Die Schlinge - Pavel Kohout - E-Book

Die Schlinge E-Book

Pavel Kohout

4,4

Beschreibung

Eine Frau zwischen zwei Männern. Ein Mann zwischen Ideologie und Leidenschaft. Ein Land zwischen Freiheit und Diktatur. Pavel Kohout erzählt in seinem lange erwarteten neuen Roman eine so spannende wie dramatische Geschichte von Liebe, Illusion und Verrat.Im Frühjahr 1948 versucht die Kommunistische Partei die politische Macht in der Tschechoslowakei endgültig an sich zu reißen. Einzig im Weg stehen ihr noch die Sozialdemokraten, an ihrer Spitze der charismatische Parlamentsabgeordnete Fischer, der sich gegen die Auflösung seiner Partei wehrt. Vor diesem realen Hintergrund entspinnt sich die Handlung des Romans. Im Zentrum stehen Felix Fischer, seine Frau, die SchauspielerinKamila Nostitzová, und der junge Dichter Jan Soukup. Letzterer, ein glühender Kommunist, ist leidenschaftlich in die Frau seines Freundes verliebt. Eine Dreiecksgeschichte, deren Ursprünge bis in die Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkriegzurückreichen. Als der tschechische Geheimdienst versucht, Soukup anzuwerben, muss dieser sich entscheiden: Zwischen seinen Idealen und seiner Loyalität, zwischen Liebe und Freundschaft.-

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Seitenzahl: 277

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Pavel Kohout

Die Schlinge

Roman

Aus dem Tschechischen vonAleš Půda

Saga

Ebook-Kolophon

Pavel Kohout: Die Schlinge. Aus dem Tschechischen von Aleš Půda. © 2008 Pavel Kohout. Originaltitel: Smyčka. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.

ISBN: 9788711449042

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

I. Frühling 1948

1

Sie war sich bewusst, dass sie auf das Treffen mit Jan zuerst sehnsüchtig, dann hoffnungsvoll und später nur noch mit Bedenken auf den Tag genau drei Jahre und drei Monate gewartet hatte, jetzt aber kam ihr jede weitere Minute unendlich vor.

Das Gesicht ihres Mannes riss sie aus ihren Gedanken. Sie konzentrierte sich auf die Leinwand und sah ihn mit seinen treuesten Verbündeten ins Prager Volkshaus hineingehen. Dazu sagte eine männliche Stimme, dass die bevorstehende Vereinigung der sozialdemokratischen Partei mit der kommunistischen aller Voraussicht nach mit der Unterstützung des Abgeordneten Felix Fischer stehe und falle. Er wurde als Minister in Beneš’ Exilregierung und als namhafter Kommentator der tschechischen Rundfunksendung ›London Calling‹ erwähnt, der sich von seinen Zuhörern in der Heimat den gesamten Krieg über mit den Worten »Gute Nacht und feste Hoffnung!« zu verabschieden pflegte.

Das Kino ›Eintracht‹ im Prager Stadtteil Dejvice gähnte an diesem sonnigen Mainachmittag vor Leere, die Zuschauerpärchen waren vermutlich in ebensolchen Logenplätzen versunken, wie sie selbst. Wie in ihrem geliebten Kino in Brünn, wo sie einst die unbeholfenen Zärtlichkeiten ihrer ersten Verehrer erfahren hatte, war man voneinander durch solide Wände getrennt. Und wie in dem Kino, das zusammen mit Dresden niedergebrannt war ... Sie lud Jan Soukup hierher nicht aus Sentimentalität, sondern aus Not ein. Die Kinos gehörten zu den seltenen Orten, wo sie ihr Seidentuch vom Kopf nehmen konnte, ohne dass irgendjemand ein Autogramm von ihr wollte.

Von dem Augenblick an, als Felix sie unerwartet gebeten hatte, ein Treffen für ihn mit Jan zu vereinbaren, ohne Aufsehen zu erregen, lebte sie in ständiger Anspannung. Es grenzte an ein Wunder, dass sie ihn die ganze Zeit lang in Prag nicht getroffen hatte, zumal er jetzt genauso bekannt war wie sie. Felix’ Anliegen versprach, sie von ihrer größten Furcht zu befreien: dass sie einander zum ersten Mal wieder vor anderen Leuten träfen und gezwungen sein würden, Belanglosigkeiten auszutauschen, die der Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, nicht würdig wären. So abstoßend, und doch so wunderbar!

