Weimar seien Kunst und Wissenschaft gewesen, negativer Faktor die Politik. Sie suggerieren damit, dass die Republik von Weimar ein von Anfang an dem Untergang geweihter Staat gewesen sei, eine Sichtweise, die lange Zeit gepflegt wurde, aber in den letzten Jahren immer mehr an Rückhalt gegenüber der These verloren hat, dass die erste deutsche Demokratie bis zum 30. Januar 1933 hätte gerettet werden können.

Natürlich dominiert die verbrecherische Monstrosität der nationalsozialistischen Diktatur die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber dies darf nicht in die erinnerungspolitische Sackgasse führen, dass die freiheitlichen Traditionen und die der Demokratie verpflichteten Akteure völlig aus dem Blickfeld geraten. Zu den Weichenstellern und Verteidigern der Weimarer Demokratie gehörten zweifellos Friedrich Ebert und, wenn auch nicht alle, so doch die meisten der zwölf Reichskanzler Philipp Scheidemann, Gustav Bauer, Hermann Müller, Constantin Fehrenbach, Joseph Wirth, Wilhelm Cuno, Gustav Stresemann, Wilhelm Marx, Hans Luther, Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher. Während der erste Reichspräsident einen festen Platz in der Erinnerungskultur der Deutschen besitzt und dieses Gedenken auch institutionell durch die parteinahe Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD in Bonn und Berlin sowie die bundesunmittelbare Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg fest verankert ist, sind die Weimarer Reichskanzler aus dem Gedächtnis der deutschen Nation weitgehend verschwunden.

Aus dieser erinnerungspolitischen Lücke schöpft das vorliegende Buch seine Berechtigung und gleichzeitig die Aufgabe, dieses Defizit zumindest in Ansätzen auszugleichen. Die übrigen Bände der Reihe „Mensch – Zeit – Geschichte“ widmen sich jeweils der Biographie eines bedeutenden Menschen. Zwölf umfangreiche Einzelporträts aneinanderzureihen, verbot sich deshalb alleine schon aus Platzgründen; es erschien aber auch vom methodischen Ansatz her weniger reizvoll, zumal solche biographischen Skizzen in Überblicksdarstellungen über die deutschen Kanzler seit Bismarck bereits zu finden sind. Die zwölf Kanzler werden deshalb hier als kollektivbiographische Gruppe behandelt. Es wird nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in ihren Lebensläufen gefragt, wobei zur besseren Einordnung in die historischen Geschehnisse auch die Kanzler des Kaiserreiches und diejenigen der Bundesrepublik Deutschland vergleichend herangezogen werden.

Reichskanzler

Partei

Kanzlerschaft

Philipp Scheidemann

SPD

Februar 1919–Juni 1919

Gustav Bauer

SPD

Juni 1919–März 1920

Hermann Müller I

SPD

März 1920–Juni 1920

Constantin Fehrenbach

Zentrum

Juni 1920–Mai 1921

Joseph Wirth

Zentrum

Mai 1921–November 1922

Wilhelm Cuno

parteilos

November 1922–August 1923

Gustav Stresemann

DVP

August 1923–November 1923

Wilhelm Marx I

Zentrum

November 1923–Januar 1925

Hans Luther

parteilos

Januar 1925–Mai 1926

Wilhelm Marx II

Zentrum

Mai 1926–Juni 1928

Hermann Müller II

SPD

Juni 1928–März 1930

Heinrich Brüning

Zentrum

März 1930–Mai 1932

Franz von Papen

Zentrum, ab 3. Juni 1932 parteilos

Juni 1932–Dezember 1932

Kurt von Schleicher

parteilos

Dezember 1932–Januar 1933

Der Kanzlerposten als Schleudersitz – Die kurzen Amtszeiten

Das hervorstechende Merkmal der Weimarer Reichskanzler und zugleich die wichtigste Ursache dafür, dass sie weitgehend in Vergessenheit geraten sind, stellen ihre kurzen Amtszeiten dar. Das Amt des Kanzlers in der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch eine große, manchmal übergroße Kontinuität aus. Seit Gründung der zweiten deutschen Demokratie im Mai 1949 sind nunmehr 63 Jahre vergangen und mit Angela Merkel amtiert erst der achte Bundeskanzler. Die durchschnittliche Amtsdauer liegt damit bei knapp acht Jahren. Dieses beruhigende Gefühl der Stabilität kennzeichnete auch das Deutsche Reich bis 1917. In den 46 Jahren seit der Proklamation des Kaiserreiches 1871 residierten bis 1917 nur fünf Reichskanzler in der Wilhelmstraße in Berlin. In den knapp 16 Monaten bis zur Novemberrevolution sollten allerdings noch drei Nachfolger hinzukommen. Dieser beschleunigte Kanzlerwechsel war ohne Zweifel ein Symptom für die Krise des im Untergang begriffenen Kaiserreiches.

