Die Schwarzenberg-Legende - Lenore Lobeck - E-Book

Die Schwarzenberg-Legende E-Book

Lenore Lobeck

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Beschreibung

Schwarzenberg im Westerzgebirge erlangte vor allem durch die Legende von der "Freien Republik Schwarzenberg" Bekanntheit. Nach dem Kriegsende 1945 blieb der Landkreis unbesetzt. Erst Wochen später rückte die Rote Armee ein. Die Frage, was in dieser Zeit im scheinbaren Niemandsland wirklich geschah, bot Anlass vielfältiger Spekulationen. Mythen entstanden. Lenore Lobeck recherchierte in Archiven, sondierte Akten. Anhand von Dokumenten zeigte sie erstmals 2004 die Diskrepanz zwischen dem Mythos von der Enklave der Freiheit und der vor Ort erlebten repressiven Wirklichkeit. Die Autorin hat ihre Recherchen ausgeweitet und die Arbeit der Gemeinden im gesamten Landkreis, den Umgang mit Flüchtlingen und Verhaftungen in jener Zeit untersucht. Ein neues Kapitel bündelt diese Forschungsergebnisse. Auch neu sind die Passagen eines hinzugezogenen Experten, der die Spekulationen, warum der Kreis unbesetzt blieb, kenntnisreich entzaubert. Ein spannendes Buch, das mehr als nur Regionalgeschichte behandelt.

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Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Band 3

Lenore Lobeck

Die Schwarzenberg-Legende

Geschichte und Mythos im Niemandsland

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

5., vollst. überarb. u. erw. Auflage 2018

© 2004 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gesamtgestaltung: behnelux gestaltung, Halle (Saale)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-374-05496-1

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort (Lutz Rathenow)

1. Einleitung

2. Vorgeschichte – Der Landkreis und die Stadt Schwarzenberg

3. Von Jalta nach Schwarzenberg – Die Situation 1945

4. Ein Mythos und seine Lesarten – Vier Versionen der Schwarzenberg-Legende

4.1.Die SED-Version

4.2.Die Heym-Version

4.3.Die Freie-Republik-Version

4.4. Die PDS-Version

5. Die Ereignisse und ihre Akteure – Schwarzenberg in der besatzungsfreien Zeit

5.1. Die Lage

5.2. Der Landrat

5.3. Die Aktionsausschüsse

6. Legitimation und Rechtfertigung – Das Vorgehen der Kommunisten in der Nachkriegszeit

6.1. Die Machtübernahme

6.2. Beschlagnahme und Volksentscheid

6.3. Die Ausschaltung der CDU-Mehrheit

6.4. Verhaftungen

6.5. Alte Rechnungen gegen Ernst Rietzsch

7. Die Begründung einer dauerhaften Feindschaft – Das Geschehen vor 1945

7.1. Straßenkämpfe und Terror in den zwanziger Jahren

7.2. Die Modifikation der Feindbilder zwischen 1933–1945

8. Die Konfliktgemeinschaft Schwarzenberg auf dem Weg in die DDR

8.1. Todesurteil

8.2. Zwangsaussiedlung

8.3. Wahlfälschung und Umstrukturierung der SED zur »Partei des neuen Typus«

9. Die Erfindung einer Tradition und die Karriere eines Mythos

10. Fazit

11. Erkenntnisse seit 2005

11.1. Weshalb der Landkreis vorerst nicht besetzt wurde

11.2. Bürgermeister Dr. Ernst Rietzsch

11.3. Verhaftungen im Landkreis

11.4. Die Selbstverwaltungen der Gemeinden im Landkreis Schwarzenberg im Mai/Juni 1945 – Eine vergleichende Betrachtung

11.5. »Rückführung der Flüchtlinge«

12. Nachwort

13. Anhang

13.1. Kurzbiografien

13.2. Archive

13.3. Literatur und Quellen

13.4. Abkürzungen

Über die Autorin

Weitere Bücher

Anmerkungen

Für Liselotte Wolff-Rietzsch

»Die Ideologie des Sozialismus war eine angewandte Utopie.

Die angewandte Utopie ergab eine Diktatur.

Um gegen eine Diktatur zu sein,

um sich in Distanz zu ihr zu begeben,

brauche ich keinen Glauben an die ideale andere Gesellschaft.«

Herta Müller

Vorwort

Schon wieder erscheint ein Buch über Schwarzenberg. Wieso ein Buch über diesen nicht allzu großen Ort im Westerzgebirge? Genau genommen über einige Orte in einem Gebiet, das nach dem Kriegsende 1945 unbesetzt blieb. Die Rote Armee der Sowjetunion rückte erst Wochen später dort ein. Die amerikanischen Truppen – in Mitteldeutschland und in Städten wie Jena, Halle oder Leipzig noch als Besatzungsmacht präsent und von vielen Deutschen übrigens auch als Befreier empfunden – machten kaum Anstalten, sich um dieses Gebiet zu kümmern. Ein Vakuum in der Bruchzone zwischen den Besatzungsmächten war entstanden. Doch handelte es sich tatsächlich um ein machtpolitisches Vakuum? Was geschah in dieser Zeit im scheinbaren Niemandsland?

»Die Schwarzenberg-Legende. Geschichte und Mythos im Niemandsland« gibt darauf detaillierte und profunde Antworten. Es ist ein neues Buch, das zu großen Teilen auf der 2004 erschienenen Publikation »Die Schwarzenberg-Utopie. Geschichte und Legende im Niemandsland« basiert und von Lenore Lobeck durch aufwändige Recherchen erweitert worden ist. Die Autorin hat dafür ihren Fokus ausgeweitet und nicht nur Schwarzenberg, sondern auch die Gemeinden im gesamten Landkreis näher untersucht. Damit erhalten die 2004 gezogenen Schlüsse eine größere Repräsentativität. So können beispielsweise die 1945 erfolgten Verhaftungen nun noch weniger als Einzelfälle betrachtet werden, sondern gehören repräsentativ zum Handlungsmuster der damaligen Aktionsausschüsse.

