Die Seiten der Welt - Kai Meyer - E-Book + Hörbuch

Die Seiten der Welt Hörbuch

Kai Meyer

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Beschreibung

»Die Seiten der Welt« von Phantastik-Bestseller-Autor Kai Meyer - EIN MAGISCHER ROMAN VOLLER PHANTASTISCHER ABENTEUER "Während sie die Stufen zur Bibliothek hinablief, konnte Furia die Geschichten schon riechen: den besten Geruch der Welt." Furia Salamandra Faerfax lebt in einer Welt der Bücher. Der Landsitz ihrer Familie birgt eine unendliche Bibliothek. In ihren Tiefen ist Furia auf der Suche nach einem ganz besonderen Buch: ihrem Seelenbuch. Mit ihm will sie die Magie und die Macht der Worte entfesseln. Doch dann wird ihr Bruder entführt, und Furia muss um sein Leben kämpfen. Ihr Weg führt sie nach Libropolis, die Stadt der verschwundenen Buchläden, und an die Grenzen der Nachtrefugien. Sie trifft auf Cat, die Diebin im Exil, und Finnian, den Rebellen. Gemeinsam ziehen sie in den Krieg – gegen die Herrscher der Bibliomantik und die Entschreibung aller Bücher.

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Zeit:14 Std. 19 min

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Kai Meyer

Die Seiten der Welt

Roman

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Inhalt

MottoErster Teil Die Bücher und die Nacht123456789101112131415161718Zweiter Teil Die Refugien192021222324252627282930313233343536373839404142434445Dritter Teil Die Entschreibung4647484950515253545556Nachspiel Schattentinte575859606162

»Wie hoch muss man die wunderbare Macht der Bücher schätzen, da wir durch sie sowohl die Grenzen der Erde als auch der Zeit unterscheiden können. Wir betrachten in ihnen, wie in einem Spiegel der Ewigkeit, die Dinge, die sind, und die Dinge, die nicht sind.«

Richard de Bury, Philobiblon, 1344

Erster TeilDie Bücher und die Nacht

1

Während sie die Stufen zur Bibliothek hinablief, konnte Furia die Geschichten schon riechen: den besten Geruch der Welt.

Neue Bücher rochen nach Druckerschwärze, nach Leim, nach Erwartungen. Alte Bücher dufteten nach Abenteuern, ihren eigenen und jenen, von denen sie erzählten. Und gute Bücher verströmten ein Aroma, in dem das alles steckte, und dazu noch ein Hauch von Magie.

Es gab eine Menge guter Bücher in der Bibliothek des Hauses Faerfax und noch mehr alte. Manche waren so mürbe, dass die Ränder ihrer Seiten wie totes Laub zersplitterten, sobald man sie berührte. Die meisten waren von irgendwem gelesen worden, aber es gab auch solche, in die niemand je einen Blick geworfen hatte, weil sie verborgen in den Seitengängen standen und es verboten war, den Hauptweg zu verlassen. »Niemals vom Pfad abweichen« lautete das ungeschriebene Gesetz dieses Ortes.

Die Bibliothek befand sich in den uralten Katakomben des Hauses. Die Gewölbe und Tunnel stammten noch aus der Zeit, als die Römer Britannien erobert hatten. In den grünen Tälern der Cotswolds hatten sie Dutzende von prächtigen Villen errichtet. Auf den Ruinen eines dieser Anwesen stand heute der Landsitz, den die Faerfax nur die Residenz nannten.

Der Hausmeister Wackford polierte gerade die Eisentür der Bibliothek, als Furia von der Treppe in den Vorraum stürmte. Das Metall schimmerte silbern wie ein Spiegel, ihr Ebenbild darin war verzerrt. Das lag an der leichten Wölbung des Eisens – als hätte ein Bulldozer versucht, aus dem Inneren durch die Tür zu brechen. Nur dass ein Bulldozer nicht zwischen die Regale auf der anderen Seite passte.

Schlitternd kam sie vor Wackford zum Stehen. »Ist er hier gewesen?«, platzte sie heraus. »Ist mein Vater heute hier gewesen?«

Samuel Wackford war Anfang sechzig und sah keinen Tag jünger aus. Dennoch füllte er seinen blauen Arbeitsoverall mit beachtlichen Muskeln aus. Er hatte schon lange vor Furias Geburt in diesem Haus gelebt und kannte jeden krummen Nagel und jeden Riss im Gebälk. Vor allem aber wusste er Bescheid über die Geheimnisse der Bibliothek. Schon sein Vater hatte für die Faerfax gearbeitet und dessen Vater vor ihm.

Wackford hatte kurzes graues Haar und eine Gesichtshaut wie zerknülltes Papier. Er trug eine Narbe auf der linken Wange und eine schwere Stablampe wie einen Schlagstock an seinem Gürtel – beide seit jenem Tag vor sechsunddreißig Jahren, an dem auch die Tür zu Schaden gekommen war.

»Dein Vater war hier«, sagte er bedächtig, während Furia auf ihrer Unterlippe kaute. »Ungefähr vor einer Stunde.« Wackford tat nur wenige Dinge schnell, und sprechen gehörte nicht dazu. Er war fleißig, bemüht und stark wie ein junger Dockarbeiter, aber Geschwindigkeit war für ihn ein Fremdwort wie Frontispiz und Faksimile.

»Und?«

»Und was?«, fragte er.

»Hat er es gefunden? Das Buch?«

»Er hatte ein paar Bücher dabei – vier, wenn ich’s richtig gesehen hab.«

»Siebensterns Bücher?«

»Kann schon sein.«

»Verdammt!« Sie raufte sich das zerzauste blonde Haar. »Pip hat mir erzählt, dass Dad die Treppe raufgekommen ist. Von hier unten.«

»Woher auch sonst, junge Dame.«

»War das Buch dabei?«

»Ich hab ihn nicht nach den Titeln gefragt.«

Ganz kurz überkam sie Argwohn. »Du hast’s ihm doch nicht verraten, oder? Wo ich das Buch versteckt hab.«

»Wenn ich ihm erzählen würde, dass ich dich abseits des Weges erwischt habe, würde er mich fragen, wie es möglich ist, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen allein in der Bibliothek herumstreunt. Dann müsste ich ihm sagen, wie oft du auf eigene Faust hier unten bist.« Sein Blick wurde vorwurfsvoll. »Lass mich mitgehen. Jemand sollte da drinnen auf dich aufpassen.«

»Ich pass schon selbst auf.«

»Wenn dir was zustößt, dann …«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen federleichten Kuss auf die Wange. »Mir passiert schon nichts. Versprochen.« Sie trat einen Schritt zurück. »Warum bist du eigentlich hier unten? Ich dachte, du hilfst Sunderland mit den Möbeln.«

Wackford verzog abfällig die Mundwinkel. »Wenn Möbel aus der Residenz verkauft werden sollen, dann ohne mich. Ich mag’s hier so, wie es ist, mit jedem Stuhl und jeder Vase.«

»Dad sagt, wir brauchen das Geld. Dringend.« Wörtlich hatte er gesagt: Wir werden Wackford, Pauline und Sunderland entlassen müssen, wenn nicht schleunigst Kapital hereinkommt.

Der Hausmeister kratzte sich hinter dem Ohr. »Aber die Sachen einfach unten an die Auffahrt zu stellen, Preisschilder draufzukleben und zuzusehen, wie wildfremde Leute sie fortschaffen, das ist … nicht schön.« Aus seinem Gehörgang wuchs ein langes, weißes Haar. Er zupfte mit Daumen und Zeigefinger daran. »Nicht schön ist das.«

»Nein.« Furia hatte keine Zeit für so was. Nicht, wenn das Buch auf dem Spiel stand. »Lässt du mich nun rein?«

Er deutete auf seine Narbe. »Die hier ist nicht vom Rasenmähen.«

»Ich bin vorsichtig, wirklich.«

Sein Nicken war zögernd und mechanisch. Doch er trat dicht an die Tür, legte für eine halbe Minute die Hand auf das Metall und schloss schweigend die Augen. Dann nickte er abermals, diesmal entschiedener.

»Gut«, sagte er. »Scheint ruhig zu sein. Los geht’s.« Fast so als riefe ein Faultier: Jetzt aber Tempo!

Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und schob den längsten und ältesten der Schlüssel in eine Öffnung. Der Mechanismus im Eisen surrte und schnarrte wie ein Wespennest, dann ertönte ein Klicken, und das Schloss sprang auf.

Der Bücherduft, der ihnen entgegenschlug, war überwältigend. Furia verspürte schlagartig Hunger – Heißhunger auf neue Geschichten. Aber deshalb war sie nicht hier. Es ging ihr nur um eine einzige Geschichte, und die war fast zweihundert Jahre alt. Zudem kannte sie die fast auswendig.

Wackford trat durch die offene Tür und blickte in den engen Gang dahinter. Es herrschte eine Stille wie im Weltraum, und vielleicht war diese Bibliothek genau das: ein ganzes Universum von Welten, die noch entdeckt werden wollten.

