Die Selbst(Zerstörung) der deutschen Linken - Sven Brajer - E-Book

Die Selbst(Zerstörung) der deutschen Linken E-Book

Sven Brajer

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Beschreibung

"In seinem Sessel behaglich dumm, sitzt schweigend das deutsche Publikum", schrieb einst Karl Marx. Auch die deutsche Linke hat es sich in den vergangenen 30 Jahren in Parlamenten, Gewerkschaften und NGOs gemütlich gemacht, meint der ostdeutsche Historiker Sven Brajer. Während immer größere Vermögen blanko vererbt, der Mittelstand zerstört, Zombiefirmen mit Steuergeldern aufgepäppelt und die Meinungsfreiheit mehr und mehr eingeschränkt werden, ist von der (parlamentarischen) Linken nicht viel zu hören. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat die deutsche Linke eine enorme Transformationsleistung hingelegt. Von antiimperialistischen, antiautoritär-libertären und antikapitalistischen sozialen Strömungen ist bis auf wenige Ausnahmen kaum etwas übriggeblieben. Eine einstmals linke Bewegung ist kulturell im woken Establishment und politisch in der marktkonformen, also der "bürgerlich-parlamentarischen Demokratie" angekommen. Sie spielt auf der Klaviatur einer transatlantischen Propagandamaschinerie, bestehend aus "nachhaltigem" Konsum, digitaler Massenverblödung und bürokratischem Anstaltsstaat mit leicht sozialem Touch. Zunehmend werden Feindbilder gezeichnet und jede/r, die/der dabei nicht mitmacht, wird ignoriert oder per Shitstorm zum Opfer einer sich ausbreitenden Cancel Culture gemacht. Das Diktum von der Freiheit, die immer auch die Freiheit der Andersdenkenden ist (Rosa Luxemburg) sowie Kritik am Überwachungskapitalismus sind vergessen, es zählt nur noch der Machterhalt, eingerahmt von einem totalitären Moralismus. Die Linke ist selbst Teil dessen geworden, was sie eigentlich bekämpfen wollte. Wie konnte es nur so weit kommen?

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Sven BrajerDie (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken

  

Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-904-6(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-511-6)

Coverfoto : Bildcollage © Gisela Scheubmayr, Fotos © shutterstockUmschlaggestaltung : Gisela Scheubmayr

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Umbruch 89/90 und die zeitweise Etablierung der PDS/Linken als Protestpartei der Ostdeutschen
Untergang der »Betonköpfe« und Neuanfang
Alte Ost- und neue Westeliten
Die Globalisierung grüßt den Osten
Programm vom 25. Februar 1990
Zweites Programm vom Januar 1993
Das »Superwahljahr« 1994
Annäherungen an die SPD
»Antitotalitarismus«, Ostalgie und Euro-Neoliberalismus
Keynesianismus und »moderner Sozialismus«
Vom Stalinismus zum Ordoliberalismus?
Die Wahlschlappe 2002
2. Der lange Weg ins bundesdeutsche Establishment 2007−2014
Die Wessis kommen (schon wieder)
Die Vereinigung von PDS und WASG zu Die Linke 2007
Auf dem Höhepunkt: Die Bundestagswahl 2009
Linke Medienkritik und Subkultur? Von Dialektikern zu braven Untertanen
Linke Freiheitsbegriffe
Angekommen im politischen Mainstream: Das Duo Kipping/Riexinger
(Linke) Parteikarrieren und ihre externen Förderer
3. Transatlantische Einflussnahme oder: Wie aus Antiglobalisten Globalisten wurden
Der ewige »Schuldstolz«
US-Vasallen im Ukraine-Konflikt
Feindbild Iran: Linksjugend [’solid], BAK Shalom und linke Funktionäre als Parteigänger Israels
Plaudern und tanzen mit US-Botschaftern
4. Ost- und Mitteleuropa als das Reich des Bösen
Antislawische Attitüden
»Zeitenwende« auch bei Gysi, Ramelow und Co.
Austrittswelle wegen Wagenknecht?
Aufstand der Alten
Gysis Metamorphose
Lafontaine spielt nicht (mehr) mit
Ukrainisch-transatlantische Freunde
Der Ruf nach »politischer Intervention« in Polen und Ungarn
5. Der universalistische »Kampf gegen rechts« oder: Wie man AfD und Co. die Wähler zutreibt
Beschränkter Meinungskorridor
Abgehoben und weltfremd
Alles Nazis?
Kontaktschuld
»Arbeiterverräter – Rüstungsvertreter!«
Wählerwanderung zur AfD
6. Drei Säulen der »neuen Linken«: Regenbogenflagge, Klimareligion, Migrationskult sowie falsche Toleranz statt Klassenkampf
Regenbogenflagge und Genderwahn
Klimareligion
Migrationskult und falsche Toleranz statt Klassenkampf
»Woke Capitalism«
7. Universitäten, Stiftungen und NGOs als linksliberale (Anti-)Denkfabriken
Universitäten
Stiftungen
NGOs
8. Autoritärer als der »starke Staat« – das demokratieverachtende linke Versagen in der Corona-Krise seit 2020
Blindes Staatsvertrauen und totale Krise
Autoritäre Typen
Unterwerfung unter die Pharmalobby
9. Bundestagswahl 2021 und der Abgesang einer Weltanschauung?
Schiffbruch oder: 4,9 Prozent
Wiederholt sich die Geschichte?
Parteitag 2022 – weiter so in den Abgrund
Wagenknechts woke Demission
Eine neue Partei 2023?

Über den Autor

Sven Brajer, geboren 1984 in Löbau, Sachsen. Gelernter Einzelhandelskaufmann, studierte an der Technischen Universität Dresden Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft. Er arbeitet als freier Autor, Historiker, Journalist, Podcaster sowie Museumsgestalter und betreibt den Blog »Im Osten. Perspektiven wider den Zeitgeist«: www.imosten.org.

 

Gewidmet Gerhard Lechner (1976−2022)

Einleitung

In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.

Kurt Tucholsky (1890−1935), Schriftsteller

»Das Programm einer linken Partei ist ganz einfach zu formulieren: Eine linke Partei muss den Menschen helfen, denen es weniger gut geht.«

Oskar Lafontaine, Ehemaliger Linken-Vorsitzender (MDR, 20. Februar 22)

Kaum eine Bewegung und die dazugehörige Partei hat sich – mit Ausnahme der Grünen – in den letzten drei Dekaden so verändert wie die Partei Die Linke bzw. die ehemalige PDS. Die soziale Frage, die Bildungserosion oder die Überalterung sowie Spaltung der Gesellschaft spielen in ihrer Politik kaum noch eine Rolle, stattdessen werden die großen, global festgelegten Agenden unserer Zeit »Coronakrise, Klimakrise, Flüchtlingskrise«,1 Ukraine-Krieg und die Genderkrise2 mit einseitigem Fokus vehement und koste es, was es wolle, bedient. Damit unterscheidet sich Die Linke bis auf wenige prominente Ausnahmepolitiker kaum noch von den Baerbock/Habeck-Grünen, der Scholz-SPD und teilweise auch nicht mehr von einer von Angela Merkel entkernten CDU.

