20,99 €
Spätestens als Donald Trump 2019 als erster amtierender US-Präsident nordkoreanischen Boden betrat, fiel der Weltöffentlichkeit eine Frau an der Seite des nordkoreanischen Diktators auf: Kim Jong Uns Schwester und die Person, der er vertraut wie keiner anderen. Sie gibt sich charmant und wird gerne als Hoffnungsträgerin und Friedensbotschafterin gesehen. Dass sie aber vor kaum etwas zurückschreckt, hat sie in den vergangenen Jahren in ihrer Rolle als Chefpropagandistin ihres Bruders vielfach bewiesen. Sung-Yoon Lee enthüllt die Wahrheit über die ebenso schillernde wie skrupellose Schwester des nordkoreanischen Diktators und bietet einen packenden Blick hinter die Kulissen eines der grausamsten Regime der Welt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 363
Sung-Yoon Lee
Die Geschiche der gefährlichsten Frau der Welt
Sachbuch
Aus dem Englischen von Alexander Weber
Für meinen Mentor Professor John Curtis Perry
Kim Il Sung: Gründervater Nordkoreas und der »Paektu-Blutlinie«. Großvater von Kim Yo Jong. Gestorben 1994.
Kim Jong Il: Kim Il Sungs Sohn und von 1994 bis zu seinem Tod 2011 Oberster Führer Nordkoreas. Vater von Kim Jong Un und Kim Yo Jong.
Kim Jong Un: Sohn von Kim Jong Il und seit 2011 Oberster Führer. Älterer Bruder Kim Yo Jongs.
Kim Yo Jong: Tochter von Kim Jong Il und jüngere Schwester Kim Jong Uns.
Kim Jong Chol: Sohn von Kim Jong Il und älterer Bruder Jong Uns und Yo Jongs.
Kim Ju UnoderJu Ae: Tochter von Kim Jong Un. Geboren ca.2010.
Hong Il Chon: Erste Ehefrau Kim Jong Ils. Heirat 1966, Trennung jedoch kurz nach der Geburt Kim Hye Kyongs.
Jang Song Thaek: Ehemann von Kim Kyong Hui und langjährige Nummer zwei nach Kim Jong Il. 2013 oder 2014 hingerichtet.
Kim Chun Song: Jüngere Tochter von Kim Jong Il und Kim Yong Suk. Halbschwester von Jong Un und Yo Jong.
Kim Hye Kyong: Erstgeborenes Kind von Kim Jong Il. Ihre Mutter ist Hong Il Chon.
Kim Jong Nam: Kim Jong Ils ältester Sohn und Kind von Song Hye Rim. Früher als vom Vater auserwählter Nachfolger gehandelt. 2017 auf Befehl seines jüngeren Halbbruders Jong Un ermordet.
Kim Kyong Hui: Jüngere Schwester Kim Jong Ils.
Kim Sol Song: Ältere Tochter von Kim Jong Il und Kim Yong Suk. Halbschwester von Jong Un und Yo Jong.
Kim Yong Suk: Zweite Frau von Kim Jong Il. Mutter von Sol Song und Chun Song.
Ko Yong Hui: Kim Jong Ils Lebensgefährtin. Mutter von Jong Chul, Jong Un und Yo Jong.
Ri Sol Ju: Ehefrau Kim Jong Uns.
Song Hye Rim: Geliebte von Kim Jong Il und Mutter von Kim Jong Nam.
Choe Hwi
Choe Son Hui
Choe Thae Bok
Hyon Song Wol
Jo Yong Won
Kim Chang Son
Kim Hyok Chol
Kim Jong Gak
Kim Ki Nam
Kim Song Hye
Kim Yang Gon
Kim Yong Chun
Kim Yong Nam
Pak Jong Chon
Ri Myong Je
Ri Son Gwon
Ri Yong Ho
U Dong Chuk
Kim Dae Jung (1998–2003)
Roh Moo Hyun (2003–2008)
Lee Myung Bak (2008–2013)
Park Geun Hye (2013–2017)
Moon Jae In (2017–2022)
Yoon Suk Yeol (2022–heute)
Cho Myoung Gyon: Wiedervereinigungsminister von 2017 bis 2019
Chung Sye Kyun: Premierminister während Moon Jae Ins Präsidentschaft
Unter einem nebelverhangenen Februarhimmel setzte ein Flugzeug zum Landeanflug auf den internationalen Flughafen Incheon in Südkorea an. In der Maschine saßen dreiundzwanzig Passagiere – fünf Regierungsvertreter, drei Journalisten, der Rest Leibwächter. Doch eine Passagierin war wichtiger als alle anderen.
Am 9. Februar 2018 um 13.46 Uhr koreanischer Zeit setzte die Iljuschin 62 sowjetischer Bauart auf, die Chammae-2 (»Habicht-2«), der nach dem Nationalvogel Nordkoreas benannte Privatjet des nordkoreanischen Führers. Es war das erste Mal, dass ein Abkömmling der »Paektu-Blutlinie«, wie sich die direkten Nachfahren des nordkoreanischen Staatsgründers Kim Il Sung bezeichnen, einen Fuß auf südkoreanischen Boden setzte, das erste Mal seit dem Staatsgründer Nordkoreas selbst, im Juli 1950, einen Monat, nachdem er mit seinen Truppen in den Süden einmarschiert war. An Bord befand sich jedoch nicht der derzeitige nordkoreanische Führer Kim Jong Un, und dies war eine völlig andere Art von »Invasion« – eine, die vom Großteil aller Südkoreaner freudig begrüßt wurde.
Nach der Landung verbrachte die Maschine noch neun Minuten auf dem Rollfeld, bis sie das Gate erreicht hatte. Zuschauerinnen und Zuschauer, die unbedingt die ersten Fernsehbilder der so bedeutsamen Persönlichkeit erhaschen wollten, mussten sich anschließend weitere fünfunddreißig Minuten einzig mit dem Umriss des geparkten Flugzeugs begnügen: Auf dem Heckflügel prangte ein großer roter Stern, das Nationalwappen des Landes, über den Rumpf zog sich, auf Koreanisch, der lang gestreckte Schriftzug »Demokratische Volksrepublik Korea«.
Als sich eine Fluggastbrücke langsam auf die Maschine zubewegte, stöhnte der Nachrichtensprecher des großen südkoreanischen Senders, der live über die Geschehnisse berichtete, enttäuscht auf. Die Zuschauer würden nun doch nicht miterleben, wie die bedeutende Persönlichkeit glanzvoll der Maschine entstieg.
Das allererste Bild des Gastes flimmerte, je nach TV-Sender, erst vierzig Minuten nach Beginn der Übertragung über die Bildschirme. Der offizielle Leiter der nordkoreanischen Gesandtschaft, Kim Yong Nam, trat aus dem Flughafengebäude und stieg in die erste von zwei schwarzen Limousinen. Dann, im Schutze eines großgewachsenen nordkoreanischen Bodyguards und einer südkoreanischen Leibwächterin, marschierte eine zierliche junge Frau das Dutzend Schritte zum zweiten Wagen. Ihr Blick war gelassen, ihre Haltung kerzengerade, als würde ihr es nicht das Geringste ausmachen, im Mittelpunkt eines historischen Moments wie diesem hier zu stehen.