Der Korridor war fast vier Yards hoch, aber sehr viel schmaler. Tausende von Büchern bedeckten jeden Fingerbreit der Wände. Die Gänge reichten meilenweit in den Fels und waren unendlich verästelt. Im neunzehnten Jahrhundert hatte sich einer von Furias Ahnen in den Kopf gesetzt, die unterirdische Anlage zu kartographieren, aber ebenso gut hätte er versuchen können, die Haare eines wütenden Gorillas zu zählen. Das Labyrinth war verzweigt wie eine Baumwurzel und schien ständig neue Wege in noch engere Spalten und Erdschichten zu finden. Wackford behauptete, sein Großvater sei vielen bis zu ihrem Ende gefolgt und habe selbst dort noch Bücher über Bücher gefunden. Die Bibliomantik hatte sich an diesem Ort verselbständigt, daran bestand längst kein Zweifel mehr. Und das war einer der Gründe, weshalb Furia so oft hierherkam. Sie konnte es nicht erwarten, selbst eine vollwertige Bibliomantin zu sein, ein Seelenbuch zu besitzen und das Seitenherz zu spalten.

Wackford deutete auf die nackten Glühbirnen, die an kurzen Kabeln von der Felsdecke baumelten. Elektrizität war hier unten in den vierziger Jahren verlegt worden, erhellte aber nur den Hauptweg und ein paar der vorderen Abzweigungen. »Im Augenblick scheint der Strom einigermaßen stabil zu sein. Vielleicht mal ein Flackern, aber keine nennenswerten Ausfälle. Trotzdem«, er hielt Furia die Stablampe entgegen, »nimm lieber die hier mit.«

Sie hatte eine eigene in der Gesäßtasche ihrer Jeans stecken, aber die war nur eine winzige Funzel gegen dieses Monster. Nach kurzem Zögern griff sie nach der Lampe.

»Ich hab noch eine«, sagte Wackford, »keine Sorge.«

Sie schwang sich das schwere Ding auf die Schulter wie eine Holzfälleraxt, dann betrat sie die Bibliothek. Nach wenigen Schritten hörte sie, wie Wackford ohne große Hoffnung rief: »Und nicht vom Pfad abweichen!« Millionen Seiten Papier dämpften seine Worte zu einem Wispern.

Hinter Furia fiel die Tür zu.

Sie war jetzt der einzige Mensch zwischen den Büchern, und sie liebte es, liebte sogar die Schatten und das Schweigen und die Gewissheit, dass es auf der Welt nur wenige Orte wie diesen gab. Womöglich nur den einen.

Erneut atmete sie tief ein, saugte den Bücherduft in ihre Lungen und noch heftiger in ihr Herz. Dann tauchte sie ab in die Untiefen der Bibliothek und war bereit, sich allem zu stellen, was hier leben mochte.

2

Furia folgte dem Hauptweg und hörte kaum ihre eigenen Schritte auf dem Steinboden. Die Bücher schluckten die meisten Laute. Ihr Herz schlug schneller. Sie war aufgeregt, das war sie immer, wenn sie die Bibliothek betrat. Dennoch weigerte sie sich, Angst zu haben. Meist hatte sie damit Erfolg.

Etwas huschte neben ihr über ein Regal, aber als sie hinsah, war es fort.

Sie ging weiter, bog auf dem Hauptweg um eine Ecke nach links und sah vor sich eine weitere Schlucht aus Büchern. Trotz aller Wegkehren und Ecken war es nicht schwer, auf Wackfords geliebtem Pfad zu bleiben – sie musste nur der Kette aus Glühbirnen folgen, die im Abstand von mehreren Yards die Dunkelheit der Gänge und Kammern erhellte.

Hinter den Regalen lagen unsichtbar die alten Grabnischen, aus denen angeblich alle Überreste entfernt worden waren. Doch was hatten die Toten von der Schändung ihrer Gräber gehalten, als die ersten Faerfax hier ihre Bibliothek eingerichtet hatten? Und wer wusste schon, wie es in den lichtlosen Seitengängen aussah, hinter all den Büchern, Büchern, Büchern?

Als Kind war Furia ihrem Vater einmal tief zwischen die Regale gefolgt, durch dämmrige Papiergewölbe und Grotten aus Buchrücken, bis sie ihn hinter einer Ecke aus den Augen verloren hatte. Als sie ihn endlich eingeholt und er sich umgedreht hatte, da war er nicht mehr ihr Vater gewesen – sondern ein Alptraum ihres Vaters. Den echten hatte sie erst nach einer Stunde wiedergefunden. Möglicherweise wanderte die Erscheinung noch heute zwischen den Regalen umher.

Die Korridore waren so eng, dass Furia selbst auf dem Hauptweg oft seitlich gehen musste, weil sie sonst mit den Schultern zwischen den prallgefüllten Regalen stecken geblieben wäre. Der Buchduft sättigte die trockene Luft, und wenn ein unerwarteter Windstoß durch die Gänge fuhr, trug er nur die Gerüche der Folianten heran und manchmal ferne Stimmen, die vielleicht einzig in ihrer Phantasie existierten.

Noch mehr Ecken und Kreuzungen, gelegentlich eine gewölbte Kaverne. Überall Regale, überall Papier, das meiste in Leder und Leinen gebunden. Milliarden und Abermilliarden Worte aus der ganzen Welt.

Das Buch, das Furia in die Bibliothek geführt hatte, trug einen langen Titel, nicht ungewöhnlich für das Jahr 1820, in dem es einst erschienen war: Fantastico Fantasticelli, der Herr des herbstlichen Halblichts. Der Autor war unter dem Namen Siebenstern bekannt, das Pseudonym eines ihrer deutschen Vorfahren. Er hatte mehrere Dutzend Bücher geschrieben, vor allem die damals so beliebten Räuberromane, und später noch einiges mehr. Der Fantastico war sein Erstling gewesen. Heute mochte das Buch vergessen sein, aber zu seiner Zeit hatten die Leser die Abenteuer des italienischen Räuberhauptmanns mit dem farbenfrohen Namen verschlungen.

Der Roman war das Lieblingsbuch ihrer Mutter gewesen. Sie hatte oft daraus vorgelesen, als Furia klein gewesen war. Cassandra Faerfax war bei Pips Geburt gestorben. Furia kämpfte Tag für Tag darum, ihr lächelndes Gesicht nicht zu vergessen. Wenn sie den Fantastico las, sah sie ihre Mutter vor sich, mit langem blonden Haar wie sie selbst, schmaler Nase und hoher Stirn, mit denselben grünen Augen und langen Fingern, die grazil die Seiten des Romans umblätterten. Furia sah sie am Bett eines kleinen Mädchens sitzen, das sie mit ihrer ruhigen Stimme in die Schluchten der italienischen Seealpen entführte, in die Welt des Räubers Fantasticelli und seiner Bande aus fröhlichen Taugenichtsen.

Eine Weile lang hatte Furia nach ähnlichen Büchern gesucht, alten und neuen, aber keines kam an den Fantastico heran. Siebensterns andere Romane waren oft nur ein Aufguss der gleichen Geschichte. Wenn es ein guter war, dann war er bunt und abenteuerlich und führte einen in fremde Zeiten; war es ein schlechter, haftete ihm etwas Schwermütiges und Auswegloses an. Und wirklich gut war nur der Fantastico gewesen, fand Furia.

Sie hatte das Buch vor ihrem Vater in Sicherheit gebracht, der in seiner rasenden Trauer viele Erinnerungsstücke an seine tote Frau verbrannt hatte. Wahrscheinlich, weil sein Kopf voller Erinnerungen war, die ihm Tag und Nacht keine Ruhe ließen. Mit den Jahren war die Suche nach dem Fantastico für ihn zu einer fixen Idee geworden. Er ahnte, dass Furia das Buch hatte verschwinden lassen. Und sie wusste, dass er heimlich noch immer nach ihm Ausschau hielt – als wäre dies der letzte Schritt, um seine Frau endlich ziehen lassen zu können.

Furia würde nicht zulassen, dass er das Buch zerstörte, so wie die Kleider ihrer Mutter und all die anderen Dinge, an denen sie gehangen hatte. Furia war ihm deshalb lange böse gewesen, aber mittlerweile verstand sie ihn besser. Auch zehn Jahre nach Cassandras Tod hatte Tiberius Faerfax noch immer nicht gelernt, mit der Tragödie umzugehen. Er war kein Mann, der Gefühle offen zeigte, und er sprach fast nie über seine Frau. Einzig über seine Erlebnisse im Krieg in den Nachtrefugien bewahrte er noch größeres Stillschweigen.

Wieder regte sich etwas in den Regalen, diesmal links von ihr. Sie blieb stehen und wandte langsam den Kopf.

Zwei winzige Origami-Vögel kauerten oben auf den Büchern, beide schon ein wenig vergilbt. Sie waren kunstvoll gefaltete Wunderwerke aus Papier. Der eine fraß gerade den Staub von einem Gedichtband, der andere schien Furias Blick zu erwidern. Dabei besaß er wie alle Origamis keine Augen, nicht mal ein Gesicht, abgesehen von der langen Schnabelspitze.

»Hey, ihr«, sagte Furia.

Das eine Tier fraß in Ruhe weiter. Das andere machte einen gestelzten Schritt an die Kante des Buchrückens, schlug einmal mit den eckigen Flügeln und legte den Kopf schräg. Es schien Furia zu mustern, als könnte es sie wirklich sehen, aber wahrscheinlicher war, dass es ihre Witterung aufgenommen hatte.

»Lasst euch nicht stören«, sagte Furia und ging weiter.

