Die seelische Dimension von Krankheiten - Thomas Vetter - E-Book

Die seelische Dimension von Krankheiten E-Book

Thomas Vetter

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Beschreibung

Der Autor ist langjährig als Neurologe und Psychiater tätig. Die Fragen nach den eigentlichen Ursachen von Krankheiten und ihre Abhängigkeit von den Sichtweisen und Bedingungen der Zeit haben ihn stets sehr interessiert. Die Vertiefung des Wissens hierüber eröffnet bessere Möglichkeiten für Hilfe und Heilung Kranker. Es sind nicht die naturwissenschaftlichen oder rein biologischen, sondern die psychischen oder geistigen Phänomene, die er unter dem Begriff der seelischen Dimension zusammenfasst, die maßgeblich für Krankheitsentwicklung, aber auch deren Behandlung und Prognose sind. In dem vorliegenden Buch werden hierzu neue und so bisher nicht formulierte Einsichten dargelegt, die nicht nur für Ärzte oder im medizinischen Dienst tätige Menschen, sondern auch für Patienten und Angehörige sowie jeden, der sich für dieses Thema interessiert, von Wert sein können.

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Thomas Vetter

DIE SEELISCHE DIMENSION VON KRANKHEITEN

Eine kritische Betrachtung unseres aktuellen

Krankheitsverständnisses

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto „abbey“ © Dar1930 (FOTOLIA)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Vorwort

Seit 30 Jahren bin ich als Nervenarzt im Krankenhaus tätig. Ich habe mich stets bemüht, das Wohl von Patienten als oberste Richtschnur meines ärztlichen Handelns zu sehen. Ich weiß, dass die allermeisten Ärzte dies ebenso sehen. Ich halte dies für eine selbstverständliche Pflicht des Arztes, aber auch für eine sehr hohe Verantwortung. Denn Patienten sind darauf angewiesen, ihrem Arzt vertrauen zu können. Ihnen fehlt das medizinische Wissen und die medizinische Erfahrung, um über die richtige Behandlung zum richtigen Zeitpunkt entscheiden zu können und die Chancen und Gefahren einer Behandlung abschätzen zu können. Aufklärung der Patienten hierüber vor einer Behandlung, die unbedingt notwendig ist, kann diese Fragen nur streifen, aber nicht in ihrer Dimension und Vielschichtigkeit so umfassend darlegen, dass sie die Patienten in die Lage versetzt, eine wirklich eigenverantwortliche, umfassend informierte und selbstsichere Entscheidung zu treffen. Zudem befinden sich Patienten, insbesondere dann, wenn sie ernsthaft krank sind, in einer Art Ausnahmezustand. Ihr Befinden und Denken wird beherrscht von gesundheitlichen Beschwerden als Ausdruck der Krankheit und auch von der Sorge um die weitere Entwicklung der Krankheit und die Frage der Genesung. Ernsthafte Erkrankungen gehen insofern mit Angst einher. Angst ist ein schlechter Ratgeber und behindert die Fähigkeit zur Entscheidung. Deshalb tragen Ärzte eine sehr große Verantwortung für ihre Empfehlungen und Entscheidungen im Umgang mit der Krankheit, besser im Umgang mit dem Patienten.

Sie können aber auch nur nach bestem Wissen und Gewissen empfehlen und entscheiden. Ihre Empfehlungen und Entscheidungen hängen ab vom Umfang ihrer ärztlichen Fähigkeiten, die wiederum abhängig sind vom aktuellen Stand medizinischen Wissens, von den Empfehlungen anderer Ärzte und medizinischer Wissenschaftler, vom Ergebnis wissenschaftlicher Studien, von den eigenen ärztlichen Erfahrungen und der Art, wie diese gesammelt wurden. Es sind dabei manchmal auch Faktoren im Spiel, die sich noch an anderen Interessen als ausschließlich dem Patientenwohl orientieren; wie wirtschaftliche Interessen, Prestige oder Zukunftserwartungen für medizinische Entwicklungen.

Nun habe ich in meinem Berufsleben beobachten können, wie sich Medizin und Behandlungsmaßnahmen von Krankheiten wandeln. Eine Behandlung einer Krankheit, die vor zwanzig Jahren noch als notwendige Behandlungsmaßnahme galt, spielt heute keine Rolle mehr. Andere Behandlungsmaßnahmen gelten als notwendig. Zudem gibt es oft sehr unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten zu ein und derselben Krankheit. Eine Krankheit zum Beispiel, die man operieren kann, aber ebenso gut mit Medikamenten oder Physiotherapie behandeln kann. Darüber hinaus macht man als Arzt immer wieder die Erfahrung, dass auch ohne eine Behandlung Heilung eintreten kann. Es kann sich dabei um Krankheiten handeln, für die nach aktuellem Wissensstand eine bestimmte Behandlung als notwendig und unabdingbar gilt, die aber doch nicht zum Einsatz kommt, zum Beispiel weil der Patient sie ablehnt. Wir wissen zudem, dass es Medikamente gibt, die als sogenannte Scheinmedikamente gelten (Placebos), aber trotzdem wirksam sind, weil mit der Gabe eines solchen Medikaments allein die Erwartung verabreicht wird, dass sie helfen.