Es war so schnell gegangen, klagten die TV-Kommentatoren – und zudem war dieser flüchtige Anblick auch noch halb verdeckt gewesen von einem Gebäude. Schon selbst in diesen wenigen Sekunden waren einige Dinge klar geworden. Die Besucherin war bekannt dafür, dass sie sich nur dezent schminkte, wie ein Experte anmerkte – und doch schien sie nun ihr bislang auffälligstes Make-up zu tragen. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie sicher, dass sie es war? Dennoch war es aufregend, sinnierte der Experte, da die Dicke ihres Lidschattens etwas Positives bedeuten musste – nämlich, dass sie, im Rahmen ihrer Bemühungen um die innerkoreanische Verständigung, ihre Mission äußerst ernst nahm.
Als sich die Fahrzeugkolonne wenige Minuten später in Bewegung setzte, geriet auf der anderen Seite des Wagens, in dem die junge Frau saß, ein weiterer nordkoreanischer Leibwächter in den Blick und joggte zusammen mit dem ersten ein Stück neben der Limousine her, bevor beide in einen nachfolgenden schwarzen SUV sprangen. Ihr Ziel war die KTX-Bahnstation (Korea Train eXpress) innerhalb des Flughafenkomplexes, von der aus die Delegation mit Südkoreas topmodernem Hochgeschwindigkeitszug ostwärts nach Gangneung reisen würde. Die Fahrt mit diesem Zug würde den Besuchern die zahlreichen gravierenden Gegensätze zwischen den beiden koreanischen Staaten gewiss schmerzlich und hautnah vor Augen führen.
Die Fernsehsender spielten diese kostbaren Sekunden, als sie zum Wagen liefen, in Dauerschleife ab. Manche Kommentatoren identifizierten einige der nordkoreanischen Regierungsbeamten, die später aus dem Flughafen gekommen waren. »Aber Moment mal!«, platzte einer der Nachrichtensprecher heraus. »Wir haben noch ein früheres Video von ihr, im VIP-Raum!«
Der neue Clip, abermals schier endlos wiederholt, enttäuschte nicht. Endlich bot sich den Zuschauern ein guter Blick auf die Debütantin, als diese ihren mit Spannung erwarteten »Bühnenauftritt« im VIP-Empfangsraum des Flughafengebäudes absolvierte. Als Erstes erschien Kim Yong Nam in Begleitung seines südkoreanischen Gastgebers, des Wiedervereinigungsministers Cho Myoung Gyon. Nach wenigen Schritten hielt Kim mitten im Gehen inne und sah sich um, als hätte er ein wenig Angst, vor seiner bedeutenderen Kollegin zu laufen. Der Blick hatte zur Folge, dass alle zurückschauten, und dann, mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht, marschierte die Frau der Stunde herein. Kameras surrten. Ihre Haltung noch immer kerzengerade, die Augen unverwandt auf zwei oder drei Fixpunkte im Raum gerichtet, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, sie wäre aufgeregt oder gar ängstlich.
Es war Kim Yo Jong, die jüngere Schwester Kim Jong Uns – des »Obersten Führers« Nordkoreas. Ihr Bruder regiert wie ein absolutistischer Monarch, doch sie war keines der königlichen Geschwister, die im Grunde keine Macht besaßen, wie Jong Uns älterer Bruder Jong Chol. Spätestens seit 2014 hatte sie bereits das einflussreiche Ministerium für Propaganda und Agitation geleitet. Sie war ehrgeizig. Als jüngstes Kind Kim Jong Ils, Nordkoreas Machthaber der zweiten Generation, war sie von frühester Kindheit an verwöhnt und umschwärmt worden. Ihre Eltern nannten sie »Meine süße Prinzessin Yo Jong« oder »Prinzessin Yo Jong«. Ihr Vater hatte schon früh ihre Begabung und ihren politischen Weitblick erkannt. Und auch die Welt würde sie nun endlich kennenlernen.
Während die wichtigsten nordkoreanischen Abgesandten aus dem Flugzeug geleitet wurden, hatten die Fernsehkommentatoren die historische Bedeutung dieses Augenblicks betont und die Zuschauer über die voraussichtliche Reiseroute Kim Yo Jongs in den nächsten sechsundfünfzig Stunden informiert, auch wenn vieles noch nicht endgültig geklärt war. Eines jedoch war sicher: Das wichtigste Ereignis war Kim Yo Jongs für den nächsten Tag geplanter Besuch beim südkoreanischen Präsidenten Moon Jae In im Blauen Haus, dem Amts- und Wohnsitz des Regierungschefs, mit anschließendem Mittagessen. Vielleicht würde sie einen Brief ihres Bruders überbringen? Vielleicht würde Kim Jong Un darin ja sogar vorschlagen, dass sich die beiden Staatschefs irgendwann einmal persönlich treffen? Ein innerkoreanisches Gipfeltreffen, das erste seit über einem Jahrzehnt – wie aufregend das doch wäre, ja, womöglich eine Aussicht auf Frieden auf der koreanischen Halbinsel? (Tags darauf überbrachte sie tatsächlich einen solchen Brief.)
Auch wurde bestätigt, dass die nordkoreanische Delegation später am Abend an der Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele in Pyeongchang an der Ostküste teilnehmen würde, rund zweieinhalb Stunden mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Incheon entfernt. Die Ironie der Geschichte, dass Kim Yo Jong in Incheon landen sollte, konnte der Abordnung nicht verborgen geblieben sein – ausgerechnet jener Stadt an der Westküste der Halbinsel, wo 1950 eine bedeutende Militäroperation im Koreakrieg das Blatt zuungunsten Pjöngjangs gewendet hatte. An diesem Abend würden die Nordkoreaner zum ersten Mal mit Präsident Moon zusammentreffen, wenn auch nur zu einem Fototermin. Als offizieller Delegationsleiter würde der neunzigjährige Kim Yong Nam am Empfang vor der Eröffnungsfeier samt Abendessen teilnehmen und sich ein wenig unter die anderen Staats- und Regierungschefs mischen; Kim Yo Jong würde erst später zur eigentlichen Eröffnungszeremonie erscheinen. Sie würde in der Ehrenloge auf der Tribüne sitzen, vermutlich ganz in der Nähe von Präsident Moon.
Der südkoreanische Gastgeber hatte viele internationale Würdenträger zu empfangen: US-Vizepräsident Mike Pence, den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, den außerhalb Europas nur wenige kannten, den japanischen Premierminister Shinzo Abe, den viele Südkoreaner hassten, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees Thomas Bach, der sich sehr über die Anwesenheit der Nordkoreaner freute, sowie andere, für die wohl weniger auf dem Spiel stand. Bei der Zeremonie würden die Sportler beider koreanischer Staaten gemeinsam unter einer einzigen blauen Halbinselfahne einlaufen – eine Symbolik, die auch nach einem historischen innerkoreanischen Handschlag zwischen Kim Yo Jong und Moon Jae In verlangte. Vielleicht würden Kim Yo Jong und Kim Yong Nam ja nur ein paar Plätze entfernt von südkoreanischen Präsidenten sitzen? Oder gar in der Nähe des US-Vizepräsidenten? Vielleicht würde sie, wenn alle ihre Plätze einnahmen, an Mike Pence vorübergehen müssen, oder er an ihr? Würden diese beiden sich vielleicht am Ende gar die Hand geben? Was für ein besonderer Moment das doch wäre.