Dazu kommt eine in den letzten Jahren sich fast schon exponentiell ausweitende Hypermoral3 vieler linker Akteure – die alles, was nicht auf Linie ist, abcancelt. Erinnert sei hier an die Farce um die Thüringen-Wahl 2020: Dort hatte eine sichtlich emotional berührte, später kurzzeitige Links-Partei-Co-Vorsitzende den neuen Ministerpräsidenten medienwirksam vor Wut den Siegesblumenstrauß vor die Füße geworfen. Man muss kein Fan der FDP und einer AfD mit Landeschef Björn Höcke sein, die mit ihren Stimmen den letztendlich nur sehr kurz im Amt befindlichen Thomas Kemmerich erst ermöglichten – jedoch lief der Wahlvorgang formal demokratisch ab – aber die »richtige«, »politisch korrekte« Haltung steht bei der Linken ganz offenbar über dem Wählerwillen.4 Ob mit dem politischen oder innerparteilichen Gegner: Es wird nicht mehr diskutiert oder gar argumentiert und nie im Leben würde die Funktionärskaste der Linken darauf kommen, dass Intoleranz gegenüber Andersdenkenden kombiniert mit der eigenen politischen und intellektuellen Unfähigkeit die Gegenseite gerade noch stärker macht.5 Eine AfD ist nicht aus dem Nichts entstanden, sondern sie füllt wie andere ähnliche Parteien in Frankreich,6 Italien, Österreich, Polen, Ungarn oder Skandinavien ein politisches Vakuum, das linke Parteien und Bewegungen zum Teil selbst verschuldet haben – da sie ihr Interesse von der jeweils autochthonen Arbeiterklasse und dem Mittelstand abwandten und sich die Rechte damit ziemlich erfolgreich als letzte Bastion gegen einen universalistischen Globalismus verkaufen kann.7

Die Linke hat die nahezu komplette Abkopplung zweier Lebenssphären, zumeist einhergehend mit dem Stadt-Land-Kontrast, weitgehend akzeptiert. Doch die Unterschiede zwischen Berlin Friedrichshain-Kreuzberg und der Uckermark könnten kaum größer sein. Das zeigt sich verstärkt in Ostdeutschland – wo sich die Linke seit Jahren auf dem absteigenden Ast befindet – und die AfD zum Teil diese verprellten Wähler mit großem Erfolg auffängt.8 Dazu gesellt sich ein intellektueller Braindrain innerhalb der woken und vermeintlich durchakademisierten Partei: Einerseits durch den Rückzug oder die Kaltstellung von charismatischen und analysefähigen Politikern wie Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht oder Fabio de Masi, der andererseits mit der fortschreitenden Entwertung des Abiturs und akademischer Abschlüsse und somit fehlendem qualifiziertem Nachwuchs einhergeht, und lediglich mit ausgeprägtem Funktionärsgeist und Networking mit dem Fokus auf Postenerlangung »ausgeglichen« wird. Gleichzeitig schweigt man beharrlich zu den negativen Folgen einer Einwanderungspolitik seit 2015,9 wenn es um Berlin 2016, Dresden 2017, Wien 2020/21, Würzburg 2021 oder immer wieder stattfindende Angriffe aus dem migrantischen Milieu auf homosexuelle Paare in Berlin-Neukölln geht – und feiert lieber mit Regenbogenfahnen, die geschickt von Großkonzernen instrumentalisiert werden, die ach so bunte, »klimaneutrale« Gesellschaft.

Der Blick auf das große Ganze ist längst verloren gegangen und die Lenin’schen Fragen »Wer – Wen?« bzw. »Wem nützt es?« werden kaum noch gestellt. Dieser Essay will den Versuch wagen, nachzuvollziehen, wie es so weit kommen konnte.

Das erste Kapitel widmet sich der schmerzhaften Transformation der SED zur PDS und schließlich zur Partei Die Linke in den Jahren 1989 bis 2007. Der zweite Teil beschreibt die Verwestlichung und Neoliberalisierung der Partei und schildert die »Weichenstellungen« bis zur Wahl Bodo Ramelows als ersten »linken« Ministerpräsidenten eines Bundeslandes im Jahre 2014. Die Jahre ab 2012 unter dem Vorsitz von Katja Kipping und Bernd Riexinger, welche parallel mit der schrittweisen Entmachtung von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine einhergingen, stellten die Weichen für eine Politik, die sich weit von ihrer eigentlichen Klientel, der arbeitenden und sozial unterdrückten Bevölkerung, entfernt hat.

Der dritte Teil widmet sich der Strömung der sogenannten Antideutschen, die besonders seit den 2010er Jahren an Einfluss gewannen und traditionelle antikapitalistische Strömungen immer stärker verdrängten. Damit einher geht die kulturelle und außenpolitische Fokussierung in Richtung USA, NATO und Israel, ehe im nächsten Kapitel auf die kritische, mitunter rassistische Haltung gegenüber Russen und anderen Völkern und deren Regierungen in Ost- und Mitteleuropa wie Ungarn und Polen eingegangen wird.

Der universalistische Kampf gegen rechts – ob im Einzelfall berechtigt oder nicht – dominiert das folgende Kapitel. Dieser Kampf wird gegen alles und jeden aufgefahren, der nicht ins eigene Weltbild passt. Hier zeigt sich vehement, wie sich die sogenannte Antifa zu nützlichen Idioten einer globalistischen Kapitalistenklasse hat instrumentalisieren lassen.

Eng damit verzahnt ist der nächste Abschnitt, der sich der religiös eifernden Trias aus Genderstudies, Klima- und Migrationskult widmet. Diese Diskurse schaff(t)en es, identitätspolitische, die Gesellschaft spaltende Narrative zu etablieren – in denen Herkunft, Geschlecht und CO₂-Fußabdruck über alles andere gestellt wird. Hinzu kommt eine Gleichgültigkeit bis Faszination gegenüber dem Islam – der mit seiner patriarchalischen Grundhaltung überhaupt nicht in dieses woke Weltbild passt.

Das nächste Kapitel zeigt die prominenten Unterstützer der geschilderten Entwicklungen an Universitäten, sogenannten NGOs und Stiftungen  – die nicht nur in Bildungs- und Kultureinrichtungen längst den Ton angeben. Dabei zeigt die kognitive Dissonanz der selbstgerechten »linksliberalen« Akademiker10 eine selten in der Geschichte erreichte Höhe des universitären Elfenbeinturms auf.

2020 wurde dann von linker Seite die Freiheit in nie gekannten Ausmaß zugunsten vermeintlicher Sicherheit und Solidarität ad acta gelegt.11 Obwohl sich Covid-19 längst nicht als die angekündigte Todesseuche herausgestellt hat – die Kur schlimmer als die Krankheit war und ist – war die Linke von Anfang an autoritärer als der starke Staat und forderte noch härtere Maßnahmen als Merkel, Spahn, Lauterbach und all die anderen Panikmacher sowie ein noch rigoroses Vorgehen gegen all jene, welche die nie da gewesene Aussetzung der Grundrechte kritisierten und die vor den sich nun immer deutlicher abzeichnenden verheerenden Folgen für die Gesellschaft – ob für Kinder, Kultur, Wirtschaft oder die Psyche der Menschen – warnten. Die salamitaktikartige Installierung des »Überwachungskapitalismus« durch die »Smarte Diktatur«, die eine Zäsur für die Ausübung der individuellen Freiheit bedeutet und die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre, ist der Linken entweder egal, oder sie setzt sich gar entschieden dafür ein.12

Die Linke hat sich in den letzten dreißig Jahren – ähnlich wie 1914 die SPD – mit in das Lager derer gesetzt, die sie eigentlich bekämpfen will. Sie hat es geschafft, sich zwischen der Finanzkrise 2008 und der »Corona-Krise« 2020/2022 komplett überflüssig zu machen – ein Kunststück in Zeiten, in denen die materielle Ungleichheit immer größere Ausmaße erreicht, der Mittelstand und die Arbeiterklasse immer stärker zur Kasse gebeten werden und eine politisch-medial-ökonomisch eng verzahnte und durchkorrumpierte »Elite« im Wein und in narzisstischer Selbstverliebtheit ersäuft, aber stets Wasser predigt. Die Quittung folgte bei der Bundestagswahl 2021, bei der man lediglich 4,9 Prozent der Stimmen erhielt und nur aufgrund dreier Direktmandate den Einzug ins Parlament schaffte. Ein Jahr später, inmitten der größten Wirtschaftskrise seit der Gründung der BRD, schaffte es die Partei dagegen nicht, den daran schuldhaften Eliten auf die Finger zu klopfen und eine soziale Alternative zur »Ampel« in Berlin aufzubauen, sondern sie betreibt fleißig ihre Selbstzerstörung. Anstatt ihr Profil zu schärfen, passte sie sich rigoros dem politischen Mainstream an.