Sie brachte es nicht fertig, die Rolle der Schauspielerin abzulegen, und arrangierte so das heutige Treffen lange im Voraus. Sie darf sich nichts zuschulden kommen lassen, womit sie ihn verletzen oder gar beleidigen könnte. Aber sie darf auch all das nicht zulassen, was das unsichere Gleichgewicht bedrohen könnte, das sie nur mit Mühe gewonnen hat, nachdem sie erst zu spät erfuhr, dass er am Leben blieb. Sie wird also zuerst seine Hand nehmen und ihre Entschuldigung wiederholen, die sie ihm damals nur zu schreiben und an seine Mutter zu senden gewagt hat. Dann wird sie Felix’ Nachricht überbringen und Ort sowie Zeit verabreden. Daraufhin wird sie ihn bitten, vor ihm gehen zu dürfen. Und bevor sie die Loge verlässt, wird sie ihm viel Glück wünschen und ihm einen Kuss auf die Wange geben ...

Von der Leinwand schallten Kampflieder zweier Umzüge mit unterschiedlichen Fahnen. Hämmer und Sicheln wechselten sich mit roten Nelken ab. Eine männliche Stimme sagte dazu, dass der erste Mai 1948, der Tag der Arbeit, wahrscheinlich der letzte sei, den beide Linksparteien in diesem Land getrennt begingen.

Plötzlich rüttelte sie eine Berührung auf. Eine Hand legte sich sanft an ihren entblößten Hals. Sie fing an zu zittern. Streichelnde Finger besänftigten sie. Endlich sammelte sie ihre Kräfte und schaute auf. Jan stand dicht hinter ihrem Stuhl und sah sie an. Sie schaute ihn an und vergaß völlig, was sie sich zurechtgelegt hatte. Die schallende Marschmusik wurde von einem modischen Schlager abgelöst, der Hauptfilm begann. Nach einer Weile setzte sich Jan zu ihr und umarmte sie.

Es war genauso wie vor vier Jahren in Dresden. Sie begann ihn so zu küssen, als hätte sie all das nachholen wollen, was sie mit ihm verpasst hatte. Von der Leinwand plätscherte dazu ein seichtes Lustspiel, das noch während der deutschen Okkupation gedreht worden war. Er unterbrach die Umarmung, griff in seine Tasche und zeigte ihr einen Ring mit zwei Schlüsseln.

2

Jan Soukup liebte Kamila Nostitzová seit dem Moment, als er sie im brechend vollen Lucernasaal zum ersten Mal gesehen hatte. Und von da an konnte er Felix Fischer nicht leiden. Zuvor hatte er ihn respektiert als einen der besten Professoren, den ihm die philosophische Fakultät in seinem ersten Studienjahr anbieten konnte, ihn störte es eigentlich auch nicht, dass er Mitglied einer bourgeois gewordenen sozialdemokratischen Partei war, eine Zeit lang sogar ihr Abgeordneter, bevor ihn die Karlsuniversität anzog. Jan imponierte auch seine bezaubernde französische Ehefrau, mit der er ihn ab und an gemeinsam im Café Slavia sah.

Sozialdemokraten waren auch Jans Großeltern gewesen, aber schon der Vater und die Mutter hatten zu den Abtrünnigen gehört, die an die russische Revolution geglaubt und sich danach gesehnt hatten, dass die Diktatur des Proletariats auch die Tschechoslowakei aus den Fesseln der Bourgeoisie löse. Dass die Revolution mit einem Mal auch den Sohn vereinnahmte, den vorher eigene lyrische Versuche voll und ganz beschäftigt hatten, bewirkte jene Manifestation der Prager Antifaschisten, die für die Verteidigung der Republik gegen Hitler im Herbst 1937 eintraten.

Vor Ende der Abendvorstellung trat das Mädchen mit den kastanienfarbenen Haaren auf, das in einer gedämpften Altstimme Verse von Majakowskij rezitierte. Für Jan war dies bis dahin keine Poesie gewesen, eher eine eigentümliche Form der Agitation. Für ihn war Jessenin der König unter den Dichtern. Diese junge Frau, sichtlich reifer als Jan, hauchte ihnen durch die Art ihres Vortrags eine überzeugende Wahrhaftigkeit ein, sie erinnerte ihn an die Heldin des Bildes, das im Gang der Volksschule hing und die Französische Revolution auf den Barrikaden verkörperte. Der Lucernasaal donnerte, applaudierte und stampfte, aber Jan hörte eine bis dahin ungekannte Stille in sich. Er fühlte sich vor dem Taifun in dessen Auge geborgen.

