Die Tage des Wals - Elizabeth O'Connor - E-Book

Die Tage des Wals E-Book

Elizabeth O'Connor

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Beschreibung

1938: Auf einer abgelegenen Insel vor der walisischen Küste träumt die achtzehnjährige Manod von einer Zukunft auf dem Festland. Als ein Wal strandet, ist er für die kleine Gemeinschaft von Fischern nicht nur ein schlechtes Omen, sondern spült auch Edward und Joan aus Oxford an, die auf der Insel ethnografische Studien betreiben möchten. Manod ist fasziniert von ihnen und wird, klug und zielstrebig wie sie ist, zu deren Übersetzerin und Gehilfin. Doch was als Zweckgemeinschaft begann, nimmt eine folgenreiche Wendung, als daraus eine Freundschaft wird, die aufgeladen ist mit Hoffnungen und Sehnsüchten.

Mit beispielloser Eleganz, Kraft und Poesie erzählt DIE TAGE DES WALS von einer jungen Frau, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt.

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Seitenzahl: 173

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Zum Buch

1938: Auf einer abgelegenen Insel vor der walisischen Küste träumt die achtzehnjährige Manod von einer Zukunft auf dem Festland. Als ein Wal strandet, ist er für die kleine Gemeinschaft von Fischern nicht nur ein schlechtes Omen in einer schwierigen Zeit, sondern er spült auch Edward und Joan an, zwei EthnografInnen aus Oxford, die gekommen sind, um das Leben auf der Insel zu studieren. Manod ist fasziniert von ihnen und wird, klug und zielstrebig wie sie ist, zu deren Übersetzerin und Gehilfin. Doch was als Zweckgemeinschaft beginnt, nimmt eine folgenreiche Wendung, als daraus eine Freundschaft wird, die aufgeladen ist mit Hoffnungen und Sehnsüchten.

Mit beispielloser Kraft erzählt Die Tage des Wals von einer jungen Frau, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt.

Zur Autorin

Elizabeth O’Connor schreibt Prosa und Gedichte, hat Kurzgeschichten in The White Review und Granta veröffentlicht und 2020 den renommierten The White Review Short Story Prize gewonnen. Sie hat einen PhD in Englischer Literatur und lebt in Birmingham. Die Tage des Wals ist ihr Debüt.

Elizabeth O’Connor

Die Tage des Wals

Aus dem Englischen von Astrid Finke

Blessing

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel WHALEFALL bei Picador, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Elizabeth O’Connor

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung: © Liz Somerville / Bridgeman Images

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30988-6V002

www.blessing-verlag.de

Schon lange betrachte ich dieses Land, versuche, meinen Platz darin zu begreifen.

R. S. Thomas, »Those Others«

Dies ist ein Inseljahr. Zuerst die Sonne, und zuerst der Frühling, der satt von Vögeln wird. Sie überlassen die Insel ihrem grauen Winter und kehren zurück, wenn Triebe aus dem Boden schießen. Alke erscheinen als dunkle Umrisse unter Wasser. Dreizehenmöwen und Basstölpel fallen vom Himmel. Anfangs bemerken wir sie nicht. Die Kinder jagen sie vielleicht auf der Steilküste, die Männer schubsen sie beim Fischen mit einem Ruder von einem Netz weg. Gegen Ende des Frühlings liegen sie über die Insel verstreut wie Schatten. Papageientaucher, Flussseeschwalben, Zwergseeschwalben. Im Sommer ziehen sie ihre Jungen auf und werfen sich zurück ins Wasser.

Die Dreizehenmöwen kommen unseren Häusern am nächsten, picken Essensreste aus den Küchenabfällen auf dem Hof. Sie hocken auf den Giebeln: Von Weitem sehen die grauen Flügelspitzen aus wie Stacheln. Sie leben auf dem Dach, bedecken es mit einer silbrigen Schicht aus Federn und Guano, wecken uns drinnen auf, wenn sie sich zanken und hin und her trippeln. Manchmal kämpfen sie im Flug, reißen einander rote Flecke ins Gefieder. Sie lassen Fische aus dem Schnabel auf den Hof fallen, die in die schmalen Ritzen und Löcher der Steine kriechen, sodass er monatelang ranzig riecht. Die Hitze bringt sie nur noch näher zu uns: ihre Vogelgerüche, ihre Rufe, ihre rosig toten Jungen.