Bald darauf begegnete sie einem ganzen Schwarm, mindestens zwanzig von ihnen, die mit ihren Papierschnäbeln die grauen Staubflusen von den Büchern pickten. Sie waren Parasiten, die sich unkontrolliert vermehrten. Furias Vorfahren hatten sie gezüchtet, um das Einstauben der Bücher einzudämmen, eine Aufgabe, die sie vorbildlich erledigten. Sie hüpften und krabbelten durch die Regale wie bizarre Insekten, und selten begegnete man mehr als einer Handvoll auf einmal. Deshalb war der Schwarm, der sich gerade über die Gesamtausgabe eines portugiesischen Romanciers hermachte, ein ungewöhnlicher Anblick. Furia tat ihn mit einem Schulterzucken ab und lief weiter. Solange die Origamis nicht auf den Geschmack von Papier kamen, störten sie niemanden. Zum Glück entsprach Kannibalismus nicht ihrer Natur.

Sie sah noch einige mehr, ungewöhnlich viele von ihnen, ehe sie endlich die Kreuzung erreichte, an der sie nach links abbiegen musste. Genaugenommen: vom Pfad abweichen. Sie hatte den Fantastico in einem der dunklen Seitengänge versteckt, jenseits der elektrischen Verkabelung, neben einem schwedischen Buch über das Stanzen frühindustrieller Zahnräder. Sie vertraute darauf, dass ihr Vater in naher Zukunft kein Interesse am Maschinenbau in den Häfen des Bottnischen Meerbusens entwickeln würde.

Nach einigen Schritten schaltete sie Wackfords Stablampe ein. Raschelnd huschten einige Origamis durch den Lichtkegel. Furia leuchtete ihnen stirnrunzelnd hinterher und fragte sich, ob es in den Tiefen der Bibliothek wohl eine Plage der kleinen Kreaturen gäbe, deren Ausläufer sogar in den vorderen Bereichen zu spüren waren.

Sie musste zweimal abbiegen, ehe sie endlich das Fach mit dem Fantastico erreichte. Erleichtert sah sie, dass das Buch noch an seinem Platz stand. Sie legte die Lampe eingeschaltet ins Regal und zog den Roman hervor. Der feste Einband war braun angelaufen, die Bindung locker. Außen gab es keine Abbildung, nur den Titel in verblasster Schrift. Darunter stand: Die Aventüren des valoroso Capitano Fantasticelli aus den Annalen der ligurischen Historia. Sobald Furia diesen Untertitel las, hörte sie in Gedanken die Stimme ihrer Mutter, und ein warmer Schauder überlief sie.

Ihre beiden Vornamen stammten aus diesem Buch. Furia war eine trickreiche Diebin, die Fantasticelli mehr als einmal die Beute abluchste, Salamandra eine zauberkundige Waldfrau mit Warzen im Gesicht.

Auch ihr Bruder Pip war nach einer literarischen Figur benannt, dem Helden von Charles Dickens’ Große Erwartungen. Dickens war der Lieblingsautor ihres Vaters, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Tiberius einst in leidenschaftlichen Diskussionen darauf bestanden hatte, zumindest seinen Stammhalter nach einem Dickenshelden zu benennen, da seine Tochter den Namen eines warzigen Wurzelweibes trug.

Furia schlug das Buch auf, las den Anfang, und erneut war es wie Liebe auf den ersten Blick. Es begann mit einer Sturmnacht, einem Lagerfeuer, einer Geschichte in der Geschichte. Ehe Furia sich versah, hatte sie sich festgelesen, blätterte zur zweiten und zur dritten Seite –

Und hörte ein Knistern.

Erschrocken ließ sie den Roman sinken, wollte nach der Stablampe greifen und stieß sie dabei versehentlich vom Regal. Als die Lampe auf den Boden prallte, spritzten dort Hunderte schwarze Punkte auseinander, wimmelnd und wuselnd wie Flöhe.

Buchstaben.

In Windeseile formierten sie sich zu einem langen Band, das von einem Regal zum anderen reichte und sich in beiden Richtungen fortsetzte, bis es sich in den Schatten verlor. Vokale und Konsonanten, dazwischen Umlaute mit Pünktchen, die wie Stielaugen an haarfeinen Fühlern wippten.

Furia atmete tief durch, legte das Buch ins Regal und hob die Lampe auf. »Ihr nun wieder.« Mit einem Ächzen ließ sie den Lichtstrahl über die Heerschar aus krabbelnden Buchstaben wandern.

Erneut war das Knistern zu hören, und plötzlich strömten die winzigen Lettern aus allen Richtungen zu einem Punkt unmittelbar vor Furia zusammen. Dort türmten sie sich schiebend und purzelnd übereinander und waren gleich darauf kaum mehr von einem stattlichen Ameisenhaufen zu unterscheiden.

Langsam schob sich seine Spitze immer höher, wie ein Baumstamm im Zeitraffer. Sie schwankte leicht, als sie Furias Augenhöhe erreichte, und beugte sich seitwärts zu jenem Regalfach, in dem der Fantastico stand. Ein paar Dutzend Buchstaben hüpften hinüber, einige bildeten blitzschnell drei Wörter:

GuTeN TaG FuRiA

In der Schwarmintelligenz der Buchstaben – alle aus zerfallenen Büchern gerieselt – existierten keine Satzzeichen. Furia hatte einmal nach den Gründen gefragt und prompt Entrüstung geerntet. Kommas, Punkte und erst recht Semikolons seien unnützes Zeug. Für sie gab es im Schwarm keinen Platz.

»Hallo, Ypsilonzett«, sagte Furia, während sich die Lettern im Regal neu sortierten. Sie hatte vor ein paar Jahren beschlossen, dass der Schwarm einen Namen brauchte, und Ypsilonzett war der erste gewesen, der ihr eingefallen war. »Du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt.«

Du mUssT HieR wEg, schrieben die Buchstaben. Einige der Überzähligen sprangen aufgeregt im Regal umher, als wollten sie die Dringlichkeit der Warnung betonen.

Furias Kehle wurde trocken. »Was ist los?«

Das Gewusel begann erneut, dann stand da nur ein einziges Wort:

ScHiMmelRoCheN

Sie fluchte. »In der Nähe?«

UnTeRweGs hiERheR

Sie wirbelte mit der Lampe herum und leuchtete in beide Richtungen den Gang hinab. Auf der einen Seite war nichts zu sehen, auf der anderen warf der Buchstabenhaufen einen wabernden Schatten. Dahinter war alles leer.

»Wie weit entfernt?«

Als sie wieder ins Regal leuchtete, stand dort: EiN pAar EckeN

Seit über hundertfünfzig Jahren sorgten die Bibliomanten der Faerfax dafür, dass keine Feuchtigkeit in die Katakomben drang. Doch stieß auch ihre Macht gelegentlich an Grenzen. Dann kam es vor, dass sich hinter einem Regal in den äußeren Bereichen Nässe sammelte und ein Schimmelrochen heranwuchs, vom selben Leben beseelt wie Ypsilonzett und die Origami-Tiere.

Der Zeitpunkt mochte Zufall sein, aber Furia erinnerte sich schmerzlich daran, dass ihr Vater in letzter Zeit sehr beschäftigt und unaufmerksam gewesen war.

WeG Hier, ermahnte Ypsilonzett sie.

»Von wo kommt er?«

ReChTs

Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Weiß er, dass ich hier bin?«

Du bisT zu LauT

Und dann:

Ein eCHter TRaMpeL

Furia schnippte das T gegen die Buchrücken. Es prallte ab und überschlug sich, huschte aber sofort zurück an seinen Platz. Andere gesellten sich dazu, und in Windeseile stand dort: TRaMpeLTrAmpELTrAmpelTrampeL

Ypsilonzett hatte recht. Sie hatte Wackfords Warnung in den Wind geschlagen und sich viel zu sicher gefühlt. Wenn der Schimmelrochen sie erwischte, würde Ypsilonzett durch Erdspalten auf ihren Grabstein kriechen und drei Worte auf den Granit buchstabieren.

Furia Faerfax

1999–2014

ÜbRiGenS sElbSt sChuLd

Nach rechts ging es zurück zum Hauptweg, aber wenn sie dem Rochen ausweichen wollte, musste sie die andere Richtung nehmen, in der Hoffnung, später einen Bogen schlagen zu können.

LAuf, schrieb Ypsilonzett. JetzT

Sie hatte den Fantastico schon halb zurück ins Regal geschoben, als sie es sich anders überlegte. Wer wusste schon, wann sie die Gelegenheit bekäme, hierher zurückzukehren – falls das in ein paar Minuten überhaupt noch eine Rolle spielte. Sie stopfte das Buch hinten in den Bund ihrer Jeans, zog das T-Shirt darüber und rannte los. Der Schein der Stablampe zappelte vor ihr über Bücher und Boden. Das Knistern des Schwarms begleitete sie. Ypsilonzett war wieder in sich zusammengesunken und krabbelte eilig wie zwei Ameisenstraßen rechts und links von ihr am Fuß der Regale entlang.

Hinter ihr erklang ein Fauchen. Sie blickte im Laufen über die Schulter, aber da war nur eine Wand aus Finsternis. Um dorthin zu leuchten, hätte sie stehen bleiben müssen.

Aus dem Fauchen wurde ein Zischen, und ein zweiter Geruch überlagerte den Buchduft: der Gestank von feuchtem Keller.

Sie erreichte eine Kreuzung und bog nach links. Vor ihr lag ein Gang, durch den sie nur seitwärts passte, so dicht standen sich hier die Bücherregale gegenüber.

Ehe sie sich hineinzwängte, schwenkte sie die Lampe ganz kurz in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie wusste, dass es ein Fehler war, noch ehe sie die Bewegung zu Ende geführt hatte. Einen Atemzug lang lähmte sie der Anblick.