Im VIP-Raum des Flughafens wiesen die südkoreanischen Gastgeber Kim Yong Nam den mittleren Platz gegenüber von Minister Cho zu, dem Leiter des Empfangskomitees. Doch der versierte Neunzigjährige kannte seine Position und bedeutete der dreißigjährigen Prinzessin, an seiner statt den Hauptplatz einzunehmen. Mit einem breiten großmütigen Lächeln wies sie mit ihrer linken Hand auf den Mittelplatz, um dem Älteren den Vortritt zu lassen. Dieser protestierte verhalten; sie aber öffnete nur leicht die Handfläche, sah ihn milde an und schenkte ihm ein beschwichtigendes Lächeln. »Wie liebenswürdig sie doch ist«, überschlugen sich die südkoreanischen TV-Experten förmlich vor Begeisterung, ohne zu bemerken, dass Kim Yo Jongs ausgestreckte Finger weniger eine Geste des Respekts darstellten als die Anweisung der Chefin an ihren Untergebenen, sich gefälligst hinzusetzen. Hätte ihre Geste tatsächlich Hochachtung vor dem Alter ausdrücken sollen, dann hätte Kim Yo Jong sie mit beiden Händen und leicht gekrümmten Fingern ausgeführt.
Herrschsucht, Autorität und Überheblichkeit, von klein auf anerzogen, sind der Bescheidenheit nicht unbedingt zuträglich, außer wenn der Anlass sie erfordert. In diesem Augenblick strahlte sie eher gelassene Arroganz aus als Respekt. Drei Monate später dagegen, als sie mit ihrem Bruder China besuchte, vollführte Kim Yo Jong für den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping bereitwillig eine tiefe, fast rechtwinklige Verbeugung, die sie bei Xis Besuch in Pjöngjang im Juni 2019 wiederholte. Dem chinesischen Staatschef musste Respekt gezollt werden. Südkoreaner allerdings waren ihre Untergebenen. Die Paektu-Königsfamilie stellte die wahren Führer Koreas, während der Süden kaum mehr als eine Marionette der Vereinigten Staaten war. Schließlich trug die Dynastie ja auch den Namen jenes sagenumwobenen Berges, auf dem laut offizieller nordkoreanischer Geschichtsschreibung Kim Il Sung einst jenes Feldlager aufgeschlagen hatte, von dem aus er 1945 die japanischen Kolonialisten bezwungen und anschließend den nordkoreanischen Staat gegründet hatte. Und selbst ein altgedienter Funktionär wie Kim Yong Nam würde rangmäßig stets unterhalb der Enkelin von Kim Il Sung rangieren.
In diesem Augenblick jedoch hatten viele Südkoreaner, die all das in der Schule gelernt hatten, dies schlagartig vergessen. »Sie ist nicht nur hübsch, sondern auch höflich!«, lobhudelten die Kommentatoren feierlich, wobei sie in diesem seltenen, aufregenden Moment übersahen, dass Kim Yo Jongs »schlichtes und bescheidenes Erscheinungsbild« das Resultat eines hochprivilegierten Lebensstils und einer einstudierten königlichen Etikette war. Wie ihr Bruder wusste auch sie, wie man in der Öffentlichkeit das richtige Maß herrschaftlicher Attitüde an den Tag legte.
Kim Yo Jong nahm zur Rechten Kim Yong Nams Platz. Links von ihm saß Ri Son Gwon, ein grobschlächtiger Armeeoberst, den man zum Vorsitzenden des Komitees zur friedlichen Wiedervereinigung des Vaterlandes gemacht hatte – jener nordkoreanischen Behörde, die vorrangig für die Gespräche mit dem Süden zuständig war –, und der im Januar 2020 zum Außenminister befördert werden sollte. Zur Rechten Kim Yo Jongs saß ihr einstiger Untergebener im Ministerium für Propaganda und Agitation, Choe Hwi, derzeit Vorsitzender der staatlichen Lenkungskommission für Körperkultur und Sport. Wie Kim Yo Jong selbst hatte das US-Finanzministerium im Januar 2017 auch ihn aufgrund »ernsthafter Menschenrechtsverstöße und Zensurmaßnahmen«[1] des nordkoreanischen Regimes mit Sanktionen belegt. Themen wie diese wurden weder vor, während, noch nach dem besonderen Besuch angesprochen.
Die Tischgesellschaft bot ein etwas merkwürdiges Bild, da die Nordkoreaner über ihren Anzügen die Wintermäntel anbehielten. Die südkoreanischen Regierungsvertreter hätten gewiss angeboten, ihnen die Mäntel abzunehmen, doch die Gäste aus dem Norden – die ihre Mäntel auch bei ihrem eigenen Stab hätten lassen können – hätten wohl höflich abgelehnt, nicht etwa, weil ihnen im Flughafen kalt war, sondern um zu zeigen, dass sie lieber rasch weiterreisen wollten und diesen Fototermin lediglich als Geste guten Willens über sich ergehen ließen. Kim Chang Son, Kim Jong Uns oberster Sekretär bei der Kommission für Staatsangelegenheiten, der gelegentlich nordkoreanische Delegationen bei Gesprächen mit dem Süden anführte und auf der Reise vor allem dafür zuständig war, die Prinzessin zu hofieren, blieb an der Tür stehen. Der vertrauenswürdige – und somit mächtige – Butler der Königsfamilie diente ihnen schon seit Jahrzehnten.
Minister Cho machte ein wenig Small Talk und merkte an, dass es plötzlich wärmer geworden sei. »Die sehr wichtigen Gäste aus dem Norden haben Südkorea warmes Wetter gebracht«, verkündete er mit einem Lächeln. Und tatsächlich waren es für den Winter in Korea milde 7 °C. Kim Yo Jong saß, mit geradem Rücken und beachtlich ausdrucksloser Miene, schweigend da. Auf der anderen Seite des Tisches behielten ihre südkoreanischen Gastgeber ihr breites Grinsen bei.
Kim Yo Jong trug einen schwarzen Mantel mit breitem Pelzkragen und Pelzbesatz an den Ärmeln, dessen einzige Verzierung ein großer runder Knopf unter dem offenen Halsausschnitt war. Dazu weder Halskette noch Ohrringe, keine Ohrlöcher, über der linken Schulter eine schwarze Handtasche. Eine leise Spur pfirsichfarbenen Lidschattens war zu erahnen, ebenso wie ein Hauch von Eyeliner. Helle pfirsichfarbene Leggings und schwarze Pelzstiefel wurden gesichtet. Erst später ließ sich bestätigen, dass sie zwar eine silberne Uhr, doch keine Armreifen trug. Wie aufschlussreich ihr schlichter Modegeschmack doch war, seufzten die Reporter verzückt. Laut der Washington Post bestaunten die Zuschauer Kim Yo Jongs »zurückhaltendes Make-up und den Verzicht auf glamourösen Schmuck. Sie kommentierten ihre schlichten schwarzen Outfits und ihre unscheinbare Handtasche. Ihnen fiel die blumenförmige Spange auf, mit der sie ihr Haar in nüchtern-strengem Stil zurücksteckte.«[2]
Eine weitere Nahaufnahme Kim Yo Jongs, die in Endlosschleife auf den südkoreanischen Sendern lief, war ihre Fahrt auf der Rolltreppe im Flughafen von Incheon. Kim Yong Nam war der erste Nordkoreaner, den man auf der Treppe sah, mit seinem typisch steifen, fahlen Lächeln und von zwei Leibwächtern flankiert. Dann kam Kim Yo Jong, von drei nordkoreanischen und einem südkoreanischen Leibwächter umgeben, mit emporgerecktem Kinn, der Aura eines Laufstegmodels und starrem zielstrebigem Blick. Hinter ihr stand Kim Song Hye, eine der wenigen hohen Funktionärinnen im Komitee für die friedliche Wiedervereinigung des Vaterlandes, die schon an mehreren Gesprächsrunden mit Südkorea teilgenommen hatte und auch jener nordkoreanischen Gesandtschaft angehören sollte, die US-Präsident Donald Trump am 1. Juni 2018 im Weißen Haus besuchen sollte – nur elf Tage vor Trumps erstem Gipfeltreffen mit Kim Jong Un in Singapur. Es folgten Kim Chang Son und nach ihm die nominell hochrangigeren Regierungsbeamten Choe Hwi und Ri Son Gwon.