Im Sommer streichen die Frauen der Insel die Häuser wieder weiß. Sie gehen in die Kalksteinhöhle im Westen und schlagen den Fels zu Pulver. Wenn meine Mutter zurückkam, hing es immer an ihren Händen, hinterließ Sprenkel auf allem, was sie anfasste. Manchmal färbten die Pigmente die Tünche gelber oder blauer als reinweiß. In einem Jahr wurden alle Häuser blassrosa, und es schimmert immer noch durch, in Kerben und Dellen, wo die oberen Schichten abgeblättert sind.

Nach dem Sommer kreist die Kälte, stürzt dann herab wie ein Stein. Die Vögel verschwinden einer nach dem anderen. In ihren Nestern an der Steilküste liegen noch Eier. Im Herbst brodelt das Meer wie ein Topf auf dem Feuer. Die Vögel ziehen weiter, und der Sommer ist fort.

Winter: Wir halten uns in der Nähe des Kamins auf, schlafen im selben Bett. Das Meer pirscht sich an die Tür an, schwappt an den Inselrand. Am Horizont ist graues Eis. Der Wind peitscht uns rot. Zu Weihnachten kochen wir frisch gefangene Fische, dann schlachten wir ein Schaf und werfen es ins Wasser. Bis zum Frühling schieben die Wellen es zurück auf den Strand, und die Vögel treffen ein und verschlingen es. Die Schafe werden auf die nächste Weide getrieben, wenn sie ihre kahl gefressen haben.

September

Der Wal strandete über Nacht am seichten Ufer, tauchte aus dem Wasser auf wie eine Katze, die sich unter einer Tür durchschleicht. Niemand bemerkte ihn: nicht der Leuchtturm mit seinem Lichtkreis auf dem Wasser, nicht die Nachtfischer, die nach Wittling und Seezunge suchten, nicht die Bauern, die im Morgengrauen Rinder über den Hügel führten. Die Schafe auf der Steilküste blieben ungestört. Unter dem dunklen Wasser leuchtete der Wal hellgrün.

Bis zum Morgen war er auf den Strand gespült worden und lag ordentlich da. Vögel sammelten sich über ihm. Die Flut schwemmte Wasser in breiten, flachen Spiegeln über den Sand, durchbrochen von schmalen Pfaden. Die Wellen schwappten um den Wal herum und wieder hinaus, wie eine Membran um ihre zarte Mitte.

Einige Fischer sagten, er sei von seinem Kurs abgekommen. Sie sahen Wale draußen auf dem Meer, aber selten so nah. Ein paar Ältere meinten, es sei ein Omen, konnten sich allerdings nicht darauf einigen, ob ein gutes oder schlechtes. Reverend Jones las fast jede Woche die englischen Zeitungen, sagte aber, es gebe nichts, was die Ankunft des Tiers erklären könne. Seit Beginn des Monats war die Marine wieder auf dem Meer unterwegs. Er machte eine vage Andeutung über Radar, und ein Bauer nickte und sagte: U-Boote.

Jemand holte eine große Kamera aus seinem Haus, einen Kasten auf langen Holzbeinen. Von dem Blitz färbte die Landschaft aus.

Ich wurde am 20. Januar 1920 auf der Insel geboren. Auf meiner Geburtsurkunde stand 30. Januar 1920, weil mein Vater das Standesamt auf dem Festland vorher nicht erreicht hatte. Es gab damals einen schweren Wintersturm, und niemand konnte die Insel verlassen. Als wir endlich losfuhren, erzählte meine Mutter mir früher, war der Strand von Quallen übersät, wie eine silbrige Eisfläche. Meine Mutter überlebte die Geburt, Jesus sei Dank, denn niemand hätte kommen und ihr helfen können.