Der Rochen war viel größer als der letzte, dem sie begegnet war. Da war sie neun gewesen und in Begleitung ihres Vaters. Heute, sechs Jahre später, war niemand da, hinter dem sie sich hätte verstecken können.

Die Kreatur war ein pelziger Fladen aus Schimmelsporen, größer als ein Kopfkissen und schillernd wie ein Ölteppich. Sie schwebte waagerecht durch den Gang heran. Ihre Ränder flatterten wie die Blätter von Unterwasserpflanzen in einer Strömung. Am vorderen Rand klaffte ein Spalt und wurde immer breiter, bis es aussah, als wollte sich der Rochen in zwei Schichten teilen. Der Gegenwind blähte das Maul noch weiter auf, und so segelte er auf Furia zu wie ein offener Sack, der sich im nächsten Moment über ihren Oberkörper stülpen und sie bei lebendigem Leib verschlingen würde.

Mit einem wütenden Aufschrei fuhr sie herum und zwängte sich in den schmalen Gang. Zumindest würde sie nicht die Einzige sein, die hier mit der Enge zu kämpfen hatte, es sei denn –

Der Rochen drehte sich im Flug in die Vertikale und folgte ihr flach wie ein Plattfisch zwischen die Regale. Noch hatte Furia fünf Yards Vorsprung, aber der schrumpfte in Sekundenschnelle. Als der Schimmelgestank überwältigend wurde, blieb sie stehen, wirbelte herum und riss in derselben Bewegung ein Buch aus dem nächstbesten Fach. Einige Origamis strömten aus der Lücke. Raschelnd sprangen sie auf ihren gefalteten Papierbeinen über Furias Arme und Schultern, hüpften aufs gegenüberliegende Regal und krabbelten aus dem Lichtschein ins Dunkel.

Furia schleuderte das Buch direkt in den Schlund des Rochens. Der Spalt schloss sich, während die Kreatur innehielt; womöglich überlegte sie, ob sie bereits ein Stück des Mädchens verschluckt hatte. Furia schob sich derweil weiter, sah etliche Origamis in dieselbe Richtung fliehen und begriff endlich, warum es so viele waren: Sie hatten sich vor dem Schimmelrochen in Sicherheit bringen wollen, waren aus den tieferen Regionen geflohen und hatten ihren Verfolger damit geradewegs hierhergelockt.

In ihrem Kopf läuteten hundert Alarmglocken. Vielleicht konnte sie ihn mit weiteren Wurfgeschossen ablenken, aber das bezweifelte sie. Im selben Moment traf sie etwas hart an der Schulter, und einen Augenblick lang erwartete sie, dass sich gleich die Schimmelpilzkiefer des Rochens um ihren Schädel schließen würden. Doch es war nur das Buch, das die Kreatur mit erstaunlicher Wucht wieder ausgespien hatte.

Selbst in solch einer Lage schmerzte es Furia, den zerstörten Band am Boden zurückzulassen. Bibliomanten, die Büchern nicht mit Respekt begegneten, verloren ihre Fähigkeiten. Ließ ihre Liebe zur Literatur nach, schwand auch ihre Kraft. Und Furia war noch lange keine vollwertige Bibliomantin. Das bisschen Energie, das sie aus Büchern ziehen konnte, war kaum der Rede wert.

Sie hatte durch das Zögern des Rochens ein paar Schritte Vorsprung herausgeholt, aber nun setzte er die Verfolgung fort und ließ sich auch nicht von den panischen Origamis ablenken, die rundum über Fächer und Bücher wirbelten. Jetzt wollte er Furia.

Die Regale waren fest an den Wänden verschraubt und viel zu schwer, um sie als Blockade zu nutzen. Sie konnte nur versuchen, schneller zu rennen, noch flinker durch die Kluft zwischen den Büchern zu huschen, und sich zugleich Gedanken zu machen, welche ihrer bescheidenen Fähigkeiten sie einsetzen wollte. Aber dafür hätte sie sich konzentrieren müssen, was im Augenblick völlig unmöglich war.

Vor ihr weitete sich der Gang, drei Stufen führten abwärts. Furia bemerkte es zu spät. Fluchend verpasste sie den oberen Absatz, hatte plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen und stürzte ins Leere. Gleich darauf krachte sie auf ein Knie, schrie auf und rollte sich zur Seite. Die Stablampe rutschte ihr aus der Hand, kullerte herum, warf ein Lichtoval auf eine Bücherwand und erhellte nur vage die Schneise, aus der sie gekommen war.

Der Schimmelrochen glitt daraus hervor in den breiteren Gang, legte sich wieder in die Waagerechte und zog einen Schwall entsetzlichen Gestanks hinter sich her. Furia sah ihn über sich hinwegziehen, womöglich hatte er für Sekunden ihre Witterung verloren. Origamis huschten zu Dutzenden umher, ihre Schatten sahen aus wie eckige schwarze Katzen, die von Regal zu Regal sprangen.

Ein Schwall von Buchstaben stob hinter dem Rochen aus dem Gang, floss die Stufen herunter und zog sich schützend zwischen Furia und der Kreatur zusammen. Aus dem wimmelnden Haufen wurde ein Turm, der gegen die Unterseite des flatternden Rochens prallte und ihn aus seiner Bahn warf. Das aber behinderte ihn nur kurz, dann wurde er durch den Angriff auf das aufmerksam, was sich unter ihm am Boden befand. Er registrierte Ypsilonzett und Furia in derselben Sekunde, blähte sich auf und drehte sich mit aufgerissenem Maul in ihre Richtung.

»Verschwinde!«, schrie Furia ihm entgegen, meinte aber Ypsilonzett, denn schon saugte der Rochen die ersten Buchstabenströme in seinen Schlund. Weitere Vokale und Konsonanten prasselten die Stufen herab, aber es waren zu wenige, um den Verlust auszugleichen. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe der ganze Schwarm im Schimmelmaul verschwunden sein würde.

Furia taumelte auf die Beine. Mehrere Origamis sprangen in ihrer Panik von den Regalen und gerieten in den Sog des Rochenschlunds. Ypsilonzett blähte sich im Inneren des Mauls zu einem Ballon aus Buchstaben auf, brachte die Kreatur ins Trudeln und wehrte sich mit aller Kraft. Aber damit schien er seinen Untergang nur hinauszuzögern, denn der Rochen presste schmatzend seine schillernden Kiefer aufeinander und schnitt dabei den nachfließenden Strom der Buchstaben ab.

Mit geballten Fäusten sprang Furia gegen den Rochen. Ihre Hände verschwanden bis zum Unterarm in der weichen Schimmelmasse, sie spreizte die Finger und versuchte, ganze Stücke aus dem Körper des Wesens zu reißen. Wattige Sporenwolken explodierten ihr ins Gesicht, aber selbst das schien den Rochen nur zu irritieren und schlug ihn nicht in die Flucht. Sein Leib aus Schimmelpilzen war fest und zugleich hochelastisch. Furias Angriff verursachte lediglich ein paar Dellen.

Das Maul des Rochens war noch immer geschlossen, vereinzelte Buchstaben hingen an den Rändern im Sporenpelz, andere fielen in die Tiefe und verschmolzen mit dem Schwarm. Furia stolperte zurück, prallte mit den Fersen gegen die untere Treppenstufe und behielt nur mit Mühe ihr Gleichgewicht.

Der Schimmelrochen schwebte jetzt genau vor ihrem Gesicht. Er schien die letzten Buchstaben in seinem Inneren zu verdauen, dann lief eine Welle durch seinen Fladenkörper. Mit einem scheußlichen Fauchen teilten sich seine Hälften, und Furia blickte geradewegs in den klaffenden Schlund. Zermalmte Origamis klebten am Gaumen, dazwischen reglose Buchstaben wie Überreste von Schokostreuseln. Der Gestank raubte ihr den Atem und fast das Bewusstsein.

Vielleicht wäre das ja das Beste gewesen: ohnmächtig zu werden wie die übersensiblen Fräuleins in den alten Romanen, das Verderben einfach zu ignorieren und das Ende gnädig zu verschlafen. Aber sie war Furia Salamandra Faerfax – Anwärterin auf die Macht der Bibliomantik und bald schon Trägerin eines Seelenbuchs. Ganz sicher würde sie nicht bewusstlos zu Boden sinken und aufgeben wie ein zittriges Rühr-mich-nicht-an.

Sie fixierte ihren Gegner und nahm all ihren Mut zusammen. Dabei ballte sie die Fäuste und rammte sie dann mit aller Kraft nach oben, genau unter den Schlund des Schimmelrochens. Ihre Hände stießen durch den Sporenpelz, und für eine endlose Sekunde konnte Furia sie im Inneren des Rochens sehen, mitten in seinem Maul. Als sie die Arme wieder nach unten riss, geriet die Kreatur ins Schwanken und sackte in die Tiefe.

Am Boden spritzten die Reste von Ypsilonzett auseinander, als der wabernde Schimmelteppich auf das Gestein klatschte. Furia sprang mit beiden Füßen darauf, hielt das Wesen mit ihrem Gewicht am Boden fest, trampelte und trat und kümmerte sich nicht darum, dass es immer wieder versuchte, sie abzuwerfen. Buchstaben strömten aus allen Richtungen in das Sporengeflecht, bildeten feste Stränge, die sich wie ein Netz um die Ränder des Rochens zusammenzogen und ihm das Leben aus den Fasern pressten. Zugleich riss Furia mit ihren Chucks immer größere weißgrüne Stücke aus der Mitte des Körpers.