Diese Reihenfolge bot nicht nur eine Momentaufnahme von Kim Yo Jongs Position innerhalb der nordkoreanischen Delegation, sie zeigte auch eine Besonderheit der politischen Kultur in Nordkorea auf, in der offizielle Ränge und Titel oftmals wenig über wahre Hierarchien und Machtstrukturen aussagen, und das Leben von Ministern und Viersternegenerälen nicht selten von den Launen einer mit wahrer Macht versehenen Person von weit niedrigerem Rang abhängt. Kim Yo Jongs Stellung war natürlich einzigartig: Obwohl sie unter den 250 Angehörigen des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Koreas lediglich einen der untersten Ränge bekleidete, konnte sie nach Gutdünken die Hinrichtung eines jeden anderen Mitglieds anordnen – mit Ausnahme ihres Bruders. Gleichermaßen hatten Kim Chang Son und der Privatsekretär der Prinzessin, Kim Song Hye, weit mehr zu sagen als hochrangigere Funktionäre in der Abordnung wie Choe Hwi und Ri Son Gwon.
In den kommenden zwei Tagen versetzte die geheimnisvolle junge Prinzessin aus Pjöngjang ganz Südkorea in Verzückung, und das, obwohl sie kaum mehr tat, als zu gehen, zu sitzen, zu essen, gelegentlich etwas zu sagen, ab und an einmal zu lächeln, Hände zu schütteln, Mike Pence auf der olympischen Tribüne geflissentlich zu ignorieren und auf die Südkoreaner, mit denen sie zusammentraf – einschließlich des Präsidenten, nicht selten abschätzig herabzublicken. Sie gab keine einzige öffentliche Erklärung ab und auch keine Interviews.
Und dennoch war sie das Gesprächsthema des ganzen Landes und sorgte auch jenseits der Halbinsel für Aufsehen. Die Berichterstattung über Kim Yo Jong war von Beginn an maßlos übertrieben – von den ersten Augenblicken nach der Landung bis zu ihrem Abflug an Bord des Flugzeugs ihres Bruders am späten Abend des 11. Februar. Wie die Presse nicht müde wurde zu betonen, war dies der erste auf Einladung erfolgte Besuch eines Mitglieds des nordkoreanischen Königshauses in Südkorea. Die Welt, einschließlich Präsident Moon und seiner Beamten, kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Wo immer Kim Yo Jong auch hinging, entfachte sie eine an Fetischismus grenzende Faszination, begünstigt von ihrer Weiblichkeit und der Hoffnung vieler Südkoreaner, mit ihrem Bruder ins Gespräch zu kommen. Allein, dass sie im Süden überhaupt erschienen war, machte sie bereits zu einem internationalen Star. Selbsternannte Prinzessinnenexperten von Tokio bis Washington ließen sich über sie aus – ihren schnörkellosen Modestil, ihr royales Benehmen, ihre Bescheidenheit, ihre Zurückhaltung, ihre herrschaftliche Art, ihr Selbstbewusstsein und ihr süffisantes Mona-Lisa-Lächeln.
Sie selbst richtete keine direkte Botschaft an das südkoreanische Volk oder an die Welt. Doch sie überbrachte den persönlichen Brief ihres Bruders, in dem dieser Präsident Moon nach Pjöngjang einlud, was ihre Anwesenheit umso faszinierender machte. Die Frage, ob sich die Kim-Geschwister zunächst das weichste Ziel in ihrer geopolitischen Nachbarschaft auserkoren hatten – sprich denjenigen, der als gewählter Staatschef Südkoreas das Blaue Haus bewohnte –, um sich darüber dem etwas härteren Ziel zu nähern, nämlich US-Präsident Donald Trump, war dermaßen komplex, dass sie sich eigentlich erübrigte. Die Prinzessin vom Berg Paektu war da, hier in Südkorea! Ihre leibhaftige Anwesenheit, auf Schritt und Tritt bewacht und umgeben von der königlichen Leibgarde des Bruders, konnte nur bedeuten, dass die beiden koreanischen Staaten an der Schwelle eines epochemachenden Ereignisses standen. Ihr Besuch verhieß geringstenfalls Versöhnung und Frieden – womöglich gar eine letztendliche Wiedervereinigung.
Die sensationelle Optik überstrahlte für eine Weile die harte Realität. Denn die Mehrheit der Südkoreaner war nicht bereit, auch nur geringe finanzielle Opfer zu bringen, um die langfristigen wirtschaftlichen Kosten einer Wiedervereinigung zu tragen. Und die Wiedervereinigung, von der Kim Yo Jong und ihr Bruder träumten, würde nur unter ihren Bedingungen stattfinden: unter Führung der Kim-Dynastie, was im scharfen Kontrast zu den Wünschen der südkoreanischen Bevölkerung stand, die grundlegende Freiheitsrechte und relativen Wohlstand gewohnt waren. Doch in der Euphorie des Augenblicks solch nüchterne Einwände nur anzusprechen, wirkte schlichtweg ketzerisch.
Dass Kim Yong Nam mit seiner sechzigjährigen Erfahrung in hohen Regierungsämtern seit zwanzig Jahren zudem Vorsitzender des Präsidiums der Obersten Volksversammlung, Nordkoreas Scheinparlament, war, interessierte nur wenige Experten. Die meisten südkoreanischen Beobachter wussten, dass die wahre Macht bei der »First Sister« Nordkoreas lag. Und dass Kim Jong Un tatsächlich seine eigene Schwester schickte, so die Argumentation, konnte nur bedeuten, dass sie Frieden brachte.
Auch war der südkoreanischen Öffentlichkeit ganz instinktiv bewusst, dass das Wort des Obersten Führers in Nordkorea viel größeres Gewicht besaß als jedes geschriebene Gesetz und jeglicher Regierungsrang. Kim Jong Un war der Staat und sein Wort das heilige Gesetz. Doch was die Öffentlichkeit gemeinhin übersah, war, dass seine Schwester weit mehr war als nur hübsches Beiwerk bei den Parteiveranstaltungen des Bruders oder spontanen Besuchsterminen. Ihr Bruder war das offizielle Gesicht des Staates, doch sie war die oberste Zensorin, die Vollstreckerin. Kim Yo Jong besuchte die Olympischen Spiele weder als Touristin noch als Botschafterin. Die Schwester hatte einen Plan.