Die Insel war fünf Kilometer lang und eineinhalb Kilometer breit, mit einem Leuchtturm an der östlichen Spitze und einer dunklen Höhle im Westen. Es gab zwölf Familien, den Pfarrer und den Polen Lukasz, der den Leuchtturm betrieb. Unser Haus, Rose Cottage, lag an einem Hang, wo der Wind eine Faust darum ballte. Tad sagte, die Armee hätte Panzer aus unseren Fenstern bauen sollen, so wie sie sich dem Wetter widersetzten. Das Glas war an manchen Stellen verformt und gesplittert, hielt sich aber fest im Rahmen. Im Schlafzimmer, bei Nacht, hörte man durch einen Sprung in der Scheibe die Ziegen unserer Nachbarn nach ihren Kitzen rufen, und manchmal konnte man in ihrem Haus eine Kerze brennen sehen.

Tad sprach mich immer mit dem Namen des Hundes an. Am Tag des Wals ging er auf dem Hof an mir vorbei und rief nach ihm. Ich klopfte gerade Staub aus dem Kaminvorleger, der aber daraufhin eine silbrige Schicht auf meinen Kleidern bildete. Ich musste mir die Mücken aus den Augen verscheuchen.

»Ich bin mal auf dem Boot, Elis«, sagte Tad.

»Manod«, sagte ich. »Nicht Elis. Elis heißt der Hund.«

»Das weiß ich, das weiß ich ja.«

Er winkte ab. Er nahm den Pfad zum Meer hinunter. Seine Gummistiefel machten bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch.

»Hab’ ich doch gesagt«, hörte ich ihn. »Manod. Hab’ ich doch gesagt.«

Im Hof zog Tad Makrelen zum Trocknen auf eine Schnur auf. Er liebte den Hund: Es gab einen Abschnitt Trockenfisch extra für ihn. Mit mir oder meiner Schwester sprach mein Vater wenig, aber nachts hörte ich ihn lange Gespräche mit Elis murmeln. Elis rannte auf dem Hof im Kreis, schnüffelte an den Flechten zwischen den Steinplatten, blieb kaum stehen, sah kaum zu mir auf. Ich schnitt ihm einen Fisch ab, und er rannte damit undankbar in den Weißdorn, in einer kleinen Wolke von aufspritzender Erde und Laub.

Ich rubbelte an einem Fleck auf meinem Kleid. Es war ein altes meiner Mutter, dunkler Flanell mit losen Fäden an sämtlichen Säumen. Mam hatte sich ihre Sachen selbst genäht und es dann mir beigebracht. Sie hatte sie praktisch gemacht, mit breiten Taschen und Bewegungsspielraum. Ich nähte gern die Schnitte in den Zeitschriften nach, die Frauen in der Kirche liegen ließen. Festlandmode. Daran merkte ich, dass die meisten Menschen auf der Insel hinsichtlich ihrer Kleidung allen anderen zehn Jahre hinterher waren. Manchmal wurden Koffer am Ufer angeschwemmt, und darin fand ich alte Kleidungsstücke, die ich trug oder wegen der Stoffe auftrennte. Einmal fand ich ein Ballkleid mit nur einem kleinen Riss an der Hüfte, in anemonenroter Seide. Auf einer Seite hatte es ein Täschchen, und darin steckte eine vergoldete Puderdose in Form einer Jakobsmuschel. Der Puderquast war noch orange vom Kontakt mit der Haut der Besitzerin.

Unser Nachbar tauchte kurz nachdem Tad gegangen war auf, mit triefenden Kleidern und Haaren. Ich sah ihn über den Hügel auf seine Frau zulaufen, die eine ihrer Ziegen melkte. Ich konnte ihn von meinem Platz aus riechen, seine klamme Schaffellweste und das durchweichte Hemd. Seine Frau rannte zu ihm und nahm sein Gesicht in beide Hände. Es war mir unangenehm, sie zu beobachten, und ich strich mir mit den Fingern durch die Haare. Ich hörte Fetzen von dem, was er Leah erzählte: Wir dachten, es wäre ein Boot. Glaubst du, es ist ein schlechtes Zeichen? Leahs Hand erstarrte, ihr stockte der Atem.

Kein Mensch auf der Insel konnte schwimmen. Die Männer lernten es nicht und deshalb die Frauen ebenso wenig. Das Meer war gefährlich, und vermutlich hatten wir zu lange mit seiner Gefahr gelebt. Eine beliebte Redensart bei uns: Vom Boot ins Wasser. Vom Regen in die Traufe. Vom Boot, und Gott steh dir bei.