Den Zeitgenossen der Weimarer Republik musste der häufige Kanzlerwechsel zwangsläufig ebenfalls als Zeichen einer Krise, ja einer Dauerkrise erscheinen. In den 14 Jahren von 1919 bis 1933 regierten zwölf Kanzler in 14 Kanzlerschaften und 20 Kabinetten. Dies ergibt pro Kanzler eine durchschnittliche Regierungszeit von rund 14 Monaten. Nur Hermann Müller, Joseph Wirth, Wilhelm Marx, Hans Luther und Heinrich Brüning brachten es überhaupt auf Amtsjahre, ihre übrigen sieben Kollegen lediglich auf Amtsmonate. Während der 19-jährigen Kanzlerschaft Otto von Bismarcks, der 14-jährigen Konrad Adenauers und der 16-jährigen Helmut Kohls wurden jeweils mehrere Jahrgänge volljährig, ohne bewusst einen Kanzlerwechsel erlebt zu haben. Zu Zeiten der Weimarer Republik gab es diese Erfahrung nicht. Nur in den Jahren 1924, 1927, 1929 und 1931 wurde kein Kanzler ausgetauscht, in den übrigen Jahren gab es mindestens einen, wenn nicht zwei Kanzlerwechsel wie in den „Dreikanzlerjahren“ 1920, 1923 und 1932. Natürlich verzerrt jede Statistik. Aber nur ein einziger Kanzler der Weimarer Republik, Wilhelm Marx, brachte es in zwei Kanzlerschaften mit insgesamt drei Jahren und zweieinhalb Monaten auf eine längere Amtszeit als Kurt Georg Kiesinger und Ludwig Erhard, die beiden Amtsinhaber mit der kürzesten Amtszeit nach 1949, womit sich Wilhelm Marx bereits den ironischen Beinamen des „ewigen Kanzlers“ verdiente.

Für die Kürze ihrer Amtszeiten können die Weimarer Kanzler zumeist nicht verantwortlich gemacht werden. Die zwei Hauptursachen dafür waren die verfassungstechnische Konstruktion des Reichskanzleramtes in der Weimarer Reichsverfassung sowie die Zusammensetzung und der Charakter des Weimarer Parteiensystems.

Das Amt des Reichskanzlers wurde in der Weimarer Reichsverfassung erheblich geschwächt. Der hehre Gedanke, damit die Demokratie zu stärken, spielte letztlich den Feinden der Demokratie in die Hände, wobei man der Fairness halber sagen muss, dass sich die Verfassungsgeber des Jahres 1919 nur an der Vergangenheit orientieren und nicht in die Zukunft schauen konnten. Als Reichsinnenminister Eduard David nach der Annahme der Verfassung in der Nationalversammlung am 31. Juli 1919 ausführte: „Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt“, konnte niemand ahnen, welches Gefahrenpotenzial in dieser Definition steckte. Der Reichskanzler des Kaiserreiches wurde vom Monarchen ausgewählt, ernannt und entlassen und war deshalb völlig von dessen Vertrauen abhängig. War dieses Vertrauen nachhaltig gestört, musste der Reichskanzler zurücktreten. Der berühmteste Fall war die Demission des greisen Reichskanzlers Bismarck auf Wunsch des fast 44 Jahre jüngeren Kaisers Wilhelm II. im März 1890. Völlig unabhängig hingegen war der Reichskanzler bis 1918 vom Vertrauen des Reichstages, was symptomatisch Anfang Dezember 1913 zum Ausdruck kam, als das Parlament während der so genannten Zabern-Affäre Theobald von Bethmann Hollweg mit einer Vierfünftelmehrheit das Misstrauen aussprach. Dies hatte keinerlei Auswirkungen, denn Bethmann blieb noch weitere dreieinhalb Jahre im Amt.