Die neu gewonnenen Erkenntnisse sind dabei brandaktuell, und die thematischen Bezüge erscheinen zuweilen überraschend. So lassen sich Parallelen finden zwischen der derzeit geführten Debatte zum Umgang mit Geflüchteten und dem damaligen Vorgehen gegen die im Kreis Schwarzenberg in großer Zahl ankommenden Flüchtlinge und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten. Die von Lenore Lobeck genau vorgenommene Rekonstruktion dieser Ereignisse macht deutlich, dass die Realität damals weit weniger freundlich war, als sie heute in den Medien oft dargestellt wird. Und sie zeigt ebenso deutlich, dass ein Ausblenden oder Wegschieben der Problemlage nur zum Aufstauen selbiger führt, damals wie heute.

Es ist Lenore Lobeck zu danken, dass sie auf der Basis umfassender Archivrecherchen eine historische Analyse des Geschehens vorgelegt hat. Dabei hat sie nicht nur die unmittelbare Nachkriegszeit untersucht, sondern auch die Zeit der Weimarer Republik bis zur Durchsetzung der kommunistischen Diktatur Anfang der 1950er Jahre analysiert. Dieser geweitete Blick ermöglicht es dem Leser, personelle Kontinuitäten und Verschränkungen zu verstehen und Entscheidungen vom Mai bis Juni 1945 in einem komplexen Handlungsrahmen nachvollziehen und einordnen zu können. Letztlich zeigen die von Lenore Lobeck zutage geförderten Archivdokumente und die Gespräche mit Zeitzeugen, dass es einen alternativen, einen unschuldigen deutschen Sozialismus, wie ihn Stefan Heym in seinem 1984 im Westen veröffentlichten Roman »Schwarzenberg« beschrieben hatte, nicht gab. Er war ein Mythos, der nichts mit der Realität zu tun hatte. Von vielen Lesern wurde der Text jedoch nicht als Roman gelesen, sondern als Tatsachenbericht, was zur weiteren Legendenbildung beitrug. Das Buch von Lenore Lobeck setzt genau hier an: Es ist ein quellenbasiertes Gegengewicht zu den verschiedenen existierenden Schwarzenberg-Legenden, die allesamt Utopien aus verfälschter Vergangenheit sind.

Die lokal zuweilen heftig geführte Diskussion um den Schwarzenberg-Mythos und den heutigen Umgang damit wird außerhalb von Schwarzenberg oft gar nicht verstanden. Letztlich geht es bei dieser Debatte um die Legitimität von Geschichte und um die Lehren, die wir daraus ziehen. Lenore Lobeck zeigt in ihrer Publikation an konkreten Beispielen, dass sächsische Kommunisten von sich aus und ohne Zwang der Sowjets totalitäre Haltungen vertraten und äußerst brutal durchgriffen. Ihr Vorgehen im besatzungsfreien Schwarzenberg unterschied sich nicht grundlegend vom Auftreten der sowjetischen Besatzer. Sie begründeten keinen moralisch überlegenen, humanistischen Sonderweg, sondern folgten freiwillig den inhumanen Grundsätzen stalinistischer Machtdurchsetzung.

Diese Tatsache kann man als erledigte Vergangenheit unbeteiligt zur Kenntnis nehmen, bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch die Verantwortung, die aus diesem Wissen erwächst. Denn ist es angesichts der Opfer, die diese Machtdurchsetzung vor Ort gekostet hat, überhaupt legitim, die »Freie Republik Schwarzenberg« mit einem bunten Straßenfest zu feiern? Oder ist es – auch im Hinblick auf die Hinterbliebenen – nicht eher pietätlos und unwürdig?

Diese Fragen zeigen, dass Ereignisse, auch wenn sie über siebzig Jahre zurückliegen, ihre Schatten werfen, unsere Gegenwart prägen und eine Positionierung einfordern. Dass man über das, was geschehen ist, gesicherte Erkenntnisse hat und nicht spekulieren muss, ist grundsätzliches Anliegen unserer Schriftenreihe, denn nur Fakten bieten die Basis zur Orientierung und Positionierung. In diesem konkreten Fall ist es der Verdienst der Autorin, mit intensiven Archivrecherchen dazu beigetragen zu haben, diese Basis zu legen. Ihr ist »nicht nur eine zeitgeschichtliche Erschließung der Schwarzenberger Nachkriegsereignisse gelungen, sondern zugleich die Aufhellung von Zusammenhängen, die sowohl zeitlich als auch räumlich weit über das ›Niemandsland‹ des Jahres 1945 hinausreichen«, so Michael Beleites. Mit der vorliegenden Publikation hat Lenore Lobeck aber auch Neuland beschritten: Sie hat sich mit den weitreichenden Spekulationen, warum der Kreis unbesetzt blieb, aus militärhistorischer Perspektive auseinandergesetzt. Dazu zog sie Ulrich Koch zu Rate, der seit 1989 in den National Archives (NARA) in Washington D. C. regionalhistorische Forschungen zu den Truppenbewegungen der US-Armee im Zweiten Weltkrieg betreibt. Seine Expertise und die nüchternen Forschungsergebnisse boten die Grundlage dafür, kursierende Legenden und verschwörungstheoretische Mutmaßungen kenntnisreich zu entzaubern.

Die größte Gefahr der geschichtsaufarbeitenden Verlebendigung der Vergangenheit ist immer ihre Symbolisierung. Das Buch ist ein Musterbeispiel dafür, wie dieser Gefahr begegnet werden kann: mit Fakten. So bietet »Die Schwarzenberg-Legende. Geschichte und Mythos im Niemandsland« vielleicht bei künftigen Diskussionen um ein angemessenes Erinnern an die Ereignisse von 1945 einen Orientierungsrahmen, der hilft, Fakten von Fiktionen abzugrenzen.

An dieser Stelle sei all jenen gedankt, die die Arbeit von Lenore Lobeck unterstützt haben. Neben den Zeitzeugen und verschiedenen Archiven seien hier die Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung genannt. Danken möchte ich auch Gerda Kegler für die engagierte Durchsicht des Textes.