Woran liegt das? Die Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Die Einflussfaktoren sind zu vielfältig. Sie funktioniert nicht allein nach Naturgesetzen. Deshalb tritt nicht regelmäßig das ein, was man vorher sagt oder erwartet, sondern allenfalls mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit. Der einzelne betroffene Kranke ist aber kein mathematisch statistischer Faktor, sondern ein Mensch mit dem individuellen und nicht statistischen Wunsch nach Hilfe und Genesung.

Wir Ärzte sind in der heutigen Biomedizin fokussiert auf die Körperlichkeit des Patienten und damit auf Untersuchungs- und Behandlungsansätze, die sich auf den Körper richten. Selbst als seelisch geltende Krankheiten wie Depressionen oder Angsterkrankungen werden ja mit Medikamenten behandelt, die Stoffwechselvorgänge im Gehirn beeinflussen sollen und damit körperliche Vorgänge beeinflussen. Als Biomediziner glauben wir deshalb, dass die allermeisten Krankheitsvorgänge eine körperliche Ursache haben und mit Einflussnahme auf den Körper behandelt werden können und müssen - sei es durch Operation, durch Medikamente oder durch Zerstörung krankhaften Gewebes mit Röntgenstrahlen oder Zellgiften. Die vergangenen Jahrzehnte haben uns Ärzte in dieser Anschauung bestärkt, denn die auf die körperliche Beeinflussung gerichteten Behandlungsmethoden haben sich derart verfeinert, dass heute Krankheiten als behandelbar gelten, die vor hundert oder selbst vor zwanzig Jahren als noch nicht wirksam behandelbar galten. Ein Beispiel hierfür ist die Tuberkulose oder auch die Multiple Sklerose.

Ich bin in meiner Laufbahn als Arzt, trotz unbestreitbarer Erfolge biomedizinischer Verfahren, immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass Krankheiten eben kein ausschließlich biologischer, d.h. körperlich materialistischer Vorgang sind. Die Vielzahl gesundheitlicher Störungen und unterschiedlicher Verläufe bei ein und derselben Krankheit, das unterschiedliche Ansprechen auf bestimmte Behandlungsmethoden, die Abhängigkeit von Schwere und Verlauf der Krankheiten von psychischen Faktoren oder den Bedingungen im sozialen Umfeld, auch das Bild, das Ärzte und Patienten von einer Krankheit haben und nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen und Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse haben nach meiner Überzeugung einen viel größeren Einfluss auf Krankheitsentstehung, Behandlungsmöglichkeit und Krankheitsverlauf, als dies heute in der Biomedizin angenommen wird. Dabei sind die körperlich sicht- oder messbaren Äußerungsformen von Krankheit, zum Beispiel durch körperliche Untersuchungsverfahren, Laboruntersuchungen oder Röntgenuntersuchungen feststellbar, nichts anderes als die letztlich im Krankheitsverlauf sich entwickelnden körperlichen Folgeerscheinungen.

Ich möchte in dem vorliegenden Buch darüber sprechen, dass Krankheiten auch einen seelischen Ursprung haben, man kann auch sagen einen geistigen oder psychischen Ursprung. Ich möchte aber auch besprechen, dass Krankheiten in der Art ihrer Wahrnehmung, ihrer Beschwerden, die sie verursachen, ihren Behandlungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten und in ihrem Verlauf wesentlich von seelischen Einflüssen abhängen. Selbst einem Beinbruch geht ja eine Bedingung voraus, die zum Beinbruch führt, d.h. der Mensch, der sich das Bein bricht, setzt sich einer Situation aus oder wird einer solchen Situation ausgesetzt, die zum Beinbruch führt. Diese Situationen sind Bedingungen, die nicht biologisch oder körperlich erklärbar sind, sondern mit einer seelischen oder geistig psychischen Dimension besser vereinbar sind.

Was in diesem Buch genauer unter seelischer Dimension zu verstehen ist, soll noch dargestellt werden. Auch die Vielfalt der seelischen Bedingungen für Krankheit, wie ich sie verstehe, wird Inhalt dieses Buches sein.

Auch wenn derzeit die biomedizinische Sichtweise auf Krankheit als fortschrittlich und wirksam gilt und zudem zunehmende Verbreitung in der Welt findet, befürchte ich, dass diese Sichtweise zunehmend an ihre Grenzen stößt und nur noch bescheidene Fortschritte erwarten lässt. Außerdem sehe ich viele Hinweise darauf, dass die heutige biomedizinische Sichtweise auch erhebliche Probleme verursacht und nicht nur Behandlungserfolge, sondern auch Behandlungsmisserfolge zu verzeichnen hat. Auch dies soll in diesem Buch näher erörtert werden.

Schließlich muss das vornehme Ziel jedes kritischen Blicks auf bestehende Verhältnisse und Sichtweisen sein, nach Besserem zu suchen. In der Hilfe und Behandlung kranker Menschen bedeutet dies nicht ein Ersetzen einer Methode durch eine andere, sondern über einen anderen Blick auf die Zusammenhänge und Hintergründe die Sichtweise und Wahrnehmung zu verändern. Denn dies ist Voraussetzung dafür, dass neue oder andere Behandlungsmethoden überhaupt erst eine Wirksamkeit entfalten können.