Philipp Scheidemann:

„Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!“

Ausrufung der Republik am 9. November 1918

Die Weimarer Reichsverfassung konstruierte eine doppelte Abhängigkeit des Reichskanzlers sowohl vom Vertrauen des Reichspräsidenten als auch vom Vertrauen des Reichstages, der den Regierungschef mit einfacher Mehrheit stürzen konnte, ohne gleichzeitig einen Nachfolger wählen zu müssen. In Weimar war der spektakulärste Kanzlersturz derjenige von Heinrich Brüning Ende Mai 1932, als Reichspräsident Hindenburg ihm überraschend das Vertrauen entzog. Brünings Ablösung leitete die letzten acht Monate der Agonie der Weimarer Republik ein. Während nur ein einziger Kanzler, Hans Luther am 12. Mai 1926, durch ein destruktives Misstrauensvotum gestürzt wurde, kamen mehrere seiner Kollegen ihrem erwarteten Sturz durch einen Rücktritt zuvor. Die Staatssekretäre, wie die Minister im Kaiserreich betitelt wurden, waren entsprechend der Definition des Verfassungsrechtlers Gerhard Anschütz „lediglich Stellvertreter und Gehilfen des Reichskanzlers, der in jedem Ressort jederzeit jede Amtshandlung anordnen oder selbst vornehmen konnte“. Auch hierin stufte die Weimarer Reichsverfassung die Position des Reichskanzlers herab, indem die Minister ihre Ressorts selbstständig innerhalb der vom Regierungschef vorgegebenen Richtlinien der Politik führten. Die auch im Grundgesetz verankerte Richtlinienkompetenz des Kanzlers stößt seit 1949 in denjenigen Fällen an ihre Grenzen, in denen Koalitionspartner selbstbestimmt und im eigenen Interesse handeln. Da absolute Mehrheiten auf Bundesebene bis auf die Jahre 1957 bis 1961 nicht vorgekommen sind, sind Koalitionsregierungen der Regelfall. Während der Weimarer Republik war die Zahl der Koalitionspartner größer – der Großen Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller 1928 bis 1930 gehörten fünf Parteien an – und damit die Durchsetzung der Richtlinienkompetenz schwieriger.

Das Grundgesetz hat aufgrund der Erfahrungen von Weimar den Bundeskanzler erheblich gestärkt. Es hat ihn aus der Abhängigkeit vom Vertrauen des Staatsoberhauptes völlig befreit. Die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten ist ein rein formeller Vorgang ohne jede Einflussmöglichkeit. Das Grundgesetz hat das Staatsoberhaupt entmachtet und an seiner Stelle dem Regierungschef die größte Machtfülle zugewiesen. Der Bundeskanzler kann nur noch durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden, indem mit der Abwahl des bisherigen Amtsinhabers zeitgleich ein Nachfolger gewählt wird.

Die verfassungstechnische Schwäche des Weimarer Reichskanzlers wäre vermutlich nicht so fatal zum Tragen gekommen, wenn die Parteienlandschaft eine andere gewesen wäre. Durch die Einführung des reinen Verhältniswahlrechts ohne Prozentklausel erhöhte sich die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien deutlich. Rund 60 000 Stimmen waren notwendig, um einen Vertreter in den Reichstag zu entsenden. Nach der Reichstagswahl am 20. Mai 1928, als die Weimarer Welt noch in Ordnung war, zogen Abgeordnete von 13 Parteien in den Reichstag ein, nach dem Urnengang am 14. September 1930 sogar 15 Parteien. Neben die Zersplitterung der Parteien trat als noch gravierenderer Faktor ihre Einstellung zur Weimarer Demokratie. Sowohl in der Nationalversammlung 1919 als auch im Parlamentarischen Rat 1949 stimmten rund ein Fünftel der anwesenden Abgeordneten gegen die Verfassung. Allerdings sehnte sich 1949 keiner der Neinsager aus den Reihen von CSU, Deutscher Partei, KPD und Zentrum nach dem NS-Regime zurück, während der Anteil der Nostalgiker 1919 beträchtlich war. Die sogenannte Weimarer Koalition aus SPD, katholischer Zentrumspartei und linksliberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP), also derjenigen drei Parteien, die sich vorbehaltlos auf den Boden der Weimarer Republik stellten, erzielte zwar bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 eine Dreiviertelmehrheit, aber bereits bei den Wahlen zum ersten Reichstag im Juni 1920 verfehlte diese Konstellation die absolute Mehrheit deutlich. Unter den 20 Kabinetten der Weimarer Republik waren deshalb 14 Minderheitsregierungen. Lebensgefährlich für die parlamentarische Demokratie wurde die Situation allerdings erst, als die Monarchie-Nostalgiker von denjenigen beiden Parteien in den Hintergrund gedrängt wurden, die keine Rückkehr des Kaisers, sondern die Errichtung einer Diktatur anstrebten. Hatten KPD und NSDAP bei den Reichstagswahlen von 1928 zusammen nur 13,2 Prozent der Stimmen erzielt, so triumphierten sie 1930 mit 31,3 Prozent und konnten bei den beiden Wahlen 1932 mit 51,6 bzw. genau 50 Prozent das parlamentarische System paralysieren.