Lutz RathenowSächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

1. Einleitung

Schwarzenberg, eine Provinzstadt im westlichen Erzgebirge, war der Verwaltungssitz des gleichnamigen Landkreises, der nach Ende des Krieges im Mai/Juni 1945 für kurze Zeit von den alliierten Truppen aus bisher ungeklärten Gründen nicht besetzt wurde. Die Darstellung des politischen Geschehens in diesem kleinen, so genannten Niemandsland unterlag einem Wandel, der in seiner Gesamtheit betrachtet, eine Vielzahl an Widersprüchen offenbart. Bereits in der DDR war eine Diskrepanz spürbar. Die so genannten Aktivisten der ersten Stunde, die im Mai 1945 in der Stadt Schwarzenberg putschartig die Verwaltungsgeschäfte übernahmen, wurden entsprechend dem Geschichtsbild der DDR als Helden der revolutionären Arbeiterbewegung geehrt. Schulen und Straßen trugen ihre Namen. Denkmale wurden ihnen gesetzt. Die Bewohner der Stadt, die diese Zeit erlebt hatten, erinnerten sich hingegen an Hunger, Ängste, Beschlagnahmen, Verhaftungen und beginnende Repressalien seitens der neuen Machthaber. Erfahrene Wirklichkeit und gelehrte Theorie klafften weit auseinander.

Stefan Heym modifizierte in seinem 1984 erschienenen Roman Schwarzenberg die Geschehnisse, indem er seine Sozialismus-Theorie im Schwarzenberger Niemandsland des Jahres 1945 ansiedelte.

Erneut traten die Vorgänge der Schwarzenberger Nachkriegszeit nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus an die Öffentlichkeit. 1995 veranstaltete die PDS ein Kolloquium in Schwarzenberg und versuchte, Stefan Heyms Theorie nutzend, sich eine neue Identität zu verschaffen. Im Gedenken an die Tage im Mai 1945 wurden Straßenspektakel organisiert, als böte allein der Umstand der fehlenden Besatzungsmächte Grund zum Feiern. Der für diese sechs Wochen als Bezeichnung erfundene Begriff Freie Republik Schwarzenberg wurde zum Synonym für das Geschehen in dem besatzungslosen Gebiet. Ein erneuertes Geschichtsbild war geschaffen. Fortan befragten die Medien das letzte noch lebende Mitglied des damaligen Schwarzenberger Aktionsausschusses wie einen exotischen Zeitzeugen. Die Aktivisten der ersten Stunde wurden wieder gefeiert, während die Straßenschilder, die ihre Namen trugen, bereits entfernt waren, die Schulen umbenannt und die Denkmale weitgehend verschwunden. Die kommunistischen Akteure wurden als Helden der Freien Republik Schwarzenberg wiedergeboren.

Die sich aus dem Wandel der Darstellungen und der offensichtlichen Vermischung von Legenden ergebende Frage nach dem tatsächlichen Geschehen, nach den Akteuren, den Gründen und Zielen ihres Handelns, war der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Es galt herauszufinden, ob und in welcher Diskrepanz die Geschichtsbilder zur Wirklichkeit stehen. Gab es Unterschiede zwischen der politischen Entwicklung im besatzungslosen Gebiet und der in der sowjetisch besetzten Zone? Wie konnte ein lokales Geschichtsereignis durch Kolportage eine überregionale politische Bedeutung erlangen? Wem und welchem Interesse diente die jeweilige Interpretation?

Zur Beantwortung dieser Fragen und zur Klärung der komplexen Zusammenhänge wurde ein Untersuchungszeitraum von 1920 bis 1950 gewählt. Die Untersuchung beschränkt sich vorrangig auf die Stadt Schwarzenberg. Besondere Beachtung findet dabei das Schicksal des Dr. Ernst Rietzsch, der von 1921 bis 1945 als Bürgermeister in Schwarzenberg tätig war.

2. Vorgeschichte – Der Landkreis und die Stadt Schwarzenberg

Im 19. Jahrhundert unterschied sich die Entwicklung Schwarzenbergs nicht wesentlich von der anderer sächsischer Kleinstädte. Wie in ganz Sachsen gab es auch im Landkreis Schwarzenberg eine rasche industrielle Entwicklung. Der Bergbau hatte keine überragende Bedeutung mehr, kam aber nie gänzlich zum Erliegen. Die dominierenden Industriezweige waren die Metall verarbeitende Produktion, Holzverarbeitung und die Papier- und Pappenindustrie. Handwerks- und Familienbetriebe, Heimarbeit und kleinere Fabriken existierten bis Mitte des 20. Jahrhunderts neben den zu Großbetrieben expandierenden Werken. Die Produktionsstandorte verteilten sich nicht nur auf die Städte, sondern selbst auf kleinere Dörfer, von denen einige zu beachtlichen Industriedörfern wuchsen. Diese Entwicklung brachte einen Anstieg der Einwohnerzahlen mit sich. In Schwarzenberg stieg die Zahl zwischen 1880 und 1910 von 3.462 auf 8.490 Einwohner und 1933 zählte die Stadt bereits 12.104 Einwohner.1 1939 kamen in Sachsen 349 Einwohner auf einen Quadratkilometer und 1946 war Sachsen mit 327 Einwohnern pro Quadratkilometer das am dichtesten besiedelte Land der Sowjetischen Besat-zungszone (SBZ). Im stark industrialisierten Sachsen war der Arbeiteranteil unter der Bevölkerung schon immer hoch. 1924 erreichte dieser knapp 20 %. Dem gegenüber lag der Anteil der Arbeiter in Bayern bei fast 10 % und im Deutschen Reich bei ca. 12 %.

Wirtschaftliche Krisen wirkten sich entsprechend hart aus. Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger unter den Erwerbslosen stieg in Sachsen innerhalb des Jahres 1923 von 18.025 auf 268.622 an.2 Im Dezember des Krisenjahres 1931 zählte Sachsen 4,5 % anerkannte Wohlfahrtserwerbslose und lag damit deutlich über dem Durchschnitt des Reiches von 2,7 %.3

Die Landwirtschaft spielte im Erzgebirge nie eine bedeutende Rolle. Der Landkreis Schwarzenberg umschloss eine Fläche von etwa 560 km2. Schwarzenberg als alter Verwaltungssitz beherbergte bis 1946 die Amtshauptmannschaft beziehungsweise das Landratsamt Schwarzenberg.

