Die Tote vom Titlis - Monika Mansour - E-Book

Die Tote vom Titlis E-Book

Monika Mansour

0,0

Beschreibung

Zwanzig Menschen gefangen auf über dreitausend Metern – und unter ihnen ein Mörder. Dramatisches Ende einer Märchenhochzeit auf dem Titlis: Kurz vor dem Jawort wird die Braut in der Gletschergrotte erschossen. Wegen eines aufkommenden Schneesturms muss die Gondel ins Tal ihren Dienst einstellen. Zwanzig Hochzeitsgäste, darunter auch der Luzerner Ermittler Cem Cengiz und Staatsanwältin Eva Roos, sind auf dem Berggipfel gefangen. Als kurz darauf zwei weitere Morde geschehen, bricht Panik unter den Gästen aus. Denn der Mörder muss einer von ihnen sein ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 440

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Monika Mansour wurde 1973 in der Schweiz geboren. Nach einer Augenoptikerlehre ging sie auf Reisen. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar, war Tätowiererin und erledigte die Buchhaltung für einen Handelsbetrieb. Heute wohnt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Am Ende befindet sich ein Glossar.

Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.

© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Robin Scott-Alexander/Alamy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-495-7

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmässig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Grosses geschieht, wenn Mensch und Berg sich treffen.

William Blake

Leidenschaft ist die Lawine des menschlichen Herzens –ein einziger Atemzug kann sie auslösen.

Edward George Earle Lord Bulwer-Lytton

Heutzutage wollen die Leute immer reicher scheinen, als sie sind; so bschysst eis ds andere, und so kommen manchmal zwei zusammen, und ein jedes glaubt, das andere sei reich, und am Ende haben beide nichts:Beide haben einander angelogen.

Jeremias Gotthelf (1797–1854),eigentlich Albert Bitzius,Schweizer Pfarrer und Erzähler

EINS

«Woah!» Cem duckte sich im letzten Moment, eh die scharfen Kanten über seinen Kopf hinwegschwangen, dabei balancierte er das Frühstückstablett beinahe akrobatisch, obwohl der Milchschaum des Cappuccinos bedenklich ins Wanken kam. «Wollen Sie mich damit ermorden?» Cem richtete sich auf und wartete, bis der Kaffee sich beruhigt hatte. «Ich habe gestern geheiratet und würde gerne weiterleben.» Er schaute den jungen Mann an, der soeben voller Elan und mit einem Paar Skier auf der Schulter aus seinem Hotelzimmer gestürmt war.

«Sorry, Mann, ich hab’s eilig.» Der Typ zog sich die schwarze Wollmütze tiefer ins Gesicht und blickte verstohlen auf. «Besser, Sie bringen Ihrer Frau den Cappuccino ans Bett, solange er noch heiss ist. Ich will nicht der Grund für eine erste Ehekrise sein.»

Was für ein frecher Rotzlöffel, der war ja kaum volljährig. Bartschatten war jedenfalls keiner zu sehen. Die dunklen, eng stehenden Augen lagen tief unter markanten Augenbrauen, eines zwinkerte Cem zu.

«Ich muss los, Herr Nachbar.» Er hielt sich die Hand neben den Mund und beugte sich verschwörerisch vor. «Der Berg ruft.»

«Draussen braut sich ein Unwetter zusammen. Scheint mir eher, als wolle der Berg seine Ruhe.»

«Ruhe gönn ich dem alten Felsklotz nicht. Nicht heute. Tschüss, und viel Spass bei dem, was man als Bräutigam in den Flitterwochen so tun darf.» Weg war er.

Cem schüttelte belustigt den Kopf und setzte seinen Weg den Hotelkorridor entlang fort.

Das Hotel Terrace am Südhang von Engelberg war nicht das Ritz in Paris, aber es war elegant und gemütlich, mit rustikalem Charme. Es grenzte an ein Wunder, dass sie Mitte April überhaupt ein Zimmer in diesem Ferienort für die Hochzeitsnacht gefunden hatten. Cem pfiff eine Melodie vor sich her. Er hätte auch in einer Skihütte übernachtet. Wichtig war nur die Frau. Seine Frau. Sie lag, in einen Hauch von weissem Chiffon gekleidet, schlafend im Bett in der Suite, ein verlockender Gedanke …

Es war kurz vor neun. Obwohl sie nach der kleinen Feier letzte Nacht in Luzern heute erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gefallen waren, hatte Cem keinen Schlaf gefunden. Im Kopf und Bauch tanzten Schmetterlinge. Noch vor drei Monaten hätte er sich kaum träumen lassen, so schnell unter die Haube zu kommen. Ihr gemeinsamer spontaner Entschluss zur Hochzeit überraschte auch ihre Familien und Freunde. Cems Mutter lernte erst gestern die Eltern der Braut kennen. Seine jüngere Schwester Nesrin war extra kurzfristig aus London angereist. Der Abend war perfekt gewesen. Als Evas Onkel Heiri auf seinem Schwyzerörgeli «Es Burebüebli mahn i nid» anstimmte, liess es sich Nesrin nicht nehmen, ihren grandiosen Bauchtanz dazu vorzuführen: Multikulti vom Feinsten. Wer sagt denn, dass das nicht funktionierte? Obwohl die Familien aus anderen Kulturkreisen kamen, verstanden sie sich auf Anhieb gut, was bestimmt auch der Schar Kinder zu verdanken war. Die Kids seiner Cousine Aygül sorgten für Stimmung, durch ihre Adern floss eben echtes türkisches Blut. Schade nur, dass Aygül die Feierlichkeit zu Hause hatte aussitzen müssen. Trotz aller Bemühungen bestanden die Zürcher Behörden auf ihrem Hausarrest, selbst das Argument, dass ranghohe Beamte der Luzerner Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft zu der Feier geladen waren, stiess in Zürich auf taube Ohren. Nächsten Monat sollte ihr Prozess beginnen, was mitunter ein Grund war, weshalb Cem und seine Braut die Flitterwochen auf den Malediven auf den Herbst verschoben hatten. Ein gemeinsames Wochenende in Engelberg musste für den Moment genügen, aber Cem war entschlossen, es unvergesslich zu machen, nichts anderes hatte seine Braut verdient. Verstohlen warf er einen Blick auf den Ring am Finger, ein schlichtes Schmuckstück aus Platin. Ein seltsames Gefühl, welches ihn mit einer Überdosis Glückshormonen versorgte. Er durfte sich Ehemann nennen. Und Stiefvater. Den sechsjährigen Alain hatte er längst ins Herz geschlossen. Was zum perfekten Glück fehlte, war die gemeinsame Wohnung. Das passende Objekt zu finden war eine Herausforderung. Auch die würden sie in den nächsten Wochen gemeinsam meistern, dachte Cem zuversichtlich. In der Zwischenzeit pendelten sie zwischen Stans und Luzern.

Er schob die Schlüsselkarte ins Schloss und öffnete die Tür zur Suite. Das Bett war leer. «Zimmerservice.»

Er hörte es plätschern, dann trat sie aus dem Bad. Statt des Hauchs Chiffon trug sie einen flauschigen Bademantel. Ihr dunkles, schulterlanges Haar war zerzaust und lockig. Ein ungewohnter Anblick, da sie es im Alltag zu einem strengen Pagenschnitt frisierte.

«Ein Cappuccino mit extra Milchschaum und ein Buttergipfeli, wie Madame gewünscht hat.» Cem stellte das Tablett auf einen kleinen Beistelltisch und ging auf sie zu. «Und für ein angemessenes Trinkgeld gibt es einen ‹Am Morgen nach der Hochzeit›-Spezialservice von mir persönlich dazu.»

«Den nehm ich.» Eva schlang ihre Arme um Cem. «Du kannst mir gleich den Rücken einseifen, während ich mich in der Wanne nach dieser anstrengenden Nacht entspanne.»

Cem strich mit seinen Fingern durch ihren Lockenkopf, der verführerisch nach Pfingstrosen duftete. «Hey, dein türkischer Ehemann hat noch ganz andere Talente auf Lager.»

Sie kniff ihn in den Allerwertesten. «Weiss ich. Ich bin längst deinem südländischen Charme verfallen, deinem treuherzigen Dackelblick, deinem schelmischen Grinsen, deinem Humor und deinem unglaublich riesigen Herzen. Da sehe ich über die leicht schüttere Haarpracht am Hinterkopf, die süssen Mini-Speckröllchen um die Hüften und über deinen verstaubten Modegeschmack hinweg.» Sie knöpfte ihm das Hemd auf. «An die prächtigen Brusthaare habe ich mich gewöhnt, die mag ich mittlerweile.» Mit den Fingernägeln fuhr sie über seine nackte Brust. «Man kann dich so schön kraulen …»

«Weib, du wirst unanständig frech.» Er setzte einen strengen Blick auf, der sie zum Lachen brachte.