Es gab einmal einen König auf der Insel, der eine Messingkrone trug. Als er im vorigen Jahrzehnt gestorben war, wollte es keiner mehr machen. Die meisten jungen Männer waren im Krieg umgekommen oder versuchten, auf dem Festland Arbeit zu finden. Die Übrigen hatten zu viel auf den Fischerbooten zu tun. So ist das eben. Laut meiner Mutter wurden die Frauen nicht gefragt.

Meine Schwester strich mit den Fingern Butter auf Brot, aß das Brot und leckte dann einen nach dem anderen die Finger ab. Dazu bist du zu alt, sagte ich zu ihr, und sie streckte mir die Zunge heraus. Ich goss Tee in drei Tassen und sah ihm beim Dampfen zu.

Llinos drehte die Tasse vor sich im Kreis, als inspizierte sie sie aus jedem Winkel. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Mir fiel etwas ein, was meine Mutter früher über uns sagte: ni allaf ddweud wrth un chwaer oddi wrth un arall. Ich kann eine Schwester nicht von der anderen unterscheiden. Zwischen uns lagen sechs Jahre, aber nur eine von uns war noch ein Kind, also stimmte das nicht mehr.

»Wie heißt das englische Wort?«, fragte ich sie.

»Weiß ich nicht.«

»Doch, weißt du.«

Llinos trank einen großen Schluck Tee und verzog das Gesicht.

»Heiß«, sagte sie.

»Wal heißt es.«

Unterstützung heischend sah ich Tad an. Den ganzen Sommer schon versuchte ich, Llinos’ Englisch zu verbessern, aber sie war störrisch. Tad hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Eine Hand auf dem Schoß und die andere um Elis’ Schnauze gelegt. Seine Kleider trockneten am Feuer, vermischten den Geruch von Wäsche mit dem von Fisch. Unser Wohnzimmer war klein: Platz für einen Tisch, Stühle, den Kamin und eine kleine Anrichte. Die Anrichte war von Kerzenwachstropfen übersät. Tad hatte seine Prothese mit den drei perlmuttfarbenen Zähnen herausgenommen und in die Mitte gelegt.

An der Tür stand ein Eimer mit den Hummern, die er an diesem Tag gefangen hatte. In unseren Gesprächspausen hörte ich sie im Wasser herumwandern, ihre Scheren an der Metallwand des Eimers schaben. Auf der anderen Zimmerseite sah ich einen Schatten sich auf und ab bewegen und begriff, dass es meine Hand war. Ich räumte die Teller ab und fragte Tad, ob er den Wal gesehen habe.

»Draußen auf dem Meer«, sagte er und rieb sich eine schwielige Stelle an den Fingerknöcheln, »sieht man normalerweise mehr als einen.«

»Hat Mam nicht früher öfter von Walen erzählt?«, fragte Llinos.

Stimmungsumschwung. »Die bringen bestimmt Unglück.«

»Du klingst wie eine verrückte alte Frau.«

Ich brachte die Teller weg, warf Elis die Reste auf den Boden. Tad hielt mich am Arm fest, als ich seine Tasse aufhob, legte dann seine Hand auf meine.

»Marc hat sich heute nach dir erkundigt. Meinte, wie hübsch du in der Kirche ausgesehen hast.«

»Und was hast du gesagt?«

Tad zuckte mit den Achseln.

»Ich hab’ gesagt, er soll dich fragen.«

»Du kannst ihm ausrichten, nein, ich will nicht.«

Tad seufzte und betrachtete seine Hände.

»Du solltest übers Heiraten nachdenken. Es muss ja nicht Marc sein. Es könnte auch Llew sein.«

»Ich bin achtzehn.«

»Die Zeit vergeht schnell.« Seine Stimme wurde weicher. »Ich kann dich nicht ewig hierbehalten.«

»Und wer soll sich dann um Llinos kümmern?«

Elis hatte sich neben Llinos’ Stuhl auf die Hinterbeine gestellt und verrenkte sich den Kopf, um Krümel vom Tisch aufzulecken. Llinos drehte sich um und nahm seine Vorderpfoten in die Hände. Sie stand auf, sodass sie aussahen wie ein tanzendes Paar. Sie schwankten hin und her, und Elis öffnete das Maul weit und hechelte.