Die Weimarer Reichskanzler waren grundsätzlich also weder unfähiger noch weniger integer als ihre Vorgänger im Kaiserreich oder ihre Nachfolger in der Bundesrepublik Deutschland. Das zersplitterte Weimarer Parteiensystem, die Fragilität der Regierungskoalitionen und das Anwachsen systemfeindlicher Parteien der extremen Linken und Rechten auf der einen Seite und die Leichtigkeit des Kanzlersturzes über ein destruktives Misstrauensvotum oder den Vertrauensentzug des Reichspräsidenten auf der anderen Seite machten das Amt in der ersten deutschen Demokratie zu einem Schleudersitz.

Die Kanzleraspiranten waren sich dieser prekären Situation zumeist voll bewusst. Kein Demokrat drängte in das Amt und rüttelte, wie dies für Gerhard Schröder Jahrzehnte später über das Bundeskanzleramt in Bonn kolportiert wurde, am Gitter der Reichskanzlei in Berlin. Die Regierungsbildungen waren auch deshalb äußerst mühselig, weil es erhebliche Schwierigkeiten bereitete, Kandidaten zu finden, die bereit waren, die politische Verantwortung inklusive der Verantwortung für das zu erwartende rasche Scheitern der Regierung zu übernehmen. Im Satiremagazin Kladderadatsch vom 10. Januar 1926 beschreibt eine Karikatur die Schwierigkeit der Kanzlersuche. Unter der Überschrift „Letzter Versuch“ freuen sich drei als Tippelbrüder gezeichnete Arbeitslose über eine mögliche Arbeitsstelle. Gesucht werden mit einem Plakataushang ein Reichskanzler und sechs Minister „für sofort“. Als Gustav Bauer am 22. Juni 1919 seine Regierungserklärung vor der Nationalversammlung abgab, fasste er seine Motivation zur Übernahme seiner neuen Aufgabe in die prägnanten Worte:

„Wir stehen nicht aus Parteiinteresse und noch weniger – das werden Sie mir glauben – aus Ehrgeiz an dieser Stelle. Wir stehen hier aus Pflichtgefühl, in dem Bewusstsein, dass es unsere verdammte Schuldigkeit ist, zu retten zu suchen, was zu retten ist.“

Constantin Fehrenbach, seit Juni 1920 an der Spitze einer bürgerlichen Minderheitsregierung, äußerte sich ähnlich:

„Uns hat nur das Bewusstsein der Pflicht gegenüber Volk und Vaterland an diese Stelle geführt! Wenn irgendwo der bedeutende Mann mit gewichtigem Namen und anerkanntem Ansehen aus bewährter Vergangenheit gefunden wird, glauben Sie mir: Es wird für mich keine glücklichere Stunde geben als die, da ich das mir anvertraute Amt in seine Hände legen kann.“

Wilhelm Marx kommentierte, allerdings in einem privaten, nicht an die Öffentlichkeit gelangten Erinnerungsbericht, seine zweite Ernennung zum Reichskanzler 1926 noch drastischer: „Nun hat man den Dummen wieder gefunden!“ Diese Äußerungen kann man keinesfalls als Koketterie interpretieren, sondern sie entsprangen der ehrlichen Einsicht in die zu bewältigende riesige Problemlast und in den vergleichsweise geringen Handlungsspielraum, der den Regierungen und vor allem dem Reichskanzler zur Verfügung stand.