Den Mädchen lief er nicht hinterher, sie suchten ihn selbst aufgrund seines maskulinen Äußeren, seines zuvorkommenden Gemüts und seines vielseitigen Talents. Nach den jungen Kommunistinnen waren es die Philosophinnen in bestickten Blusen, die züchtig ihren Busen verhüllten. Er schrieb ihnen Liebesgedichte, aber er wusste nur zu gut, dass diese Leidenschaft gekünstelt war. Im Lucernasaal entdeckte er die Liebe. Er kämpfte sich hinter die Kulissen, um sie wenigstens ansprechen zu können. Da führte sie sein verheirateter Professor Hand in Hand fort. Und Jan verspürte zum ersten Mal Hass.

Die Fakultätsaula wurde für ihn zur ersten Kampfarena, wo im Vorfrühling 1938 die Sprecher führender politischer Parteien in einer heftigen Diskussion, ob es die bedrohte Republik zu verteidigen gälte oder nicht, aufeinandertrafen. Felix Fischer war der Einzige, der nicht zum Krieg blies, sondern zur Besinnung mahnte. Der Student im zweiten Studienjahr Jan Soukup meldete sich zu Wort und beschuldigte ihn hitzköpfig, die Sozialdemokratie hätte sich im Gegensatz zu den Kommunisten geweigert, die seitens der Sowjetunion selbstlos angebotene Hilfe anzunehmen. Er erntete ähnliche Ovationen wie seine Liebe im Lucernasaal; jene entdeckte er hier am Rand der letzten Reihe und trug nun seinen Ringkampf vor ihr aus.

Da hatte er schon längst ihre Ophelia gesehen, für die sie das Nationaltheater eingeladen hatte, und er wusste, dass Kamila Nostitzová, von einem verarmten Zweig eines berühmten Geschlechts abstammend, sein Schicksal war. Er arbeitete als Laufbursche, um sich die Eintrittskarten leisten zu können, und war bald in jeder Vorstellung. Er kämpfte mit Fischer um sie, indem er zu seinen weiteren Meetings kam und ihm zum Dauerrivalen wurde, den auch der berühmte Nebenbuhler ernst zu nehmen begann. Um sich vor Kamila nicht zu blamieren, eignete er sich gezwungenermaßen schnell eine verbale Noblesse an, die den übrigen jungen Kommunisten durch die Bank fehlte. Er begann eifrig alles zu lesen, was ihm in die Hände fiel. Mit Hilfe von Lehrbüchern für Autodidakten biss er sich mühselig durch die Grundlagen des Deutschen und des Russischen. Er besuchte Konzerte und Ausstellungen. Er wusste bald, dass das Vorbild seiner Angebeteten Delacroix gemalt hatte. Er hing eine Reproduktion davon in seinem Zimmer auf und stellte sich manchmal vor, wie er sich mit ihr der Liebe hingab ...

Die Schauspielerin tauschte zwischenzeitlich die Bretter des Nationaltheaters gegen eine Bühne ein, die zwar klein, aber vor allem durch die Person des Chefs berühmt war, dessen avantgardistische Regiearbeit einem den Atem raubte. In der letzten Inszenierung spiegelten die Montagues und die Capulets den Zwist zwischen den Tschechen und den hiesigen Deutschen wider, und Romeo und Julia waren ihre Opfer. Insbesondere Kamila, dieses Mal das zierliche Gegenteil einer Revolutionärin, war so ausgezeichnet, dass sie den Staatspreis bekam. Jan musste auch für billige Eintrittskarten lange anstehen. Im Geiste war er selbst ihr Romeo und badete im Schlussapplaus, als ob dieser auch ihm gebührte.

Es war nicht der Tag im Oktober 1938, an dem in München die Verstümmelung der Republik unterzeichnet wurde, der für ihn zu einem rabenschwarzen Tag wurde, sondern jener, an dem die Zeitungen die Nachricht brachten, dass der fünfzigjährige Felix Fischer sich scheiden ließ, um die fünfundzwanzigjährige Kamila Nostitzová zur Frau nehmen zu können. Ein Greis heiratete sie! Es schauderte ihn, und er verdrängte dabei völlig aus seinem Kopf, dass er selbst, beinahe fünf Jahre jünger, aus ihrer Sicht kaum der Pubertät entwachsen war. Er schloss sich vor seiner Mutter ein, betrank sich zum ersten Mal heimlich und weinte sich aus, aber er schrieb auch das erste Gedicht, wobei er sich sicher war, dass es genauso wahrhaftig war wie seine Tränen.