Schwarzenberg, Nordansicht mit der ehemaligen Amtshauptmannschaft

Quelle: Fotoarchiv L. Lobeck

3. Von Jalta nach Schwarzenberg – Die Situation 1945

Einigkeit über eine Teilung Deutschlands herrschte zwischen den drei alliierten Mächten des Zweiten Weltkrieges, USA, Großbritannien und Sowjetunion, bereits auf der Konferenz in Teheran (28. November − 1. Dezember 1943). Auf der Alliierten- Konferenz in Jalta (4. − 11. Februar 1945) wurden die Teilungspläne konkretisiert. Unter Einbeziehung Frankreichs als zusätzliche Besatzungsmacht wurde die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen mit einem gemeinsamen Kontrollrat vereinbart. Über die Notwendigkeit der Entnazifizierung, Entmilitarisierung und die Entwaffnung Deutschlands als Grundlage der Besatzungspolitik bestand in Jalta weitgehende Übereinstimmung. Ungelöst blieben lediglich Details der Reparationsfrage.

Knapp einen Monat nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands übernahmen die militärischen Oberbefehlshaber der vier Siegermächte mit einer gemeinsamen Erklärung am 5. Juni 1945 die Regierungsgewalt. Dies geschah jeweils unabhängig in den vier Besatzungszonen und mit der Konstituierung des Alliierten Kontrollrates in Deutschland. Berlin wurde in vier Sektoren geteilt.

Am 9. Juni 1945 gab die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) mit dem Befehl Nr. 1 ihre Gründung bekannt. Marschall Žukov wurde Chef der SMAD.

Entsprechend dem 1. Zonenabkommen vom 12. September 1944 erfolgte bis zum 5. Juli 1945 die Regulierung der Demarkationslinie. Zonengrenze zwischen der SBZ und dem von den West-Alliierten besetzten Teil war nun die Linie Lübeck-Helmstedt-Eisenach-Hof.

Die Planungen für ein Nachkriegsdeutschland erwiesen sich vor allem für die Sowjetunion als kompliziert und zwiespältig. Einerseits war sie, aus verschiedenen Gründen, auf das Bündnis mit den Westmächten angewiesen. Andererseits wollte sie die eigenen politischen Vorstellungen in ihren Besatzungsgebieten geltend machen und später auf ganz Deutschland ausweiten. Unter diesen Gesichtspunkten sollten in der SBZ Angehörige des Bürgertums in den politischen Prozess eingebunden und auf ein sozialrevolutionär akzentuiertes Programm vorerst verzichtet werden.

In Vorbereitung dieser Pläne wurden seit 1944 emigrierte oder kriegsgefangene deutsche Kommunisten in verschiedenen sowjetischen Schulungsheimen für ihre Arbeit im Nachkriegsdeutschland entsprechend vorbereitet und ab April 1945 zur Erfüllung ihrer Aufgabe in die SBZ entsandt. Die deutschen Kommunisten mussten ihre eigene Politik den sowjetischen Interessen, der notwendigen Fortsetzung der alliierten Bündnispolitik, unterordnen. Das führte zu Spannungen zwischen den Moskau-Heimkehrern und den Kommunisten, welche die NS-Zeit in Zuchthäusern, Konzentrationslagern oder in der Illegalität in Deutschland überlebt hatten.

Mit dem von den Moskau-Kadern Anton Ackermann, Walter Ulbricht und Gustav Sobottka Anfang Juni 1945 entworfenen, mit Dimitroff abgestimmten und von Stalin gebilligten Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 19454 wurde die Grundlinie der künftigen KPD-Politik festgelegt. Nun galt es, die in der SBZ bereits agierenden Kommunisten von der Richtigkeit des neuen Parteiprogramms zu überzeugen. Vielerorts hatten nach Kriegsende Kommunisten, nicht selten gemeinsam mit Sozialdemokraten, Aktionsausschüsse oder Antifa-Komitees gebildet, deren Ziele unter anderem die Beseitigung des NS-Regimes, die Vorbereitung eines Machtwechsels im antifaschistischen Sinne und der Beginn des Wiederaufbaus waren. Mitunter galten ihre politischen Pläne der sofortigen Errichtung eines Sozialismus nach sowjetischem Vorbild. Sie konstituierten sich in Wohnbezirken oder Betrieben. Bisweilen übernahmen sie auch gemeindliche Verwaltungsaufgaben oder übten politischen Einfluss auf die noch bestehenden Verwaltungen aus. Wollten sich diese selbstständig gegründeten Ausschüsse der neuen Moskauer Parteilinie und den neuen Führungskadern nicht kritiklos unterordnen, griff die Parteileitung mit restriktiven Maßnahmen in deren Personalpolitik ein. In Sachsen übernahm diese Aufgabe Anton Ackermann.5

Am 8. Mai 1945 waren einige kleine Territorien in Deutschland von den alliierten Truppen noch nicht besetzt worden. Eines dieser besatzungslos gebliebenen Gebiete lag im westlichen Erzgebirge. Die Amerikaner waren in Auerbach und Zwickau stationiert, die Kommandantur der Roten Armee befand sich in Annaberg. Ein dazwischenliegendes, etwa mit dem Gebiet des damaligen Landkreises Schwarzenberg übereinstimmendes Territorium und die kreisfreie Stadt Aue waren vorerst ohne Militärkommandanturen der Besatzungsmächte geblieben. Im Norden reichte das unbesetzte Gebiet kurzzeitig über die Landkreisgrenzen hinaus und schloss als größere Ortschaften die Städte Stollberg und Oelsnitz ein.

Die allmähliche Besetzung des Landkreises begann am 9. Juni 1945, also zum Zeitpunkt der Konstituierung der SMAD in Berlin. An diesem Tag hieß es in einem Artikel der Lokalzeitung Erzgebirgischer Volksfreund: »Der Einmarsch der russischen Besatzungstruppen in den Auer Bezirk, der sich in diesen Stunden in voller Ordnung vollzieht […]«6. Am 12. Juni 1945 wurde vom Antifaschistischen Bund in Schneeberg gemeldet, dass es, nach Ankunft der sowjetischen Besatzungsmacht, Aufgabe und Pflicht eines jeden Antifaschisten sei, seine Einstellung und Gesinnung durch das Hissen der roten Fahne zu bekunden.7 In der letzten Ausgabe des Erzgebirgischen Volksfreund vom 15. Juni 1945 wurden der Rückzug der Amerikaner aus dem Chemnitzer Gebiet sowie das Nachrücken und der momentane Standort der Roten Armee bekannt gegeben.8 Die Besetzung des Landkreises erfolgte also zeitgleich mit den Truppenbewegungen, die in den vereinbarungsgemäßen Besatzungswechsel einzuordnen sind. Mit den ersten Anweisungen der sowjetischen Kommandanturen vom 20. und 24. Juni 1945 unterstand der Landkreis nunmehr direkt der SMAD.9

Bis dahin hatten Aktionsausschüsse oder ähnliche Gremien in fast allen Städten und Gemeinden des besatzungslosen Gebietes die Verwaltungsgeschäfte in den Rathäusern übernommen. In der Stadt Schwarzenberg war dies putschartig am 12. Mai 1945 durch eine vorrangig aus Kommunisten bestehende Gruppe geschehen.