Denn gerade Krankheiten sind so sehr abhängig von einem Wechselspiel zwischen unseren eigenen Wahrnehmungen, der Wahrnehmung anderer, der geschichtlichen Entwicklung, unserem Bild von Krankheit, unserer Stellung in der Gesellschaft und der Art des Umgangs der Gesellschaft mit Krankheit, unseren ganz persönlichen Lebensbedingungen und der Art der Kommunikation und des Austauschs mit unserer Umwelt, aber auch von unserem Körperbild und unserer Körperlichkeit. Es besteht also eine Abhängigkeit von unserem Weltbild und das unserer Umgebung. Insofern ist nicht nur unser Bild von einer Krankheit, sondern auch die Krankheit selbst mit allen ihren Konsequenzen wandelbar durch Veränderung seelischer bzw. auch geistig psychischer Bedingungen.

Das vorliegende Buch wird sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Es verfolgt nicht das Ziel, Verunsicherung zu stiften. Denn nicht nur wer ärztlich handelt, sondern auch wer eine kritische Diskussion darüber führt, trägt eine hohe Verantwortung für das Wohlergehen von Patienten. Ganz bewusst sollen hier keine Behauptungen und Lehrsätze formuliert werden, sondern das hier Dargelegte als Hypothesen, d.h. Möglichkeiten einer Sichtweise formuliert werden. Es soll in erster Linie dem Nachdenken darüber dienen, was sich in der Hilfe und Behandlung kranker Menschen verbessern lässt.

Der Wert von Hypothesen und Möglichkeiten bemisst sich letztlich an ihren praktischen Konsequenzen und der Frage, ob diese erkennbar zu einer Verbesserung beitragen.

Die Aussicht auf wirksamere Behandlungsmethoden wird sich nur in einem längeren Prozess gesellschaftlicher Diskussion und Wechselwirkung entwickeln. Das vorliegende Buch soll hierzu einen bescheidenen Anstoß geben.

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

Was ist hier mit Seele gemeint?

Was ist Krankheit?

Das biomedizinische Krankheitsverständnis

Das materialistisch-mechanistische Krankheitsbild in der Biomedizin

Das biomedizinische Verständnis von Krankheitsursachen

Problem der Klassifikation und Untergliederung von Krankheiten

Das Problem statistischer Bewertungen in der Biomedizin

Das Problem der Grenzwertbestimmung in der Biomedizin

Das Problem nichtmedizinischer Interessen in der Biomedizin

Das Problem der Wissenschaftlichkeit in der Biomedizin

Die Provokation von Krankheiten durch Biomedizin

Das Problem der Prävention

Die Biomedizin bei alten und sterbenden Menschen

Die Bedeutung der Biomedizin

Der Anteil seelischer Dimension von Krankheiten

Placebo, Nocebo

Der spirituelle Bezug zu Krankheiten

Krankheiten mit gesichertem seelischen Ursprung

Neurosen

Persönlichkeitsstörungen

Depressionen

Psychosomatische Störungen

Gemeinsamkeiten von Krankheiten mit gesichertem seelischen Ursprung

Der Einfluss der Umwelt auf Krankheit

Kindheit und Jugend

Die Bedeutung der Gene

Die Gesellschaft

Gesellschaftliche Einflüsse auf Krankheit

Der Wandel des Krankheitsverständnisses

… in der Sicht auf die Vergangenheit

… in der Sicht auf die Gegenwart

… in der Sicht auf die Zukunft

Was gilt in der Heilung zu allen Zeiten?

Vertrauen

Einfühlungsvermögen

Plausibilität

Vermittlung von Hoffnung und Zuversicht

Glaube

Ein anderes Krankheitsverständnis

Weg von der biomechanisch-materialistischen Sicht

Weg von der Kategorisierung von Krankheiten

Weg von den katastrophisierenden Bildern

Hin zu individuellen Gesundheitsstörungen

Hin zu seelischen Bedingungen von Krankheit

… für die Ursache einer Krankheit

… für den Verlauf und die Aufrechterhaltung einer Krankheit

… für die Prognose einer Krankheit

Das Phänomen der nicht wissenschaftlich erklärbaren Heilungen

Selbstheilungskräfte

Wunderheilungen in der Geschichte

Spontanheilungen

Krankheit als gestörtes seelisches Gleichgewicht

Therapeutische Konsequenzen

Individuelle Behandlung

Behandlung der seelischen Anteile bei Krankheit

Wie behandeln?