Dann trat Präsident Beneš zurück und flog nach London. Mitte März 1939 folgte ihm Professor Felix Fischer eilig nach und wurde zu seiner rechten Hand. Nahezu zeitgleich erteilte Hitler nämlich der freien Slowakei seinen Segen, Böhmen und Mähren stellte er unter sein Protektorat. Das Blatt der tschechischen Faschisten, ›Vlajka – Die Flagge‹, begann das linksgerichtete Theater wahllos anzugreifen. Nach dem Regisseur drohten sie am meisten Kamila, und Jan atmete innerlich auf, als die Inszenierung aus dem Repertoire genommen wurde.

Die letzte Demonstration erlebte er am 17. November desselben Jahres. Die Studenten gedachten eines Kommilitonen, den unweit des Wenzelsplatzes eine deutsche Gewehrkugel getroffen hatte. In der Nacht wurden einige ihrer Funktionäre verhaftet und noch im Morgengrauen erschossen. Weitere Hunderte wanderten zur Abschreckung ins KZ, und die Deutschen machten die tschechischen Hochschulen dicht, bis sich das Volk bessern würde. Jan hatte Glück. Er entkam der Säuberungsaktion, arbeitete wie sein Vater am Masarykbahnhof, der nun Prag-Mitte genannt wurde, schrieb Verse und dachte mit anmutiger Leidenschaft an Kamila Nostitzová.

Die Protektoratszeitungen schmähten Felix Fischer als einen der schlimmsten Landesverräter. Und bald vermeldeten sie, dass seine Ehefrau, die ehemalige Schauspielerin des eben aufgelösten Theaters, die Scheidung eingereicht hatte. Jans Mutter verurteilte dies. Sein Vater war der Meinung, dass die Eheleute sich nur zum Schein trennten, damit die Deutschen hier keine Geiseln hätten. Jans Stimmung hellte sich so weit auf, dass er sich sogar schämte. Die Suche nach ihr blieb allerdings erfolglos, aus der Gerüchteküche vernahm er bloß, dass Kamila ein Spielverbot hätte und wahrscheinlich in Mähren lebte.

Dann hatte er selbst genug Sorgen. Am Bahnhof stöberten die Deutschen eine Gruppe auf, die die Lebensmittelzufuhr an die Front sabotierte. Den letzten Akt des Widerstands stellte ein Waggon dar, der morgens unter einer schattigen Rampe hervor in die Augustsonne geschoben wurde. Zum Abend hin war das weite Umland von einem unerträglich gewordenen Gestank verpestet und von Fliegenschwärmen übersät. Sobald sie die Türen aufschoben, floss eine zähflüssige Lava ranziger Olmützer Quargeln heraus. Jans Vater wurde bei der Gestapo arg verprügelt und erlitt dabei einen Riss der Nieren. Aus dem Krankenhaus schickten sie ihn heim zum Sterben, und der Sohn begriff, dass er seiner am Boden zerstörten Mutter Halt geben musste.

Im Juli 1944, am Tag seines sechsundzwanzigsten Geburtstages, stellte ihm jedoch ein Polizist einen Einrückungsbefehl zum Totaleinsatz im Reich zu. Jan sorgte dafür, dass sich ehemalige Genossinnen aus der verbotenen Partei um seine Mutter kümmerten, und durchlitt zwei Nächte und zwei Tage in einem Zug, der Militärtransporten Vorfahrt geben musste. Umso erstaunter war er, als er in Dresden aussteigen durfte. Man munkelte, die Alliierten hätten beschlossen, dem prachtvollen Venedig an der Elbe den Bombenhagel zu ersparen.

Bei der Herstellung von Metalleinzelteilen für einen nicht näher bestimmten Zweck schufteten Männer und Frauen aus ganz Europa in der weiträumigen Fabrik zwölf Stunden täglich, sechs Tage in der Woche, am Sonntag aber durften sie aus den Barackenlagern in die Stadt gehen. Zum Boulevard dieser Sklaven der Neuzeit wurden die ausgedehnten Elbtalwiesen gegenüber dem Zwinger, von wo aus Canaletto das Schloss verewigt hatte. Seine Gemälde waren längst im Bunker, und wenn man vom gegenüberliegenden Ufer schaute, ersetzte sie das Stadtbild selbst. Schon am ersten Augustsonntag schlenderte Jan dort wie im Traum herum, er strich vorbei an einem sprachlichen Kunterbunt, nahm das überwältigende Panorama hinter dem Fluss wahr und versuchte eine Ausdrucksform zu finden, wie er jenes mit Worten malen könnte. Beinahe wäre er dabei über Kamila gestolpert.