Dieses Buch wird Kim Yo Jongs Aufstieg nachzeichnen, angefangen mit ihrem Besuch in Südkorea. Ihre Stellung innerhalb der Regierung ist seither drastisch angewachsen – eine Entwicklung, die bereits seit 2009 abzusehen war. Ich werde zeigen, welch maßgebliche Rolle sie seither in der Staatsführung gespielt und wie sie unter Anwendung von Lehren ihres Vaters, Kim Jong Il, die Machtfülle ihrer Dynastie erweitert hat. Zur Zeit der Niederschrift dieses Buches ist in Nordkorea nur noch ihr Bruder mächtiger als sie, und das Schicksal der »Paektu-Blutlinie« könnte in ihren Händen liegen.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1948 ist die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) weder eine Demokratie noch eine Republik gewesen. Vielmehr war sie schon immer ein totalitäres Erbkönigreich im Gewand einer Demokratie, mit einer Verfassung, die angeblich alle Grundrechte gewährt und einer Regierung, die seit Mitte der fünfziger Jahre resolut jeden noch so geringfügigen Dissens mit Verbannung oder Tod bestraft. Die Macht vom Vater auf den Sohn zu übergeben, gilt im Kommunismus zwar als Ketzerei, doch die sogenannte kommunistische DVRK hat es schon zweimal getan: zum ersten Mal nach dem Tod von Kim Il Sung im Jahr 1994, und dann erneut nach Kim Jong Ils Tod im Jahr 2011. Legitimiert wird diese Erbherrschaft mit der angeblichen Großartigkeit der Paektu-Blutlinie.
Der Erste in der Paektu-Blutlinie war selbstverständlich Kim Il Sung, der Gründer der DVRK. Kim Il Sung, der seit den frühen dreißiger-Jahren als unbedeutender Partisan gegen die Japaner kämpfte, soll aus Stützpunkten am Fuße des Berges Paektu heraus operiert haben. Kim Il Sungs Aktionen gegen die japanischen Kolonialherren wurden von seinen Propagandisten später derart aufgebauscht, dass sie ihn zum größten Patrioten und Kriegshelden aller Zeiten stilisieren konnten. Dieses fiktive Narrativ bildete lange Zeit die ideologische Grundlage für seinen Herrschaftsanspruch und den seiner Nachkommen. Wie beim Erbrecht mittelalterlicher Könige leitet sich dieser von der Gnade Gottes ab. In Nordkorea, wo weder Religionsausübung noch die Verehrung einer Gottheit erlaubt sind, ist Kim Il Sung Gott. Zu seinen Lebzeiten war Kim Il Sung unfehlbar. Im Tode ist sein Vermächtnis so heilig, dass es von niemandem angefochten und in keinem Individuum außer seinen unmittelbaren Nachkommen verkörpert werden kann.
Der Paektu ist ein realer Ort, ein Stratovulkan mit einem atemberaubend schönen Kratersee, dem »Himmelssee« (koreanisch Cheonji; chinesisch Tianchi), der auf der Grenze zwischen dem nordkoreanischen Distrikt Ryanggang und der chinesischen ProvinzJilin liegt. Paektu ist die nordkoreanische Schreibweise desselben Berges, der in Südkorea als Baekdusan(»Weißkopf-Berg«), und in China als Changbaisan bezeichnet wird (»Immerweißer Berg« – da auf seinen Gipfeln die meiste Zeit des Jahres über Schnee zu sehen ist). Ursprünglich war die heutige, über 1300 Kilometer lange Grenze zwischen Korea und China unmarkiert. Im September 1909 jedoch, als Koreajapanisches Protektorat war und keine staatliche Autonomie besaß, schlossen Japan und China den sogenannten Gando-Vertrag (chinesisch Jiandao), auf dessen Grundlage der Himmelssee und die umliegenden Gipfel chinesisches Gebiet wurden.
In den frühen sechziger-Jahren, als in China die vom »Großen Sprung nach vorn« bewirkte Hungersnot herrschte und sich das Land in einer bedrohlichen Pattsituation mit der Sowjetunion und Indien befand, nutzte Nordkorea die Gelegenheit, um einen neuen Grenzvertrag auszuhandeln. Am 12. Oktober 1962 einigten sich die beiden kommunistischen Nachbarn auf einen neuen und für Nordkorea günstigeren Grenzverlauf. Sie teilten den Berg in etwa gleich große Teile auf, wobei Nordkorea mehr von der Caldera des Himmelssees erhielt (55,5 Prozent zu 45,5 Prozent). Zudem trat China rund 500 Quadratkilometer Land ab.[3] Es war ein großer Sieg für die nordkoreanische Diplomatie und beförderte den Paektu-Mythos weiter. In der koreanischen Schöpfungsmythologie wurde Dangun, der Stammvater des koreanischen Volkes, im Jahr 2333 v. Chr. auf dem Gipfel dieses Berges geboren. In der spezifisch nordkoreanischen Mythologie wiederum kam im Februar 1942, zur Zeit des heldenhaften Kampfes seines Vaters gegen die Japaner, an ebendiesem Ort – in einer Blockhütte an einem Bergausläufer nahe dem Himmelssee-Krater – auch Kim Jong Il zur Welt, der Kim-Herrscher der zweiten Generation.1[4] Im Jahr 1988 ließ Kim Jong Il einen der Berggipfel, den Jangsu-Gipfel, in »Jong-Il-Gipfel« umtaufen und den Namen in roter Schrift in den Felsen meißeln. Im Winter wirken der schneegekrönte Berg und sein eisbedeckter Kratergipfel geheimnisvoll und majestätisch, doch wehen dort die meiste Zeit des Jahres über beißend kalte »Messerwinde«, wie die Nordkoreaner sie nennen, die auf ewig den unbeugsamen Willen der Freiheitskämpfer unter Kim Il Sung verkörpern. Der Februar ist einer der kältesten Monate dort, und die Temperatur fällt in Gipfelnähe nicht selten unter –29 °C, manchmal sogar auf –50 °C. Folglich ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Kim Jong Ils Mutter einen derart unwirtlichen Ort für die Geburt ihres ersten Kindes auserkoren hätte.
Und natürlich hat sie das auch nicht: Denn Kim Jong Il wurde nicht dort geboren, sondern auf einem sowjetischen Militärstützpunkt im Fernen Osten Russlands, und auch nicht 1942, sondern am 16. Februar 1941, ja, nicht einmal als Kim Jong Il, sondern als Juri Irsenowitsch Kim.[5] Zu diesem Zeitpunkt war Kim Il Sung bereits der 25. sowjetischen Armee beigetreten.
Der Paektu wird in den Nationalhymnen beider koreanischer Staaten besungen. Er ist der berühmteste und symbolisch bedeutendste Berg in der koreanischen Geschichte. Beiderseits der Grenze betrachten die Koreaner ihn als Geburtsort der koreanischen Nation – der einzigartigen koreanischen ethnischen Identität mit ihrer eigenen Geschichte und Kultur, die sich dezidiert von ihrem gigantischen und nicht selten auch bedrohlichen Nachbarn China unterscheidet.
Aus diesem Grund haben nordkoreanische Machthaber stets die imaginären mythischen Qualitäten dieses Berges für ihre Zwecke genutzt und beschworen. Im nordkoreanischen Nationalwappen findet sich sein Abbild direkt unterhalb des fünfzackigen roten Sterns. Der Paektu wird oft als »Heiliger Berg der Revolution« bezeichnet. Kims »historischer Widerstandskampf«, den er von seinem Stützpunkt auf dem »Heiligen Berg der Revolution« führte, so übertrieben er auch dargestellt sein mag, liefert der despotischen Dynastie ihre wichtigste Legitimationsquelle. Noch einmal: Kim Il Sung war, so die nordkoreanische Erzählung, der größte Patriot und Kriegsheld, den es jemals gab. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jeder Spross der Dynastie einer symbolischen »Taufe« als Kind des Paektu unterzogen wird.