Änderung des medizinischen Weltbildes

Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Einleitung

Wir nehmen heute Krankheiten ganz vorrangig als körperliches Phänomen wahr. Ein Beinbruch wird von uns als zerbrochener Knochen, zum Beispiel im Unterschenkel, wahrgenommen. Wir wissen, wie ein Röntgenbild hierzu ausschaut und wissen, dass die Behandlung das Ziel verfolgen muss, dass beide Knochenenden wieder zusammenwachsen. Selbst eine psychische Krankheit, wie Depression oder Schizophrenie, gilt uns als eine Art Stoffwechselerkrankung des Gehirns, die dadurch behandelt wird, dass über entsprechende Medikamente zu gering vorhandene Enzyme oder Übertragungsstoffe im Gehirn ersetzt werden oder deren Aktivität angeregt wird. Unsere allgemeine Vorstellung von Ursache, Bild und Behandlung von Krankheiten ist eine vorrangig körperliche. Wir forschen mit Laboruntersuchungen, Röntgen und körperlicher Untersuchung nach der vermeintlichen Krankheitsursache. Wir identifizieren Regionen im Körper mit Funktionsstörungen als Ursache und Ausdruck der Krankheit und wir versuchen mit entsprechenden, auf die Veränderung der Körperfunktion gerichteten Behandlungsmaßnahmen diese Krankheit zu beeinflussen.

Die seelische Dimension von Krankheiten ist uns eher nicht bewusst, egal, ob wir als Kranker betroffen sind oder als Arzt tätig sind. Als Kranker fühlen wir uns nicht wohl, wir haben Angst vor den Ergebnissen der Untersuchungen und den hieraus resultierenden Konsequenzen. Gegebenenfalls haben wir auch Hemmungen, unsere Angehörigen in Kenntnis zu setzen. Wir halten dies aber für resultierende Probleme und Begleiterscheinungen der Krankheit, die es zusätzlich zu bewältigen gilt, die aber nichts unmittelbar mit der Krankheit zu tun haben.

Was führt zu dem Bild, das wir von einer Krankheit haben, wie z.B. Beinbruch, Krebs oder Depression? Inwieweit haben unsere wissenschaftlichen Methoden in der Diagnostik und Behandlung von Krankheiten eine objektiv gesicherte Grundlage? Welche nicht krankheitsspezifischen Interessen spielen hierbei möglicherweise eine Rolle, wie z.B. das wirtschaftliche Interesse der Pharmaindustrie oder das Reputationsinteresse der Hochschulmedizin? Unser Bild von der Krankheit wird ja wesentlich von der herrschenden medizinischen Meinung, aber auch von dem Blickwinkel unserer unmittelbaren Umgebung geprägt. Hier spielen subjektive Ansichten, einseitige Interpretation von wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Wie anders wäre es zu erklären, dass große Teile der Bevölkerung regelmäßig Vitaminpräparate zu sich nehmen oder Cremes zur vermeintlichen Verhinderung von Gesichtsfalten benutzen, obwohl alle wissenschaftlichen Studien die Unwirksamkeit dieser Anwendungen bestätigen? Es besteht auch das Bedürfnis, etwas für seine Gesundheit zu tun, was sich ggf. auch über trockene wissenschaftliche Erkenntnisse hinwegsetzt.

Man kann beliebige Krankheiten näher betrachten und findet überall Phänomene, die der seelischen Dimension von Krankheiten zuzuordnen sind.

Ich möchte in dem vorliegenden Buch versuchen deutlich zu machen, wie groß und vielschichtig die seelische Dimension von Krankheiten ist. Ich möchte mit dem Buch aber auch zum Nachdenken darüber anregen, dass seelische Phänomene nicht nur eine Rolle im Medizinsystem und krankheitsbegleitend spielen, sondern ganz wesentlich auch Bedeutung für Ursache, Entwicklung, Wirksamkeit von Behandlungen und für Verlauf einer Krankheit haben. Hierbei haben sie möglicherweise die entscheidende Bedeutung. Wenn das so ist, dann hätte dies auch Folgen für das bestehende Gesundheitssystem und den Umgang mit Krankheiten. Die seelischen Phänomene bei Krankheiten müssten sehr viel mehr in den Fokus von Ursachenforschung und Behandlung bei Krankheiten genommen werden. Sie dürften von Therapeuten wie von Betroffenen nicht mehr ausgeblendet werden. Im Gegenteil, der Umgang mit Krankheiten müsste grundsätzlich zuerst hier ansetzen und, daraus abgeleitet, die aktuell herrschenden Behandlungsprinzipien auswählen. Ein solches Vorgehen würde sowohl unser körperbezogenes Bild von Krankheit wie auch das aktuell etablierte Gesundheitssystem umfassend verändern.

Es gibt bereits umfangreiche Veröffentlichungen, die sich kritisch mit unserer derzeitigen Art Medizin zu betreiben, auseinandersetzen, insbesondere in den letzten Jahren. Auch namhafte Ärzte der letzten hundert Jahre haben aus geisteswissenschaftlichem Blickwinkel immer wieder auch die seelischen Dimensionen von Krankheiten angesprochen.

Aber die letzten hundert Jahre zeigen auch einen Trend hin zu immer differenzierterer Diagnostik und Behandlung, die auf den Körper und dessen innere Vorgänge gerichtet sind. Selbst die Psychiatrie als eher geisteswissenschaftlich ausgerichtetes medizinisches Fach hat sich in den letzten 50 Jahren immer mehr hin zu einem biomedizinisch orientierten Fach entwickelt, welches seinen Schwerpunkt auf stoffwechselbedingte Vorgänge und Veränderungen im Gehirn und deren Behandlung mit Psychopharmaka richtet.