Es dauerte Minuten, bis die Gegenwehr der Kreatur erschlaffte. Die Sporenfäden verklumpten wie nasse Watte, dann zerfielen sie. Zurück blieb ein milchiger Film am Boden, stinkend nach Moder und Fäulnis.

Furia sank erschöpft in die Hocke, ließ Buchstaben durch ihre Finger rieseln und sah den Origamis bei ihrem albernen Freudentanz vor den Buchrücken zu.

3

Furia Salamandra Faerfax war eine Schlafleserin. Sie verschlang Bücher, während sie schlief. Es gab einen lateinischen Namen für diese Fähigkeit: Somnevolismus. Weil niemand sonst darunter litt, hatte sie sich das Wort selbst ausgedacht.

»Somnus heißt der Schlaf und Evolutio das Lesen«, hatte sie ihrem Bruder erklärt. Pip war fünf Jahre jünger als sie. »Somnevolismus, eben. Schlaflesen.«

Pip las Bücher, wenn er wach war, so wie alle anderen Menschen, aber er kannte Furia gut genug, um ihr nicht zu widersprechen. Womöglich hätte sie ihm sonst die Clown-Schminke verwischt, die er immer trug, sobald er sein Zimmer verließ. Pip fürchtete sich vor Clowns und glaubte, auf diese Weise würden sie ihn für einen von ihnen halten.

»Es kommen keine Clowns in die Residenz«, hatte sie einmal zu ihm gesagt. »Es gibt also keinen Grund, von morgens bis abends mit Make-up herumzulaufen. Außer, man ist Transvestit.«

Pip hatte zaghaft gelächelt, vielleicht weil er das Wort nicht kannte. Geglaubt hatte er ihr nicht.

»Allerdings«, hatte Furia listig hinzugefügt, »hab ich ein paar von ihnen draußen im Park gesehen. Manchmal drücken sie ihre Gesichter gegen das Speisekammerfenster und hinterlassen weiße Abdrücke wie Totenköpfe.«

Seitdem mied Pip die Speisekammer, und Furia hatte alle Lebkuchen für sich allein. Pauline, die Köchin der Faerfax, war die Königin der Lebkuchen, buk sie auch im Sommer und bestrich sie extra dick mit honigsüßem Sirup, den Furias Vater bisweilen aus schnulzigen Liebesromanen destillierte.

Tiberius Faerfax vermochte dies und noch vieles mehr, aber weil Furia sein Talent geerbt hatte und auch einmal eine mächtige Bibliomantin sein würde, verblüffte es sie nicht, wenn er die Kraft der Bücher anzapfte und mit ihrer Hilfe Wunder wirkte.

Er tat das nur selten, aus Sorge, ihre Feinde könnten ihn und seine beiden Kinder entdecken. Bibliomantik war eine stille Kunst. Doch die Macht, die Magie der Bücher – aller Bücher – zu nutzen, erzeugte Schwingungen, die bis zum Horizont reichten. Wer Ausschau danach hielt, der fand ihre Spuren überall. Und die Adamitische Akademie wartete nur darauf, dass Furias Vater ihr durch ein Missgeschick seinen Aufenthaltsort verriet.

»Sie werden versuchen, uns zu töten«, hatte er seinen beiden Kindern erklärt, mit jenem sorgenvollen Ernst, der aus fast allem sprach, was er sagte. »Wir alle müssen immer auf der Hut sein, ihr genauso wie ich.«

Furia hatte ihren kleinen Bruder an sich gezogen. »Du machst Pip Angst.«

»Das ist gut«, hatte Tiberius Faerfax gesagt. »Die Angst vor der Adamitischen Akademie wird uns alle am Leben erhalten, weil sie uns davor bewahrt, Fehler zu machen.«

Furia hatte diesen Vortrag schon viele Male gehört, genauso wie ihr Bruder. Nur war Pip kein Bibliomant und würde vielleicht auch nie einer werden, während sie vor Aufregung Sterne sah, sobald sie nur daran dachte, eines Tages alle Fähigkeiten ihres Vaters zu besitzen. Sein Seelenbuch hatte ihn gefunden, als er vierzehn gewesen war. Furia war bereits fünfzehn und wartete noch immer vergebens darauf. Ohne eigenes Seelenbuch konnte sie keine echte Bibliomantin sein und musste sich mit den paar Kunststücken zufriedengeben, die sie mit Müh und Not zustande brachte.

Mit dem Seelenbuch würde alles besser werden, davon war sie überzeugt. Insgeheim glaubte sie, dass auch ihr Vater ungeduldig darauf wartete. Sie konnte es ihm ansehen, ein rastloses Flackern in seinem Blick, wenn er sie aus dem Augenwinkel beobachtete; sie hörte es in seiner Stimme, wenn er ihr von alten Zeiten erzählte, von den Intrigen des Scharlachsaals und den geheimen Refugien; sie spürte es, wenn er ihr über den Kopf strich und nach dem bibliomantischen Feuer in ihr tastete.

Aber mochte ihre Ungeduld auch noch so groß sein – es änderte nichts daran, dass das Seelenbuch sie finden musste, nicht umgekehrt. Dort draußen war die weite Welt, laut und schrill und tanzend, aber die Faerfax lebten in der Abgeschiedenheit der Cotswolds, in der Stille der Bücher, verborgen vor den Agenten der Akademie.

Manchmal kam es Furia vor, als veränderten sich hier im Tal nur die Jahreszeiten. Der Frühling ließ die Wiesen erblühen, der Sommer die Grillen zirpen, der Herbst färbte die Heckenreihen golden, und der Winter begrub die Hügel unter Schnee. Alles andere blieb gleich: Ihr Vater verbiss sich in seine Studien, Pip versteckte sich vor den Clowns, und Furia wartete. Monat um Monat um Monat.

4

Eine Stunde nach den Ereignissen in der Bibliothek saß Furia frisch geduscht in ihrem alten Lesesessel, den aufgeschlagenen Fantastico im Schoß, beschienen vom Licht einer Stehlampe mit schwenkbarem Schirm. Sie hatte sich im vierten Kapitel festgelesen, bei der ersten Begegnung des Räuberhauptmanns mit seiner Rivalin und späteren Geliebten, der ebenso liebreizenden wie berüchtigten Furia Zingarelli. Sie war die uneheliche Tochter des Herzogs von Mailand und seine Erbin – wären da nicht ihre Stiefbrüder gewesen, die sie mit einem unerschöpflichen Trupp von Söldnern durch die Schluchten und Buchten Liguriens jagten.

Während Furia las, huschten schemenhafte Erscheinungen über die Wände ihres Zimmers. Die bibliomantische Tapete zeigte alle Bilder, die sie vor ihrem inneren Auge sah: verwegene Gestalten in zusammengeflickter Kleidung, feindliche Soldaten in schimmernden Rüstungen und natürlich die schöne Diebin mit ihrer goldenen Lockenpracht, der nicht nur Hauptmann Fantasticelli verfallen war. Das alles vor einer Kulisse aus nebelverhangenen Wäldern, die sich über steile Berge bis zu den Küsten des Mittelmeers erstreckten.

Dieselben Bilder hatte das Buch schon in ihr heraufbeschworen, als ihre Mutter zum ersten Mal daraus vorgelesen hatte. Es war Cassandra gewesen, die darauf bestanden hatte, das Buch den Fantastico zu nennen. Sie hatte von Siebensterns Roman wie von einer Person gesprochen, so nah hatte sie sich ihm gefühlt. Furias Vater hatte das Buch einmal ihren heimlichen Liebhaber genannt, vielleicht nicht ganz ernst gemeint, aber dennoch mit einem eifersüchtigen Unterton, war doch kaum ein Abend vergangen, an dem seine Frau den vergilbten Band nicht mit ins Bett genommen hatte.

Die Tapeten in Furias Zimmer zeigten die Szenen des Romans nicht fortlaufend wie in einem Film, sondern als chaotisches Flickwerk aus Gesichtern und Szenen. Aber so war das mit den Bildern im Kopf: Verständlich erschienen sie nur dem Leser selbst. Manchmal hielt Furia inne und blickte sich um, während die Erscheinungen an den Wänden leuchteten und ihr ein wenig zeitversetzt zeigten, was sie gerade gelesen, gesehen und empfunden hatte.

»Du siehst traurig aus«, sagte die Leselampe und richtete ihren Schein kurz auf Furias Gesicht, dann rasch zurück auf das Buch. Ihre Stimme klang metallisch wie ein altes Grammophon. Wenn die Lampe ihre Gelenke bewegte, quietschten sie zum Steinerweichen. Furia hatte sich schon vor Monaten vorgenommen, sie endlich zu ölen oder Wackford darum zu bitten.

»Sie hat Schmerzen im Knie«, sagte der Lesesessel mit seinem tiefen Bass, der immer ein wenig gedämpft und brummig aus den Spalten des Lederbezuges drang. Tatsächlich hatte Furia entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit nur ein Bein im Sessel angewinkelt, das andere jedoch ausgestreckt; es tat noch immer weh vom Sturz die Stufen hinunter.

Seufzend rückte sie sich auf dem knautschigen Polster zurecht. Dem Sessel entlockte das ein wohliges Grummeln. Er mochte es, wenn man es sich in ihm bequem machte.

»Alles in Ordnung«, sagte sie. »Ist nur ein blauer Fleck.« Nach der Rückkehr aus der Bibliothek hatte sie lange geduscht, um die Sporen des Schimmelrochens von ihrem Körper zu waschen. Jetzt trug sie einen purpurfarbenen Frotteebademantel über ihrem Sleepshirt.