1 Raymond Unger: Vom Verlust der Freiheit. Coronakrise, Klimakrise, Migrationskrise. München: Europa-Verlag 2021.

2 Matthew Fforde: Das Zeitalter der Einsamkeit: Entsozialisierung als Krise der Postmoderne. Freiburg/Basel/Wien 2016, S. 327f.

3 Alexander Grau: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung. München: Claudius 2017, besonders S. 10, zuletzt auch Norbert Bolz: Keine Macht der Moral. Politik jenseits von Gut und Böse. Berlin: Matthes und Seitz 2021, bes. S. 7−17. Ebenfalls lesens- bzw. hörenswert: Norbert Bolz: »Die Tyrannei der Wehleidigen«, Kontrafunk, 11. 9. 2022, https://kontrafunk.radio/de/sendung-nachhoeren/wiwi/audimax-das-kontrafunkkolleg/norbert-bolz-die-tyrannei-der-wehleidigen (20. 09. 2022).

4 Die Legislaturperiode dauert noch bis 2024, Rot-Rot-Grün hat aber keine eigene Mehrheit, sondern regiert als wenig demokratisch legitimiertes Minderheitskabinett. Allgemein angestrebte Neuwahlen lehnten die Linke und die Grünen im Juli 2021 ab.

5 Jan Freyn: Die digitalen linken Spießer. In: Zeit online, 18. 7. 2020, https://www.zeit.de/kultur/2020-07/identitaetspolitik-linke-intoleranz-zensur-demokratie-meinungsfreiheit?utm_referrerhttps%3A%2F%2Fwww.google.com%2F, (16. 9. 2022).

6 Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp 2016 (zuerst 2009).

7 Benedikt Kaiser: Blick nach links, oder: Die konformistische Rebellion. Schnellroda: Antaios 2019.

8 Hierzu auch der Hinweis auf den vom Autor betriebenen Blog: Im Osten. Perspektiven wider den Zeitgeist. www.imosten.org.

9 Hannes Hofbauer: Kritik der Migration: Wer profitiert und wer verliert. Wien: Promedia 2018.

10 Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Frankfurt a. M. Campus: 2021.

11 Sven Brajer: Zwischen vermeintlicher Solidarität und »faschistoid-hysterischem Hygienestaat«? – Beobachtungen und Gedanken zum Anfang der »Corona-Krise« 2020. In: Gefährderansprache. Wie die Regierungs-Politik, eine nicht evidenzbasierte Virologie und Verschwörungswahnwichtel die demokratische Gesellschaft zerfleddern. Hg. v. Clemens Heni. Berlin: Edition Critic 2020, S. 153−181.

12 Zu den beiden Begriffen vgl. die gleichnamigen Bücher von Shoshana Zuboff und Harald Welzer, hierzu insbesondere Sven Brajer: Wieviel Freiheit bleibt nach Corona? Der Mangel an Perspektiven und Kritik von links: Wie Bedenken gegen Digitalzwang und Überwachungsinstrumente sich in Luft auflösen. Ein Debattenbeitrag. In: Telepolis vom 24. 7. 2021, https://www.heise.de/tp/features/Wieviel-Freiheit-bleibt-nach-Corona-6146901.html (18. 4. 2022).

1. Umbruch 89/90 und die zeitweise Etablierung der PDS/Linken als Protestpartei der Ostdeutschen

»Der Hitlerfaschismus war das Herrschaftsinstrument der wildesten reaktionären und imperialistischen Teile des Finanzkapitals, der Herren der Rüstungskonzerne, der Großbanken und des Großgrundbesitzes. […] Die Arbeiterklasse wird alle demokratischen und fortschrittlichen Kreise des Volkes einen. Sie ist die konsequenteste demokratische Kraft und der entschiedenste Kämpfer gegen den Imperialismus. Sie ist die Kraft, die unser nationales Unglück überwinden wird.Die Arbeiterklasse allein hat ein großes geschichtliches Ziel: den Sozialismus!«13

Dieses »Ziel« der deutschen Linken wurde verfehlt, wie man zu Beginn der 2020er Jahre konstatieren kann. Der dazugehörige Bruch war hart – und selbst über 30 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung hat man in Ostdeutschland mitunter den Eindruck, als ob die Wende erst gestern gewesen wäre. Entvölkerte Landschaften, niedrigere Gehälter und dafür mehr Arbeitslose als in den »alten Bundesländern«, weniger Privateigentum und Vermögen und ein dadurch zu Recht fast schon traditionell tief sitzendes Misstrauen gegen die jeweils Regierenden in Berlin, im fernen Brüssel und den sogenannten »Wertewesten« sind omnipräsent und gehören zur Tagesordnung. Von heute auf morgen wurde 1989 das SED-Regime faktisch abgesetzt und einer kurzen hoffnungsvollen Phase auf eine bessere DDR folgte die mittels ökonomischer »Schocktherapie«14 mit allen Konsequenzen betriebene Einverleibung des Staatsgebietes und ihrer Menschen in die Bundesrepublik. Dabei machten sich ganze Heerscharen westdeutscher – oftmals zweitklassiger – Politiker, Beamter, Professoren und all jene Wirtschaftslobbyisten, die auf eine schnelle Mark aus waren, an die Kolonisation15 der ehemaligen »Ostzone« – und sitzen zum Teil noch heute auf ihren Posten oder genießen ihre üppige Pension am Elbe- oder Saalestrand.

Untergang der »Betonköpfe« und Neuanfang

Dem dafür notwendigen vorherigen Untergang der »Betonköpfe« in Ostberlin gingen eine mehrjährige Erosion des politischen Systems sowie zunehmende wirtschaftliche Probleme voraus16 – beides Gesichtspunkte, die an die Berliner Republik unter Angela Merkel (sowie ihres Nachfolgers) spätestens seit 2015, vielleicht aber auch schon mit dem 2011 aus dem Nichts beschlossenen Atomausstieg und einer völlig von der Realität und der Bevölkerung abgekoppelten politisch-medialen »Elite« erinnern.17 Dazu folgten damals das Auftauchen externer »Schwarzer Schwäne«18 wie Gorbatschows Machtantritt 1985 in der UdSSR. Mit Bezug darauf hatte Gregor Gysi, damals Vorsitzender des Rechtsanwaltskollegiums der DDR, am 4. November 1989 bei seiner Rede auf dem Alexanderplatz in Berlin erkannt, was die zukünftigen Aufgaben einer runderneuerten SED mit Blick gen Moskau sein sollten: »Die außerordentliche Zeit verlangt außerordentliche Maßnahmen. […] Wir haben inzwischen viele Anglizismen aufgenommen, wogegen ich nichts habe. Aber von der russischen Sprache haben wir nur das Wort Datscha übernommen. Ich finde, es ist Zeit, zwei weitere Worte zu übernehmen: nämlich Perestroika und Glasnost. Und wenn wir dies auch inhaltlich vollziehen, wird es uns gelingen, die Begriffe DDR, Sozialismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen.«19

Doch mit der Dominanz der alten SED und kurz darauf der DDR sollte aufgrund der angerissenen Entwicklungen bald Schluss sein. Zwischen Dezember 1989 und März 1990 wurde die Macht immer stärker von der Regierung unter Hans Modrow vom sogenannten »Runden Tisch«20 beansprucht.21 Modrow schaffte es mit seiner Rede am 8. Dezember in der Dynamo-Sporthalle in Berlin-Hohenschönhausen den Großteil der SED-Mitglieder von der Auflösung ihrer Partei abzuhalten. Er sagte: »Wenn bei der Schärfe des Angriffes auf unser Land dieses Land nicht mehr regierungsfähig bleibt, weil mir, dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, keine Partei zur Seite steht, dann tragen wir alle die Verantwortung dafür, wenn dieses Land untergeht.«22