Eine Änderung der Prinzipien im Umgang mit Krankheit ist von erheblichen Widerständen begleitet. Herrschende Lehrmeinungen zu verteidigen ist nicht nur eine Verteidigung von Privilegien, sondern auch eine Verteidigung von Überzeugungen. Die Infragestellung dieser Überzeugungen führt nicht automatisch zu einer Veränderung der Überzeugungen. Unsere pluralistische Gesellschaft gerät nicht durch unterschiedliche, nebeneinander existierende Überzeugungen aus den Fugen. Sie ist aber auf die Mehrheitsfähigkeit von Überzeugungen angewiesen. Dies gilt sowohl im politischen System als auch im Umgang mit Krankheit. Insofern ist eine Änderung des medizinischen Systems nur in kleinen Schritten möglich und mehrheitsfähig nur dann, wenn sich Alternativen anbieten, die überzeugend besser sind als das, was aktuell besteht. Also: Eine Hinwendung auf die seelischen Dimensionen von Krankheit im Umgang mit Kranken muss in der Konsequenz eine überzeugendere Wirksamkeit entfalten.

Das vorliegende Buch wird keine Abschaffung bisheriger Behandlungsprinzipien zugunsten neuer oder anderer Behandlungsprinzipien propagieren. Es will lediglich dafür sensibilisieren, dass die Berücksichtigung seelischer Phänomene bei Krankheitsentstehung und -behandlung Aussicht auf einen besseren Umgang mit Krankheit und für größere Erfolge in der Behandlung bietet.

Was ist hier mit Seele gemeint?

Der Begriff der Seele hat in seiner Bedeutung Wandlungen erfahren. Überwiegend wurde in der Seele der nichtkörperliche Teil menschlicher Existenz verstanden, wie Gefühle, Denken, Impulse, Charakter und Persönlichkeit.

Der Begriff der Seele war auch stets religiös besetzt und drückt sich in Formulierungen wie „die Unsterblichkeit der Seele“ oder „Seelenwanderung“ aus. Hiernach gilt die Seele als nichtmaterielle Existenz, die jeweils von Geburt bis Tod mit einem Menschen verknüpft ist und über dessen Tod hinaus weiter existiert.

In dem vorliegenden Buch ist die religiöse Dimension der Seele ausdrücklich nicht gemeint.

Für Seele im hier gemeinten Sinne könnte überwiegend auch der Begriff Psyche oder Geist verwendet werden. Es geht um die menschlichen Eigenschaften des Denkens, Fühlens, Wollens, Handelns, Bewertens, die nicht unmittelbar körperlichen Ursachen zuzuordnen sind. Sie sind zwar auf die Existenz des Gehirns als körperliches Organ angewiesen. Aber wir gehen hier davon aus, dass sie nicht allein auf Vorgänge des Gehirns zurückzuführen sind, sondern das Gehirn und die übrigen Körpervorgänge eine Art Unterstützungsfunktion für die Seele haben. Die Seele ist hier also im Sinne eines primären menschlichen Phänomens mit umfassenden Prägungen durch und Verknüpfungen in die Umwelt und Gesellschaft zu verstehen, die, um wirksam sein zu können und Handlungen initiieren zu können, auf den Körper mit dem Steuerorgan Gehirn angewiesen ist. Vom Gehirn ausgehend werden Sprechwerkzeuge zur Kommunikation, aber auch Muskeln und Gelenke zur Handlung und Fortbewegung angeregt.

Allerdings fasse ich hier den Körper nicht als seelenlosen Apparat oder Automat auf, der nur von einer immateriellen, nicht lokalisierbaren Seele gesteuert wird. Sondern Körper, Umwelt und Seele bilden eine Einheit. Die Seele ist sozusagen in jeder Zelle des Körpers verankert. Die Seele existiert so nicht ohne Körper und der Körper nicht ohne Seele. Danach haben auch als schwer geistesgestört geltende Menschen oder sogenannte Wachkomapatienten eine Seele, die Einfluss auf Handlungen, Denken und Fühlen nimmt, nur anders und vielleicht elementarer. Die Seele ist also im hier gemeinten Sinne eine eigene Kategorie, eine eigene Instanz und der Körper ein Erfolgs-, Ausführungs- und Handlungsorgan mit Rückkopplungen auf die Seele. Zudem wirkt die Seele ebenso auf die unmittelbare Umwelt und diese auf sie zurück. Denn das, was wir in der Umwelt wahrnehmen, bleibt nicht ohne Folgen auf die Seele. Die Seele beeinflusst wiederum die Umwelt, zum Beispiel durch Geschriebenes oder Gesprochenes, durch Bauwerke und Interaktionen von Menschen.

Deshalb verwende ich hier nicht die Begriffe Psyche oder Geist. Denn die seelische Dimension geht darüber hinaus und hat auch Bedeutung für Fragen nach dem Sinn, den Werten, unserer Art der Wahrnehmung und nach dem, was wir glauben. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele oder der Seelenwanderung soll hierbei völlig außer Acht bleiben. Aber bei Fragen wie Sinn des Lebens, Werte, Liebe, Glauben, also Phänomene, die nicht mit wissenschaftlichen Kategorien zu erfassen sind und zudem in der allgemeinen Wahrnehmung nicht als automatische Verschaltungsvorgänge des Gehirns aufgefasst werden, handelt es sich um seelische Vorgänge, die auch eine gewisse Nähe zu religiösen Fragen haben können, und zwar in dem Sinne, dass Religionen sich mit dem Sinn des Lebens, Glauben und Liebe sowie Gut und Böse auseinandersetzen.