«Cem, eines kannst du nicht: böse gucken. Das passt einfach nicht zu dir.»

Nur wenige Touristen warteten an diesem Freitagmorgen auf die Kabine der Luftseilbahn Rotair, die sie das letzte Stück von der Sektion Stand auf den Gipfel des Titlis bringen sollte. Die Spitze des Berges lag auf über dreitausend Metern und war unter einer kompakten Schicht grauer Wolken verborgen, welche einen Kriegstanz aufführten. Der Berg schien nicht in Stimmung für Besucher.

Cem zog Eva enger an sich, die in eine dicke dunkelblaue Daunenjacke gepackt war. Ihm war noch flau im Magen von der Fahrt des Titlis Xpress von der Talstation Engelberg hoch bis zur Sektion Stand. Die Kabinen der Achter-Gondeln hatten im stürmischen Wind heftig geschaukelt. Das aufkommende Unwetter schien Evas gute Stimmung kaum zu trüben, sie war in Stans aufgewachsen und kannte die Launen der Berge, die sie über alles liebte. Cem hatte ihr versprochen, ihren Liebling, den Titlis, zu erobern, natürlich nur bequem per Seilbahn. Tatsächlich war er nie oben gewesen. Sie liess seine Ausflucht, dass er ein Zürcher sei, nicht durchgehen, schliesslich wohnte er seit einigen Jahren in Luzern und war jetzt mit einer Nidwaldnerin verheiratet. Er hatte es mit der Ausrede versucht, dass es in der Schweiz zu viele Berge für ein Menschenleben gebe, alle könne er unmöglich erklimmen. Immerhin sei er schon auf dem Säntis gewesen und habe das Matterhorn gesehen, zudem grüsse er jeden Morgen vom Büro aus den Pilatus. Für diese Bemerkung hatte er Evas zarten Ellbogen an seinen Rippen zu spüren bekommen, und zur Strafe würde er am Sonntag das Flitter-Weekend mit einem Ausflug auf das Stanserhorn abschliessen dürfen; wenn das Wetter bis dahin nicht komplett verrücktspielte.

Cem blickte auf die grosse Kabine der Seilbahn, die bedenklich schwankend näher kam. Die Rotair war eine Drehgondel. Während der Fahrt drehte sich die Kabine um dreihundertfünfundsechzig Grad, was laut Prospekt eine herrliche Panoramasicht versprach. An diesem Mittag hätte Cem auf noch mehr Drehung gerne verzichtet. Er zog seine Mütze tiefer über die Ohren und den Reissverschluss seiner Lederjacke bis ganz nach oben. Winter war nicht sein Ding. Er hasste Schnee, Eis und Kälte, ein Umstand, der früher oder später zu einem Problem werden könnte. Eva war mit Skiern an den Füssen aufgewachsen und hatte in ihrer Kindheit an einigen Abfahrtsrennen teilgenommen. Sie überraschte Cem immer wieder. Die perfekt in Szene gesetzte, strenge und brillante Staatsanwältin verbarg ihre wilde Seite, die nach Adrenalin lechzte, hinter Stil, Intelligenz und Disziplin. Cem hatte sie längst durchschaut.

«Was grinst du denn?», fragte Eva und hauchte ihm einen Kuss auf die hochgezogenen Mundwinkel.

Cem zog die herrlich nach Blumen duftende Luft in die Lungen. Ihr Parfum bringt mich eines Tages um den Verstand, dachte er.

Gemurmel ging durch die etwa zwanzig Abenteurer, die mutig genug auf die Rotair warteten, die sich langsam, Zentimeter um Zentimeter, einparkierte. Cem drehte den Kopf und sah einen Mann auf die Plattform stürmen. Er überrannte in seiner Hektik beinahe ein kleines Mädchen, das jetzt auf einem Fuss hüpfte und wimmerte. «Passen Sie doch auf!», schnauzte ihn die Mutter an und kniete sich tröstend zu ihrer Tochter.

Der Mann zog den Kopf zwischen die Schultern und blickte sich nervös um, ohne ein Wort der Entschuldigung. Er trug eine ausgeleierte Winterjacke, die an mehreren Stellen geflickt war. Seine Hände steckten in den Taschen. Das kantige Gesicht zierte ein Vollbart, was ihn älter machte. Er war um die dreissig Jahre, schätzte Cem, und eindeutig ein Ausländer, vermutlich ein Araber. Vielleicht ein Syrer, da seine Augen ungewöhnlich hell waren. Jedenfalls entsprach er keinem typischen Touristen, der wegen der Aussicht auf den Titlis fuhr. Sein Verhalten war merkwürdig. Was wollte der Mann auf dem Berg?

«Verfluchte Kameltreiber! Rücksicht ist ein Fremdwort, was?», pöbelte ein junger Mann, der den Arm um seine Freundin gelegt hatte, als wäre sie sein Besitz.

«Lass gut sein», versuchte sie ihn zu beruhigen. «Wir wollten uns einen schönen Tag machen. Verdirb ihn nicht.»

«Ich? Hast du Tomaten auf den Augen? Der ist der Kleinen voll auf den Fuss getrampelt. Ja, so behandeln die Araber die Frauen. Wie Abschaum. Verdammtes Pack!»

Das Mädchen begann zu weinen und versteckte sich hinter der Mutter.

Der Fremde ignorierte die verletzenden Worte des Pöblers, drückte sich ans Geländer und starrte zur Gondel, die ihr Ziel fast erreicht hatte.

Na, das konnte eine tolle Fahrt hoch zum Gipfel werden. Noch ein Wort dieses rassistischen Angebers, und er würde eingreifen.

Eva kam ihm zuvor. Sie zog ihre Schultern stramm und setzte den eiskalten Staatsanwältinnenblick auf. «Menschen zu verurteilen und haltlos zu beschuldigen, ist ebenso ein Verbrechen», sagte sie autoritär.

«Halten Sie sich da raus», schnauzte der Pöbler zurück.

«Jetzt mal halblang», mischte sich Cem ein. Der Frieden war dahin.

«Cem –», setzte Eva an, der andere fiel ihr ins Wort.

«Cem? War ja klar, ein Kanake. Geh dahin zurück, wo du herkommst. Du hast in der Schweiz nichts verloren. Erdogan nimmt euch Exil-Türken gerne wieder auf.» Er stiess seine Freundin unsanft beiseite und baute sich vor Cem auf. «Ist er dein Freund?» Er zeigte auf den Araber, der sich abgewandt hatte und kein Wort sagte.

«Was hat er in seinen Taschen versteckt? Sieht mir verdächtig nach einer Waffe aus. Oder einer Bombe? Würde für reisserische Schlagzeilen sorgen, wenn der die Rotair auf halbem Weg in die Luft sprengt. So sieht der mir nämlich aus. Das Terroristenpack erkenne ich auf einhundert Meter gegen den Wind. Jenny, komm, wir gehen. In diese Gondel kriegen mich keine zehn Pferde. Wir nehmen die nächste.»

Cem fühlte, wie das Blut in seinen Adern kochte. Er wollte etwas erwidern, spürte aber Evas Hand an der Schulter, die ihn zurückhielt.

Der Typ zog seine Freundin hinter sich her und verliess die Plattform. In diesem Moment öffneten sich die Türen der Gondel. Der Mann mit dem Bart war der Erste, der einstieg, seine Hände tief in den Jackentaschen verborgen.

Die fünfminütige Fahrt hoch zum Gipfel fiel entsprechend beklommen aus. Keiner der Gäste sagte ein Wort, alle suchten einen festen Stand, um beim Schaukeln der Kabine nicht die Balance zu verlieren, und schielten mehr oder weniger heimlich zum Araber hinüber, der in die verschneite und vernebelte Berglandschaft hinausstarrte.

Als Cems iPhone klingelte, weckte der Rufton die Anwesenden aus einer Starre. Eva verdrehte amüsiert die Augen, während Cem hastig nach seinem Handy in der Innentasche der Lederwinterjacke griff. Er blickte aufs Display und atmete enttäuscht aus. Es war nicht das Telefonat, auf das er seit Wochen wartete. Er drückte den Anrufer weg und steckte das Handy zurück. «Callcenter, die können mir gestohlen bleiben.»