Diese deutlichen Worte sollten ihr Ziel nicht verfehlen – und nur kurze Zeit später bedankte sich Lothar Bisky – damals Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg – bei den »mündigen Bürgern, […] die die radikale Wende durch ihren mutigen, gewaltlosen Kampf erzwungen und uns damit auch die Chance zur revolutionären Erneuerung unserer Partei gegeben haben«.23 Konsequenterweise hatte sich die SED 1989/90 innerhalb weniger Wochen zweimal umbenannt: Erst in SED-PDS (auf der zweiten Tagung des außerordentlichen Parteitags, 16./17. Dezember 198924) und dann auf Beschluss des Parteivorstands vom 4. Februar 1990 in die PDS.25 Sie hatte zwar die Macht und »ihr« Land verloren, aber das Kunststück – wenn auch unter hohen Verlusten wie dem Anschluss des Staatsgebietes an die BRD – vollbracht, sich selbst und Teile ihrer Weltanschauung in die neue Zeit zu retten, in der deutlich wurde: »Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System«.26 Nun wollte man eine »entschieden linke sozialistische Partei« sein, so Gregor Gysi, »denn wir sehen im Kapitalismus […] nicht das letzte Wort der Menschheitsentwicklung.«27 Mit der exklusiven »Partei der Arbeiterklasse« war es fortan vorbei, man wolle viel mehr all jene Menschen ansprechen, die auf soziale Gerechtigkeit und Solidarität bauen.28

Im Rückblick auf die Französische Revolution von 1789 hieß das im PDS-Programm vom 25. Februar 1990: »… die Verwirklichung der Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in einer Gesellschaft sozialer Gerechtigkeit und Solidarität. Dies ist für uns Kern der Vision vom demokratischen Sozialismus als Bestandteil des Menschheitsfortschritts.«29 Doch deutlich wurde plötzlich auch, dass die »Marktwirtschaft […] einen raschen wissenschaftlich-technischen Fortschritt und hohe ökonomische Effektivität ermöglicht«.30 Dabei setzte die PDS zwangsläufig auch mit Blick auf die nächsten Jahre auf die Karte der ostdeutschen Interessenspartei und sah sich als »dezidierte Vertreterin einer DDR-Identität«.31 Bereits damals versuchte man zwanghaft den »real existierenden Sozialismus« der 1980er und die neue bundesrepublikanische, »marktkonforme Demokratie« miteinander zu verknüpfen.32

Alte Ost- und neue Westeliten

Doch ganz offenbar wurde die PDS – zum Unverständnis von Bonn – auch nach der »Wende« noch gebraucht, stellte letztere doch für viele Ex-DDR-Bürger am Übergang vom »Kasernensozialismus«33 zum Kapitalismus einen Sprung ins kalte Wasser dar, einen von Arbeitslosigkeit und fehlendem Privateigentum gekennzeichneten Abstieg. Vierzig Jahre westdeutsches, von den USA befeuertes Wirtschaftswunder konnten bis zum heutigen Tag nicht aufgeholt werden – auch wenn die kapitalistischen Verheißungen nun da waren.34 Bereits die Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 liefen ganz nach dem Geschmack und unter dem Einfluss des westlichen neuen und gleichzeitig alten großen Bruders ab – auch wenn die PDS mit 16,4 Prozent ein achtbares Ergebnis hinter CDU (40,8 Prozent) und SPD (21,9 Prozent) erreichen konnte – jedoch weniger Rückhalt in der Arbeiterschaft, sondern eher bei den städtischen Intellektuellen fand.35 Nicht zuletzt rekrutierten sich die neuen Vordenker Gysi, Brie und Bisky aus staatselitären DDR-Familien.36

Ungleich größer war nun der Einfluss der neuen und alten Eliten ohne SED-Hintergrund. Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth hebt hier vor allem die bereits angesprochenen »Importe aus der alten Bundesrepublik«, sowie ostdeutsche »Theologen und Angehörige kirchlicher Berufe« und »naturwissenschaftlich-technische Intelligenz, Mathematiker und Mediziner« hervor, die sich fortan in erster Linie besonders in der CDU und SPD tummelten.37 Der Schriftsteller Michael Schneider fasste die massive Einflussnahme der (West-)CDU auf die DDR-Bürger folgendermaßen zusammen: »Insgesamt wurden rund 40 Millionen DM für den parteipolitischen Werbefeldzug in der DDR verausgabt, davon ein beträchtlicher Teil aus Steuermitteln der Bundesbürger. […] 100.000 Schallplatten und Kassetten mit drei Reden Helmut Kohls […] wurden teils im Einzelversand nach drüben geschickt, teils bei Kohls Wahlkampfauftritten direkt unter seine Leipziger und Erfurter Fans verteilt. […] In Erfurt beispielsweise haben hessische CDUler, die mit acht Omnibussen angekarrt wurden, in einer einzigen Nacht 80.000 Plakate geklebt. […] Die Bundesdeutschen (entdeckten) in der ihnen plötzlich zugänglich gewordenen DDR ein Terrain, auf dem sich ein Stück versäumter Kolonialgeschichte nachholen lässt.«38

Der Bürgerrechtler Jens Reich, ein Mitbegründer des Neuen Forums, kommentierte 2009 den westlichen »Demokratieexport« in die DDR im Frühjahr 1990 mit den Worten: »Das Bonner Nilpferd ist in einer Massivität gekommen, dass man einfach hilflos war. Im Wahlkampf ist einfach der gesamte Apparatismus des Westens in den Osten gebracht worden. Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen. Das waren in die DDR exportierte Westwahlen.«39 Diese »Massivität«, die später in »Alternativlosigkeit« umetikettiert wurde und die Linken in Ost wie West zum Großteil zur Anpassung an die »marktkonforme Demokratie« (Angela Merkel) zwang, war nicht nur für die ehemaligen SED-Kader eine der ersten harten Konfrontationen mit dem (ehemaligen) Klassenfeind. Die Reformsozialisten um Dieter Klein, Rainer Land, Michael und André Brie setzten neben den in der DDR kaum rezipierten Rosa Luxemburg,40 Nikolai Bucharin und Leo Trotzki auch auf die »bürgerlichen« Denker Max Weber, Joseph Schumpeter, Norbert Elias, Sigmund Freud, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Folgerichtig war für den Wahlleiter der PDS André Brie im Sommer 1990 daher klar, dass »konsequente Kapitalismuskritik in Programmatik und Politik […] keine fundamentale Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft bedeute«.41 Sein Bruder Michael legte den Fokus noch deutlicher Richtung »Westen«: Die Kapitalismuskritik der PDS dürfe »in keinem Augenblick in die Totalkritik moderner, westlicher Gesellschaften abgleiten.«42 Letztendlich setzte sich dieser Flügel gegen die orthodox-marxistischen Gruppierungen insbesondere der Kommunistischen Plattform (KF) durch. Spätestens mit der beachtlichen Transformation ihrer prominentesten Protagonistin, Sahra Wagenknecht,43 vom Kommunismus zum Ordo-Liberalismus ist die KF nur noch eine von vielen, kleinen innerlinken Splittergruppen, die meist nur müde als Ewiggestrige belächelt werden.