Mit einem erbärmlichen Knirschen strahlte ihr die Lampe erneut ins Gesicht. »Ich erkenne traurig, wenn ich traurig sehe.«

Furia wusste auch nach fünfzehn Jahren nicht so recht, womit die Lampe eigentlich sah und sprach. Weder sie noch der Sessel besaßen Augen oder Mund. Ihre Stimmen drangen aus dem Inneren, und an der Sehkraft der Lampe änderte sich auch dann nichts, wenn man ihre Glühbirne austauschte. Beide waren bibliomantische Wunderwerke, die ihr Großvater Cassius Faerfax vor langer Zeit ausgetüftelt hatte. Furia bedauerte, dass sie ihn nie kennengelernt hatte.

Mit einem Seufzen nickte sie zu den mannshohen Schemen auf der Tapete hinüber. Hauptmann Fantastico und die blonde Diebin standen sich gerade an einem Abgrund mit Blick auf ein endloses, bewaldetes Tal gegenüber.

»Es ist nur … wegen ihr«, sagte Furia. »Immer wenn ich sie sehe, dann …«

»Was?«, fragte der Sessel mit dem Feingefühl eines Sitzmöbels.

»Also«, sagte die Lampe, »für mich scheint sie ganz passabel auszusehen.«

Furia überlegte, ob sie es den beiden wirklich erklären wollte. Schließlich gab sie nach. Vor vielen Jahren hatte sie der Diebin in ihrer Vorstellung das Gesicht ihrer Mutter gegeben. Nicht absichtlich, es war ganz von selbst geschehen. Doch je mehr Zeit seit Cassandras Tod verging, desto verschwommener wurden ihre Züge. An ihre Stelle trat eine vage Erinnerung, ein konturloses Phantombild, das kaum noch etwas mit Cassandra Faerfax gemein hatte. Der Wandel war schleichend gewesen, doch in letzter Zeit fiel er Furia immer deutlicher auf. Sie vergaß allmählich, wie ihre Mutter ausgesehen hatte, und das schmerzte weit mehr als eine dumme Prellung am Knie.

»Warum siehst du dir kein Foto von ihr an«, fragte der Sessel, »und frischst deine Erinnerung auf?«

Die Lampe federte erregt auf und ab. »Weil der Alte sie alle verbrannt hat«, gab sie zurück, ehe Furia antworten konnte. »Selbst du kannst das nicht vergessen haben, Lederbacke!«

Der Sessel brummelte etwas tief im Inneren und schwieg beleidigt.

Furia schlug das Buch zu. Die Bilder an den Wänden lösten sich auf, die Tapete zeigte wieder ein Muster in blassem Türkis. Vorsichtig belastete sie das angeschlagene Bein und ging zu ihrem Schreibtisch hinüber. Er stand vor einem der hohen Fenster, die hinaus auf den Vorplatz der Residenz wiesen. Jenseits der gewundenen Auffahrt und einiger Bäume erstreckten sich die Hügel der Cotswolds im Licht des Halbmonds. Tagsüber war die Landschaft zwischen Oxford und Gloucester an Schönheit kaum zu überbieten, ein grünes Meer aus Hängen und Senken, durchzogen von Heckenreihen, Bächen und verwunschenen Hainen. Bei Nacht aber glich sie mit ihren Schattentälern und labyrinthischen Wegen eher dem Jagdrevier wilder Wolfsrudel – selbst wenn nur die Hofhunde der abgelegenen Farmen im Dunkeln den Mond anheulten.

Furia schob den Fantastico unter eine Bodendiele neben dem Schreibtisch und zündete mit Streichhölzern die Kerzen eines Silberleuchters an.

»Licht aus«, sagte sie zur Lampe.

Ihre behagliche Leseecke versank in Finsternis, Sessel und Lampe wirkten wieder so leblos wie der Rest des Mobiliars.

Die Digitaluhr neben ihrem Bett zeigte, dass es nach dreiundzwanzig Uhr war. Furia öffnete eine Schreibtischschublade und zog eine Pralinenschachtel hervor. Unter der Folie mit den Schokokugeln lag das zweite Buch, das sie in ihrem Zimmer versteckte. Sie legte es vor sich auf den Tisch und öffnete den dunkelbraunen Deckel. Im Inneren des fingerdicken Einbandes befand sich ein längliches Fach, darin steckte eine gläserne Schreibfeder. Der Griff war kunstvoll gedreht wie ein in die Länge gezogenes Schneckenhaus. Von einem Ende zum anderen reichte ein weißer Kern, den die gewundene Oberfläche zu einem spiralförmigen Muster verzerrte. Auch die Spitze bestand aus Glas. Furia hatte noch nie ein schöneres Schreibinstrument gesehen.

Im Papierwarenladen von Winchcombe hatte sie ein Tintenfass besorgt, dessen Inhalt bereits zur Neige ging. In letzter Zeit benutzte sie es fast täglich.

Die vorderen vierzig oder fünfzig Seiten waren eng beschrieben, in zwei unterschiedlichen Handschriften. Die eine gehörte Furia, fein geschwungen, ein wenig mädchenhaft. Die zweite Schrift wirkte altmodisch, die schrägen Buchstaben standen eng und ließen sich erst mit einiger Übung entziffern. Furia stolperte noch immer über manche Wörter oder konnte hier und da einzelne Lettern nur mit viel Phantasie erkennen.

Severin Rosenkreutz, dem die Schrift gehörte, benutzte schwarze, zähe Tinte, Furias blaue war feiner und schrieb eleganter. Seit sie herausgefunden hatte, wie man mit der Glasfeder umging, kleckste sie kaum noch beim Schreiben.

Furia und Severin schrieben abwechselnd in das Buch, sie in der Gegenwart, er im Jahre 1804. Es hatte eine Weile gedauert, ehe sie ihm das abgenommen hatte, aber mittlerweile war es keine große Sache mehr. Nachdem sie erst einmal erkannt hatte, dass sie durch dieses Buch einen Dialog mit dem fremden Jungen führen konnte, war es leichtgefallen, auch den Rest zu akzeptieren. Etwa, dass Severin einer ihrer Urahnen war, zu einer Zeit, als ihre Familie noch unter dem Namen Rosenkreutz in Deutschland gelebt hatte. Erst Jahre später, 1836, war sie von der Adamitischen Akademie zerschlagen worden – die Überlebenden hatten die Flucht ergriffen und waren nach England übergesiedelt. Aus den letzten Rosenkreutz waren damals die Faerfax geworden und diese versteckten sich seither in den Cotswolds vor den Agenten der Akademie.

Severin hatte gestern ihren letzten Eintrag beantwortet – genaugenommen vor über zweihundert Jahren, doch im Buch waren die Worte erst in der Nacht erschienen. Er benutzte dasselbe Buch wie sie, dieses Exemplar, nur dass er es in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort in Händen hielt, und sie eben hier und jetzt. Sie benutzten es wie andere Menschen ihre Smartphones, schrieben sich Nachrichten, erzählten sich von den kleinen und großen Dingen ihres Alltags und gaben einander Ratschläge, wenn einer von ihnen bedrückt oder zornig war.

Nach der Begegnung mit dem Schimmelrochen hatte Furia derart unter Adrenalin gestanden, dass sie sich erst einmal hatte beruhigen müssen. Der Fantastico war ein gutes Mittel dafür, sie musste ihn nur aufschlagen und seinen Geruch einatmen, dann fühlte sie sich geborgen. Las sie einige Seiten darin, vergaß sie für eine Weile alles Unangenehme, die Einsamkeit in der Residenz und die überzogenen Hoffnungen, die ihr Vater in sie setzte.

Nach einem Kapitel war sie entspannt genug, um mit Severin zu sprechen. Sie nannten es beide so – sprechen –, auch wenn es natürlich in Wahrheit etwas anderes war, von dem Furia nicht wusste, ob es womöglich aufrichtiger, tiefgehender und in gewisser Weise bibliomantischer war.

Mit Hilfe von Feder und Tinte erzählte sie ihm, was geschehen war. Sie wusste, dass er es verstehen würde. Er war ein Bibliomant wie sie, und allein das machte ihn zu einem besseren Zuhörer, als die Jungs in Winchcombe oder Stanway es je würden sein können. Er war wie Furia. Oft schien er sogar dasselbe zu denken. Er war siebzehn, zwei Jahre älter als sie.

Sie wusste natürlich, dass er in einer Zeit lebte, die sich von ihrer unterschied wie der Tag von der Nacht. Deshalb erwähnte sie so gut wie nie moderne Gegenstände oder Geräte. Es gab ohnehin nur wenige in der Residenz, kein Internet und nur einen einzigen uralten Fernseher, der kaum benutzt wurde. Wie hätte sie ihm all das auch erklären sollen? Lieber sprach sie mit ihm über Bücher, ihren Vater, über das Leben im Verborgenen auf einem maroden Landsitz im Nirgendwo.

Er erzählte dafür von dem großen Haus am Rhein, in dem er mit seiner Familie wohnte, von der Bibliothek, die es mit den größten seiner Zeit aufnehmen konnte, und von seinen Bemühungen, mit den Fähigkeiten klarzukommen, die vor einigen Jahren in ihm erwacht waren. Es handelte sich fraglos um Bibliomantik, daran gab es keinen Zweifel, aber er schien den Begriff nie gehört zu haben – er benutzte ihn erst, seit Furia ihn erwähnt hatte.