Gerade bei Krankheit spielen diese seelischen Phänomene eine ganz wichtige Rolle und können die Krankheit wesentlich beeinflussen.

Der Begriff „seelische Erkrankungen“, der noch immer für psychiatrische Erkrankungen gilt, meint hier allerdings vorrangig psychische Erkrankungen, die nach biomedizinischen Krankheitsverständnis eine körperliche Ursache, und zwar im Gehirn, haben, die sich aber ganz vorrangig in psychischen Auffälligkeiten äußern und auch einer bestimmten Lokalisation im Gehirn nicht hinreichend zuordenbar sind. Demnach gelten hier seelische Erkrankungen als Erkrankungen körperlicher Ursache, deren weitere Erforschung zu dem Ergebnis kommen wird, dass eines Tages ihre Ursachenzusammenhänge bestimmten und nachweisbaren gestörten Vorgängen im Gehirn zugeordnet werden können.

Diese Auffassung wird hier ausdrücklich nicht geteilt. In diesem Buch gelten seelische Erkrankungen als Beeinträchtigung seelischer Vorgänge im individuellen seelischen Bereich des ganzen Menschen und in der Interaktion mit seiner Umwelt.

Nicht nur die seelischen Erkrankungen möchte ich hier in diesem Sinne interpretieren. Auch alle denkbaren Krankheiten haben immer auch eine seelische Dimension. Es handelt sich in der Konsequenz dabei auch um seelische Erkrankungen im hier genannten Sinne. Psychische und körperliche Erkrankungen unterscheiden sich insofern nicht grundsätzlich voneinander, da bei beiden die seelischen Dimensionen von maßgeblicher Bedeutung sind. Sie gründen damit aber auch beide nicht vorrangig auf körperliche Ursachen.

Was ist Krankheit?

Es mag verwundern, aber Krankheit ist kein einheitliches und klar definiertes Phänomen. Wir alle kennen Krankheiten, von denen wir oder auch Angehörige oder Bekannte betroffen waren oder sind. Krankheiten, von denen wir gehört haben oder von denen wir in medizinischer Ausbildung oder in den Alltagsmedien etwas erfahren haben. Eine Krebserkrankung, ein Schlaganfall oder ein Bandscheibenvorfall scheint eine klar definierte Erkrankung zu sein. Aber der Krankheitsbegriff scheitert schon bei dem Versuch einer allgemeinen Definition von Krankheit. Es kann der Versuch unternommen werden, eine Krankheit als das Gegenteil von Gesundheit zu definieren. Dabei stellt sich aber das Problem zu definieren, was gesund ist. Es gibt keine scharfe Grenze zwischen krank und gesund. Nach heutigem Verständnis kann man eine Krankheit in sich haben, aber davon nichts spüren, wie zum Beispiel bei einer Frühform der Krebserkrankung. Man kann von einer für das Umfeld offensichtlich schweren Erkrankung betroffen sein, aber unter dieser Krankheit als Betroffener nicht leiden, wie zum Beispiel bei der fortgeschrittenen Alzheimer-Krankheit. Bestimmte Befindlichkeitsstörungen gelten heute als Krankheit, die früher nicht als krankhaft bezeichnet wurden, insbesondere hinsichtlich der äußeren Erscheinung, wie zum Beispiel Glatzenbildung, Fettsucht oder bestimmte Hautveränderungen.

Krankheit wird heute üblicherweise mit dem Begriff Leiden verbunden. Wenn aber ein Kranker nicht leidet, ist er dann krank? Eine bestimmte Krankheit führt bei dem einen Betroffenen zu starkem Leiden, beim anderen zu nur geringem oder gar keinem. Der Tod eines nahestehenden Menschen führt bei den Angehörigen stets zu Leiden und Trauer. Sie sind deshalb aber nicht krank, weil eine normale Trauer nicht als Krankheit gilt. Gleiches gilt für das schmerzhafte Leid unter Wehen während der Geburt eines Kindes bei der Mutter. Hier wird heute meistens der Wehenschmerz medikamentös behandelt und die Geburt im Krankenhaus vollzogen. Dies zeigt, dass auch medizinische Behandlung, selbst im Krankenhaus, nicht Kriterium für Krankheit sein kann.

Es ist üblich, Menschen mit angeborenen Behinderungen als krank zu bezeichnen bzw. ihre Behinderung einer bestimmten Krankheitskategorie zuzuordnen, obwohl sie sich selbst nicht als krank empfinden.

Was krank ist, wird noch am besten mit dem Begriff der Normabweichung definiert. Danach gilt heute üblicherweise Krankheit als Abweichung von der Norm in geistiger, körperlicher oder emotionaler Hinsicht. Aber auch die Frage der Normabweichung ist für die Definition von Krankheit sehr unzulänglich, denn danach müsste man im europäischen Raum sogenannte Normalgewichtige als krank bezeichnen, weil die Mehrheit der Bevölkerung ein Körpergewicht hat, was über dem sogenannten Normalgewicht liegt. Insofern geht es bei der Festlegung der Normabweichung als Kriterium für Krankheit nicht vorrangig um Durchschnittswerte, sondern um das, was gesellschaftlich als normal und erstrebenswert angesehen wird.