Die Ereignisse in einer unerwarteten Situation in einem kleinen Landstrich am Ende eines Krieges sind der Ursprung für die Bildung einer Legende. Den jeweiligen Anliegen entsprechend variiert diese Legende, die der schlichten Tatsache, dass ein kleines Territorium für ein paar Wochen in einer schwierigen Zeit aus eigener Kraft verwaltet werden musste, eine Bedeutung verleiht, deren Größe es zu überprüfen gilt.

4. Ein Mythos und seine Lesarten – Vier Versionen der Schwarzenberg-Legende

4.1. Die SED-Version

Das in der DDR gezeichnete Bild von der Machtübernahme der Kommunisten in Schwarzenberg im Mai 1945 benennt diesen Vorgang, der ihr eigenen Geschichtsklitterung entsprechend, als uneigennützig, gerecht und demokratisch. Neben der Vermittlung dieses Bildes auf lokaler Ebene, erschien 1964 in der Wochenpost ein als Tatsachenbericht gekennzeichneter Text von Johannes Arnold.10 Der Historische Führer für die Bezirke Leipzig und Karl-Marx-Stadt11 enthielt eine Information über die Ereignisse im besatzungslosen Schwarzenberg und der Atlas zur Geschichte12 kennzeichnete das Territorium um Schwarzenberg und Aue bis Mitte Juni 1945 als besatzungsfrei.

Werner Groß fixierte in seiner 1961 veröffentlichten Diplomarbeit Die ersten Schritte13 erste Untersuchungen über die Vorgänge im Schwarzenberger Gebiet. Er wollte mit seiner Arbeit die »von westlichen Historikern und Politikern […] strapazierte Behauptung vom ›russischen Export der Revolution‹«14 widerlegen. Gleichzeitig dokumentierte er die Verbundenheit der Schwarzenberger Kommunisten mit der Roten Armee und erklärte, dass diese als »Befreier und Freund gekommen war und daß die Freundschaft zur Sowjetunion ein unabdingbarer Bestandteil einer neuen, antifaschistisch-demokratischen Ordnung sein mußte.«15Er stellte die Schwarzenberger Vorgänge in größere politische Zusammenhänge unter Betonung des selbstständigen, uneigennützigen Handelns als eine »Anwendung der Lehren Lenins von der Revolution unter den damals in Deutschland herrschenden Bedingungen.« »Die Aktivisten der ersten Stunde hatten in der Stadt auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens Einfluß genommen […] die nazistischen Bürgermeister und leitende Beamte der örtlichen Verwaltungen und der Polizei verjagt, das korrupte Beamtenwesen beseitigt und die führenden Vertreter des Naziregimes sofort verhaftet […] An die Stelle des zerschlagenen faschistischen Verwaltungsapparates waren wirkungsvolle antifaschistische Machtorgane in Gestalt der örtlichen Selbstverwaltungen und einer aus bewußten Arbeitern gebildeten Polizei getreten.« 16 Vor dem Hintergrund der von den Kommunisten als Makel empfundenen Tatsache, die faschistische Diktatur nicht aus eigener Kraft besiegt zu haben, wurde die Möglichkeit einer eigenständigen sozialistischen Revolution in die Region um Schwarzenberg projiziert. Außerdem legte Werner Groß Wert auf die Darstellung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse, die Einbindung bürgerlicher Kräfte und auf die aus Erfahrungen heraus als notwendig erkannte Zusammenarbeit mit der SPD. Stets ist jedoch die KPD als die bestimmende Kraft erkennbar.

Die für seine Diplomarbeit 1957 begonnenen Forschungen gründete er auf Dokumente und Akten, auf Befragungen und Aussagen von Personen, die 1945 an der Machtübernahme beteiligt waren und auf Aussprachen mit Arbeitern der großen Betriebe Schwarzenbergs.17 Die im Anhang seines Buches veröffentlichten Dokumente sind, soweit nachprüfbar, exakt wiedergegeben. Problematischer sieht es mit den Zeitzeugenaussagen aus. Die von Groß erwähnte Korrektur der Aussagen durch die Methode der Gruppenbefragung wird dadurch relativiert, dass der Kreis der Befragten tendenziös auf die 1945 an der Machtübernahme beteiligten Kommunisten beschränkt blieb. Beim öffentlichen Erinnern in einer Diktatur lässt das Wissen um die gewünschten Aussagen, vorurteilsloser Betrachtung, auch von selbst Erlebtem, wenig Raum. Das kann die Aussage verfälschen.

Aus den Dokumenten und Befragungsergebnissen entwickelte Werner Groß den Ablauf der Ereignisse. Er beschrieb das Zusammentreffen der Kommunisten am 11. Mai 1945, die Konstituierung des Aktionsausschusses und dessen Bewaffnung, die Okkupation des Rathauses und die Absetzung des Bürgermeisters Rietzsch, unter dem Vorwand, dieser habe eine Bürgerwehr gebildet, um die faschistische Ordnung aufrecht zu erhalten. Groß schilderte die Aktivitäten des Aktionsausschusses, die Bildung einer antifaschistischen Polizei, die Aushebung geheimer Lebensmittellager, den bewaffneten Kampf gegen in den Wäldern versprengte Wehrmachts- und SS-Truppenteile sowie Werwolfbanden, die Verhaftung führender Nazis, die Befreiung der Zwangsarbeiter, die Rückführung der Flüchtlinge und Evakuierten, die Übernahme von Post, Bahn und Betrieben, die Gründung der Antifa-Bewegung und vor allem die bei der Lebensmittelbeschaffung zu bewältigenden Schwierigkeiten. Die Darstellung der Beziehung zu den entfernt stationierten amerikanischen und sowjetischen Besatzungsmächten folgte der in der DDR üblichen Sichtweise. Groß deklarierte die Briefe des Landrates Hänichen und des Beierfelder Pfarrers Beyer an die amerikanische Kommandantur mit der Bitte um Besetzung des Landkreises als verräterisch und reaktionären Plänen folgend. Die Verbindung des Aktionsausschusses zur sowjetischen Kommandantur beschrieb er uneingeschränkt freundschaftlich und das Einrichten der sowjetischen Kommandantur in Ort und Kreis sah er als die endlich erfolgte Unterstützung und Entlastung für den Aktionsausschuss an.