Gewiss, zu seiner Zeit hatte es noch keine Adamitische Akademie gegeben, die über die Welt der Bibliomanten wachte, und keinen Krieg zwischen den fünf Häusern des Scharlachsaals. Furia hatte Severin im Laufe der Wochen ein wenig davon erzählt, aber sie war sich ihrer Verantwortung bewusst, und manchmal machte sie ihr mehr Angst, als sie zugab: Was, wenn etwas, das sie sagte, seine Zukunft veränderte? Wenn er zum Beispiel beschließen würde, seiner Familie den Rücken zu kehren oder keine Kinder zu zeugen? Wäre es möglich, dass Generationen später weder Furia noch Pip geboren werden würden?

Sie wusste nicht, ob sie in direkter Linie von ihm abstammte, und es gab keinen Weg, das herauszufinden. Alle Aufzeichnungen zur Familiengeschichte der Rosenkreutz waren vor der Flucht aus Deutschland vernichtet worden. Man hatte alle Spuren beseitigt, die von ihnen zu den Faerfax hätten führen können. Mit einer Ausnahme: Die Bibliothek – sicherlich groß für ihre Zeit, aber kein Vergleich zu dem, was später daraus geworden war – hatte man nach England verschifft; sie war der Grundstock des heutigen Bücherlabyrinths in den Katakomben der Residenz.

Furia genoss den Austausch mit Severin wie die Heldinnen der alten Romane ihre antiquierten Brieffreundschaften. In diesen Büchern schien es laufend um Briefe zu gehen, die von berittenen Boten und Postkutschen über düstere Hochmoore getragen wurden. Dass sie ihrem Vater nichts davon erzählte, machte einen Teil des Reizes aus. Aber es war längst mehr als ein Spiel, auch wenn es ihr schwerfiel, sich das einzugestehen. Morgens blickte sie als Erstes in das Buch, um nachzusehen, ob Severins Antwort unter ihrer Nachricht erschienen war. Noch vor dem Zähneputzen las sie jedes Wort – manchmal zwei- oder dreimal.

Und falls sich doch irgendwann herausstellen sollte, dass sie sich ihren mysteriösen Freund in der Vergangenheit nur eingebildet hatte, so wie Menschen, die plötzlich Stimmen hörten, dann würde sie auch das akzeptieren: Dann war er immerhin ein Teil von ihr, den ihr niemand wegnehmen konnte.

An diesem Abend schrieb sie nieder, was in der Bibliothek geschehen war und was sie dazu getrieben hatte, vom Pfad abzuweichen. Sie hatte schon einige Male erwähnt, wie wichtig der Fantastico für ihre Mutter gewesen war und welche Bedeutung er deshalb auch für sie besaß. Sie hatte sich unbedingt vergewissern müssen, dass ihr Vater das Buch nicht entdeckt hatte, denn wahrscheinlich existierten nur noch wenige Exemplare. Die Vorstellung, den Fantastico zu verlieren, weil Tiberius Faerfax den Tod seiner Frau nicht überwinden konnte, setzte ihr heftiger zu als die Begegnung mit dem Schimmelrochen.

Nachdem sie alles aufgeschrieben hatte, schloss sie das Buch und wollte es zurück in die Pralinenschachtel legen. Doch im letzten Moment schlug sie es wieder auf, viel zu neugierig, ob Severins Antwort schon da war. Manchmal dauerte es nur Sekunden, manchmal Minuten, aber niemals länger als einen Tag.

Ihre Hoffnung erfüllte sich. Severins Handschrift bedeckte den Rest der Seite unter ihrem Eintrag und einen Teil der nächsten. Die Tinte war vor zwei Jahrhunderten aufgetragen worden, an manchen Stellen bräunlich verfärbt und schon ein wenig verblasst.

Liebe Furia,

ich weiß nicht, wie Du aussiehst, abgesehen von dem, was Du mir beschrieben hast. Nicht sehr groß, eher schmal, mit langen blonden Haaren und grünen Augen. Das reicht gerade, um mir ein Bild von Dir zu machen, und ich muss gestehen, dass ich es in meiner Vorstellung mit Einzelheiten ausgeschmückt habe. Sommersprossen auf der Nase, eine freche Strähne, die Dir nicht nur bei Wind in die Stirn fällt, und kleine, weiße Zähne (ich weiß, Zähne sind selten weiß, aber ich glaube, dass Deine so schön sind wie die auf den Gemälden der Adeligen). Was ich aber GENAU weiß, ist, dass Du ein Mädchen bist, kein Riese mit breiten Schultern und gewaltigen Muskeln. Das MÜSSTEST Du aber sein, wenn Du Dich in Gefahren begibst wie jene, die Du mir geschildert hast.

Furia lächelte über seinen gestelzten Tonfall und die Wortwahl. Dabei hatte er sich während der vergangenen vier Monate bereits ihrer Sprache angepasst und viele von seinen geschraubten Formulierungen geglättet – auch weil ihr Deutsch zwar fast fließend war, sie aber manchmal Probleme mit der Ausdrucksweise des frühen neunzehnten Jahrhunderts hatte.

Ich könnte Dir nun schreiben, dass ich Dich für viel zu leichtsinnig halte. Aber ich weiß schon, dass Dich das nur amüsieren und keineswegs davon abhalten würde, etwas Ähnliches bald wieder zu tun. Also belasse ich es dabei, Dir zu sagen, dass ich gut verstehe, was Dich dazu bewogen hat. Trotzdem sei beim nächsten Mal bitte vorsichtiger.

Gestern vor dem Einschlafen ist mir etwas eingefallen:

Sich zu mögen heißt, zu entdecken, dass man dieselbe Sprache spricht. Sich zu lieben bedeutet, in derselben Sprache zu dichten.

Ich weiß nicht, ob wir schon miteinander dichten, Furia, aber zumindest schreiben wir ein Buch zusammen.

Mit einem warmen Gefühl im Bauch strich sie über die Seite. Vor vier Monaten hatte sie das Buch in der Bibliothek zwischen Siebensterns Räuberromanen entdeckt. Damals hatte sie dort häufiger nach Büchern gesucht, die es mit dem Fantastico aufnehmen konnten. Auf dem leeren Buchrücken hatte ihr Name gestanden – jemand hatte ihn mit der Hand daraufgeschrieben. Furia. Erst hatte sie geglaubt, dass es sich um einen Scherz ihres Vaters handelte – nur machte der keine Scherze, wenn es um Siebenstern ging –, und dann, dass es ein unbekannter Roman über die Diebin aus dem Fantastico sein könnte. Doch als sie das Buch aus dem Regal gezogen hatte, hatte sie feststellen müssen, dass die Seiten im Inneren unbedruckt waren. Sie war drauf und dran gewesen, es wegzulegen, als sie bemerkt hatte, dass auf der ersten Seite einige handgeschriebene Zeilen standen:

Liebe Furia,

falls Du es bist, die dies liest, so schreibe bitte mit der beiliegenden Glasfeder eine Antwort unter diese Worte. Mein Name ist Severin Rosenkreutz. Ich schreibe Dir dies im Februar des Jahres 1804.

Gehab Dich wohl,

Dein Vorfahr

Jeder im Haus hätte das schreiben können. Wackford. Ihr Vater. Vielleicht sogar der Chauffeur der Familie, Sunderland, dem sie ohnehin nicht über den Weg traute.

Schließlich hatte sie das Buch eine Woche lang in ihrem Schreibtisch liegen lassen, ehe sie es wieder hervorgezogen und mit Tinte aus einer zerschnittenen Füllerpatrone eine Antwort verfasst hatte.

Ich kann nicht fassen, dass ich in dieses Buch schreibe. Ich habe jetzt offiziell den Verstand verloren. Gute Nacht.

Anschließend hatte sie den Band beiseitegelegt und drei Tage lang ignoriert. Erst dann hatte sie verstohlen hineingeschaut, obwohl ihr das alles so lächerlich vorkam. Unter ihren letzten Zeilen stand:

Liebe Furia,

ich danke Dir ganz herzlich für Deine Antwort. Wahrscheinlich glaubst Du jetzt, jemand spielte Dir einen Streich. Ich kann Dir versichern, dass dem nicht so ist. Damit Du mir glaubst, schlage ich Dir Folgendes vor: Wähle ein Buch in der Bibliothek aus, irgendeines von dem Du sicher bist, dass es schon 1804 im Besitz der Familie war. Das dürfte Dir nicht schwerfallen, falls die Sorgfalt der Rosenkreutz im Umgang mit ihren Büchern seither nicht gelitten hat. Nenne mir den Titel und eine Seitenzahl. Dann trage das betreffende Buch einen Tag an Deinem Körper, so dass kein anderer Gelegenheit hat, hineinzuschreiben. Anschließend schaust Du wieder hinein. Auf der entsprechenden Seite werde ich im Jahr 1804 eine Nachricht für Dich hinterlassen haben.

Es war Irrsinn, seinen Vorschlag auch nur in Erwägung zu ziehen. Aber natürlich hatte sie sich trotzdem darauf eingelassen, und alles war genau so gekommen, wie er es angekündigt hatte. In einem Exemplar von Abällino, der große Bandit hatte sie auf Seite 67 eine Botschaft in seiner Handschrift entdeckt.

Furia,

ich hoffe, dies zerstreut Deine Zweifel.

Dein Severin Rosenkreutz, der vor zweihundert Jahren von Dir geträumt hat.

Sie war in ihr Zimmer zurückgekehrt, hatte das andere Buch hervorgeholt und hineingeschrieben:

Ich weiß nicht, wie Du das machst, aber ich bin beeindruckt. Ein bisschen. Nicht sehr. Aber ein bisschen.