Aus den häufigen Regierungswechseln und den daraus resultierenden kurzen Amtszeiten ergaben sich einige Besonderheiten der politischen Kultur der Weimarer Jahre. Während für den heutigen Bundesbürger die Begriffe „Kanzlerkandidat“ und „Schattenkabinett“ zum Standardvokabular gehören, waren sie den Zeitgenossen der 1920er Jahre völlig unbekannt. Bereits bei den Bundestagswahlen 1949 war klar, dass entweder der CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer oder der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher Bundeskanzler werden würde. Als die SPD 1961 mehrheitlich der Überzeugung war, dass nicht der Parteivorsitzende Erich Ollenhauer, sondern der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt mehr Zugkraft bei den Wählern besäße, wurde erstmals ein offizieller Kanzlerkandidat gekürt. Bei jeder Bundestagswahl trat der amtierende Bundeskanzler wieder an, während ihn als Alternative der jeweilige Kanzlerkandidat der Volksparteien SPD oder CDU/CSU herausforderte. Die Selbstbezeichnung von Guido Westerwelle als Kanzlerkandidat 2002 war ein reiner Wahlkampfgag, da die jeweils stärkste Koalitionspartei traditionsgemäß den Kanzler stellt (CDU/CSU gelten in dieser Hinsicht als eine Partei). In Weimar war die Situation ganz anders. Je nach dem Resultat der Reichstagswahlen, deren Ausgang aufgrund noch nicht vorhandener Meinungsumfragen kaum vorhersehbar war, wurde in einem komplizierten Findungsverfahren, unter Einbeziehung der Vorlieben des Reichspräsidenten, der künftigen Koalitionspartner und der unterschiedlichen Strömungen der Kanzlerpartei, der letztendliche Regierungschef herausgefiltert. Dieses vielschichtige Interessen berücksichtigende Sondierungsverfahren führte zum Beispiel dazu, dass nicht die jeweils stärkste Partei der Koalition den Kanzler stellte. Die Zentrumspartei von Reichskanzler Joseph Wirth war 1921/22 nur der zweitstärkste Koalitionspartner, ebenso die Deutsche Volkspartei von Reichskanzler Gustav Stresemann 1923. Mit Wilhelm Cuno, Hans Luther, Franz von Papen (nach seinem Austritt aus dem Zentrum) und Kurt von Schleicher standen vier Kanzler ohne Parteibuch einer Regierung vor. Die oft zu findende Bezeichnung „parteilos“ kann allerdings leicht in die Irre führen, denn natürlich waren diese vier Männer politisch nicht neutral, vor allem nicht zeitlebens; Wilhelm Cuno und Hans Luther etwa standen der DVP nahe, der sie vor bzw. nach ihrer Kanzlerschaft eine Zeitlang als Mitglied angehörten. Ein weiterer Effekt des Weimarer Kanzlerausleseverfahrens war, dass nicht automatisch die jeweiligen Partei- und/oder Fraktionsführer zum Zuge kamen. Lediglich Philipp Scheidemann, Hermann Müller, Gustav Stresemann und Wilhelm Marx waren zum Zeitpunkt ihrer Kanzlerwahl Parteivorsitzende (Müller und Marx während beider Kanzlerschaften), während Brüning erst im Jahr 1933 für wenige Wochen bis zu deren Verbot die Führung des Zentrums übernahm.

Diese sehr spezifische Auswahl des Kanzlers hatte auch Auswirkungen auf den Wahlkampf in der Weimarer Republik. Anders als bei den Reichspräsidentenwahlen wurde bei den Reichstagswahlen nicht mit prominenten (lebenden) Politikern geworben, sondern für die Parteien mit künstlerisch oft sehr anspruchsvollen Plakaten. Ausnahmen bildeten Gustav Stresemann, den die DVP ein Jahr nach dessen Tod bei den Wahlen im September 1930 gleichsam als posthumem Spitzenkandidaten aufstellte, und das Zentrum, das 1932 nach dem Kanzlersturz „Zurück zu Brüning“ plakatieren ließ.