Die Kreisleitungen der SED in Schwarzenberg und Aue, und der Kulturbund der DDR, Ortsgruppe Aue, gaben eine Reihe von Schriften zur Heimatgeschichte heraus.18 Die Verfasser dieser Texte übernahmen die von Werner Groß geschilderten Ereignisse des Mai 1945. Sie bekräftigten, dass die Kommunisten auf die Nachkriegssituation nicht unvorbereitet waren und betteten das Handeln der Aktionsausschüsse in die Richtlinien des ZK der KPD vom 11. Juni 1945 ein. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügen die Schriften nicht. Soweit schriftliche Quellen überhaupt angegeben wurden, lassen sich diese meist nicht zuordnen. Der Hauptteil der Informationen stammt von denselben Zeitzeugen, die Werner Groß befragt hatte.

Eine Selektierung erfolgte neben der Quellenfilterung auch durch Auswahl der Herausgeber und Autoren. Alle Verfasser der genannten Schriften waren Mitglieder der SED, die Zugang zu den entsprechenden Akten erhielten. Herausgeber war die Partei selbst.

Johannes Arnold behandelte in seinem bereits erwähnten »Tatsachenbericht« vordergründig die Absetzung des Bürgermeisters, nannte jedoch keine Quellen. Der Bericht sowie der daraus entwickelte Roman Arnolds folgen den genannten Darstellungsmustern, die von der Heroisierung der Arbeiterklasse bis zur Verunglimpfung des Bürgertums und der Kirche reichen.

Helfried Wehner widmete dem unbesetzten Gebiet um Schwarzenberg und Stollberg ein Kapitel in seiner Habilitationsschrift von 1970.19 Er stützte seine Aussagen zu Schwarzenberg fast ausschließlich auf Werner Groß. Besonderen Wert legte er auf die Feststellung, dass die Aktionsausschüsse, ihre Mission kennend, bereits im Mai selbstständig nach den Direktiven des Aufrufes des ZK der KPD vom 11. Juni 1945 handelten.20 Wehner beschreibt die Absetzung des bisherigen Bürgermeisters Rietzsch durch die »entschlossene Haltung der Arbeiterwehr.«21 Das Belassen des Landrates Hänichen im Amt erklärte er als Fehler, da »er doch die von der faschistischen Partei betriebene volksfeindliche Politik« durchführte, obwohl er »formal nicht Mitglied der NSDAP gewesen war.«22

4.2. Die Heym-Version

Stefan Heym war als bekennender Kommunist mit der Politik der SED nicht immer einverstanden. 1984 erschien von dem in Ost-Berlin lebenden Schriftsteller in der Bundesrepublik der Roman Schwarzenberg.23 Darin projizierte er seine Utopie vom alternativen Sozialismus in das kleine, nach dem Krieg besatzungslos gebliebene Schwarzenberger Gebiet.

Im Kern seiner Handlung folgt der Roman den von Groß beschriebenen Begebenheiten sowie dem Roman von Johannes Arnold. Weitere Details erhielt Stefan Heym von Paul Korb, der 1945 die Leitung der städtischen Polizei übernommen hatte und deshalb offenbar als maßgebend sachverständiger Zeitzeuge angesehen wurde.

Divergent ist der Roman insofern, als Heym darin einen Konflikt konstruierte zwischen dem Utopisten, der die Hoffnung auf eine eigenständige, von jeglicher Besatzungsmacht unabhängigen sozialistischen »Republik Schwarzenberg« mit eigener Verfassung als reale Möglichkeit für den Landkreis gegeben sieht und dem auf den Kurs der Sowjetunion eingeschworenen, aus russischer Emigration heimgekehrten Stalinisten. Der Landkreis wird schließlich auch in Stefan Heyms Roman vom sowjetischen Militär besetzt und der Utopist verhaftet. Im Gegensatz zur SED-Legende brachte Heym der sowjetischen Besatzungsmacht jedoch nicht die uneingeschränkte Anerkennung entgegen. Er ließ Kritik an stalinistischen Verfolgungen sowie Verhaftungen anklingen und erwähnte ein mögliches Vorgehen gegen repatriierte Zwangsarbeiter seitens der Sowjetunion. Die als basisdemokratisch beschriebene Machtübernahme wurde vom real existierenden Sozialismus abgekoppelt und die Verwirklichung eines alternativen Sozialismus für möglich erklärt.

In der Darstellung des selbstlosen, selbstständigen, aufopferungsvollen und weitsichtigen Handelns der Kommunisten für eine gute Sache folgt der Roman dem DDR-Geschichtsbild. In sehr schlichter Weise bediente Heym noch 1985 die einfachsten kommunistischen Klischees vom beleibten, ausbeutenden Bürgertum in rosaseidener Unterwäsche und Negligees und vom armen selbstlosen Arbeiter, der, die historische Mission erkennend, ein Amt antrat und erstaunt beschämt vernahm, dass er dafür Lohn erhalten soll.

Unabhängig von seiner literarischen Qualität war der Bekanntheitsgrad des Romans wohl in erster Linie den deutsch-deutschen Verhältnissen und Heyms Position als Kritiker der DDR zuzuschreiben. Um als eindeutig romanhaft unwirklich beim Leser anzukommen, fehlt dem Roman das Phantastische. Die Vermischung von Utopie und Realität trägt dazu bei, dass Heyms Buch bis heute häufig nicht als Roman, sondern als Tatsachenbericht gelesen wird. Die Übernahme realer Handlungsabläufe und Personen für die Beschreibung einer möglichen Verwirklichung der Sozialismusutopie verstellte fortan den kritischen Blick auf die Tatsachen der kommunistischen Machtübernahme 1945.

Die lokalen Ereignisse erhielten durch Stefan Heyms Roman eine neue Dimension und erlangten große Bekanntheit, weit über Schwarzenberg hinaus.