«Nach wie vor keine Nachricht von den beiden?», fragte Eva. Wenn Eifersucht in ihren Gedanken mitschwang, kaschierte sie diese perfekt.

Cem starrte zum wolkenverhangenen Himmel. «Es war Lilas Entscheidung, nach Italien zu gehen. Ich wollte sie über unsere Hochzeit informieren, aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Irgendwo da unten steckt sie und rettet Flüchtlinge vor dem Ertrinken. Sie hat ihre Bestimmung gefunden.»

«Marius ist bei ihr.»

«Und ebenfalls verschollen.»

«Die tauchen wieder auf. Sie schippern vermutlich auf einem Fischkutter über das Mittelmeer und haben keinen Mobilfunkempfang.»

Cem nahm Eva in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. «So wird es sein.» Er blickte hoch zur Bergstation. Sie befanden sich auf halbem Weg und kreuzten die Gondel, welche talwärts fuhr. Die Seile schwangen durch eine heftige Windbö bedenklich hin und her. «Gefährlicher als wir können sie im Moment kaum leben. Weshalb habe ich das beklemmende Gefühl, dass der Berg uns heute nicht oben haben will? Er ist irgendwie unheimlich.»

«Cem, du wirst albern. Die mystischen Vorfälle haben wir seit Neujahr hinter uns. Auf dem Gipfel lauert keine Hexe auf uns, und schlafende Engel gibt es bestimmt auch nicht. Ich habe in der Klatschpresse gelesen, dass eine pompöse Hochzeitsfeier stattfindet. Die Zeremonie soll in der Gletschergrotte sein.»

«Auf dem Titlis? Tritt die Braut in Moonboots und Daunenjacke vor den Altar? Da war mir das Zivilstandsamt in Stans lieber. Du warst wunderschön.» Den Anblick würde Cem sicher nie vergessen. Eva hatte ein schlichtes weisses Seidenkleid getragen, das ihrer schlanken Figur schmeichelte und um den Hals durch eine breite Bordüre aus Glaskristallen gehalten wurde.

«Kompliment angenommen», sagte sie. «Die Oggenfuss hat mich echt überrascht. Deine Chefin hat tatsächlich wegen dir ein Kleid angezogen.»

«Ich bin halt ihr Liebling.»

«Du schleimst dich bei ihr ein.»

«Ich schlichte zwischen den Alphafrauen. Barbara leidet noch wegen Wymanns Tod, und die Oggenfuss auf seinem Stuhl zu sehen, erträgt sie nicht. Ich hoffe bloss, die beiden bringen sich nicht gegenseitig um, bis ich am Montag wieder zum Dienst antrete.»

«Kevin ist bei ihnen.»

«Kevin knackt jeden Computer, aber bei den Damen kommt er nicht an die Schaltzentrale.» Cem blähte die Brust. «Meine Chefinnen habe nur ich im Griff.»

Die Gondel hatte ihr Ziel fast erreicht. Eva lachte herzlich und beugte sich zu Cem vor. «Angeber. Ich liebe dich genau deswegen, du türkischer Macho. Doch mich wirst du nie in den Griff kriegen. Wir werden sehen, wer in unserer Ehe die Hosen anbehält.»

Er zog Eva fest an sich, atmete tief ein und schwelgte in ihrem Blumenduft. «Es ist eine osmanische Tradition, die ungehorsame Frau übers Knie zu legen», flüsterte er in ihr Ohr.

Sie schlang ihre Arme um Cems Hals. «Leg dich nie mit einer Staatsanwältin an. Ich habe ganz andere Strafen für einen überheblichen Mann auf Lager.»

***

Susanne Oggenfuss verabschiedete sich am Telefon und legte den Hörer zurück. Ihr Nidwaldner Kollege hatte sie freundlicherweise vorgewarnt. Ein Sandsturm kam auf sie zu. Sollte sie gleich Bern kontaktieren oder sich des Problems erst einmal selbst annehmen? Sie zog ihre runde Hornbrille von der Nase und wischte die Gläser an ihrem übergrossen grauen Jerseypullover sauber, der ihre kleine, magere Gestalt gut kaschierte und bequem zu tragen war. «Na dann, auf in den Kampf!» Sie stand von ihrem harten Stuhl auf – den komfortablen Bürosessel hortete Barbara Amato nach wie vor in ihrem Büro, unbenutzt, wohlverstanden –, setzte die Brille wieder auf und fuhr sich einige Male mit der Hand durch ihr kurzes Haar, das sich strohig und trocken anfühlte. Es waren zumindest Haare auf dem Kopf. Susanne kannte schlimmere Zeiten, und mit einem Sandsturm würde sie es aufnehmen können. Der rothaarige Wirbelwind war die grössere Schwierigkeit, welche sie auch nach über drei Monaten in Luzern nicht in den Griff bekam. Aber Susanne war zuversichtlich, das lag in ihrer Natur. Als Abteilungsleiterin von Leib und Leben der Luzerner Kriminalpolizei würde sie Barbara bändigen, früher oder später.

Susanne schaffte es bis zur Tür ihres Büros, bevor der Wirbelwind mit voller Kraft ins Zimmer stürmte, einen dicken Bund Papier vor sich her wedelnd. «Dio mio! Was soll das sein? Nicht dein Ernst. Ich brauche ein halbes Jahr, um diesen Papierkram abzuarbeiten.»

Susanne trat vor Barbara und schaute hoch in ihre eisblauen Augen. Die leitende Ermittlerin war mindestens zwei Köpfe grösser als Susanne, ihre Haut blass und mit Sommersprossen übersät, die ihre Leuchtkraft verloren hatten. Barbara litt, schon zu lange. Rolf Wymanns Tod lag ein halbes Jahr zurück, doch Barbara plagten noch immer Trauer und Schuld. Susanne hatte den tragischen Fall nachgeschlagen, der sich vor ihrer Zeit bei der Luzerner Polizei abgespielt hatte, und intensiv mit Cem darüber gesprochen. Die Kugel hätte auch Barbara treffen können. Susanne wusste, dass sie und Wymann eine langjährige Affäre gepflegt hatten, die sie vor den Kollegen, mehr oder weniger erfolgreich, geheim hielten. Der Mord an dem Abteilungsleiter von Leib und Leben hatte die Kriminalpolizei aufgewühlt. Der Posten war Barbara angeboten worden, sie hatte abgelehnt. Susanne hingegen war dankbar für den Neuanfang in Luzern und nahm die Stelle an. Die schlechten Erinnerungen hatte sie gerne in Basel zurückgelassen.

«Also, was soll ich damit?»

Barbara holte Susanne aus den Gedanken zurück. Sie atmete kurz durch und zuckte mit den Schultern. «Arbeit lenkt ab und gibt dir Zeit, deine Wunden zu lecken. Wenn du damit durch bist, hast du dich hoffentlich so weit gefangen, dass ich den Bürosessel zurückkriege.»

«Vergiss es. Es war sein Stuhl, und du setzt dich da nicht drauf.»

«Auf dem harten Holzstuhl bekomme ich Hämorrhoiden.»

Barbara warf ihre langen Haare in den Nacken. «Nicht mein Problem.»

«Die Hämorrhoiden nicht, aber deine Flammenmähne. Kannst du die bändigen? Es fährt gleich ein Scheich aus Katar mit seinen drei Söhnen in einer Privatlimousine vor.»

«Ich soll ein Kopftuch umbinden?»

«Genau. Denn sollte er deine roten Haare sehen und mir zwanzig Kamele für dich anbieten, werde ich die Kamele nehmen, die wären zumindest fügsamer.»

Barbara starrte sie einen Augenblick fassungslos an, machte auf dem Absatz kehrt und verliess das Büro.

Susanne fand kein Rezept, um zu Barbara durchzudringen. Mit Cem konnte sie scherzen, mit Kevin fachlich interessante Gespräche führen, bei Bättig half militärische Disziplin, und Gehringer liess sich mit Zigarren und Pralinen bestechen. Sie hatte es bei Barbara mit mütterlicher Freundschaft versucht, mit Strenge, mit Verständnis, mit Humor, mit Befehlsgewalt. Aussichtslos. Barbara machte dicht, kapselte sich ein und war unausstehlich.

Das Telefon klingelte. Es war Roland vom Empfang. Die Araber waren eingetroffen und verlangten nach dem Polizeikommandanten. Susanne beruhigte Roland und versprach, gleich persönlich herunterzukommen. Sie legte auf, marschierte in den Flur hinaus und rief nach Barbara.