Ich sah in meine Tasse. Die Milch bildete einen Film auf dem Boden und kräuselte sich wie ein eigenartiger Kussmund.

Nachts träumte ich von einem langen Esstisch mit Walen in Abendkleidung, die über ihren Tellern lachten. Ich saß bei ihnen, in einem Kleid aus birnengrüner Seide, das ich einmal in einer Zeitschrift gesehen hatte, und einem Hut mit einer langen weißen Feder. Hinterher tanzten sie, und ich konnte nicht sagen, wie sie sich bewegten, ob sie auf den Schwanzspitzen standen oder hin und her rutschten, nur, dass ich hochgehoben und im Kreis gewirbelt und gewirbelt wurde. Die Zimmerdecke war aus Spitze und Samt und sank langsam auf mich herunter.

Ich war erst seit einem Monat mit der Schule fertig. Die Schule war in einer umgebauten Scheune, die der Kirche gehörte, untergebracht und mit zwei Zimmern groß genug für die etwa zehn Kinder der Insel. Wir hatten jeder ein Pult, feuchtes Holz, und lasen hauptsächlich in der Bibel. Schwester Mary und Schwester Gwennan kamen jeweils für ein paar Monate am Stück, dazwischen unterrichteten sie in einer Schule auf dem Festland. Auf die Bücher, die sie mitbrachten, war in verblasster Goldschrift gestempelt Our Lady of the Wayside. An besonderen Tagen wie Saint Dwynwen’s Day trugen wir Weiß.

In der Schule hatte ich eine Freundin. Rosslyn saß zehn Jahre lang neben mir und zog dann aufs Festland, um einen Steinbrucharbeiter in Pwllheli zu heiraten, einen Mann mit rosa Gesicht und unfreundlichem Mund. Rosslyn hatte ihn ein paarmal getroffen, bevor sie weggezogen war, wenn ihr Vater zum Markt auf das Festland gerudert war. In der hintersten Reihe unseres Klassenzimmers hatte sie mir anvertraut, dass er einen fleischigen Atem hatte und was er zu ihr sagte. An dem Tag, an dem sie die Insel verließ, hatte ihr Vater ein kleines Boot mit Blumen und Gras gefüllt. Sein Weinen konnte man von den Dünen aus hören. Rosslyn hatte lockige Haare und ein rundes Gesicht, das immer vor Schweiß glänzte. Ich fand, dass sie wie ein Fotomodell aussah, das ich einmal auf einem einer Seife beigelegten Kärtchen gesehen hatte. Nach ihrer Hochzeit hatte sie mir einen Brief geschickt; darin stand, dass sie mich vermisse, dass sie in einem Haus mit Innentoilette wohne. Am Ende des Briefs hatte sie mich gefragt, was ich machte und was ich vorhätte. Ich hatte nicht geantwortet.

Ich war eine gute Schülerin gewesen. Meine Lehrerin, Schwester Mary, nannte mich »aufgeweckt«, und ich durfte samstags zu ihr nach Hause kommen, wo sie mir große Landkarten zeigte und mir ihre englischen Romane zu lesen gab. Als einer der Jungen auf eine Universität in England gehen wollte, bat er Schwester Mary, seine Bewerbung zu korrigieren, und Schwester Mary vertraute es mir an. Ich ließ absichtlich zwei Rechtschreibfehler stehen, aber er bekam den Platz trotzdem. Er sagte, er werde mir schreiben, was er nie tat. Seine Mutter zeigte mir ein Foto von ihm auf einem Boot auf einem Fluss, in einem langen schwarzen Mantel. Ich hatte darum gebettelt, das Foto behalten zu dürfen, nicht wegen des Jungen darauf, sondern weil sein Gesicht etwas verschwommen war, sodass ich mir einbilden konnte, die Person auf dem Boot wäre ich.

Am letzten Schultag hatte meine Lehrerin sich nicht einmal verabschiedet. Sie hatte gesagt, wir sehen uns auf dem Markt.