4.3. Die Freie-Republik-Version

1995, fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und sechs Jahre nach dem Ende der SED-Herrschaft kolportierten Mitglieder eines Schwarzenberger Kunstvereins Stefan Heyms Utopie. Sie bauschten die von Heym noch sachlich benannte »Republik Schwarzenberg« zur Freien Republik Schwarzenberg auf und suggerierten somit ausschließlich Positives für das ehemalige Niemandsland. Um für sich selbst, ihr Lokal und die Stadt Schwarzenberg zu werben, schufen sie eine zum Vermarkten gut geeignete Vergangenheit. Sie erklärten das in der Nachkriegszeit unbesetzt gebliebene Gebiet zum Kuriosum, veranstalteten Spektakel und Aktionen, wie beispielsweise eine nachgestellte Verhaftung des damaligen Bürgermeisters Ernst Rietzsch, offensichtlich ohne jeden Zweifel an deren Rechtmäßigkeit. Besonders würdigten sie das selbstständige und unbürokratische Handeln der so genannten Aktivisten der ersten Stunde im Mai 1945. 1996 richtete der Kunstverein in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung Schwarzenberg einen Lehrpfad mit begleitendem Textheft unter der Überschrift »Auf den Spuren der Freien Republik« ein. Eigene Recherchen lagen diesem Projekt kaum zugrunde. Im Begleitheft wurden die Bilder der SED-Legende mit Heyms Utopie vermischt und Folgendes geschlussfolgert: »42 Tage einer ganz besonderen Freiheit gehen am 25. 6. 1945 zu Ende, als der Kommandant Popow […] einzieht.«24

Der Begriff und mit ihm die Legende von der Freien Republik Schwarzenberg hatte nunmehr offiziell Akzeptanz erfahren und wurde in Folge zunehmend ohne nach Hintergründen zu fragen auch überregional verbreitet. Journalisten, Exotisches und Kurioses suchend, fühlen sich bis heute von der Legende angezogen.25 Sie schöpfen ihre Informationen aus den Darstellungen des Kunstvereins und aus den Erzählungen Paul Korbs.26 Oft wird zeitlich später Liegendes in die sechs Wochen verlagert, wenn es dem Mythos dient.

Die Kolportage bekam eine Eigendynamik. Der Bau einer freiheitlich-demokratischen, gerechten und autonomen Ordnung blieb nicht mehr die Idee eines Romans, verbunden mit dem Glauben an deren Verwirklichung, sondern wurde zunehmend als historische Wahrheit von Schwarzenberg geschildert. Die Grenze von Utopie und Realität verwischte sich derart, dass im Folgenden nicht mehr erkennbar ist, was wirklich war und Zweifel immer weniger gehegt werden.

Der Begriff Freie Republik Schwarzenberg wurde fortan mit Selbstverständlichkeit verwendet. Lokale Einrichtungen nutzen ihn für Werbezwecke. Schwarzenberger Schulen übernahmen ihn kritiklos und beteiligen sich somit an der Verbreitung der Legende. Nicht nur auf lokaler Ebene wurde und wird am Mythos gewebt. Die Universität Bayreuth warb 1995 im Internet für das Kreisgebiet als Ausflugsziel mit den Worten: »In Schwarzenberg […] bildete sich am 11. Mai die erste Demokratie auf deutschem Boden nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Freie Republik Schwarzenberg!«27 Selbst in anerkannten Reiseführern wie im Baedeker werden die Nachkriegsereignisse von Schwarzenberg als kurios bezeichnet. Der Ort sei vergessen worden, ein von »beherzten, nicht als Nazis belasteten Bürgern« gebildeter Aktionsausschuss regierte, bis es »mit dem Einrücken der Sowjetarmee […] vorbei [war] mit der ›Freien Republik Schwarzenberg.‹«28

Was 1984 noch eine vom Autor klar abgegrenzte politisch motivierte Romanidee war, verließ die Zwischenstufe des lokalen Vereinsspektakels, verselbstständigte sich und ging als außergewöhnliches und wahrhaftiges Geschehen in die Geschichte ein.

4.4. Die PDS-Version

Im Mai 1995 organisierten verschiedene der PDS nahestehende Vereine29 unter dem Leitspruch »Hoffnung auf ein neues Deutschland« in Schwarzenberg ein Kolloquium. Im Mittelpunkt stand das 1945 besatzungslos gebliebene Gebiet um Schwarzenberg. Teilnehmer waren unter anderem Stefan Heym, Werner Groß und Paul Korb. Einige Redebeiträge wurden 1997 unter dem Titel »Republik im Niemandsland« veröffentlicht.30 Die Beiträge zum Thema Schwarzenberg setzen die SED-Legende fort, jedoch mit dem feinen Unterschied, dass die Autoren, Fehler eingestehend, sich inzwischen vom real existierenden Sozialismus lösten. Sie setzten sich mit Stefan Heyms Utopie in zustimmendem Sinne auseinander, während sie die Freie-Republik-Legende als Phantasiegebilde und nicht der historischen Wahrheit entsprechend ablehnten. Dabei errichteten sie ein Konstrukt, welches der PDS eine neue Identität zu verleihen scheint, indem sie deren Herkunft in vermeintlich alternativen Ansätzen suchten. Sie wollten beweisen, dass der Autonomie der Aktionsausschüsse zum einen durch die aus Moskau zurückkehrende Gruppe Ulbricht und zum anderen durch den Einmarsch der Besatzungstruppen ein Ende gesetzt worden war.