Als sie zusammen im Parterre aus dem Lift stiegen, herrschte bereits ein Tohuwabohu. Die weissen Gewänder der vier Männer hätten aus einer Waschmittelwerbung stammen können. Auf dem Kopf trugen alle rot-weisse Kopftücher. Susanne ging mit ausgestreckter Hand auf den ältesten der Männer zu. «As-salamu aleikum. My name is Susanne Oggenfuss. My colleagues from Stans informed me about your case.»

Der Scheich ignorierte Susannes Gruss wie auch ihre Hand. Stattdessen übernahm einer der jüngeren Männer das Wort. Er sprach fast perfekt Deutsch. «Unser Bruder wurde entführt, und die Polizei in Stans will uns nicht weiterhelfen. Mein Vater ist sehr aufgebracht.»

Barbara schaute Susanne verständnislos an. «Worum geht es hier?»

«Familie Hassan logiert auf dem Bürgenstock», klärte Susanne sie kurz auf. «Sie vermuten, dass gestern Abend der jüngste Sohn entführt wurde.»

«Weshalb kommen sie zu uns?»

«Weil er zuletzt auf dem Felsenweg unten am Hammetschwandlift gesehen wurde. Dort hat die Familie auch sein Handy und das Kopftuch gefunden.»

«Verstehe, der Felsenweg ist unser Territorium», sagte Barbara.

«Exakt. Sieht so aus, als sei der Tatort eine unbewohnte Exklave Luzerns im Kanton Nidwalden.»

Der Scheich wurde ungeduldig, sprach lautstark in Arabisch auf Susanne und Barbara ein und drehte sich zu Roland um, der am Empfang sass.

Der Sohn übersetzte den Redeschwall in wenigen Sätzen: «Mein Vater will mit dem Kommandanten sprechen. Er will nicht, ähm, will nicht, dass Frauen seinen Fall behandeln. Es geht um seinen Sohn, um unseren Bruder.»

Das konnte heiter werden, dachte Susanne, die den Fall gerne an Schnellmann, den Chef der Kriminalpolizei, abgegeben hätte, aber der war in den Ferien und der Kommandant an einem Meeting in Zürich. «Ich versichere Ihnen, wir werden den Fall gewissenhaft angehen. Folgen Sie uns in ein Sitzungszimmer.» Susanne wartete keine Antwort ab, ging vor und führte die Familie in eines der Zimmer im vierten Stock.

Amir bin Nuri, so hiess der vermisste Sohn, war fünfundzwanzig und der jüngste Spross von Nuri bin Hassan. Amir hatte, wie auch Bassem, der für Susanne übersetzte, in der Schweiz studiert, daher sprachen beide gut Deutsch. Wie sie erfuhr, war der Vater ein Baulöwe und Immobilienhändler aus Katar. Ihm gehörten mehrere Wolkenkratzer und auch zwei Hotels in Doha.

Susanne hörte sich die Geschichte schweigend an und machte sich Notizen. «Lassen Sie mich kurz zusammenfassen», sagte sie, nachdem Bassem alles Wesentliche erzählt hatte. «Am Montag flogen Sie von Doha nach Zürich. Sie logieren auf dem Bürgenstock und nahmen an einem mehrtägigen Kongress der Baubranche teil. Vor zwei Tagen, am Mittwochnachmittag, fuhr Amir mit dem Chauffeur nach Luzern, um Geschenke für Familie und Freunde in Doha einzukaufen. Die übrige Zeit verbrachten Sie stets gemeinsam. Gestern nahmen Sie an einer Tagung auf dem Bürgenstock teil. Um vier Uhr ging Amir auf sein Zimmer. Als er nicht zum Abendessen erschien, schauten Sie nach. Seine Suite war leer. Sie riefen ihn an, aber ein Tourist nahm den Anruf entgegen und erklärte, das Mobiltelefon habe auf dem Felsenweg neben dem Hammetschwandlift am Boden gelegen. Sie eilten hin und fanden dort auch Amirs Kopftuch. Ihr Bruder ist seither verschwunden.»

«Er wurde entführt», sagte Bassem überzeugt. Er war ein gut aussehender Mann Mitte dreissig mit einem gepflegten Bart und dunklen, wachen Augen.

«Laut der Nidwaldner Polizei gibt es keine Anzeichen einer Gewalttat», entgegnete Susanne. «Weder auf dem Felsenweg noch auf seinem Zimmer, und es gibt auch keine Entführer, die sich gemeldet haben. Besteht die Möglichkeit, dass Ihr Bruder in Luzern oder Zürich ist, um sich zu amüsieren? Vielleicht hat er sein Handy verloren. Amir hat in Zürich studiert, wie Sie mir erklärten. Er kennt die Schweiz demnach gut. Wollte er alte Freunde besuchen?»

Bassem übersetzte seinem Vater Susannes Vermutung. Der donnerte gleich wieder los, stand auf, fuchtelte mit den Händen durch die Luft und zeigte offen seine Abschätzung. Seinen Redeschwall untermauerte er mit dem Wort «Allah». Er war sich in Katar wohl eine andere Behandlung gewohnt und hoffte lieber auf göttliche Hilfe denn weibliche Intuition.

Bassem wollte übersetzen, Susanne winkte ab. Die Körpersprache des Vaters sprach für sich. «Hören Sie. Ihr Bruder ist keine vierundzwanzig Stunden verschwunden. Es gibt nicht einen Hinweis auf eine Gewalttat oder ein Verbrechen, und Ihr Bruder ist nicht suizidgefährdet, wie Sie mir versicherten. Die Nidwaldner Polizei hat bereits die Vermisstenanzeige aufgenommen. Ohne zwingende Gründe können wir Luzerner nicht mit dem Kriminaltechnischen Dienst zum Hammetschwandlift fahren. Im Augenblick sind uns die Hände gebunden. Tut uns leid.»

«Haben Sie ein Foto Ihres Bruders dabei?», fragte Barbara. Sie wollte einer weiteren Gefühlseskalation des Vaters zuvorkommen.

Einer der anderen beiden Brüder öffnete auf Bassems Anweisung einen Aktenkoffer und zog ein Bild heraus. Er legte es auf den Tisch, Barbaras offene Hand ignorierend.

«Wann war Ihre Abreise geplant?», fragte Barbara, während sie das Bild anschaute.

Susanne liess sie übernehmen. Barbara war in ihrem Element, und das war gut.

«Unser Flug geht morgen zurück nach Doha», sagte Bassem. «Natürlich fliegen wir nicht ohne Amir.»

«Könnte sein Verschwinden mit Ihren Geschäften zu tun haben?»

Bassem schüttelte den Kopf. «Wir sind hier, um potenzielle Geschäftspartner kennenzulernen. Es geht um Weiterbildung und neue Technologien auf dem Baumarkt.»

«Private Gründe? Gab es Streit in der Familie?»

«Nein.»

Das Nein fiel Susanne zu kurz angebunden aus. Sie hakte nach. «Was ist Amir für ein Mensch?»

Der Vater wollte die Frage übersetzt haben. Er regte sich sofort darüber auf und stiess einen weiteren Schwall harsch klingender Kehllaute aus.

«Amir ist ein guter Sohn», übersetzte Bassem. «Er respektiert die Familie und sorgt sich um sie, wie es unsere Pflicht ist. Amir würde nichts tun, was die Ehre verletzt. Er wurde entführt.»

Susannes Instinkt sagte ihr, dass die Hassans ein Problem mit sich trugen, über das sie nicht sprechen wollten.

Der Fall hatte das Potenzial, spannend zu werden.

***

Cem und Eva verliessen als Letzte die Gondel. Kaum betraten sie festen Boden, glaubten sie, auf einem anderen Kontinent gestrandet zu sein.

«Wow!», sagte Cem. «Sind wir hier in Asien?»

«Die Chinesen lieben unseren Berg», antwortete Eva. «Die Inder auch. Nur du schaffst es, praktisch neben dem Titlis zu wohnen, ohne je oben gewesen zu sein.»

Sie schlenderten Hand in Hand den Korridor entlang, der zu den Liften führte. Die Bergstation war gross, staunte Cem, ein mehrstöckiges Gebäude, die unteren Etagen in den Berg hineingebaut. Es gab fünf Ebenen. Er orientierte sich anhand des Lageplans an der Wand. Die Gondel legte unten im ersten Stockwerk an. «Gleich hier geht’s hinüber zur Gletschergrotte», sagte er, «zuoberst ist die Terrasse, die hinaus auf den Berg führt. Im zweiten Obergeschoss liegen die Restaurants. Das klingt gut für mich.»