Sie hatte das Buch beiseitegelegt, und schon wenig später war die Antwort erschienen:

Nur mit Feder und Tinte. Ist nicht schwer.

Furia hatte die nächste Füllerpatrone geöffnet, mit der Glasfeder darin herumgestochert und ihre Antwort ins Buch geschrieben:

Wie hast Du das gemeint: von mir geträumt?

Diesmal waren einige Stunden vergangen. Ungeduldig war sie im Zimmer auf und ab gegangen, hatte in der Speisekammer zu viel von Paulines Lebkuchen in sich hineingestopft und schließlich herausgefunden, dass seine Antwort erst erschien, wenn sie das Buch einmal zugeschlagen hatte:

Ich habe Dich in einem Traum gesehen. Er hat mir verraten, wie ich dieses Buch erschaffen kann und für wen es bestimmt ist. Für Dich muss das sehr verrückt klingen – und, glaub mir, für mich genauso.

In aufrichtiger Freundschaft,

Dein Severin.

So hatte es begonnen. Mittlerweile schrieben sie sich seit vier Monaten, manchmal mehrfach am Tag. Und dann heute dieser Satz: Ich weiß nicht, ob wir schon miteinander dichten, Furia, aber zumindest schreiben wir ein Buch zusammen.

Sie wollte gerade die Feder ansetzen, als die Tür ihres Zimmers aufgestoßen wurde. In Windeseile schob sie Severins Buch in die Schublade und hätte dabei fast das Tintenfass umgeworfen.

Im dunklen Rechteck des Türrahmens leuchtete das Clownsgesicht ihres Bruders. Er sah aus wie eine Porzellanfigur auf einem Kissen aus schwarzem Samt.

Pips blondes Haar stand in alle Richtungen ab. Die Schminke musste er in großer Eile aufgetragen haben. Das Weiß war an manchen Stellen nicht deckend, die Umrandung des Mundes schief und die roten Ovale um seine Augen unterschiedlich groß.

»Sunderland!«, rief er. »Draußen!« Sein dünnes Stimmchen klang, als käme es aus einem Vogelnest. »Das musst du dir ansehen!«

5

»Er tut es schon wieder!«

Sie konnte gerade noch das Tintenfass zur Seite ziehen, als Pip schon an ihr vorbeistürmte, auf den Schreibtisch kletterte und durch das Fenster hinaus in die Nacht blickte. Er presste beide Hände gegen das Glas und drückte sich die Nase an der Scheibe platt.

»Deine Schminke!«, rief Furia und zog am Oberteil seines Schlafanzugs. Sein weißes und rotes Make-up klebte schon fettig am Fenster. »Ach, Pip …«

»Nun guck doch mal!«

»Ich hab keine Lust auf Sunderlands bescheuerte Tricks.«

»Das sind keine Tricks!« Er starrte wie gebannt ins Freie. »Das ist echt echt!«

»Ist es nicht.« Aber damit er Ruhe gab, stieg sie auch auf die Schreibtischplatte und kniete sich neben ihm auf die Fensterbank. Sie musste ihr ganzes Gewicht auf ihr linkes Knie verlagern, weil die Prellung weh tat.

Auf dem Vorplatz der Residenz gab es nur eine einzige Lampe. Ihr Schein schimmerte auf der Karosserie des schwarzen Rolls-Royce, der auf dem Kies vor dem Haus parkte. Der Kofferraum stand weit offen, aber weil der Wagen mit dem Kühler zur Fassade stand, konnten Furia und Pip nicht hineinsehen.

Sunderland trug sogar noch kurz vor Mitternacht seine dunkle Chauffeursuniform und die Schirmmütze. Er war ungeheuer groß und gebaut, wie jemand, der am Wochenende die Pubs der Umgebung aufmischte. Wenn Furia hinter ihm auf der Rückbank des Rolls saß, erschien es ihr immer, als wären seine Schultern breiter als der Fahrersitz. Meist bemühte sie sich, ihn nicht direkt anzusehen, weil sie fand, dass sein Gesicht sich kaum von den Steinköpfen auf den Gräbern hinter der Residenzkapelle unterschied. Er hatte markante Wangenknochen, ein eckiges Kinn und verzog nur selten eine Miene. Sein Haar war grau wie Aluminium, obwohl er nicht älter als Mitte vierzig sein konnte. Tagsüber trug er meist eine Sonnenbrille. Nahm er sie doch einmal ab, erinnerte das Weißblau seiner winzigen Augen an Hagelkörner.

»Er hat uns gesehen«, sagte Pip.

»Natürlich. Deshalb veranstaltet er ja diese Show.«

Tatsächlich blickte Sunderland jetzt im Schatten seines Mützenschirms zu ihnen herauf, deutete eine steife Verbeugung an und verschwand hinter dem hochgeklappten Kofferraumdeckel.

Vor fünf Jahren hatte Furias Vater per Annonce in der Oxford Mail einen Chauffeur gesucht. Bis dahin hatte Wackford die meisten Fahrten und Erledigungen für die Familie besorgt, aber nach einem Abend im Lion Inn in Winchcombe hatte ihn die Polizei auf der Höhe von Chadwicks Farm angehalten. Sie hatten ihm den Führerschein abgenommen und ihm wenig Hoffnung gemacht, ihn je wiederzusehen. Auf die Annonce hin hatten sich drei Männer vorgestellt, und Sunderland war der Einzige gewesen, der einen eigenen Wagen mitbrachte. Einen Rolls-Royce noch dazu, was eine Weile lang mächtigen Eindruck bei den Ladenbesitzern und Bauern gemacht hatte, deren offene Rechnungen sich auf Tiberius’ Schreibtisch stapelten. Wer solch einen Wagen fuhr, würde früher oder später wohl auch seine Schulden bezahlen.

Sunderland hatte sich bereit erklärt, für ein niedriges Gehalt zu arbeiten und die Instandhaltung des Wagens selbst zu übernehmen, solange er freie Kost und Logis in der Residenz erhielt. Nachdem Furias Vater ausgeschlossen hatte, dass Sunderland ein Agent der Akademie war – er war kein Bibliomant, so viel stand fest –, hatte er weitere Erkundigungen eingezogen und war schließlich zu der Überzeugung gekommen, dass der Chauffeur vertrauenswürdig war. Seither wohnte Sunderland im Torhaus an der Auffahrt und war sich nicht zu schade für Arbeiten, die nicht zu seinen Aufgaben gehörten. Heute hatte er den ganzen Tag antike Möbel aus der Residenz unter das Vordach des Torhauses transportiert, um sie am nächsten Morgen hinaus auf die Straße zu schaffen und dort zu verkaufen. Vorausgesetzt, jemand fand durch Zufall den Weg über die gewundenen Landstraßen ins Tal.

»Da!«, rief Pip. »Es geht wieder los!«

Licht schien aus dem Kofferraum der Nobelkarosse über den Kies. Der Schatten des Chauffeurs dehnte sich gespenstisch über den Vorplatz bis zu den Büschen.

Sunderland hatte bei Antritt seiner Arbeit für die Faerfax eine kuriose Bedingung gestellt: Niemandem außer ihm war es gestattet, den Kofferraum seines Wagens zu öffnen. Einkäufe und größere Gegenstände wurden ausschließlich auf der Rückbank transportiert. Falls die Heckklappe überhaupt einmal geöffnet wurde, dann nur von Sunderland selbst. Er behauptete, darunter befände sich eine eigene Welt, ein ganzer Kosmos, wundersam und gefährlich.

Furia hielt das für ausgemachten Blödsinn, zumal auch ihr Vater diese Einschränkung mit einem Schmunzeln akzeptiert hatte. Wie groß konnten die Gefahren eines Kofferraums sein, wenn Tiberius Faerfax sie ohne Widerspruch duldete? Aber Sunderland beharrte auf seiner Bedingung. Gelegentlich führte er den Kindern einige Kostproben dieses Miniaturuniversums vor, meist ungebeten und zu unkonventionellen Uhrzeiten.

Furia gab sich Mühe, nicht allzu interessiert zu klingen, als sie fragte: »Wie lange macht er das schon?«

»Paar Minuten«, sagte Pip.

Sunderland trat einige Schritte beiseite und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Aus dem Leuchten im Inneren des Kofferraums stieg eine weiße Gestalt in einem Astronautenanzug. Sie hielt eine Leine in der Hand, die zum Halsband eines Elefanten führte. Furia hätte für ihr Leben gern gesehen, wie sich das Tier aus dem Kofferraum gezwängt hatte. Astronaut und Elefant entfernten sich mit ruhigen Schritten vom Wagen und hinterließen eine Spur flittrigen Silberstaubs in der Luft.

Pip klatschte verzückt Beifall, während Furia sich seufzend von der Scheibe löste.

»Wow!«, rief Pip. »Das ist toll!«

»Das ist nur eine blöde Illusion.« Sie hatte ihm das schon ein Dutzend Mal erklärt, aber ebenso gut hätte sie mit der Tapete sprechen können. »Irgendein Zaubertrick, wie der mit den Kaninchen aus dem Zylinder. Manche benutzen dafür einen Hut – Sunderland eben seinen Kofferraum.«

Pip warf ihr einen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, was er von ihrer Meinung hielt. Ein ganzes Universum!, schleuderten ihr seine Augen entgegen. Dann sah er wieder ins Freie, wo der Astronaut seinen Elefanten gerade ins Unterholz führte. Wie immer würde man später keine Spur von den Erscheinungen finden.