Sie saß allein in der Nähe des schnell fließenden Wassers und sonnte sich.

»Verzeihen Sie«, fragte er vorsichtig, »sind Sie es ...?«

Es war offenkundig, dass sie nicht gerne gestört werden wollte, aber kaum hatte sie ihre Augen abgeschirmt, sprang sie auf wie eine Schülerin beim Eintreten des Klassenlehrers.

»Nein«, sagte sie und wiederholte es, »nein, nein ... Jan Soukup ...! Sie schickt mir doch der Himmel!«

Ihre Unterkünfte lagen Seite an Seite, sie waren durch eine Pforte im Maschendrahtzaun miteinander verbunden. Das beiderseitige Bedürfnis, über Gott und die Welt zu reden, war stärker als die Müdigkeit, sie saßen gewöhnlich auf einem Bretterstapel in einer abgelegenen Ecke, Stunde für Stunde, Abend für Abend. Nur ein einziges Mal kam zwischen ihnen eine Meinungsverschiedenheit auf.

»Ich wollte immer ein jüngeres Brüderchen haben«, sagte sie lächelnd, »und jetzt hat es Hitler mir gegeben!«

Jan reagierte merkwürdigerweise nicht, und sie stutzte. Sie schaute ihn fast entschuldigend an und lenkte schnell das Gespräch auf etwas anderes.

Am nächsten Sonntag gingen sie ins Kino in der Prager Straße. Es war wieder herrliches Wetter, und die Deutschen fielen entweder an der Front oder gingen vorher noch ein letztes Mal in der Elbe baden. Ein hinkender Mann führte sie in den verlassenen Zuschauerraum. Er hörte ihren Akzent heraus, begriff und fragte auf Deutsch.

»Totaleinsatz?«

»Ja ...«

»Von wo?«

»Aus Prag.«

»Ach ja«, er versank dabei in Träumerei, »die goldene Stadt ...«

Und er machte ihnen ein unerwartetes Angebot.

»Wenn Sie schon in der Prager Straße sind, dann öffne ich für Sie die Loge, fühlen Sie sich in ihr ein bisschen wie zu Hause!«

Jan umarmte Kamila, kaum dass das Licht erloschen war. Unmittelbar darauf küssten sie sich schon. Als Laken diente ihnen sein Hemd. Das berühmte »Frühlingserwachen« mit Kristina Söderbaum sahen sie nie.

Anstelle eines Bruders hatte sie von nun an einen Geliebten.

3

Auf dem Weg zu dem Mietshaus aus den dreißiger Jahren hielten sie sich im Taxi heimlich an den Händen, schwiegen dabei aber so hartnäckig, dass sie der Chauffeur, der Kamila dank ihres Kopftuchs nicht erkannte, für ein Scheidungspaar halten musste. Dann liebten sie sich auf der Couch, die sie nicht einmal mehr schafften auszuklappen, geschweige denn mit einem Laken zu beziehen. Sie sprach erst, nachdem sie aus ihrer Besinnungslosigkeit wieder zu sich gekommen war, und es klang fast schon verzweifelt.

»Du weißt, dass ich mich wegen dir scheiden lassen wollte! Aber ich konnte nicht ahnen, dass du diese Nacht überlebt hast, als ich nach dem Krieg gar nichts mehr von ihr gehört habe!«

»Ich habe mich dort im Krankenhaus erst nach einem halben Jahr erinnert, wer ich war.«

»Du wusstest auch, dass wir uns nur zum Schein haben scheiden lassen. Felix ließ diesen Akt dann wieder rückgängig machen. Du warst für mich gestorben, und ihn konnte ich wenigstens noch schätzen.«

»Hast du ihm gesagt, dass wir ein halbes Jahr miteinander gelebt haben?«

»Ich habe gesagt, dass wir uns zufällig getroffen haben und du mir dort zu überleben geholfen hast.«

Sie bemerkte, dass sie ihn damit verletzt hatte.