«Erst drehen wir eine Runde an der frischen Luft. Wetten, auf dem Cliff Walk hast du Schiss?» Eva bediente den Knopf für den Lift; sie wollte definitiv nach oben. Während sie warteten, gesellte sich eine ältere Dame zu ihnen und blickte ungeduldig auf die Anzeige des Lifts. Sie musste zu den Gästen der Hochzeit gehören, von der Eva gesprochen hatte. Die Dame trug ein elegantes anthrazitfarbenes Satinkleid, um die Schultern hatte sie sich eine weisse Pelzstola gelegt. Sie trug die blondierten, schulterlangen Haare voluminös geföhnt. Das Kinn war wie das einer Königin erhoben.

Offenbar entging ihr Cems neugieriger Blick nicht. «Können Sie sich vorstellen, je in einer Gletschergrotte zu heiraten?», fragte sie geradewegs, ohne eine Antwort abzuwarten. «Gott behüte, diese Hochzeit ist auf Eis gelegt, bevor sie vollzogen ist. Aber die weisen Ratschläge der Oma ignoriert die Jugend heutzutage schlichtweg.»

«Wir haben gestern geheiratet», sagte Eva stolz. «Auf dem Standesamt in Stans, und am Abend feierten wir mit Familie und Freunden in Luzern, in kleinem Rahmen; perfekt und wunderschön.»

«Oh, herzlichen Glückwunsch. Bin ich froh, dass es noch Menschen mit Verstand gibt, die wissen, was sich gehört. Wo wird die kirchliche Trauung stattfinden?»

«Es ist keine geplant», erklärte Eva.

Der Gesichtsausdruck der Dame änderte sich im Zeitlupentempo, als sie Cem anschaute und langsam begriff … Am liebsten hätte sie ihre Bemerkung über Menschen mit Verstand wohl wieder zurückgenommen. «Das ist höchst schade. Die Ehe sollte vor Gott vollzogen werden. Auf Wiedersehen. Die Gletscherzeremonie erwartet mich.» Sie musste es sich anders überlegt haben, trat vom Lift zurück und wandte sich dem Korridor zu, der zur Gletschergrotte führte.

«Jetzt weisst du, worauf du dich eingelassen hast», sagte Cem, kaum war die feine Dame ausser Hörweite. «Einen Schweiz-Türken zum Mann zu haben, macht das Leben nicht einfacher.»

«Es ist perfekt, so wie es ist.»

Weitere Besucher versammelten sich um den Lift, der sich reichlich Zeit liess.

Eva drehte sich zu Cem um. «Ich weiss, dass Gott, oder Allah, einen wunderbaren Menschen geschaffen hat, und der steht jetzt an meiner Seite.» Sie drückte ihm einen sanften Kuss auf die Lippen.

Cem nahm sie in die Arme und verharrte einen Moment schweigend.

«Nein, Jonny, ich brauche frische Luft. Frische Luft und eine Zigarette. Die können warten. Oder sollen meine Nippel zu Eiszapfen gefrieren in der Eisgrotte? Ich sitz doch nicht eine halbe Stunde blöd rum.»

Dieser Jonny starrte auf das ausladende Dekolleté der viel älteren Dame, die er am Arm führte. «Ich taue dir die Eiszapfen mit viel Wärme auf.» Er fuhr sich mit der Zunge über seine vollen Lippen. Eine Geste, die eher lächerlich als verführerisch daherkam. Seiner Begleitung schien sie zu gefallen, sie kicherte wie ein junges Reh zur Brunftzeit.

Was für ein schräges Paar, dachte Cem, als er belustigt die beiden belauschte, die sich rücksichtslos vorgedrängt hatten. Belauschen war in diesem Fall das falsche Wort. Sie unterhielten sich so laut, dass man sich dem anzüglichen Gespräch unmöglich entziehen konnte. Die Dame musste um die sechzig sein, vermutete Cem. Sie trug Make-up, wie Cyndi Lauper es getragen hatte: bunt, schrill und provozierend. Ihre rote Haarpracht, die gelockt bis fast zu den Hüften reichte, war vermutlich eine Perücke. An ihren Ohren, um den Hals und an den Fingern funkelten schwere Klunker mit eingefassten protzigen Steinen, die echt sein mussten, so sehr blendeten sie Cem. Das Kleid war ein wilder Stoffmix in Grüntönen, an den weiblichen Stellen offenherzig ausgeschnitten und eng anliegend, an den Armen zu voluminösen Puffärmeln aufgebauscht. Der lange Rock war gefährlich hoch geschlitzt, und die Füsse steckten in halsbrecherisch hohen schwarzen Stilettos. Die Frau erinnerte Cem an eine Bordellchefin, die er in Zürich kennengelernt hatte. Lila hatte sie ihm letztes Jahr vorgestellt. Auch wenn Cem die Prostitution verabscheute, er hatte die quirlige Bordellchefin irgendwie gemocht. Diese Dame hingegen war alles andere als sympathisch.

«Zora Pandora, lass uns verduften. Fahren wir runter ins Tal und verkriechen uns wieder unter der Bettdecke im Hotel. Der Wind hier oben wird zum hässlichen Orkan.»

Cem grinste. Dieser Grünschnabel Jonny konnte kaum älter als fünfundzwanzig sein. Er trug Jeans und einen eng anliegenden Pullover, der seinen muskulösen Körper mehr als betonte. Der Typ war braun gebrannt, als käme er aus den Ferien zurück. Auf dem Kopf trug er lässig eine Baseballkappe, verkehrt herum. An seinem Arm hing ein Pelzmantel, der dieser Zora gehören musste.

«Papperlapapp, ich mag stürmische Winde; nur nicht die, welche aus deinem Knackarsch fahren.» Sie griff ihrem Jüngling unverhohlen an den Hintern. «Die wilde Natur belebt meinen Geist – und meinen Körper. Und ich habe Alec versprochen, bis zum Ende durchzuhalten.» Sie drückte ihren Busen gegen Jonnys Brust. «Aber vorher, bring mich raus in den Sturm.»

Eva rückte näher an Cem heran und warf ihm einen Blick zu, der alles sagte. Sie musste um ihre Fassung kämpfen, um nicht laut herauszulachen. Der Titlis schien grosses Unterhaltungspotenzial zu besitzen. Das konnte ein lustiger Tag werden.

Endlich kam der Lift. Zora und Jonny drängten sich rücksichtslos vor. Cem und Eva boten zwei chinesischen Touristen, einem Pärchen in Skikleidung und einer Frau mit einer gewichtigen Fotokamera in der Hand den Vortritt und bestiegen als Letzte die Liftkabine. Aus den Augenwinkeln beobachtete Cem, wie diese Zora ihrem Lover die Zunge in den Mund steckte, wenig darum bekümmert, was die anderen Fahrgäste davon hielten. Die Chinesen starrten beschämt auf ihre Füsse, die Fotografin schraubte an ihrer Kamera herum, um sich abzulenken, und das Pärchen in Skikleidung schaute sich überfordert an. Zora schwang in stürmischer Ekstase ihr nacktes Bein um Jonnys Hüfte.

Hey, das war ja schlimmer als in einem Bordell. Wie konnte sich ein junger, gut aussehender Mann nur dazu herablassen, eine Frau zu verführen, die seine Grossmutter sein könnte? War Geld denn wichtiger als Glück und Ehre?

Die sich öffnenden Lifttüren waren eine Erlösung, und die Fahrgäste flohen vor dem Liebespaar, das keine Anstalten machte, die leidenschaftliche Knutscherei zu beenden.

Eva packte Cem an der Hand und führte ihn rasch nach draussen. Der Wind peitschte ihnen ungebremst ins Gesicht und trug ihr lautes Lachen mit sich über den Gipfel. «Das war ja unglaublich», sagte Eva, nachdem sie sich gefasst hatte. «In vierzig Jahren, wenn du alt, grau und tatterig bist, werde ich mir auch einen heissen Toyboy zulegen. Was denkst du, hm?»

«Untersteh dich, Weib. Du hast ja keine Ahnung, wie leidenschaftlich ich dich noch mit neunzig Jahren verführen werde.»

«Entschuldigung», sagte eine scheue Stimme und unterbrach ihr Gespräch.

Cem drehte sich um. Es war die Frau mit der Fotokamera.

«Ich habe mitbekommen, dass Sie frisch verheiratet sind. Darf ich gratulieren? Ich bin Mirella Kruschinski, Fotografin aus Zürich. Sie sind ein so schönes Paar, und mit dem Schneegestöber im Hintergrund gäbe das bestimmt ein paar wundervolle Erinnerungsfotos vom Titlis. Wenn Sie möchten …» Sie hob die Kamera hoch.