Wir sehen also, dass Krankheit ganz wesentlich von dem aktuell gültigen gesellschaftlichen Konsens definiert wird. Dieser Konsens ist wiederum abhängig von herrschenden Wunschvorstellungen und Normen, die nicht nur von dem aktuellen medizinischen Wissen, sondern auch von den Werten, Schönheitsvorstellungen und auch dem aktuell herrschenden Bild, das wir von verschiedenen Krankheiten haben, bestimmt wird. Nicht nur der allgemeine Krankheitsbegriff, sondern auch die einzelnen verschiedenen Krankheiten sind wesentlich ein gesellschaftliches Konstrukt, das einem fortwährenden Wandel unterliegt. Dieser ist, abhängig von den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen, dem Stand des Wissens über medizinische Zusammenhänge und vom aktuell herrschenden Weltbild geprägt.

Dass dies auch für die einzelnen Krankheitsbilder gilt, soll im Folgenden erläutert werden. Wie entsteht die Vorstellung, die Definition, das Bild von einer bestimmten Erkrankung?

So wie wir eine Vorstellung haben von einem Baum, einem Haus, von Phänomenen wie Angst oder Schmerz, so haben wir eine mehr oder weniger konkrete Vorstellung von bestimmten Krankheiten. Wir haben ein bestimmtes Bild vor Augen, wenn wir an einen Beinbruch denken. Hier wissen wir, dass das Bein von Knochen gestützt wird und ein Knochen im Bein, ähnlich wie ein Stück Holz, durch Krafteinwirkung gebrochen ist. Bei einer Krebserkrankung haben wir das Bild eines nach allen Seiten wuchernden, aggressiven Gewebeknäuels vor Augen, das ein Eigenleben führt und das umgebende Körpergewebe zerstört. Bei einem Herzinfarkt stellen wir uns die Form des Herzens mit seinem Muskelgewebe vor, das plötzlich an einer bestimmten Stelle nicht mehr schlägt, weil hier ein Blutgefäß, was den Herzmuskel versorgt, verstopft ist.

Bei vielen Krankheiten haben wir nur vage Vorstellungen. Mit etlichen Krankheitsbegriffen seltener Krankheiten können wir nichts anfangen. Die lateinischen Begriffe sagen uns nichts. Aber sobald wir selbst oder nahe Angehörige von dieser Krankheit betroffen sind, machen wir uns auch von diesen Krankheiten ein Bild. Dieses Bild wird geprägt durch die Aufklärung des Arztes, auch durch Bemerkungen von Menschen der Umgebung, die von dieser Krankheit schon gehört haben, teilweise auch von Werbung in den Medien, die Behandlungen bei diesen Krankheiten anpreisen, und zunehmend auch von eigenen Recherchen im Internet. Auch hier entwickeln wir ganz rasch eine bestimmte Vorstellung von dieser Krankheit, die wir dann mit uns herumtragen und die ein bestimmtes Bild von der Krankheit beinhaltet. Dabei sind unsere Bilder, die wir von Krankheiten haben oder entwickeln, geprägt von unserem Wissen über medizinische Zusammenhänge, über die Funktionsweise des Körpers und deren Aufbau, aber auch von eigenen Erfahrungen mit Krankheit und wesentlich auch von denen, die uns Wissen über die Krankheit vermitteln.

Es gilt als anerkannt, dass das größte Wissen über eine Krankheit die Ärzte haben, die es gewohnt sind, eine solche Krankheit zu behandeln. Immerhin haben sie eine lange Ausbildung absolviert, gehen tagtäglich mit Krankheiten um und knüpfen mit ihrem Wissen an den Erfahrungen und Erkenntnissen zu den Krankheiten in der Vergangenheit an. Aber wie entsteht in der Medizin die Vorstellung, die Definition von einer bestimmten Erkrankung?