Das früheste Bild des heutigen Machthabers Kim Jong Un auf dem Berg Paektu – auf einem weißen Pferd mit einem silbernen Stern im Kopfhalfter – erschien im Jahr 2014. Es zeigt den jungen, kaum zehnjährigen Jong Un, wie er neben seinem Vater reitet. Das Foto stammt womöglich aus der Zeit um 1994, kurz nachdem Kim Jong Il infolge des Todes seines Vaters die Macht als Oberster Führer übernommen hatte.
Es war im November 2012, nicht ganz ein Jahr nach Kim Jong Uns Amtsantritt, als das Staatsfernsehen die damals fünfundzwanzigjährige Kim Yo Jong zeigte, wie sie neben Kim Kyong Hui, ihrer Tante väterlicherseits, auf einem weißen Pferd ritt. Beide Pferde trugen ein Kopfhalfter mit einem fünfzackigen Stern: dem Wahrzeichen der Kim-Dynastie sowie des Landes, über das sie herrscht. Beide Frauen gehörten der Paektu-Blutlinie an: Die eine war die Tochter Kim Il Sungs, der »Sonne des koreanischen Volkes«, die andere seine Enkelin. Doch während man Kim Kyong Hui als Funktionärin kannte, die über zwanzig Jahre lang die Leichtindustrieabteilung der Partei geleitet hatte, kannte Kim Yo Jong so gut wie niemand. Dass die Staatsmedien jedoch die jüngere Schwester des amtierenden Obersten Führers beim freudigen Ausritt mit ihrer Tante zeigten, war ein eindeutiger Hinweis, dass Kim Yo Jong künftig eine größere offizielle Rolle innerhalb der Dynastie spielen sollte. Es implizierte außerdem eine Verbindung zwischen beiden Frauen: Beide waren Prinzessinnen und Schwestern eines Obersten Führers. Zugleich waren die Unterschiede zwischen beiden so markant wie die zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Jeder Spross der »Sonne« wird eines Tages seinen Zenit erklommen haben, und die Tante hatte ihren bereits überschritten. Die junge Nichte allerdings wird ihren noch erreichen, und wie hoch sie einmal aufsteigt, kann noch niemand wissen.
Ein weiteres Anzeichen ihrer wachsenden Bedeutung kam im Oktober 2019, als Kim Jong Un und Kim Yo Jong dabei abgelichtet wurden, wie sie zusammen den Paektu emporritten. Die Tragweite dieser Bilder blieb damals nahezu unbemerkt, doch waren sie, wie ich in Kapitel 14 noch erläutern werde, ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Pläne, Kim Yo Jongs Rolle in der Regierung massiv auszuweiten, damals bereits beschlossen waren. Die Pandemie hat sie nur noch beschleunigt.
Im Gegensatz zu einer Hungersnot oder dem Einmarsch fremder Truppen tötet eine Pandemie Herrscher wie Beherrschte gleichermaßen. Selbst die sonst so unverwundbaren Erben des Paektu-Clans sind nicht vor ihr gefeit. Seit dem Ende des Koreakriegs im Jahr 1953 hat sich die nordkoreanische Herrscherfamilie noch nie einer ernsten existenziellen Bedrohung gegenübergesehen: keinem Volksaufstand, nicht einmal geplanten öffentlichen Protesten, die diesen Namen verdient hätten. Trotz unzähliger Scharmützel und permanenter Kriegsrhetorik wurde Nordkorea weder von den Vereinigten Staaten noch von Südkorea bisher angegriffen, von Fällen der Selbstverteidigung Südkoreas gegen bewaffnete Angriffe des Nordens einmal abgesehen. Zwischen 1965 und 1971 kam es südlich der militärischen Demarkationslinie, einschließlich der entmilitarisierten Zone (DMZ) sowie innerhalb der Republik Korea (die offizielle Bezeichnung für Südkorea), zu mehr als zweitausend Zwischenfällen, bei denen 395 Angehörige des UN-Kommandos ihr Leben verloren.[6] Und zwischen 1954 und 1992 schleuste der Norden etwa 3700 bewaffnete Agenten in den Süden ein, 20 Prozent davon allein in den Jahren 1967 und 1968, als die Kräfte der US-Armee im aussichtslosen Krieg in Vietnam anderweitig gebunden waren.[7]
Kim Yo Jong bei einer Kranzniederlegung im Ho-Chi-Minh-Mausoleum in Hanoi, Vietnam, am 2. März 2019.
Doch einen derart lautlosen, unsichtbaren und tödlichen Feind wie Covid hatte der nordkoreanische Führer noch nie erlebt, und um seine Gesundheit ist es ohnehin nicht gut bestellt. Wie sein Vater und Großvater leidet Kim Jong Un an Herzerkrankungen, Diabetes und Fettleibigkeit, und das sind nur die Gesundheitsprobleme, die man kennt. Falls er darüber hinaus nicht auch an Wahnvorstellungen leidet, sollte er eine Nachfolgeregelung, die im Falle seiner Handlungsunfähigkeit seine zuverlässigste Beraterin – sprich seine Schwester – an die Macht bringt, für die Sicherheit seines Landes, seiner Frau und seiner kleinen Kinder als unerlässlich ansehen.
Selbst in der streng patriarchalischen, von Männern dominierten Gesellschaft der Demokratischen Volksrepublik Korea stellt Yo Jongs Geschlecht kein Hindernis für eine potenzielle Herrschaft dar – es ist ihr Blut, das zählt, und alles andere in den Schatten treten lässt. Ihre Mutter war Ko Yong Hui, die Lieblingsgefährtin Kim Jong Ils, die ihm drei Kinder gebar. Das Älteste, der Sohn Jong Chol, erscheint zunächst zwar schon aufgrund seines Geschlechts als der wahrscheinlichere Nachfolger, doch ist er schon einmal als Erbe einfach übergangen worden und hat sich seit dem Tod des Vaters im Dezember 2011 nicht mehr mit Kim Jong Un in der Öffentlichkeit gezeigt. Ihr Halbbruder Jong Nam, der älteste Sohn unter den sieben Kindern, die Kim Jong Il mit vier verschiedenen Frauen gezeugt hat, fiel im Februar 2017 einem heimtückischen Attentat zum Opfer: Kim Jong Nam wurde auf dem internationalen Flughafen von Kuala Lumpur am helllichten Tag bei einem Anschlag mit chemischen Kampfstoffen ermordet. Auch keine ihrer drei älteren Halbschwestern haben je ein maßgebliches Amt in der Regierung bekleidet oder wurde öffentlich in einem solchen anerkannt.