Cem wollte das Angebot dankend ablehnen, aber Eva war gleich Feuer und Flamme. «Ja natürlich. Cem, das ist unser Flitter-Weekend, und wir haben überhaupt nicht an die Fotos gedacht.»

Mirella überreichte Eva ihre Karte. «Ich werde die Bilder auf meiner Website aufschalten. Mit Ihrem persönlichen Passwort, ähm, sagen wir ‹Flitterweekend›, können Sie sie in aller Ruhe ansehen und die Fotos, die Ihnen gefallen, bestellen.»

Cem missfiel die Idee. Für ein Fotoshooting hätte er sich heute Morgen rasieren sollen, aber Eva warf sich ihm bereits um den Hals, und die Fotografin drückte ab. Der Auslöser ratterte im Sekundentakt. Mirella gab geduldig einige Anweisungen, und Cem entspannte sich zunehmend. Eva hatte ihren Spass, was wollte er mehr?

«Das war’s schon», sagte Mirella, überprüfte kurz die Bilder, die sie aufgenommen hatte, und nickte zufrieden. «Es sind tolle Aufnahmen dabei. In zwei Tagen sind sie auf der Website aufgeschaltet.» Sie reichte ihnen die Hand. «Meine Pause ist um, ich muss zur Trauung. Ich fürchte, diese Hochzeit wird alles andere als ein fröhliches Fest.»

«Wie meinen Sie das?», fragte Eva.

«Ist ein Gefühl. Die Braut ist wunderschön und passt gut zu ihrem Bräutigam, wie ich finde, aber die beiden sind nicht glücklich, wenn Sie mich fragen. Der Anlass wirkt gespielt und inszeniert. Bei der Crème de la Crème ist nicht immer alles Gold, was glänzt. Wie soll ich bei diesen steifen Gesichtszügen des Brautpaars und der Gäste gute Bilder machen?»

Cem tat die junge, leicht pummelige Frau beinahe leid. Sie wirkte sympathisch. Unter der Winterjacke trug sie einen schlichten dunklen Hosenanzug. Sie hatte kaum Make-up im Gesicht und die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er schätzte ihr Alter auf Anfang bis Mitte dreissig.

«Wir kennen alle solche harten Tage im Job.» Er zog Eva enger an sich. «Die gehen vorbei, versprochen.»

«Gute Einstellung», sagte Mirella. «Also, geniessen Sie Ihr romantisches Wochenende. Tschüss.»

Kaum war sie weg, hakte sich Eva bei ihm unter. «Ist ganz schön was los auf dem eisigen Berg, was? Und jetzt führ mich über den Gletscher. Ich will zum Cliff Walk. Traust du dir bei diesen Windböen zu, auf einer wackeligen Hängebrücke in die Tiefe zu blicken? Oder hast du Angst vor dem Berg?»

«Nicht vor dem Berg, vor dem Abgrund. Vielleicht auch davor, dass ich dem exzentrischen Liebespaar in unsittlicher Pose im Schnee erneut begegne.»

Sie schlenderten gut gelaunt über das präparierte Schneefeld, das den Titlisgletscher bedeckte. Cem kam sich vor wie ein Falschfahrer auf der Autobahn. Eine Gruppe Menschen kam ihnen entgegen. Sie drückten ihre Jacken fest an die Körper, hatten die Wollmützen tief in die Stirn gezogen und die Hände in dicke Handschuhe gepackt. Den Chinesen und Indern war der eisige Spass vergangen. Sie drängten sich zur Bergstation, um rasch eine Gondel ins Tal zu erwischen. Was für ein Hundewetter Mitte April!

Vor sich sah Cem den Ice Flyer. Der kurze Sessellift hatte seinen Dienst bereits eingestellt. Der Wind liess die leeren Sessel am Seil hin und her schwanken. «Sollten wir besser auch zurückgehen?» Er blickte hoch zu der alles überragenden Wetterstation zu seiner Rechten, die dem Sturm trotzte. Die Stahlkonstruktion mit den Parabolspiegeln, Sendern und Messinstrumenten wirkte fehl am Platz. Ein technisches Monstrum, an die fünfzig Meter hoch, im ewigen Eis verankert.

«Warten wir noch», sagte Eva. «Die Kabine ist eh übervoll.»

Cem konnte sie kaum verstehen. Der Wind trug ihre Worte mit sich fort. Er legte seinen Arm um ihre Taille. Nicht dass sie plötzlich vom Gipfel geweht wurde. Er fühlte, wie die Kälte sich durch seine Jeans und die Lederjacke frass. Darunter trug er sein bestes dunkelgraues Hemd und eine Weste. Er war definitiv nicht warm genug gekleidet. Seine Sneakers saugten die Feuchtigkeit bereits auf.

Ein Mann kam ihnen entgegen. Er trug rote Skikleidung und einen rot-weissen Schal um den Hals, der eher auf den Kopf eines Arabers gepasst hätte. Seine Winterfellmütze hatte er tief in die Stirn gezogen. «Wo wollen Sie denn hin?», fragte er und bohrte seine Winterstiefel in einem breitbeinigen, festen Stand in den Schnee. «Ice Flyer und Cliff Walk sind geschlossen. Von Südwesten kommt laut Wettervorhersage ein heftiger Sturm auf uns zu. Sie sollten zurück ins Tal. Die Rotair wird bald ihre Fahrt einstellen müssen.»

Der Mittvierziger hatte etwas Bodenständiges und Ehrliches an sich. Er war gross und kräftig gebaut.

«Ich dachte, heute wird eine Hochzeit in der Gletschergrotte gefeiert», rief Eva gegen den Wind.

«Leider.» Der Mann seufzte. «Leute gibt’s, die haben keinen Respekt vor dem Berg. Die haben das Geld und nehmen sich, was sie wollen.» Er schaute auf die Uhr. «Die Zeremonie beginnt in zehn Minuten. Danach heisst es, nichts wie runter mit der feinen Gesellschaft. Wenn Sie meinen Rat hören möchten, flüchten Sie vorher. Ich kenne den Berg. Wenn er verstimmt ist, kann er ungemütlich werden.»

«Sind Sie oft hier oben?», fragte Eva.

«Ist mein Job. Ich bediene den Ice Flyer, und manchmal arbeite ich als Skitourenführer. Die zweitägige Tour um den Gipfel lohnt sich, kann ich empfehlen, aber nicht bei diesem Sauwetter.» Er streckte Cem die Hand entgegen. «Willi Hurschler.»

«Freut mich, Herr Hurschler. Ich bin Cem Cengiz. Titlis-Erstbesteiger und Berganfänger. Die Tour wäre eher etwas für meine Frau.»

Eva lächelte. «Die Tour habe ich schon einmal gemacht. Ist ein paar Jahre her.»

Cem schaute sie verwundert an. «Warum weiss ich das nicht?»

«Weil Frauen Geheimnisse lieben.»

Willi zwinkerte ihm zu. «Von ihr können Sie bestimmt noch was lernen. Ich gebe Ihnen auch gerne Skiunterricht für Anfänger, heimlich natürlich, damit Sie bei Ihrer charmanten Frau nächsten Winter auftrumpfen können.»

Cem nickte. «Auf das Angebot komme ich zurück.»

«Gut, dann habe ich Sie überzeugt, mit mir zurückzugehen, um etwas Heisses zum Aufwärmen zu trinken, bevor wir uns in die schwankende Gondel wagen? Ich lade Sie ein.»

Cem wechselte mit Eva einen Blick.

«In Ordnung», sagte sie enttäuscht.

Zusammen marschierten sie zurück zur Bergstation. Willi war in Plauderlaune, führte sie ins Gebäude und die Treppe hinunter. Auf dem dritten Obergeschoss wurde es laut, und aufgedonnerte Gäste wuselten umher und stürmten zur Treppe.

«Nicht alle Gäste der Hochzeitsgesellschaft nehmen an der Hochzeitszeremonie in der Gletschergrotte teil», erklärte Willi. «Es ist nicht genug Platz. Zum Apéro waren an die einhundert Gäste geladen. Sie haben das Gruppen-Restaurant weiter hinten extra dafür gemietet.»

Cem konnte nicht in den Saal sehen, der hinter dem Schokoladen-Shop lag, aber er hörte geschäftiges Treiben. Das Servicepersonal war offensichtlich am Zusammenräumen.