Helmut Kohl schaffte es dagegen 1990, die politische Karte im Osten an sich zu reißen, indem er den Ossis die ökonomisch getränkte Möhre der westlichen Warenwelt vor die Nase hielt. Die konnte es aber nur mit einem einseitigen »Gesundschrumpfen« in erster Linie auf Kosten der ehemaligen DDR-Bürger und zugunsten von in Kolonialherrenart auftretenden Treuhandprofiteuren und westlichen Glücksrittern geben. Mit dem Vollzug von Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion der beiden deutschen Staaten am 1. Juli 1990 löste die D-Mark die Mark der DDR als gesetzliches Zahlungsmittel ab. Rasch wurde ein Großteil der »Alu-Chips« umgetauscht.44 Dass das nicht ohne ökonomische »Kollateralschäden« ausging, stellte auch Gregor Gysi rückblickend heraus, denn damit waren auch viele DDR-Produkte von heute auf morgen kaum noch etwas wert: »Euphorisch war ich nicht, weil mir klar war, dass unsere Wirtschaft ja zusammenbrechen muss. Wenn du plötzlich eine andere Währung einführst, eine viel höherwertige Währung einführst, und bis dahin die Produkte gekauft wurden – damals gab es ja noch die Sowjetunion – von der Sowjetunion, von allen Nachbarländern in der DDR, war mir doch klar, die bezahlen dafür doch kein Westgeld.«45

Doch es ging nicht nur um Geld, sondern um die Nicht-Anerkennung von Lebensleistungen im Kleinen wie im Großen: »Der politische Fehler bestand ja darin, dass man die Eliten nicht vereinigt hat. Und damit meine ich jetzt nicht die politischen Eliten, sondern ich meine die wissenschaftlichen, die künstlerischen und so weiter. Wissen Sie, ein Schlagersänger wie Frank Schöbel, der ja nicht schlechter war als westdeutsche Schlagersänger, hatte drei Jahre eben keine Chance, und danach eine. Und das war Schuld der Politik.«46 Noch trüber sah es an den Universitäten aus: Alleine in Sachsen fanden sich 1992 auf der Liste von Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer (CDU-Mitglied und Quotensachse) »die Namen von 662 unerwünschten Personen, die aus den Hochschulen zu entlassen seien«.47 Der ostdeutsche Nachwuchs – gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften – hatte kaum eine Chance, dafür wurden zahlreiche konservative Wissenschaftler aus dem Westen in Dresden, Leipzig und Chemnitz installiert.48 Diese stammten meistens aus dem Süden oder Südwesten der alten Bundesrepublik und achteten in den neu eingerichteten Kommissionen penibel darauf, dass ihre Assistenten in die Spur gebracht wurden – die ökonomischen Verwerfungen ihrer neuen Umgebung registrierten sie in ihrer akademischen Blase kaum.

Dabei lief der Zusammenbruch großer Teile der DDR-Wirtschaft parallel zur Wiedervereinigung – und hatte eine Menge Arbeitslose zur Folge. Modrow konstatierte Ende 1990 rückblickend: »Denk ich an Deutschland, dann tut mir besonders weh und macht mich besonders zornig das Schicksal von Millionen Bürgern in den fünf neuen Ländern und in Ostberlin, die arbeitslos geworden oder von Kurzarbeit betroffen sind, was fast das gleiche bedeutet.«49 Er resümierte mit einem klaren Blick in die Zukunft: »Und die Mehrzahl der 1,7 Millionen Kurzarbeiter ist faktisch ebenfalls arbeitslos. Die grundsätzlichen Einbußen an Kaufkraft, die den ostdeutschen Familien auf diese Weise entstehen, machen den Unterschied zwischen dem saturierten Westen und dem armen Osten Deutschlands noch krasser, und zwar, wie zu befürchten ist, auf lange Sicht.«50 Er sollte recht behalten: So verdienten im Jahr 2022 Westdeutsche immer noch durchschnittlich tausend Euro mehr pro Monat als Ostdeutsche.51 Konnte man im Westen Dank transatlantischer Schützenhilfe vier Jahrzehnte lang Wirtschaftswunder feiern, Eigentum anhäufen und vererben, war der Vermögensaufbau für Privatleute in der DDR nur schwer möglich. Folglich konnten dann auch nur die wenigsten Ostdeutschen – ganz abgesehen von der fehlenden Erfahrung – die »fetten Jahre« an der Börse und am Immobilienmarkt in den Nuller- und vor allem 2010er Jahren mitnehmen.52

Die Globalisierung grüßt den Osten

Der vierzig Jahre lang unter seinesgleichen abgeschottete DDR-Bürger bekam die Globalisierung 1990/91 gleich doppelt zu spüren: Der Abrissbirne der Treuhand und einer riesigen Zahl an Arbeitslosen und Kurzarbeitern folgte die Suche nach Sündenböcken für den wirtschaftlichen Niedergang, welche nicht nur ein (ost-)deutsches Phänomen war und ist. Neben bereits ansässigen »Vertragsarbeitern« aus Vietnam oder Mosambik kamen im sächsischen Hoyerswerda seit Sommer 1991 nun auch Geflüchtete aus Rumänien, Ghana, dem Iran oder Bangladesch hinzu, die für einige verlorene Existenzen offenbar Stein des Anstoßes zum »heißen Herbst«53 in diesem Jahr bildeten. Ein knappes Jahr später folgten die widerlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen. Die Weltöffentlichkeit war geschockt und sah die Befürchtungen eines »Vierten Reiches« bestätigt: Der »hässliche Deutsche«54 war zurück und wie nach der Weltwirtschaftskrise 1929−1933 suchte er nun wieder in allem Nichtdeutschen die Verantwortlichen – diesmal nur eine Nummer kleiner und vor allem aus dem Osten des Landes stammend.

Aus der Perspektive des klassischen Marxismus-Leninismus lässt sich hier überaus passend die Dimitroff-Doktrin projizieren: Nach Lesart des bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff wurde der Faschismus (ähnlich wie im oben erwähnten SED-Parteiprogramm) als »terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«55 definiert. Nach dieser Lesart waren »bürgerliche Demokratie« und Faschismus zwei Seiten einer Medaille des kapitalistischen Systems. Beide Weltanschauungen besaßen die gleichen wirtschaftlichen Grundlagen: Das hat zur Folge, dass wenn der Kapitalismus in eine systemimmanente Krise schlitterte – etwa durch eine revolutionäre Bewegung, wie in den frühen 1920er Jahren in Italien, während der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in Deutschland oder fast wieder hundert Jahre später –, transformiert sich die sowieso als scheindemokratische Fassade aufgefasste bürgerliche Demokratie mehr oder weniger rasch in eine faschistische Diktatur. Diese will mit allen Mitteln der Einschüchterung die Kapitalverwertung aufrechterhalten. Besonders zielte dieses autoritär korporatistische System auf die Zerschlagung der (internationalen) Arbeiterbewegung mitsamt all ihren Institutionen, Parteien, Organisationen und Netzwerken.

Doch wie Phoenix aus der Asche erhob sich in der ehemaligen SED-Vorzeigestadt Hoyerswerda die Arbeiterbewegung selbst und machte 1994 mit Horst-Dieter Brähmig, keine drei Jahre nach den grauenvollen Bildern aus dem Sommer 1991, erstmals ein PDS-Mitglied zum Oberbürgermeister einer deutschen Stadt. Nicht nur symbolhaft schaffte es die Partei, sich zum Anwalt der »kleinen Leute« im Osten zu erheben. Im Westen dagegen fragte der Sozialdemokrat Peter Glotz weitsichtig nach dem Untergang des Realsozialismus verbunden mit dem »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama): »Gibt es den Gegensatz von rechts und links eigentlich noch? Kann man den Begriff Sozialismus noch verwenden, oder ist er endgültig zerstört? […] Welches neue Zeitalter dämmert jetzt herauf?«56 Es sollte eine Epoche werden, in dem sich die Linke(n) zu nützlichen Idioten einer globalistischen Kapitalistenklasse,57 die sich den Staat unter den Nagel gerissen hat, machen ließen – als Nachhut der Sozialdemokratie und der Grünen.58 Besonders bei letzteren fanden sich zahlreiche ehemalige westdeutsche Linke, die nach dem Zerfall des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes 1970 zunächst in den zahlreichen »K-Gruppen« bei Mao und Lenin Zuflucht gefunden hatten – der autoritär eingestellte Ministerpräsident von Baden-Württemberg ist sicher das bekannteste Beispiel.59