»Entschuldige, aber wozu wäre das gut gewesen? So schätzt er dich wenigstens weiterhin. Er war es, der mich zu dir geschickt hat.«

Ungläubig setzte er sich hin.

»Er hat dich geschickt, damit du hier mit mir ...?«

»Um Gottes willen, nicht deswegen! Die Sozialdemokratie ist gerade bis aufs Blut wegen des Zusammenschlusses mit den Kommunisten zerstritten!«

»Ja, aber was soll ich ...«

»Du bist in ihrem Zentralkomitee. Er möchte sich mit dir bald einmal diskret beraten.«

»Vor dem Krieg konnte er mich nicht einmal riechen!«

»Er glaubt, dass du dem Radikalismus abgeschworen hast. Angeblich hätten es ihm deine Verse gesagt. Er selbst hat mir die Sammlung gegeben, er ahnte nicht, dass ich sie gleich nach ihrem Erscheinen gelesen ... und mich dabei ausgeweint habe, Jan ...«

Er sah, dass sie vor Kälte zitterte, stand auf und legte ihr seinen Mantel um, den er aus den auf den Boden geworfenen Kleidern hervorzog.

»Und er hat nicht gemerkt, dass es um dich geht?«

»Du weißt, ich lüge nicht. Aber ich habe ihm erzählt, dass du dich dort in meine Freundin verliebt hättest, die nicht überlebt hat ...«

Und weiter wollte sie darüber nicht mehr sprechen.

»Könntest du vielleicht übermorgen am Nachmittag?«

Er nahm ihre Hände.

»Kommst du zu mir zurück?«

Sie antwortete, als hätte sie auf diese Frage gewartet.

»Jetzt geht es nicht mehr!«

»Warum denn nicht?«

»Er ist ... sehr gealtert ...«

»Na und?«

»Es gibt so etwas wie Solidarität ...«

Jan bekam Magenschmerzen, seit seiner Kindheit ein Warnsensor für seinen Seelenzustand.

»Hast du also mit mir geschlafen, nur damit ich ihm einen Rat gebe?«

Jetzt fuhr sie so schlagartig hoch, dass ihr der Mantel hinunterrutschte.

»Ich habe nicht aufgehört, dich zu lieben, wie du eben bemerken konntest.«

»Ich dich auch nicht, wie du bemerken konntest ... Aber wie geht es dann mit uns weiter?«

Nackt wie sie war, beugte sie sich zu ihrem Kostüm hinab und fischte aus seiner Tasche ein silbernes Zigarettenetui und ein Feuerzeug.

»Rauchst du immer noch nicht?«

»Immer noch nicht. Wie geht es weiter, Kamila?«

Sie zündete sich eine Zigarette an und widmete erst jetzt ihre Aufmerksamkeit dem gegliederten Raum, welcher mit Statuen und Gemälden auf Staffeleien überfüllt war.

»Wo sind wir?«

»Im Atelier eines Schulfreundes. Er gibt eine Ausstellung in der Schweiz, aber es sieht so aus, als ob er dort bleiben würde – nach den Ereignissen bei uns. Antwortest du mir?«

Aufgeregt zog sie an ihrer Zigarette und drehte sich zu ihm hin.

»Wenn du mir versprichst, dass du nichts in die Luft sprengst, dann will ich dich hier treffen, wann immer es geht. Ich fühle es, wie du es geschrieben hast!«

»Was?«

Die dunkle Altstimme rief ihm jenen Doppelvers ins Gedächtnis, der seine Sammlung ausklingen ließ.

Ich dank’ dir für die Liebe ohne Zwist.

Mein Leben lang werde ich wissen, dass du bist.

4

Unter der Woche konnten sie auf ihrem Bretterstapel, einem nicht allzu sehr besuchten Ort, höchstens Händchen halten. Am nächsten Sonntag wurden ihnen die Knie vor lauter Sehnsucht schon auf dem Weg ins Kino weich. Es regnete, und so war der Saal gefüllt. Als der bekannte Platzanweiser sie jedoch sah, gab er ihnen ein Zeichen, abzuwarten, bis er dem letzten Zuschauer einen Platz zugewiesen hatte. Dann führte er sie in seine Wohnung hinter dem Kino. Auf der Wäschekommode standen zwei Fotografien, auf denen junge Männer in Uniformen zu sehen waren. Zwei schwarze Schleifen waren um die Ecken gebunden. Der Vater rächte sich am deutschen Führer, indem er jetzt jeden Sonntag dessen Leibeigenen die verwaiste Wohnung überließ.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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