«Die, die nicht zur Zeremonie gehen», fuhr Willi fort, «flüchten bereits vom Berg. Keine Ahnung, wie die Damen in ihren leichten Abendkleidern hier oben eine Hochzeitszeremonie geniessen wollen. Ich habe gehört, die Braut sei knallhart und bereit, schulterfrei das Jawort zu geben. Dabei ist die Temperatur in der Gletschergrotte unter dem Nullpunkt.»

Eine laute Stimme übertönte das Klimpern der Gläser und Teller. «Mein Kleid ist ruiniert. Sehen Sie sich das an. Wegen Ihnen verpasse ich die Hochzeit meiner eigenen Tochter. Das wird Konsequenzen haben.» Die Brautmutter stürmte um die Ecke aus dem Restaurant und an Cem vorbei Richtung Toilette, die neben der Treppe lag. Cem sah deutlich den nassen Fleck auf ihrem cremefarbenen Galakleid. Au Backe!

«Ich habe mich ja entschuldigt. Es war keine Absicht.» Die junge Serviceangestellte eilte der Frau hinterher und verwarf die Arme.

«Kadische!» Willi hielt sie zurück. «Alles in Ordnung?»

«Nein, die macht voll auf Königinmutter. Unfälle passieren. Sie ist in mich hereingestürmt, nicht andersrum. Blöde Zicke!»

«Kadische», warnte Willi in väterlichem Ton. «Wenn das Urs hört …»

«Ist doch wahr. Die wird mich eh bei ihm verpetzen.» Sie drehte sich mit erhobenem Kopf um und ging zurück ins Restaurant.

«Kadische ist manchmal leicht ungestüm», sagte Willi, «aber wenn sie ihren Charme spielen lässt, tanzen die Gäste nach ihrer Pfeife. Kommen Sie, gehen wir hinunter ins Selfservice-Restaurant. Dort sind wir vermutlich fast für uns alleine.»

Einige Minuten später stand Cem vor der Kaffeemaschine und schaute zu, wie die Tasse sich füllte. Willi diskutierte mit Eva vor der Vitrine über Fruchtwähen. So entspannt hatte er Eva seit Langem nicht mehr erlebt. Die kurzen Augenblicke der Abwesenheit waren verschwunden. Auch die Alpträume in der Nacht. Hatte sie sich deshalb rasch eine Hochzeit gewünscht? Konnte Cem ihr die Sicherheit geben, die sie brauchte? Er glaubte es nicht. Es war seine Schuld gewesen, dass Eva letzten Sommer von der Russenmafia zusammengeschlagen worden war und im Spital aufwachte. Cem hatte sie damals im Stich gelassen. Das würde er nie wieder tun.

Ein dumpfer Knall riss ihn aus den Gedanken. «Was war das?», fragte er.

«Keine Ahnung.» Willi zuckte mit den Schultern. «Der Korken einer Champagnerflasche?»

«Nein. Es kam von unten.» Seine Sinne waren hellwach.

Eva starrte ihn alarmiert an. «Cem? Was denkst du?»

Cems Puls beschleunigte sich. «Das war ein Schuss.»

In diesem Moment hörten sie die Schreie.

ZWEI

Cem kämpfte gegen eine panische Menschenmenge in prächtigen Festtagskleidern an. Die Leute stiessen ihn zur Seite, stürmten an ihm vorbei aus der Gletschergrotte, kreischten, weinten, die Augen weit aufgerissen. «Terroristen!», schrie eine Frau mit Federhut. «Ein Amokläufer», stotterte ein älterer Herr.

Verdammt. Er war nicht im Dienst, und seine Glock lag gut verschlossen in der Polizeizentrale. Wer verreiste schon mit einer Waffe in ein Flitter-Weekend? Er blickte hastig über die Schulter zurück. Weiter hinten sah er, wie sich Eva und Willi ebenfalls gegen den Strom flüchtender Menschen auf dem Korridor Richtung Gletschergrotte vorkämpften. Cem wollte Eva zurufen, sie solle zurückbleiben, doch seine Worte gingen in den Schreien unter. Vor sich sah er die Flügeltür, den Eingang zur Grotte. Hektisch wirbelte sie im Kreis, als sie einen Gast nach dem anderen ausspuckte. Cem sprang hinein und wurde regelrecht in die Gletschergrotte katapultiert. Ein Mix aus Kunst- und Kerzenlicht empfing ihn und liess die Eiswände, die mit weissen Chrysanthemen und rosafarbenen Rosen geschmückt waren, in einer Vielzahl von Blautönen schimmern. Vor ihm rutschte eine Dame auf dem glatten Untergrund aus und fiel hart zu Boden. Den ausgerollten roten Teppich hatten die stampfenden Füsse zur Seite geschoben, sodass das blanke Eis kaum Halt für die eleganten Pumps und Lederschuhe bot. Ein Mann half ihr auf, während weitere Gäste an ihr vorbeieilten und sie dabei anrempelten. Sie drohte erneut hinzufallen. Gerade rechtzeitig kam Cem dazu, sonst wäre sie zusammen mit dem Mann wieder auf dem Eis gelandet. Cem schubste einen rücksichtslosen Kerl beiseite, der sich an ihnen vorbeidrängte. «Hey, passen Sie auf!» Er hielt die Frau am Ellbogen fest, bis sie die Balance fand und sich ans Geländer klammern konnte. Der Mann, ein schnittiger Typ um die fünfzig mit blondem Vollbart, stützte sie von hinten.

«Oh mein Gott! Mein Gott. Das arme Kindchen. Mein Gott.» Die Dame zitterte heftig.

«Was ist passiert?», fragte Cem den Mann, der weniger verwirrt schien.

«Da … da war ein Schuss. Am Altar.»

«Wurde jemand getroffen?»

«Jo», sagte die Frau. «Jo ist tot.»

Verflucht. Ausgerechnet heute, ausgerechnet hier. Er war nicht auf ein Verbrechen vorbereitet. Mit Terroristen konnte er es alleine schon gar nicht aufnehmen. Wieder kam ihm der Mann in der Gondel in den Sinn. Echt jetzt? Ein Terroranschlag während einer Hochzeit auf dem Titlis?

«Cem!», rief Eva, die zu ihm aufschloss. «Was ist los?»

«Keine Ahnung. Es wurde geschossen. Bring die Dame in Sicherheit.»

«Cem, warte. Du bist unbewaffnet, und der oder die Täter sind –»

«Eva, ich kann mir nicht auch noch um dich Sorgen machen. Bring die Dame in Sicherheit, bitte.» Er ignorierte Evas wütenden Gesichtsausdruck und rannte los, tiefer hinein ins blaue Herz des Titlisgletschers. Es kamen ihm nur noch vereinzelt panische Menschen entgegen. Vor sich sah Cem bereits den Altar. Der Korridor weitete sich zu einer grösseren Höhle, bevor er auf der anderen Seite nach rechts in einem Neunziggradwinkel weiterführte. Ein zweiter Ausgang, vermutete Cem.

Etwa zwanzig Menschen befanden sich noch hier drinnen. Sie versperrten Cem den Blick auf das Drama, das sich vor dem Altar abgespielt haben musste. Er schob einige blumengeschmückte Stühle aus dem Weg, welche in der Panik zu Boden geworfen worden waren. «Polizei!», rief er und zwängte sich zum Tatort vor. Er hörte eine Frau jämmerlich weinen.

Dann sah er die Braut.

Sie lag am Boden, die Augen geschlossen. Dunkle Haarkringel drängten sich unter dem Schleier hervor, der ihr Gesicht halb verdeckte. Sie trug ein prachtvolles schneeweisses Hochzeitskleid, das Kleid einer Prinzessin, der üppige Rock übersät mit Spitzen in den Formen von Eiskristallen. Ihre schlanke Taille wurde durch eine eng geschnürte Korsage betont. Der herzförmige Ausschnitt liess tief blicken und zielte direkt auf den hässlichen blutroten Fleck unter der Brust. Der Fleck, der zu gross war, als dass die Hände des Bräutigams, die auf die Wunde drückten, ihn abdecken konnten. Verzweifelt versuchte er, die Blutung zu stoppen, doch das viele Blut hatte bereits den Boden erreicht und breitete sich aus.

«Nein!», schrie der Bräutigam. «Nein! Jo, kämpfe, hörst du? Kämpfe! Du musst wach bleiben. Es kommt Hilfe.»

Ein älterer Herr mit Hornbrille kniete neben dem Brautpaar und tastete nach dem Puls der Braut. Es war jetzt totenstill in der Gletschergrotte.