Es heißt, Kim Jong Un habe drei kleine Kinder, einen Sohn und zwei Töchter. Im November 2022 präsentierte er ein etwa zehnjähriges Mädchen zum ersten Mal der Öffentlichkeit, und zwar bei einem alles andere als familienfreundlichen Ereignis: dem Start einer leistungsstarken ballistischen Interkontinentalrakete, die imstande wäre, jedes Ziel auf dem amerikanischen Kontinent zu treffen. Das Mädchen, das Berichten zufolge Ju Ae heißt, weist in ihren Gesichtszügen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Ri Sol Ju und ihrem Vater auf.2 Die nordkoreanischen Staatsmedien veröffentlichten mehrere Fotos, auf denen die Kim-Familie – Vater, Mutter, Tochter und Tante Yo Jong – vergnügt den Raketenstart beklatschen. Acht Tage später veröffentlichte Nordkorea noch mehr Bilder des Mädchens, die sie bei einem Pressetermin mit ihrem Vater zeigen, diesmal gekleidet und zurechtgemacht wie ihre Mutter. Der Anlass war ein Test der, so die Staatsmedien, »stärksten strategischen Waffe der Welt«.[8]
Kim Jong Uns offizielle Vorstellung der kleinen Tochter verleitete manche Beobachter zur Annahme, sie sei bereits zu seiner Nachfolgerin erwählt worden. Womöglich hat Kim sein Kind jedoch nur zu dem Spektakel mitgebracht, um sich über die demokratisch gewählten Machthaber in Washington und Seoul lustig zu machen, deren Amtszeiten begrenzt sind. Die Tochter ist ein Symbol dafür, dass er, im Gegensatz zu ihnen, seine Macht ein Leben lang behalten und zu gegebener Zeit an eines seiner Kinder weitergeben wird. Zudem muss Kim gedacht haben, dass das Nebeneinander einer mächtigen Rakete, die die USA mit Nuklearsprengköpfen treffen könnte, und einer trauten Vater-Tochter-Zweisamkeit bei seinen Gegnern unbewusst womöglich eine resignierte Akzeptanz seiner atomaren Waffen hervorrufen könnte: »Offensichtlich sorgt er sich um seine Tochter. Also wird er unmöglich einen Atomkrieg anzetteln. Vielleicht wird er mit der Zeit ja lernen, verantwortungsvoll mit seinen Atomwaffen umzugehen.«
Bei einem Bankett im Februar 2023 gewährte Kim Jong Un seiner Tochter den Mittelplatz zwischen ihm und ihrer Mutter, während mit Orden behangene Generäle in Paradeuniform die Kulisse für ein Familienfoto bildeten. Kurz zuvor war Kim mit seiner Tochter an der Hand auf den roten Teppich getreten, während seine Frau einen halben Schritt hinter ihnen ging. Die anwesenden Gäste jubelten und applaudierten so frenetisch, wie es das Ritual verlangte – alle bis auf eine, die mit den Händen an den Seiten dastand und milde lächelnd zusah: Kim Yo Jong. Sie war die einzige Person im ganzen Saal, die nicht unbändig zu klatschen brauchte. Wenige Tage später ließ Kim Jong Un seine kleine Tochter bei einer abendlichen Militärparade neben sich auf der Tribüne sitzen. Einmal sogar legte sie ihre kleinen schwarz behandschuhten Finger an das grinsende Gesicht des Vaters, was das Bild einer liebevollen Vater-Tochter-Beziehung weiter unterstrich.
Doch selbst, wenn Kim Jong Un die Tochter längst als geeignete Nachfolgerin auserkoren hat, wird es noch eine ganze Weile dauern, bis sie erwachsen ist und imstande sein wird, in ihrem eigenen Namen offizielle Erklärungen abzugeben oder eine Delegation nach Seoul oder ins Ausland anzuführen wie ihre Tante Yo Jong. Von den sieben Enkelkindern Kim Il Sungs in direkter Erbfolge bleibt somit allein die jüngste, Yo Jong, als Thronfolgerin übrig – zumindest bis weit in die dreißiger Jahre des 21. Jahrhunderts hinein. Ob sich Nordkoreas erste »Oberste Führerin« im Falle eines so abrupten Machtwechsels jedoch bis zur Volljährigkeit ihres Neffen oder ihrer Nichte mit der Rolle der Regentin begnügen wird, oder ob sie beschließt, selbst zu regieren – für den Rest ihres Lebens wie auch um zu überleben –, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die Geschehnisse des beißend kalten Winters 2013 sollten ihr aber womöglich eine Lehre sein und ihr zu denken geben: Auch Kim Jong Uns Onkel Jang Song Thaek hatte für den neuen jungen Führer zunächst zwei Jahre als Regent fungiert, doch als er in jenem Winter in dieser Rolle ausgedient hatte, bezahlte er dies mit seinem Leben. Unter dem jähen Vorwurf, ein verräterischer Konterrevolutionär zu sein und bei den offiziellen Veranstaltungen des Neffen »halbherzig geklatscht« zu haben, wurde Jang sämtlicher Ämter enthoben und hingerichtet – just zur gleichen Zeit, oder nur kurz danach, als die digitale Entfernung seiner Person aus Bildern und Artikeln abgeschlossen war.
Angesichts dieser Onkel- und Brudermorde wird sich Kim Yo Jong jede ihrer Handlungen wohl genauestens überlegen.
Zumindest ist Kim Yo Jong weitaus besser auf die Rolle der Thronfolgerin vorbereitet als es Kim Jong Un am 17. Dezember 2011 war, als er drei Wochen vor seinem achtundzwanzigsten Geburtstag nach dem plötzlichen Herztod seines Vaters unverhofft zum Herrscher wurde. Bis 2020 diente Yo Jong ihrem Land hauptberuflich als »Oberste Zensorin«[9], indem sie die Abteilung für Propaganda und Agitation leitete – auch bekannt als Abteilung für Information und Öffentlichkeitsarbeit des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Koreas. Der Begriff »Abteilung« täuscht jedoch über deren wahre Macht und Reichweite hinweg – handelt es sich doch eher um ein Ministerium, dessen Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass das nordkoreanische Volk umfassend mit der Staatsideologie indoktriniert wird und so weit wie möglich von der Außenwelt abgeschottet bleibt. Auch ihr Vater hatte das Ministerium von 1967 bis 1972 geleitet, als er auf seine Herrscherrolle vorbereitet wurde.
Im Jahr 2020 übernahm Kim Yo Jong noch einflussreichere Positionen und wurde praktisch zur »Stellvertreterin des lieben Führers«. Abermals trat sie in die Fußstapfen ihres Vaters und wurde de facto zur Leiterin der Abteilung für Organisation und Führung, dem politischen Machtzentrum des Landes, das alle täglichen Entscheidungen in wichtigen Personalfragen trifft, auch in der Armee.[10] In dieser mächtigsten aller Abteilungen war sie für politische Überwachung, Bestrafung und Belobigung zuständig. Theoretisch konnte sie entscheiden, wer bespitzelt, degradiert, befördert, bestraft, belohnt, verbannt oder sogar gefesselt und öffentlich auf dem Dorfplatz oder hinter den verschlossenen Türen eines Sportstadions exekutiert werden soll. Gewiss, die finale Entscheidung darüber, welcher Beamte oder welches Mitglied der königlichen Familie als Nächstes entfernt, wieder eingesetzt, zum Selbstmord gezwungen, nachweislich hingerichtet oder per Attentatermordet werden soll, fällt zwar immer noch ihr Bruder, aber schon seit vielen Jahren hat er für ihre Anliegen stets ein offenes Ohr, und auch die Außenpolitik hat er an sie delegiert. Wie sie im Juni 2020 erklärte, ist sie vom »Obersten Führer, [der] Partei und dem Staat« dazu ermächtigt worden, politische Maßnahmen gegen den »Feind« anzuordnen – womit Südkorea, Japan, der Großteil Europas und vor allem die Vereinigten Staaten gemeint sind.[11]Mit anderen Worten: Kim Yo Jong ist heute, direkt hinter ihrem Bruder, die »Oberste Stellvertreterin« ihres Landes sowie eine einflussreiche innenpolitische Funktionärin und außenpolitische Entscheidungsträgerin.