Doch bereits zu Beginn der 1990er deutete sich eine Entwicklung an, welche die deutsche Linke nachhaltig schwächen sollte, wie der Autor Roberto J. De Lapuente herausstellt: »So wuchs in der Linken eben nicht zusammen, was zusammengehörte. Man verstand sich nicht, blieb sich fremd – die Mauer hatte ganze Arbeit geleistet und hielt Welten auseinander. Die westlichen Linken waren in ihrer materiellen Sorglosigkeit entweder total auf Toleranzthemen fixiert oder salbaderten über den Polizeistaat und den Faschismus, der sich wieder formiere. Die Ostdeutschen des real existierenden Sozialismus hingegen, die wollten sozialen Aufstieg, Konsum und Sicherheit.«60 Der westdeutsche DKPler und Politikwissenschaftler Georg Fülberth drückte es im Jahr 2000 so aus: »Die PDS ist eine linke Möglichkeit, und deshalb verstehe ich trotz all ihrer Mängel nicht den Hass, den einige Linke auf die PDS haben. Ansonsten kenne ich die PDS zu wenig, irgendwie verstehe ich sie nicht. Sie ist wohl doch eine Ostpartei.«61 2008 hat er sie und ihre veränderte Rolle als neue Partei »Die Linke« in Buchform analysiert, aufgearbeitet und dann offensichtlich doch noch verstanden.62

Programm vom 25. Februar 1990

Mit dem neuen Programm im neuen Jahrzehnt änderte sich vor allem der Parteicharakter der SED. Der Bruch mit dem Stalinismus wurde bereits angesprochen, der Sozialismus sollte fortan »demokratisch« und das Wirtschaftssystem »marktwirtschaftlich« sein.63 Man forderte inhaltlich eine neue Art von Fortschritt zur Bewältigung globaler Prozesse. Der Politikwissenschaftler Jochen Weichold fasst das folgendermaßen zusammen: »Mit dem Programm verabschiedete sich die PDS vom Selbstverständnis als Staatspartei, erklärte, kein Monopol an Macht anzustreben, und wollte sich künftig als linke Oppositionspartei – links von der SPD – begreifen.«64 Die PDS hielt am Sozialismus als einer »der größten humanistischen Ideen der Menschheit« fest, sah aber im »administrativ-zentralistischen Sozialismus«65 den Hauptgrund für das Scheitern und die Wende 1989/90. Neben den Klassikern Karl Marx und Friedrich Engels, Wilhelm Liebknecht und August Bebel kamen nun auch Eduard Bernstein und Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, W. I. Lenin und Antonio Gramsci dazu.66 Tatsächlich wurde das linke ideologische Spektrum dadurch deutlich verbreitert – freiheitlich anarchistische oder gar libertäre Strömungen blieben jedoch außen vor.

Unter dem Punkt »Unsere Ziele« zählte das Programm der PDS das Eintreten für Freiräume zur Entfaltung eines jeden und für einen modernen Rechtsstaat auf, in dem die individuellen und politischen ebenso wie die sozialen, kulturellen und kollektiven Menschenrechte realisiert werden sollten. Es machte sich für eine Marktwirtschaft mit einem hohen Maß an sozialer und ökologischer Sicherheit stark, sowie für Chancengleichheit und persönliche Sicherheit für alle Mitglieder der Gesellschaft und für eine tatsächliche gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter. Schließlich hob das Programm das Eintreten der PDS für Frieden, allgemeine und vollständige Abrüstung, Weltoffenheit, Freundschaft und Solidarität mit allen Völkern, sowie für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und für die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts hervor. In dem Kontext bekannte sich die PDS zur »Einheit Deutschlands in einem Verbund freier und gleichberechtigter Völker und Nationen Europas«67 sowie als Verteidiger ostdeutscher Werte und Errungenschaften. Von Anfang an war für alle anderen Parteien – allen voran die CDU – jedoch klar: Mit denen nicht! Im »antitotalitären Konsens« der frühen Berliner Republik wurden die Schmuddelkinder aus dem Osten lange weit weg von der Macht gehalten.68 Neben den schlechten Voraussetzungen hebt der von 2002 bis 2011 unter der SPD mitregierende ehemalige linke (stellvertretende) Bürgermeister von Berlin, Harald Wolf, »die Gefahr der Integration in den bürgerlich-parlamentarischen Betrieb und den gesellschaftlichen Mainstream«69 hervor.

Laut Hufeisentheorie, deren westdeutsche politikwissenschaftliche Vertreter sich besonders an den Universitäten in Chemnitz und Dresden niederließen bzw. im prestigeträchtigen »Elbflorenz«70 sogar das Hannah-Arendt-Institut71 aus dem Boden stampften, waren die Kommunisten und (Ex-)SED-ler das linke Gegenstück zu den Nationalsozialisten, die DDR-Vergangenheit sollte daher genauso kritisch wie die NS-Zeit »aufgearbeitet« werden.72 Ebenso linksliberale Intellektuelle aus dem Westen wie Jürgen Habermas, Hans-Joachim Wehler oder auch Jürgen Kocka übernahmen nun Versatzstücke dieser nicht unumstrittenen Lesart der Geschichte.73 Für Habermas waren nun Nationalsozialismus und Kommunismus Geschichte, er unterstützte »ein[en] antitotalitären Konsens, der diesen Namen verdient, weil er nicht selektiv«74 (also nur auf links gerichtet) sei.

Das hatte natürlich indirekten Einfluss auf die Debatten und die richtige Programmatik der PDS – auch wenn führende Mitglieder wie Modrow diesen »Konsens« völlig ablehnten.75 Gysi dagegen wollte »Erneuerung ohne Leugnung der Geschichte«.76 Diese sollte mit Blick auf die Linke ganz im Gegensatz zu den westlichen Parteien bis zum heutigen Tag nicht aufhören.77 1992 war es Sahra Wagenknecht, die mit einen Aufsatz in den Weißenseer Blättern 4/1992 unter dem Titel »Marxismus und Opportunismus – Kämpfe in der sozialistischen Bewegung« für Furore sorgte. Vom Parteivorstand wurde ihr eine »positive Haltung zum Stalinismus« unterstellt – worauf sie bei der Programmdebatte fortan nicht mehr mitreden durfte.78 Die wichtigsten Fragen beschäftigten sich parteiintern damit, wie die Sozialismus-Vorstellungen in der DDR in eine neue Epoche transformiert werden konnten: »Sozialismus oder Barbarei« war nach wie vor die Losung, unklar war die Umsetzung und welche Rolle die »Arbeiterklasse« – so es die als monotones Gebilde überhaupt noch gab – dabei spielen sollte.

Zweites Programm vom Januar 1993

Nach drei Jahren marktwirtschaftlicher Realität und mit Blick auf das »Superwahljahr« 1994 legte sich die PDS ein neues Programm zu, »in einer Zeit, die durch geschichtlich beispiellose Umbrüche in den globalen Entwicklungsbedingungen gekennzeichnet«79 sei. Im Eingangstext »Die gegenwärtige Welt« legte man den Fokus global auf die postsowjetische neue Ära des Kapitalismus, dort hieß es: »Die führenden kapitalistischen Staaten streben eine Weltordnung an, die ihre Vorherrschaft politisch und militärisch ausbaut.«80 Mit Blick auf New York und London wurde deutlich gemacht: »Das internationale Finanzkapital hat seine Eigenständigkeit und Stärke weiter ausgebaut. Die transnationalen Konzerne werden immer mächtiger.«81 Ein scharfe, wenn auch nicht schwer zu fällende Beurteilung der Verhältnisse, an der sich dreißig Jahre später nichts geändert hat – bzw. die Machtverhältnisse noch deutlicher zugunsten der genannten monopolistischen Akteure verschoben worden sind. Damals wie heute sind die Auswege aus dem Dilemma verbaut: »Die Dominanz des Profiprinzips, die soziale Ungerechtigkeit, die Einschränkung von Menschenrechten und Lebenschancen sowie die Ausgrenzung von Betroffenen aus der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse stehen einer Lösung der Menschheitsprobleme entgegen«.82 Die »kapitalistische, Produktions-, Verteilungs- und Konsumtionsweise in den Herrschaftszentren der Weltwirtschaft«, patriarchale Strukturen sowie »bürokratisierte Konkurrenz- und Konsumgesellschaft«83 wurden dafür verantwortlich gemacht.