«Oma», rief ein junger Mann hinter Cem, der eine Dame aufgefangen hatte, die in Ohnmacht gefallen war. Er legte sie behutsam auf den Boden und bettete ihren Kopf auf die Pelzstola, die sie um die Schultern trug. Cem kannte die Frau. Er hatte sie vor einer halben Stunde vor dem Lift getroffen. Es war die Dame, die ihnen zur Hochzeit gratuliert hatte und arrogant abgezogen war, als sie hörte, dass es für Cem und Eva keine kirchliche Trauung gab. Was Cem irritierte, war der junge Mann, der sich um sie kümmerte. Den kannte er auch.

«Schnell, Professor Breuning! Oma ist zusammengebrochen.»

Cem blickte hinüber zur Braut. Der ältere Herr haderte kurz mit sich, schüttelte den Kopf, klopfte tröstend auf die Schulter des Bräutigams, stand auf und eilte der Oma zu Hilfe.

Der Bräutigam nahm seine Jo in die Arme, drückte sie an die Brust und schloss die Augen.

Cem war wie erstarrt. Das war ihm noch nie passiert, und er hatte so einiges erlebt in dem guten Jahr, das er für die Luzerner Kriminalpolizei arbeitete. Die Vorstellung, dass ihn dieses grausame Schicksal gestern bei seiner eigenen Hochzeit hätte treffen können, war unerträglich. Niemand fühlte mehr mit dem Bräutigam als er, auch wenn er den jungen Mann mit dem wilden Lockenkopf nicht kannte.

Eine Berührung an der Schulter liess ihn zusammenzucken.

Eva stand neben ihm. Sie war blass. «Mein Gott, Cem, was ist hier geschehen?»

Es war die Brautmutter, die zuvor im Restaurant die Kellnerin zusammengestaucht hatte, die in klägliches Weinen ausbrach und sich an den Arm ihres Mannes klammerte. Dieser stand regungslos da, zitterte am ganzen Körper. Ein anderes Ehepaar, vermutlich die Eltern des Bräutigams, versuchte sie zu trösten.

Cem holte tief Luft und trat vor. «Ich bin Cem Cengiz, Luzerner Kriminalpolizei. Bitte, treten Sie alle etwas zurück, damit Sie keine wichtigen Spuren vernichten.» Er kniete sich neben den Bräutigam und legte ihm die Hand auf die Schulter. Mit der anderen Hand streifte er vorsichtig eine Locke der Braut von ihrem Hals und presste zwei Finger an ihre Halsschlagader. Sie fühlte sich bereits kühl an. Wie war das möglich?

«Fassen Sie sie nicht an», schrie der Bräutigam plötzlich, schlug Cems Hand fort und drückte seine leblose Braut enger an seine Brust. «Sie ist tot. Ihr Herz wurde getroffen. Sie hatte keine Chance. Ich konnte nichts mehr tun.»

«Tut mir sehr leid», sagte Cem. «Wie ist das passiert?»

«Der Pfarrer wollte uns trauen, er sagte, wenn jemand einen Einwand gegen diese Verbindung habe, solle er jetzt sprechen oder für immer schweigen.» Er blickte auf und starrte die Brauteltern an. «Dann … dann fiel der Schuss, und Jo … sie sackte in meinen Armen zusammen.»

«Ich werde den Mörder finden.» Cem stand auf und schaute sich um. Er war wieder ganz der Ermittler. Persönliche Gefühle konnten warten. Er blickte in die Gesichter der Umstehenden. Es mussten die engsten Familienmitglieder und Freunde des Brautpaares sein. Beim Altar stand der Pfarrer, totenbleich und starr. Die Eltern der Braut lagen sich weinend in den Armen, gestützt von den Eltern des Bräutigams, wie Cem vermutete. Einige jüngere Gäste, die wie paralysiert um den Altar standen, waren vermutlich Freunde des Hochzeitspaares. Cem erkannte diese Zora und ihren Jonny. Für einmal schwiegen sie. Noch immer lag die Oma am Boden, flankiert von dem jungen Mann und dem Professor, der Erste Hilfe leistete. Eine Frau und ein Mann standen weiter hinten und drückten ihre etwa zehnjährige Tochter an sich, um dem Kind den schrecklichen Anblick zu ersparen. Neben ihnen standen jetzt Willi und ein Mann im Anzug, den Cem bisher nicht gesehen hatte. In seinem Kopf rotierte es. Wie sollte er in diesem Chaos den Tatort sichern? Die panische Hochzeitsgesellschaft hatte garantiert bereits alle Spuren verwischt. Cem blickte die beiden Korridore hinunter, die hinausführten. Der Schütze musste in einem der Gänge gestanden haben. Die Wände hatten mit Sicherheit den Knall tausendfach widerhallt. Für die Anwesenden dürfte es fast unmöglich gewesen sein, festzustellen, von wo genau der Schuss gekommen war. Cem wünschte, Metzger und sein Team von der Spurensicherung wären hier.

In diesem Moment fiel sein Blick auf Mirella Kruschinski, die abseitsstand, die Kamera in den zitternden Händen. Cem steuerte direkt auf sie zu. «Frau Kruschinski, was haben Sie gesehen?»

«Ich? N… nichts. Ich war am Fotografieren und da – plötzlich …»

«Haben Sie die Szene in der Kamera, wie auf die Braut geschossen wurde?»

«Ich, ich glaub schon.»

«Gut. Das sehen wir uns später an. Jetzt brauche ich Ihre Hilfe. Sie müssen vom Tatort Fotos machen. Ich brauche Weitwinkelaufnahmen der ganzen Grotte aus allen Perspektiven und Nahaufnahmen. Fotografieren Sie jedes Detail, auch wenn es Ihnen unwichtig erscheint. Fotografieren Sie alle Menschen, die hier anwesend sind. Ganzkörperfotos, Nahaufnahmen vom Gesicht, einfach alles. Und Sie müssen die Braut fotografieren.»

«Ich kann das nicht.»

«Doch, Sie können. So schnell wird die Polizei nicht hier sein. Jedes Detail, das wir dokumentiert haben, kann entscheidend sein, um den Mörder zu finden. Wir müssen uns beeilen. Je mehr Zeit verstreicht, desto grösser ist seine Chance, zu entkommen.» Cem legte seine Hand auf ihre Schulter. «Bitte. Ich brauche Ihre Hilfe.»

Sie nickte, atmete tief durch, wischte sich die Augen trocken und hob die Kamera. «Ist gut.»

Cem ging zu Eva, welche die Brautmutter zu trösten versuchte. Er zog sie beiseite. «Kannst du für mich die Kollegen rufen? Wir brauchen hier dringend Unterstützung. Das war Mord.»

«Habe ich schon erledigt. Die Obwaldner Polizei ist informiert. Ich rufe noch Oggenfuss an und schaue kurz nach, was draussen los ist. Wir können keine Panik beim Besteigen der Gondel gebrauchen. Der Mord hat sich bestimmt herumgesprochen.»

«Gut. Sei vorsichtig.»

Eva rannte los, und Cem ging zu Willi. Er war der Einzige mit einem standfesten Alibi. Er war bei Cem und Eva gewesen, als der Schuss fiel, und konnte nicht der Mörder sein. «Herr Hurschler, Sie müssen mir helfen.»

«Ich kann auch helfen», sagte der Mann, der neben ihm stand. «Ich bin Urs Odermatt. Der Gipfelwart auf dem Titlis.» Er zog nervös an seiner Krawatte, die er sich wohl extra für den feierlichen Anlass umgebunden hatte.

«Sehr gut. Können Sie umgehend die Gondel stoppen? Meine Frau kann Ihnen helfen, sie ist schon vorgegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Niemand darf von diesem Berg hinunter, bevor wir nicht von allen die Personalien aufgenommen und sie durchsucht haben. Und wir müssen um jeden Preis eine Panik vermeiden. Weiter müssen Sie veranlassen, dass die Eingänge der Gletschergrotte gesperrt werden. Ich brauche keine Schaulustigen am Tatort.»

«Schrecklich ist das», sagte Odermatt. «Ich darf erst gar nicht an die Schlagzeilen denken.» Kopfschüttelnd verliess er die Grotte.

«Was kann ich tun?», fragte Willi.

«Im Stillen beobachten und mich, sollte sich jemand verdächtig benehmen, gleich informieren», sagte Cem. Er ging zum Altar. «Hören Sie mir gut zu», sprach er die Hochzeitsgäste an. «Es ist tragisch, was passiert ist. Damit hier nicht noch mehr Spuren verwischt werden, muss ich Sie bitten, in den hinteren Reihen Platz zu nehmen. Es geht nicht anders, als dass wir Sie nach Waffen durchsuchen müssen.»