In Sachen Macht, Reichweite und vor allem Sichtbarkeit hat sich ihr Einflussbereich maßgeblich vergrößert. Anfang 2021 kehrte sie an ihre einstige Arbeitsstelle in der Abteilung für Propaganda und Agitation zurück und gab als dessen »Vizedirektorin« am 30. März eine schriftliche Erklärung heraus, in der sie den südkoreanischen Präsidenten Moon Jae In aufs Heftigste beschimpfte. Was hatte Moon verbrochen? Er hatte es vier Tage zuvor gewagt, vorsichtige Einwände gegen den jüngsten Testflug einer »neuartigen taktisch ballistischen Rakete« zu erheben. Moon sei »ein von Amerika aufgezogener Papagei«, der »über keinerlei Logik und Ansehen« verfüge.[12]
Die Rückkehr an ihre alte Wirkungsstätte ist weder als Beförderung noch als Degradierung zu betrachten, sondern deutet eher darauf hin, dass die Kim-Geschwister, zufrieden mit ihrer Arbeit in der Abteilung für Organisation und Führung – der schärferen Überwachung wichtiger Beamter und der Bestrafung unerwünschter Personen –, sich nun wieder der Aufgabe widmen wollten, ihre Dynastie gegenüber äußeren Feinden abzusichern. Und das vornehmlich mithilfe von Verlautbarungen, Schmähungen und Drohungen – und ab Anfang 2022 auch durch atomare Drohgebärden. (Bis März 2023 hat Kim Yo Jong fast dreißig Erklärungen abgegeben, allesamt versehen mit ihrem typischen bissigen Sarkasmus.)
Später im Jahr 2021 beförderte Kim Jong Un sie sogar noch weiter. Im September berief er seine Schwester in die Kommission für Staatsangelegenheiten, das oberste Führungsgremium in Nachfolge der Nationalen Verteidigungskommission, die einst von Kim Jong Il ins Leben gerufen worden war.[13] Indem sie neben ihrem Bruder Mitglied in der dreizehnköpfigen Kommission wurde, erhielt Kim Yo Jong einen weiteren offiziellen Titel, den sie im Austausch mit ausländischen Staatsoberhäuptern führen darf, wenngleich, wie bereits erwähnt, Titel und Ränge oft nur wenig über das wahre Machtgefüge Nordkoreas aussagen. Schließlich war sie längst die Nummer zwei im Staat, und das wird sie auch nach ihrem Ausscheiden aus der Kommission bleiben, ganz gleich, ob sie einmal vollwertiges Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees wird oder nur stellvertretendes Mitglied bleibt – zu dem ihr Bruder sie 2017 ernannt hat –, oder ob sie von ihrem Bruder dieses Amtes sogar ganz »enthoben« wird, was Kim Jong Un im Januar 2021 Gerüchten zufolge getan haben soll.[14]
Kurz gesagt: Als göttliche Prinzessin aus der Paektu-Blutlinie ist Kim Yo Jong vor den launenhaften politischen Ernennungen und Entlassungen gefeit, die der Rest der nordkoreanischen Beamtenschaft stets fürchten muss.
Alles, was wir bislang von Kim Yo Jong wissen, lässt außerdem vermuten, dass sie, sollte sie je Oberste Führerin werden, sich als noch feindseliger und skrupelloser erweisen könnte als ihr Bruder, ihr Vater oder gar ihr Großvater. In ihren schriftlichen Verlautbarungen hat sie den südkoreanischen Präsidenten wiederholt beleidigt, ihn als »unverfroren«, »schamlos«, »geisteskrank«, »ängstlichen Hund«, »Schwachkopf« und »törichten« Mann bezeichnet, der »den Hals in die Schlinge des pro-amerikanischen Lakaientums« gelegt habe. Im Juni 2020drohte sie damit, Truppen in vormals entmilitarisierte Grenzregionen zu verlegen. Obwohl diese Ankündigung noch im selben Monat von Kim Jong Un »ausgesetzt« wurde, so als übte er einen mäßigenden Einfluss auf die hitzigen Ausbrüche der Schwester aus, wirkte die Erklärung als psychologische Drohgebärde dennoch unterschwellig nach, die den Süden weiter auf Fügsamkeit konditionierte.
In seiner Neujahrsansprache 2018 hatte ihr Bruder von dem »Atomknopf« auf seinem Schreibtisch gesprochen. Unter den Regierungschefs der neun Atommächte ist der nordkoreanische Diktator der Einzige, der sich keinerlei institutioneller Kontrolle unterwirft. Kim Yo Jong hat sich bereits ausgemalt, wie es wohl wäre, selbst den Finger auf diesem Knopf zu haben. Im April 2022 hat die »First Sister« schon damit gedroht, Südkorea im Falle eines Angriffs mit Atomwaffen auszulöschen. Sollte das südkoreanische Militär »auch nur einen Zentimeter unseres Territoriums verletzen«, warnte sie, »wird unsere atomare Kampftruppe unweigerlich ihre Pflicht erfüllen müssen«. Und »[f]alls die Situation in eine solche Phase gerät«, fuhr sie so unmissverständlich und bombastisch wie nur möglich fort, »werden wir einen furchtbaren Angriff starten, und die südkoreanische Armee wird ein elendes Schicksal erleiden, das nahezu totale Vernichtung und Untergang bedeuten wird. Das ist nicht nur eine Drohung«.[15]
So sehr südkoreanische und westliche Medien sich auch in Lobgesängen über Kim Yo Jongs charmantes Lächeln und vorzügliche Manieren während ihres Olympiabesuchs ergehen mögen: Ihr Geschlecht weist weder auf einen nachgiebigen Charakter noch auf Anstrengungen zur Denuklearisierung hin. Vielmehr wäre es bestenfalls herablassend, der ersten weiblichen Ko-Diktatorin mit Zugang zum Atomknopf – der weltweit ersten »atomaren Despotin« sozusagen – zu unterstellen, sie würde allein aufgrund ihres Geschlechts eher dazu neigen, sich von Atomwaffen zu trennen. Ihre Jugend – das andere Merkmal, das ihre Gesprächspartner nicht selten in den Bann schlägt – verheißt in Wahrheit eher eine umso länger währende Herrschaftszeit der Unterdrückung, so wie im Falle ihres Bruders, der mit nur siebenundzwanzig Jahren das Zepter übernahm.[16]
Als Kim Yo Jong siebenundzwanzig war, hat sie als faktische Direktorin der mächtigen Propaganda- und AgitationsabteilungUS-Präsident Barack Obama sowie Südkoreas erste Präsidentin, Park Geun Hye, mit rassistischen beziehungsweise sexistischen Anfeindungen überzogen. Mit fünfunddreißig, im Januar 2023, hat sie die noch bedeutendere Rolle des Sprachrohrs ihres Landes zu Russlands Krieg gegen die Ukraine und zum Wiederaufflammen des Kalten Krieges übernommen. So hat sie die USA etwa gewarnt, dass alle Panzer, die man der Ukraine zur Verteidigung gegen Russland liefern würde, »angesichts des unbeugsamen Kampfgeistes und der Macht der heldenhaften russischen Armee und des russischen Volkes zu Asche verbrannt würden«. Und sie fügte hinzu, ihr Volk würde »stets im selben Schützengraben mit den Streitkräften und dem Volke Russlands stehen«.[17]
Die enge Bindung ihrer Dynastie an Russland, die entstand als Josef Stalin