Es war Flut. In Tads Gezeitenkalender, demjenigen, den er immer für uns zu Hause ließ, stand es anders. Der Kalender war auf rosa Papier getippt, und jede Saison, wenn Tad das Festland besuchte, bekam er einen neuen. Er sagte, er brauche ihn nicht, er schätze die Gezeiten nach Sicht ein wie sein eigener Vater früher. Ich erinnerte ihn nicht gern an die Male, als er sich geirrt hatte, als er mit feuchter Hose und Schuhen voller Sand nach Hause gekommen war.

Ich ging zum Strand, um mir den Wal selbst anzusehen. Wenn ich allein herumlief, träumte ich gern vor mich hin, manchmal davon, für eine wohlhabende Familie auf dem Festland als Schneiderin zu arbeiten, oder davon, eine Nonne irgendwo in Europa zu sein, in einem hohen weißen Turm an einem Marktplatz zu wohnen. Im Geiste sagte ich Bibelverse mit einem englischen Akzent auf und formte jedes Wort sorgsam mit der Zunge.

Ich folgte den Leuten, um den Wal zu finden. Die Bucht war flach, und ich sah zusammengedrängte Menschen. Der Sand war feucht und zerrte an meinen Schuhen.

Im Wasser, wo die Felsen mit wächsernem schwarz-gelbem Seetang bedeckt waren, führten vier Männer einen Stier zu einem Boot, um ihn aufs Festland zu bringen. Einer lief in Kreisen hinter dem Stier her und trieb ihn vorwärts. Ein anderer stand im Wasser auf Höhe der Bootsmitte, um ihn bei den Hörnern packen und festhalten zu können. Einer wartete mit einem aufgerollten Seil um die Schultern im Boot, damit er ihn schnell an einem Eisenring im Rumpf anbinden konnte. Der Stier ging langsam und warf den Kopf hin und her. Als der Mann am Strand ihm näher kam, schlug der Stier aus. Er war schwarz, mit einem dünnen weißen Streifen auf der Nase, ein heller Riss.

Als ich an den Männern vorbeikam, blieb der vorderste stehen und wandte sich zu mir um. Er setzte den Hut ab und machte eine komische kleine Verbeugung. Ich beachtete ihn nicht, und die anderen lachten. Das Boot schaukelte, und der Stier rannte an ihnen vorbei. Er rannte ins Wasser, und die Männer schrien. Ich ging schneller, lauschte ihrem Brüllen, den Wellen, dem Schnauben des Stiers.

Das Wasser war blassbraun, und der Schaum erinnerte mich an die Schafsköpfe, die Tad auf dem Herd kochte, Fell um den Topfrand herum. Ich beobachtete, wie er dichter an meine Füße schwappte, nur Zentimeter entfernt, und sich wieder zurückzog. Ich hasste es, wenn ich Wasser in die Schuhe bekam.

Als ich mich der Menschenmenge um den Wal herum näherte, sah ich, dass auch Vögel da waren, Kreise in der Luft zogen und auf etwas herabstießen. Einer flog knapp über meine Schulter mit etwas im Schnabel. Im Sand lag ein Boot auf der Seite, und eine Katze schlich aus dem Rumpf und fauchte mich an.

Ich schlängelte mich durch die Leute. Jede zurückrauschende Welle enthüllte den Körper des Wals, riesig und zusammengekrümmt. Ich überlegte, wie ich meiner Schwester davon erzählen wollte, wenn sie von der Schule kam, prägte mir den Anblick gut ein, die dunkle Wölbung des Rückgrats und das breite Maul, bronzefarben im tief stehenden Licht.

Als ich zurückging, drehte ich mich um und glaubte, meine Mutter in der Mitte des Ganzen stehen zu sehen. Sie bückte sich und berührte etwas. Um ihre Haare und Schultern herum hing Nebel. Ihre Wollsachen wirkten nass. Als ich später nachsehen ging, waren die Felsen mit weißen Flechten bedeckt, die feinen Ästchen geformt wie winzige Hände.

Ich lag auf dem Bett von Llews Mutter und blätterte durch ihre Bücher. Sie hatte sie auf dem Boden so hoch wie ihr Kissen aufgestapelt, und ich nahm mir das oberste. Ein Liebesroman, mit einem stattlichen Brigadegeneral auf dem Umschlag. Die Seiten waren irgendwann feucht geworden und wieder getrocknet und jetzt wellig. Auf den Rändern waren gelblich braune Flecken.