Die »Politik der Herrschenden« habe im vereinten Deutschland die bestehenden industriellen Strukturen der DDR bewusst zerstört und eine »Verwestlichung des Ostens«84 anvisiert, die sämtliche Strukturprobleme wie »Massenarbeitslosigkeit«, und »Naturzerstörung« billigend in Kauf genommen hat.85 Die Kolonisierung des Ostens durch den Westen wurde auch als die Eroberung neuer Absatzmärkte und kapitalistischer Ausbeutungsinteressen gedeutet, wodurch die auch dadurch bedingte Etablierung als dezidiert ostdeutsche Protestpartei funktionierte.86

Am interessanten ist der Punkt »Wir wollen« – und wie weit weg die Partei davon knapp drei Jahrzehnte später entfernt ist. U. a. steht dort:

»Die bevormundende Bürokratie des Staates zurückdrängendirekte Bürgerbeteiligung, Selbstverwaltung und öffentliche KontrolleWirtschaft und Arbeitsleben demokratisierenGegenöffentlichkeiten stärken, die Medien demokratisieren und die Beteiligung der gesellschaftlichen Bewegungen und Gewerkschaften an der öffentlichen MeinungsbildungDie Manipulation der Menschen durch Meinungsproduzenten, Warenwerbung und Unterhaltungsindustrie zurückdrängenDie Auflösung aller GeheimdiensteDie Sicherung und Wahrnehmung des durch die Verfassung garantierten Widerstandsrechts«87

Erst im Anschluss folgen Forderungen nach »offene[n] Grenzen für Menschen in Not« oder »die umfassende Gewährleistung der Rechte von Minderheiten und die Bereitstellung von finanziellen Mitteln für ihre eigenständige kulturelle Entwicklung«,88 die freilich ihre Berechtigung haben.

Was heute weit weg erscheint: Gegen die Aushöhlung des Einigungsvertrages wollte man damals ein eigenes, nicht näher beschriebenes »ostdeutsches Gremium« installieren, das »gegenüber der Bundesregierung und dem Bundestag die Interessen der Ostdeutschen« hochhält.89 Weitere Punkte waren mit »Individualität«, »Solidarität« und »Patriarchale Strukturen überwinden«90 oder »Die Waffen nieder«91 überschrieben. Unter dem Punkt »Kultur, Bildung und Wissenschaft befreien« steht zu lesen: »Die Unterordnung des geistig-kulturellen Lebens unter die Verwertungsinteressen des Kapitals muss zurückgedrängt werden, weil sie Deformationen verursacht, die Kommunikationsfähigkeit der Gesellschaft und damit ihrer demokratischen Weiterentwicklung entgegenwirkt.«92 Das sollte beispielsweise mit der »demokratischen Kontrolle von Forschungsinstituten und Drittmittelprojekten an den Hochschulen«93 erreicht werden. Als Oppositionskraft fühlte sich die PDS »dem Erbe von Marx und Engels, den vielfältigen Strömungen der deutschen und internationalistischen Arbeiterbewegung kritisch verbunden und dem Antifaschismus verpflichtet«.94 Horst Dietzel verweist hier darauf, dass die Stelle exemplarisch für vielerlei Diskussionen wie auch andere Passagen gesorgt haben – so hätten zahlreiche Genossen zum Beispiel auch den Namen Lenin95 in der finalen Formel gerne gesehen.96

Das »Superwahljahr« 1994

Aufsehen erregte Gregor Gysis »Ingolstädter Manifest« kurz vor der Bundestagswahl 1994. Damit wollte der Berliner die PDS vor allem auch im Westen wählbar machen. Statt auf den »Klassenkampf« setzte Gysi auf einen verbindenden aber wenig revolutionären »Gesellschaftsvertrag«, was ihn besonders von den überzeugten Kommunisten in der Partei – im Gegensatz zu den »Reformsozialisten«97 – angekreidet wurde.98 Gysi trat hier für eine europäische Sichtweise auf die Dinge ein – auf der Suche »nach neuen Chancen für den gemeinsamen Weg ins 21. Jahrhundert«.99 Die Spaltung zwischen Ost und West, Arm und Reich, Migranten und Nicht-Migranten sah er als bewusst herbeigeführt an – nach dem historisch bis heute vielfach erprobten Motto: »Teile und Herrsche«.100 Das Ende der Spaltung wollte Gysi durch einen »New Deal« erreichen – wie es Dietzel mit Blick auf die USA und den Amtsantritt Roosevelts 1933 interpretierte: Experten aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaft hatten sich damals zusammengetan, um die Wirtschaft nach der Weltwirtschaftskrise wieder anzukurbeln und die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen.101

Im ersten Abschnitt von Gysis Pamphlet mit der Überschrift »Lassen Sie uns über Chancen reden«, wird neben den sozialen Verwerfungen im wiedervereinigten Deutschland eine heute noch sehr bedenkenswerte These zum Thema Außenpolitik von Gysi formuliert. Laut Gysi würden die Herrschenden verkünden: »Wir seien bedroht durch Russland und den Islam, die uns in neue Kriege hineinziehen könnten. Deshalb müssten wir uns wappnen. Auf Deutsch soll damit gesagt werden: Sicherheit durch schnelle militärische Eingreiftruppen, Abschreckungskapazitäten und nukleare Knüppel. Werden wir damit sicherer?«102 Schlüssig konstatiert er, dass die herrschende Politik es verstehe, über vermeintliche oder reale »Bedrohungen« zahlreiche »Ängste« zu schüren, um somit ihre Ziele durchzusetzen.103 Die Chancen der Wiedervereinigung wurden nicht genutzt, besser gesagt: »durch Beitritt und Anschluss bewusst zerstört«. Viele westliche Segnungen stellten sich als eine leere Hülle für große Teile der Bevölkerung dar: »Die von den Herrschenden betriebene Blockade einer demokratischen und sozialen Veränderung der Bundesrepublik erweist sich als das wirksamste Instrument der Konservativen und Rechten, die sozialen, demokratischen und rechtsstaatlichen Standards der BRD zu verringern.«104

Doch anstatt den Herrschenden auf den Leim durch ihre rigorose Einschüchterungspolitik zu gehen, sieht Gysi jede Menge Chancen für eine sozialere, linke Politik. Allzu konkret wird er aber nicht, wenn er für den »freien Markt« und die »gewaltenteilende Demokratie« konstatiert: »Gerade aus deren Wandel können die neuen Chancen für alle und neue Formen der Solidarität erwachsen. Dazu bedarf es der Phantasie, des Wollens und des Mutes.«105 Vielleicht die wichtigste Forderung zur Umsetzung dieses Wandels war die Forderung nach direkter Demokratie und Volksabstimmungen.106 Für den »sozialökologischen Umbau« empfahl Gysi eine weltweite Kapitalertragssteuer von zehn Prozent sowie die Kürzung von Rüstungsetats auf die Hälfte.107 Dafür brauchte es eine »ökologische und soziale globale Revolution« inklusive der diesbezüglich jedoch wenig revolutionären Feststellung: »Wir sind weder so blind, dass wir den Markt zerstören wollen, noch so pessimistisch, dass wir nicht glauben würden, ihn gestalten zu können«.108 Eine Symbiose aus »Markt, Staat und Zivilgesellschaft« in den europäischen Institutionen sollte dazu beitragen und Gysi erkannte ganz richtig, dass letztere zum einen »demokratisiert« werden müssen und zum anderen als Gegenpol zu supranationalen Organisationen wie der EU auch eine Regionalisierung als »Gegengewicht« zu installieren sei – beide Forderungen sind mittlerweile von einer globalistisch-zentralistischen Herrscherkaste aus Washington/New York, Brüssel und Davos hinweggefegt worden.