Dies soll am Beispiel des Schlaganfalls verdeutlicht werden. Der heute noch übliche Begriff eines Schlaganfalls bezeichnet ein Ereignis, das wie ein Schlag oder wie ein Anfall über den Betroffenen kommt. Plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Der Betroffene kann sich nicht mehr auf den Beinen halten und stürzt hin, manchmal geht das mit Verlust des Sprechens einher. Nun hat man vor 150 Jahren noch nichts Sicheres über die Ursachen des Schlaganfalls gewusst. Man hat den Schlaganfall nur als plötzliches, anfallsartiges Ereignis wahrgenommen, das, wenn es schwer genug war, innerhalb von Tagen oder Wochen zum Tode führte. Erst als man begann, systematisch Gehirne von Schlaganfallpatienten nach ihrem Tod anatomisch zu untersuchen, fand man jeweils an verschiedenen Stellen des Gehirns eine mehr oder weniger große Erweichung des Hirngewebes und lernte zwischen Schlaganfällen, die durch eine Blutung im Gehirn und solchen, die durch eine Durchblutungsstörung des Gehirns verursacht wurden, zu unterscheiden. Es entwickelte sich also langsam ein Wissen über die unmittelbar auslösenden Mechanismen des Schlaganfalls. Man konnte schließlich das Schlaganfallereignis einer bestimmten Hirnregion zuordnen, weil man eine Vorstellung davon hatte, welche Gehirnregion bei bestimmten Funktionsausfällen des Körpers betroffen ist. Mit Verfahren wie Ultraschall und Computertomografie, die sich in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts etablierten und schließlich dem Kernspintomogramm, das wenig später eingeführt wurde, konnte man sich ein Bild vom Gehirn und dessen Durchblutung am lebenden Schlaganfallpatienten unmittelbar nach dem Ereignis machen und hierüber sehr viele Detailkenntnisse gewinnen, die schließlich auch in Behandlungsversuche und dann in systematische, auch wissenschaftlich überprüfte Behandlungsmaßnahmen mündeten. Damit wurde der Schlaganfall, der noch bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts als nicht behandelbar galt, zu einem Krankheitsbild, das bei ganz rascher Behandlung nach dem unmittelbaren Ereignis in einem gewissen Prozentsatz als behandelbar gilt. Auch die begleitenden Behandlungsmaßnahmen wurden verfeinert und in ihrer Wirksamkeit verbessert.

Das Bild der Medizin von einem Schlaganfall als ein plötzliches schicksalhaftes Ereignis, deren Ursache und Auslöser unbekannt ist und das in den meisten Fällen zum Tode führt, hat sich gewandelt hin zum Bild eines Schlaganfalls, bei dem der Fokus der Mediziner auf der Frage der Lokalisation und unmittelbar ursächlichen Auslösung des Schlaganfallereignisses im Gehirn liegt. Man hat als Arzt die typischen kernspintomografischen und computertomografischen Bilder vor Augen, wenn man an einen Schlaganfall denkt und stellt sich die Frage, wodurch die Durchblutungsstörung ausgelöst wurde. Ein solcher Wandel ist abhängig von medizinischen Erkenntnissen, auch von der Entwicklung und Etablierung von Behandlungsverfahren, aber auch von den herrschenden Bedingungen im Gesundheitssystem und politischen Entscheidungen. Denn es gilt heute als anerkannt, dass die wirksamste Schlaganfallbehandlung auf einer spezialisierten Schlaganfallstation mit speziellem Aufwand und hohem Fachwissen erfolgen sollte. Die Etablierung solcher Schlaganfallstationen (Stroke Units) ist wesentlich von gesundheitspolitischen Entscheidungen abhängig. Denn sie sind kostenintensiv und müssen von der Allgemeinheit finanziert werden. Schlaganfallstationen gehören inzwischen zum Vorstellungsbild einer Schlaganfallkrankheit und deren Versorgung, und zwar nicht nur bei Medizinern, sondern auch bei der Bevölkerung. Da Schlaganfallstationen in Deutschland zwar weitgehend, aber nicht komplett flächendeckend und selbst in anderen industrialisierten Ländern teilweise nur einzeln etabliert sind, unterscheidet sich das Bild des Schlaganfalls und das der Behandlung von Region zu Region und von Land zu Land.

Aktuell kündigt sich gerade wieder eine neue Entwicklung in der Schlaganfallversorgung an, die darin besteht, dass ein Teil der Schlaganfälle mit Katheter, über die Arterie eingeführt, behandelt wird. Hier sind wieder andere Fähigkeiten und Kosten als die auf einer herkömmlichen Stroke Unit erforderlich. Es wird wieder auf eine andere Wahrnehmung des Krankheitsbildes Schlaganfall hinauslaufen.

Das Beispiel des Schlaganfalls kann auch aufzeigen, wie Krankheitskategorisierung stattfindet. Während sich früher das Krankheitsbild Schlaganfall definitionsgemäß an dem akuten, schlagartigen Ereignis mit fehlender Erholung und Funktionsbeeinträchtigung von Körperfunktionen festmachte, wird heute eine Fülle von Untergruppen des ursprünglichen Krankheitsbegriffs Schlaganfall definiert, die auch vom Bild her stark abweichen können von dem, was man ursprünglich unter Schlaganfall verstand. So gilt heute ein Ereignis mit geringen flüchtigen Störungen zum Beispiel der Oberflächenempfindung am Arm oder Bein, ohne nennenswerte Funktionseinschränkung und nur für einige Stunden anhaltend, dann als Schlaganfallereignis, wenn hierfür eine entsprechende Veränderung im Kernspintomogramm des Gehirns festgestellt wird, die als Folge einer Durchblutungsstörung identifiziert wird.

Auf das Problem der Krankheitskategorisierung wird noch näher eingegangen.

Die Entwicklung und Bedeutung eines Krankheitsbegriffes ist jeweils abhängig vom Wissen über die Krankheit und der Wirkzusammenhänge des Körpers. Sie wird auch beeinflusst von den Behandlungsmethoden und deren Wirksamkeit.

DAS BIOMEDIZINISCHE KRANKHEITSVERSTÄNDNIS

Das materialistisch-mechanistische Krankheitsbild in der Biomedizin