Die Kürze der Kanzlerschaften führte auch dazu, dass die Weimarer Regierungschefs nach Ende ihrer Amtszeit weiter in der Politik blieben und auch in der Hierarchie tiefer angesiedelte Positionen bekleideten, was heutzutage unvorstellbar wäre. Während die Bundeskanzler höchstens noch Abgeordnetenmandate oder Parteiämter mit ihrer Kanzlerwürde als vereinbar ansahen, amtierten vier Weimarer Kanzler (Bauer, Wirth, Stresemann und Marx) in Kabinetten ihrer Nachfolger als Minister. Im zweiten Kabinett von Hans Luther saßen 1926 mit Außenminister Stresemann und Justizminister Marx sogar zwei ehemalige Regierungschefs mit am Kabinettstisch, was auch in der erweiterten Regierung Hermann Müller ab April 1929 mit Stresemann und Joseph Wirth als Minister für die besetzten Gebiete (also das Rheinland) der Fall war. Zwei ihrer Kollegen, Hans Luther und Franz von Papen, wurden nach 1933 Botschafter in den USA bzw. in Österreich und der Türkei. Noch größer war der formale Abstieg bei Philipp Scheidemann, der von 1920 bis 1925 als Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Kassel amtierte; Helmut Kohl hätte man sich nach seiner Abwahl 1998 wohl kaum als Rathauschef in Ludwigshafen vorstellen können.

Abb. 1: Philipp Scheidemann, hier auf dem Weg zur Sondersitzung der Nationalversammlung in der Berliner Universität am 12. Mai 1919, auf der gegen den Versailler Vertragsentwurf protestiert wurde, war der erste von sieben Reichskanzlern, der es lediglich auf Amtsmonate brachte (begleitet wird er allerdings nicht von seiner Frau Johanna, sondern von seiner Tochter Luise).

Es gehörte nicht nur zur politischen Kultur der Weimarer Republik, dass die Herren Reichskanzler a. D. als Minister amtierten, sondern zwei von ihnen brachten es sogar zu einer zweiten Kanzlerschaft. So kehrte Wilhelm Marx nach 16-monatiger Unterbrechung durch das Kabinett Hans Luther 1926 in die Wilhelmstraße zurück, während die Kanzlerpause bei Hermann Müller 1928 fast genau acht Jahre und sechs Kanzler betrug.

Die Deutschen haben sich nach 1945 an die stabilen Verhältnisse der Bundesrepublik gewöhnt. Merkmale unserer heutigen Demokratie sind lange bis überlange Amtszeiten, das Fehlen wirklicher Regierungswechsel, also solcher, die nicht durch einen Koalitionswechsel, sondern durch die Abwahl einer Regierung ausgelöst werden – wie bisher erst ein einziges Mal 1998 – sowie die Tatsache, dass der Rücktritt von einem politischen Amt negativ behaftet ist und mit wenigen Ausnahmen das Ende der politischen Karriere bedeutet. Dies ist eine spezifisch deutsche Sichtweise. In Italien zum Beispiel stellt sich die Situation ganz anders dar. Für einen Italiener sind häufige Regierungswechsel oder die Rückkehr eines gestürzten Regierungschefs als Minister oder Ministerpräsident eine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus wurde die politische, ökonomische und moralische Integrität Italiens gerade durch die trügerische Stabilität der Ära Berlusconi bedroht. Die Erfahrungen mit der zweiten deutschen Demokratie beeinflussen selbstredend auch das retrospektive Urteil der Deutschen über die Weimarer Republik. Unter diesem verengten Blickwinkel muss ein Kanzler, der nur eineinhalb Jahre im Amt war, als Versager erscheinen. Für einen Historiker verbietet sich natürlich die Frage, ob die Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland unter den Bedingungen von Weimar gescheitert wären. Aber diese Überlegung liefert einen zentralen Ansatzpunkt, um die Lebensleistung der Weimarer Reichskanzler gerechter zu beurteilen.

Viele junge Kanzler, geprägt vom Kaiserreich – Alter und Generation

In seiner 1987 erschienenen Überblicksdarstellung „Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne“ hat der Historiker Detlev Peukert als erster einen Begriff in die Debatte über die Weimarer Demokratie eingebracht, der seither oft und gerne zitiert wird. Er hat die Weimarer politische Klasse als „Gerontokratie“ bezeichnet, also als Herrschaft der Alten, wohingegen die NS-Bewegung Jugend und Aufbruch verkörpert und dadurch eine größere Attraktivität auf die Wähler ausgeübt habe. Dieses Argument trifft auf die zwölf Reichskanzler gerade nicht zu. Auffallend ist vielmehr, dass sie als vergleichsweise junge Männer ihr Amt antraten.