Nicht zuletzt hatte Gysi die europäische Perspektive mit Blick auf die Wahlen zum EU-Parlament im Juni 1994 geschärft. Eineinhalb Jahre vorher – Ende 1992 – war die PDS die einzige Partei im Bundestag, deren Mitglieder gegen den Maastricht-Vertrag stimmten. Laut Hans Modrow war die Partei zwar grundsätzlich für die europäische Einigung. Doch stimme man gerade deshalb dem Vertrag nicht zu, denn: »Unser Ziel ist ein friedliches, nicht militärisches, ein demokratisches, rechtsstaatliches, soziales und ökologisches Europa«. Doch Maastricht – so Modrow – spalte Europa gleich mehrfach: »Zwischen Ost und West, Nord und Süd, Arm und Reich, zwischen den Bürgern und den Regierungen.« Die Menschen würden sehr gut verstehen, dass Maastricht »über die offene Marktwirtschaft der freien Konkurrenz den Weg für die Stärksten und dabei insbesondere für eine Vorherrschaft des größer gewordenen Deutschlands freimachen soll«.109 Fast drei Jahrzehnte später ist es erschreckend, wie sehr Modrow mit seinen Prophezeiungen recht behalten sollte. Wobei die »offene Marktwirtschaft« freilich die ohnehin zehn Prozent reichsten Deutschen – aber auch Franzosen, Italiener oder Niederländer – noch reicher machen sollte. Im Wahlprogramm »Europa braucht Frieden, Arbeit und Demokratie – Wahlen zum Europäischen Parlament 1994 – Politische Positionen der PDS« waren die Forderungen jedoch sehr allgemein gehalten:

»Demokratie verwirklichen,Eine Wende in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik herbeiführen;Menschenrechte in der europäischen Union für alle sichern;Demokratische Kontrolle und Transparenz in Fragen der inneren Sicherheit herstellen;Kultur, Kunst, Bildung, Wissenschaft und Sport zielgerecht fördern;Meinungsvielfalt und offene Meinungspolitik garantieren;Frieden durch kollektive Sicherheit, Abrüstung und Militarisierung gewährleisten;West- und Osteuropa zusammenführen undNord-Süd-Konflikt lösen helfen«110

Immerhin landete man damit einen Achtungserfolg bei den Wahlen am 12. Juni 1994: Mit 4,7 Prozent wurde die 5-Prozent-Hürde dennoch knapp verpasst und man landete hinter Union, SPD und Grünen knapp vor der FDP. In Ostdeutschland waren es sogar 20,6 Prozent, im Westen allerdings nur 0,6 Prozent.111 Wie sehr die PDS »Ostpartei« war, zeigte sich bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt: Hinter CDU und SPD erreichte man 19,9 Prozent der Wähler, was ein Plus von 7,9 Prozent gegenüber 1990 bedeutete. Hier wie bei der anstehenden Bundestagswahl setzte man auf zwei große Themenkomplexe: Die Stellung als ostdeutsche Identitätspartei baute vor allem Hans Modrow aus, der die PDS als »Partei des Protests gegen die sozialen und sozio-psychologischen Auswirkungen des Systemtransfers«,112 so Neugebauer und Stöss, etablieren wollte, während Gregor Gysi die PDS im Westen als Alternative zur SPD und Bündnisgrünen anpries und Lothar Bisky als Brückenbauer zwischen Ostpartei und gesamtdeutscher Sozialismuspartei agierte.113

Zugleich wurde deutlich gemacht, dass man sämtliche, durch den westlichen, staatsmonopolistischen Kapitalismus verursachten Probleme der »Dritten Welt« nicht dadurch löse, dass man diese Probleme nach Deutschland importiert. Thomas Falkner, damals PDS-Funktionär und stellv. Chefredakteur der Tageszeitung junge Welt formulierte 1994: »Wer wie die PDS theoretisch das soziale Gefälle zwischen Nord und Süd als existentielles globales Problem begreift, der dürfte auch davon ausgehen können, dass dieser Herausforderung nicht durch die Einladung an die verarmten Massen des Südens in den Norden begegnet werden kann. Dafür fehlen zudem in den Gesellschaften des Nordens und bei der Mehrzahl ihrer Bürger die objektiven und vor allem subjektiven Voraussetzungen.«114 Weder materiell noch kulturell waren (und sind) dafür die Voraussetzungen gegeben. Die meisten PDS-Politiker strebten damals keine Auflösung nationaler Identitäten, sondern in erster Linie ökonomische »Reformalternativen – sozial – ökologisch – zivil« an. Im gleichnamigen Band, u. a. herausgegeben vom Leiter der PDS-Grundsatzkommission Dieter Klein, wurde kein Blatt vor den Mund genommen, aus welcher geographischen und politischen Richtung die unheilvolle Entwicklung kommen sollte: »Die Multikulti-Idee altgrüner Spontis setze eine fatale Ignoranz fort, indem sie Differenzen tottoleriere, statt ihnen mit Willen zum Verstehen zu begegnen.«115

In der PDS sah man durchaus, dass (oft imperialistische) Kriege Flüchtlingsströme in Gang setzen. Im Gegensatz zu heute war in den 1990er Jahren nicht nur der Basis, sondern auch den meisten Funktionären klar, dass eine hohe Zahl Geflüchteter mit einem völlig anderen kulturellen Hintergrund im »aufnehmenden« Land bei einer zu großen Menge in zu kurzer Zeit zu heftigen Verstimmungen und sozialen Verwerfungen führen kann.116 Das Wahlprogramm zur Bundestagswahl 1994 verknüpfte daher konsequent »Opposition gegen Sozialabbau und Rechtsruck«, räumte den Werktätigen jedoch ihren gebührenden Platz ein.

Dafür war Gregor Gysi genau der richtige Mann am richtigen Ort, der es schaffte, die ostdeutsche DNA der Partei zu konservieren und den einen oder anderen Protestwähler aus dem Westen nicht zuletzt durch offene Wahllisten als »ein Bündnis mit Persönlichkeiten aus sozialen, politischen und kulturellen Bewegungen des linken, antifaschistischen Spektrums«117 anzusprechen. Unter anderem forderte die PDS eine »Beendigung des Kalten Krieges in der BRD«, d. h., neben dem Abzug der sowjetischen insbesondere den der alliierten Truppen sowie »eine neue Verfassung der BRD«,118 wie im Grundgesetz nach der »Vereinigung« angestrebt. Eine dauerhafte ostdeutsche »Volkspartei«, wie es die Sachsen Ronald Weckesser und Christine Ostrowski um die Jahrtausendwende anstrebten sowie kurz danach Michael Brie im Jahr 2002 – ähnlich wie die CSU als bayrische Volkspartei –, sollte jedoch scheitern.119 Lediglich in Ostberlin konnte die PDS diesen Status erreichen. Der Spiegel beschrieb die dortige Situation kurz vor der Wahl folgendermaßen: »Die Hochburgen der PDS liegen in Ost-Berlin, wo sich die Nomenklatura aus dem alten Staatsapparat der SED und die DDR-Intelligenz ballt, und eine ungewöhnliche Gemengelage mit der Sponti-Szene und Arbeitslosen bildet.«120

Da passte es hervorragend ins Bild, dass die PDS dank den Wählern in Ostberlin in den Bundestag einzog. Dort holte sie mit Gregor Gysi als Galionsfigur bei der Wahl zum 13. Bundestag am 16. Oktober 1994 in Berlin vier Direktmandate. Neben dem gebürtigen Lichtenberger schafften das auch die Ökonomin Christa Luft, der Gewerkschafter Manfred Müller sowie der Schriftsteller Stefan Heym. Dadurch konnte die PDS durch die Grundmandatsklausel in den Bundestag einziehen, obwohl sie die Fünf-Prozent-Hürde mit 4,4 Prozent (19,8 Prozent in Osten, 1 Prozent im Westen)121 relativ knapp verpasst hatte. Sie zog in Gruppenstärke mit 30 Abgeordneten in den Bundestag ein – und sollte ihre Chance nutzen.

Annäherungen an die SPD

Im Herbst 1994 warb der designierte Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff, für eine »neue politische Kultur«122 gegenüber der PDS. Damit standen die nordostdeutschen Sozialdemokraten in offener Opposition zur Bundes-