Werner Groß beurteilte 1995, im Gegensatz zu 1961, die Errichtung der Sowjetischen Kommandantur sehr zurückhaltend und verlagerte das Gewicht auf die vollbrachten Leistungen des Aktionsausschusses: »Als das Kreisgebiet in die sowjetische Zone eingegliedert wurde […] fand die Besatzungsmacht funktionstüchtige Strukturen vor, die in ihrem antifaschistisch-demokratischen Charakter bereits eine beachtliche Reife erreicht hatten.«31 Deutlicher noch äußert sich der Heimatforscher Peter Bukvič: »Dabei zeigen die Fakten eindeutig, daß aus einer antifaschistischen Bewegung eine basisdemokratische Selbstverwaltung entstand, […] Was Stefan Heym in Schwarzenberg dichterisch gestaltete, es wurde von der gesellschaftlichen Praxis noch übertroffen […]«32 Die ausführlichste Erklärung für eine zur späteren DDR gegenläufige Entwicklung im besatzungslosen Schwarzenberg lieferte Jochen Czerny.33 Er beschrieb eine »Unterordnung der aus der Illegalität hervortretenden Kommunisten unter die Moskauer Gruppe des ZK«34 und versuchte, diese Unterwerfung auch für den Schwarzenberger Aktionsausschuss zu reklamieren, stellte aber gleichzeitig selbst fest, dass es im Schwarzenberger Gebiet keine Nachweise für Konflikte oder Differenzen bei der Auflösung der Aktionsausschüsse gab. Zwar erachtete er die Eingliederung des unbesetzten Gebietes in die SBZ als notwendig, da solch ein kleiner Bezirk nicht überlebensfähig sei, beschrieb jedoch die sowjetische Besatzung als Störung des begonnenen Aufbaus sowie im Eigeninteresse der Sowjetunion liegend: »So gab auch die UdSSR tradierten politischen Strukturen den Vorzug vor einem neuen, schlechter lenkbaren, ja unberechenbaren Räte-Regime.«35 Czernys Schlusssatz: »Wie auch immer: Daß aus solchen Republiken die DDR hervorgegangen wäre oder die BRD, ist unwahrscheinlich«36, trifft den Grundtenor des Kolloquiums.

Der Unterschied zwischen den vier Versionen der Legende liegt, dem jeweiligen gesellschaftlichen Ziel und Zweck entsprechend, lediglich in der Darstellung der Beziehung zur einrückenden Besatzungsmacht und zu den heimgekehrten Moskauer Emigranten. Zum einen werden Besatzungsmacht und Emigranten als Hilfe zur Fortsetzung der vom Aktionsausschuss bereits begonnenen politischen Veränderungen beschrieben. Andererseits werden sie als Zerstörer der aus der besonderen Situation heraus basisdemokratisch geschaffenen Grundlagen gewertet.

Übereinstimmend wird beschrieben, dass in den sechs Wochen, die der Landkreis ohne Kreis- und Ortskommandanturen erlebte, eine kleine Personengruppe aus eigener Initiative in unermüdlich selbstlosem Tätigsein die Verwaltungsgeschäfte übernahm, die Gegend vor dem Chaos bewahrte und eine demokratische sozialistische Ordnung aufzubauen begann.

Die PDS sowie die Anhänger der Heymschen Utopie sind heute gleichermaßen bestrebt, die damaligen Akteure auf die Seite der Kritiker des DDR-Sozialismus zu ziehen, um ihre eigene Legende darauf aufbauen zu können. So werden in manchen Beschreibungen die Kommunisten entpolitisiert, einfach zu »Erzgebirglern«37, und Gerüchte, dass Paul Korb in einem Stalin-Lager gesessen habe oder in der DDR angeblich wegen staatsfeindlicher Hetze inhaftiert gewesen sei38, beziehungsweise 1982 von Partei und Staatssicherheit gemaßregelt worden wäre, nachdem Stefan Heym Gespräche mit ihm geführt hatte39, rücken in Berichten häufiger in den Vordergrund.

Das jedoch sind schwerwiegende Entstellungen und Verkehrung der Tatsachen, denn Paul Korb war seit Dezember 1956 bis zum Sturz des SED-Regimes 1989/90 ununterbrochen als inoffizieller konspirativer Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) tätig.40 Korb arbeitete 1982, als Stefan Heym in Schwarzenberg recherchierte, mit dem Staatssicherheitsdienst zusammen. Falsch ist auch die Behauptung über Korbs Verhaftung wegen staatsfeindlicher Hetze. Seine kurzzeitige Verhaftung im Jahre 1949 erfolgte nicht aufgrund politischer, sondern wegen krimineller Vorwürfe.41

Während also die Darstellung der Kommunisten Änderungen zu deren Gunsten erfährt, wird kontinuierlich ohne Bedenken von Bericht zu Bericht die Entmachtung und Verhaftung des damaligen Bürgermeisters Ernst Rietzsch übernommen, gewissermaßen stellvertretend für den Sturz des NS-Regimes. Ohne Ansehen und Prüfung der jeweiligen Personen wird polarisiert und nach wie vor anhand verbreiteter Vorurteile eine Wertung getroffen. Den Kommunisten wird, die Realität ignorierend und gemessen an der Utopie, Rechtschaffenheit und Idealismus zugestanden, dem in der NS-Diktatur Tätigen hingegen von vornherein Mittäterschaft unterstellt.

Historiker und Literaten verarbeiten weiterhin die Interpretationen der Tatsachen. Norman Naimark kolportierte in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen, sich auf Heym beziehend, die Legende und ordnet sie ein als »Experiment, [was] in die DDR-Mythologie vom demokratisch-sozialistischen Widerstand einging.«42

Volker Braun schürfte in seinem im Juli 2004 erschienenen Buch ebenfalls nicht tief genug »im schwarzen Berg«43 und setzte darin den Protagonisten wohlwollend ein weiteres Denkmal. Auch er lässt »nach zweiundvierzig Tagen mit dem Einzug der Roten Armee und der gewollten Unterwerfung der Bevölkerung unter die neue Ordnung« die »herrschaftslose Zeit«44 enden. Volker Brauns literarische Notizen entbehren in ihrer Mehrschichtigkeit nicht einer leisen Ironie, sind reich an Zwischentönen und eingeflochtenen Zweifeln. Doch bezieht auch er die »herrschaftslose Zeit« lediglich auf das Fehlen der alliierten Besatzungsmächte, außer Acht lassend, dass die damaligen kommunistischen Akteure dem Gebiet nicht Freiheit und Selbstbestimmung brachten, sondern dass sie selbst die seit langem schon in ihren Köpfen fremdbestimmten neuen Herrscher waren.

5. Die Ereignisse und ihre Akteure – Schwarzenberg in der besatzungsfreien Zeit

5.1. Die Lage

Mit dem Kriegsende war in Deutschland die Reichsregierung aufgelöst worden. Die bisherigen Verwaltungs- und Parteistrukturen zerfielen weitgehend. Die auf kommunaler Ebene verbliebenen Behörden waren aufgrund der Kriegsfolgen kaum handlungsfähig.

Die Mitglieder der Dresdner Landesregierung waren nach der Kapitulation untergetaucht. Ein Teil hatte sich nach Oberwiesenthal in ein Sporthotel abgesetzt.45