Auch in diesem Fall gewinnen diese Zahlen erst eine Aussagekraft, wenn man die Weimarer Kanzler mit ihren Vorgängern und Nachfolgern in Beziehung setzt. Die Zeitgenossen waren es aus dem Kaiserreich gewöhnt gewesen, dass ein Politiker mindestens das fünfte Lebensjahrzehnt überschritten haben musste, um ins Kanzleramt zu gelangen. Sechs der acht Kanzler des Kaiserreiches erreichten den Zenit ihrer Laufbahn im sechsten Lebensjahrzehnt, zwei „Ausreißer nach oben“ waren bereits Mitte 70, die jüngsten Amtsinhaber waren mit jeweils 51 Jahren Bernhard von Bülow und Prinz Max von Baden. Schaut man auf die acht Bundeskanzler seit 1949, dann ergibt sich ein ähnliches Bild: fünf Amtsinhaber waren zwischen 50 und 60, zwei zwischen 60 und 70 und einer 73 Jahre alt (Konrad Adenauer); jüngster Bundeskanzler ist Angela Merkel mit ebenfalls 51 Jahren bei ihrer ersten Wahl.

Für die erste deutsche Demokratie zeigt die obige Tabelle ein völlig anderes Bild. Sieben Weimarer Kanzler waren bei ihrem Einzug in die Reichskanzlei jünger als 50. Mit 41 Jahren ist Joseph Wirth der bis heute jüngste Kanzler in der deutschen Geschichte. Das Durchschnittsalter der zwölf Weimarer Kanzler betrug 49,66 Jahre (beziehungsweise 50,78 Jahre, wenn man die vierzehn Kanzlerschaften rechnet), dasjenige der Kanzler des Kaiserreiches lag bei 59,5 Jahren, das der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland bei 58,5 Jahren. Die Weimarer Kanzler waren also bei Amtsantritt fast zehn Jahre jünger als ihre Vorgänger- und fast neun Jahre jünger als ihre Nachfolgergruppe. Wer jetzt schnell mit dem Argument bei der Hand ist, dass Konrad Adenauer die Statistik verzerre, dem sei gesagt, dass sich der Abstand bei Weglassung Adenauers, aber dann gerechterweise auch des mit 68 Jahren ältesten Weimarer Kanzlers Fehrenbach nur geringfügig verändert (56,42 zu 48,00).

Alter der Reichskanzler bei ihrem Amtsantritt

Philipp Scheidemann

56

Wilhelm Marx I.

60

Gustav Bauer

49

Hans Luther

45

Hermann Müller I.

43

Wilhelm Marx II.

63

Constantin Fehrenbach

68

Hermann Müller II.

52

Joseph Wirth

41

Heinrich Brüning

44

Wilhelm Cuno

46

Franz von Papen

52

Gustav Stresemann

45

Kurt von Schleicher

50

Ihre kurzen Amtszeiten bewirkten, dass die relativ jungen Weimarer Kanzler natürlich auch junge Alt-Reichskanzler wurden; auch in dieser Kategorie ist Joseph Wirth mit 43 Jahren der jüngste. Sie waren am Ende ihrer Kanzlerschaft durchschnittlich knapp 51 Jahre alt und damit fast 15 Jahre jünger als ihre Vorgänger bis 1918 und ihre Nachfolger ab 1949, bei denen Max von Baden mit 51 und Willy Brandt mit 60 Jahren die jeweils jüngsten Altkanzler waren. 1925 gab es die bisher höchste Exkanzlerdichte in der deutschen Geschichte: Neben acht ehemaligen Weimarer Regierungschefs lebten noch drei Amtsinhaber von vor 1918. In dem lesenswerten Überblick über die politische Klasse der Weimarer Republik „Gestalten rings um Hindenburg. Führende Köpfe der Republik und die Berliner Gesellschaft von heute“ aus dem Jahr 1930 findet sich diesbezüglich das treffende Bonmot vom „Reichskanzlerverein“. Nach der gängigen Definition von mindestens zehn notwendigen Mitgliedern ließe sich mit den heutigen drei Altbundeskanzlern kein Verein eröffnen.

Gustav Bauer:

„Wir sind wehrlos. Wehrlos ist aber nicht ehrlos!“

Reichstagsrede zur Annahme des Versailler Vertrages am 23. Juni 1919

Während im Kaiserreich Bernhard von Bülow das Ende seiner Kanzlerschaft mit 20 Jahren und 3 Monaten am längsten überlebte und dies in der Bundesrepublik Deutschland bei Helmut Schmidt im Herbst 2012 30 Jahre sind, waren es bei Joseph Wirth mehr als 33 Jahre, bei Hans Luther knapp 36 Jahre, bei Franz von Papen 36 Jahre und sieben Monate und bei Heinrich Brüning 37 Jahre und 10 Monate. Die meisten Weimarer Kanzler standen beim Ausscheiden aus dem Amt in der oft zitierten „Blüte ihrer Jahre“, was auch erklärt, warum sie sich nicht auf das politische Altenteil zurückzogen, sondern weiter aktiv blieben.

Ebenfalls mit dem Alter hängt ein weiteres Unterscheidungsmerkmal der Weimarer Kanzler zusammen. Vier von ihnen starben vergleichsweise jung: Gustav Stresemann im Alter von 51 Jahren, Hermann Müller mit 54 und Wilhelm Cuno mit 56 (Kurt von Schleicher war bei seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten 1934 auch erst 52 Jahre alt). Die drei Erstgenannten starben an Krankheiten, die durch Stress verursacht oder beschleunigt werden. Bei Stresemann und Müller lässt sich nachweisen, dass ihre politische Tätigkeit die Ursache ihres frühen Todes war. Beiden Männern hatten die Ärzte geraten, sich aus der Politik zurückzuziehen, um ihre Gesundheit zu schonen, was beide aus Verantwortungsgefühl für das Fortbestehen der parlamentarischen Demokratie nicht befolgten. Wilhelm Cuno hatte eine angeborene Herzschwäche, weshalb er sich eigentlich niemals auf das Feld der Politik hätte begeben dürfen, zumal nicht im Katastrophenjahr 1923. Man kann diese frühen Tode (und das durchschnittlich geringere erreichte Lebensalter der Weimarer Kanzler) als Zufall abtun – kein Statistiker wird schließlich bindende Schlüsse aus einem Datenpool von gerade einmal zwölf Personen ziehen –, aber man kann sie mit einiger Berechtigung auf die extreme außen- und innenpolitische Belastung der 1920er Jahre zurückführen. Max von Baden und Willy Brandt, die Kanzler mit der kürzesten Lebensspanne im Kaiserreich und in der Bundesrepublik Deutschland, wurden übrigens 62 beziehungsweise 78 Jahre alt.

Der Soziologe Karl Mannheim hat 1928 eine spezifische Definition des Begriffs der „Generation“ vorgelegt, die prägenden Einfluss auf mehrere Wissenschaften, darunter die Geschichte, gewonnen hat. Nach Mannheim ist die Generation keine mathematische Größe, die 25 oder 30 Geburtsjahrgänge umfasst, sondern eine Generation wird durch gemeinsame Erlebnisse oder Nichterlebnisse begründet, die identitätsstiftend wirken. Wie lassen sich unter diesem Blickwinkel die Weimarer Reichskanzler einordnen?

Geburtsjahrgänge der Kanzler

Philipp Scheidemann

1865

Gustav Stresemann

1878

Gustav Bauer

1870

Wilhelm Marx

1863

Hermann Müller

1876

Hans Luther

1879

Constantin Fehrenbach

1852

Heinrich Brüning

1885

Joseph Wirth

1879

Franz von Papen

1879

Wilhelm Cuno

1876

Kurt von Schleicher

1882

Vier Kanzler wurden vor dem epochalen Einschnitt der Gründung des Deutschen Reiches 1871 geboren, aber nur Constantin Fehrenbach hat diesen von den meisten Deutschen herbeigesehnten Wendepunkt als 19-Jähriger bewusst miterlebt und in seiner historischen Dimension erfassen können. Bei Wilhelm Marx (zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt) ist nur ersteres möglich, bei Philipp Scheidemann (fünf Jahre alt) ist selbst ersteres fraglich, bei Gustav Bauer (Jahrgang 1870) beides selbstverständlich ausgeschlossen. Somit erfuhren mit der einen Ausnahme Fehrenbach alle