Die toten Städte - Andé Gerard - E-Book

Die toten Städte E-Book

Andé Gerard

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Beschreibung

Nur wenig weiß man heute noch über die alten Zivilisationen, die vor Äonen den Kontinent beherrschten. Selbst die Gründe für ihren Untergang sind vergessen. Die überwucherten oder vom Sand begrabenen Ruinen der uralten Städte sind ihre einzige Hinterlassenschaft. Gerüchte sprechen von unermesslichen Schätzen, die in den düsteren Gemäuern immer noch zu finden seien, aber auch von Dämonen und anderen Überbleibseln der finsteren Magie der einstigen Bewohner. Die Wege mehrerer Reisegesellschaften kreuzen sich in der Wildnis zwischen den Relikten vergangener Größe. Sie sollen der Wahrheit über Die toten Städte näher kommen, als ihnen lieb sein kann.

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André Gerard

Die toten Städte

Roman

Prolog

Der Wind wehte an diesem Tag aus der Wüste und brachte Sand und heiße, trockene Luft mit, die den Berghang hinaufdrückte. Hier, an der Südseite der Bergkette, bestand der Hang größtenteils aus nackten Felsen; nur an einigen Stellen hatten sich einige zähe Pflanzen behauptet. Im Laufe der Zeit hatte der Wind Schluchten und Felskegel aus dem Gestein geschliffen, so dass die Berge hier ein stark zerklüftetes Aussehen angenommen hatten. Es war eine Welt der Gegensätze zwischen dem blendenden Weiß des von der Sonne aufgeheizten Gesteins und dem fast völligen Schwarz der Schatten in den Felsspalten und Schluchten. Heute verwischte der Staub in der Luft jedoch diese Gegensätze ein wenig, während der heulende Wind jedes andere Geräusch verschluckte. Die Gestalt, die hier in der Nähe des alten Pfades, der von der Schlucht herabführte, gegen die Felswand lehnte, mochte daher einem Beobachter auf den ersten Blick kaum auffallen. Die Kleidung des Mannes war abgenutzt und zerschlissen, und seine Gesichtszüge waren ausgemergelt, womit er wie das menschliche Gegenstück zu seiner verwitterten Umgebung wirkte. Den Mund mit den zersprungenen Lippen halb geöffnet, die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite gedreht, hätte er auch seit Stunden tot sein können, wenn nicht das kaum merkliche Heben und Senken des Brustkorbs gewesen wäre. Ungeachtet dessen würden spätestens in den Abendstunden, wenn der Wind nachgelassen hätte, die Geier den alten Pfad wieder gesäubert haben.

Jemand kam ihnen zuvor. Der stämmige Mann zerrte den Sterbenden unsanft an einem Arm auf die Füße, schulterte ihn mit erstaunlicher Leichtigkeit und trug ihn wie einen Sack Getreide den Hang hinab. Seine Fracht zeigte dabei keine Regung. Die grobe Behandlung reichte offenbar nicht aus, um den Erschöpften dem Zustand der Bewusstlosigkeit zu entreißen. Erst der Kontakt mit kaltem Wasser brachte dies zustande. Als der Kopf wieder auftauchte, entrang sich den aufgeplatzten Lippen ein Stöhnen; zu einem Schrei schien dem Mann noch die Kraft zu fehlen. Sie reichte jedoch aus, um den ausgemergelten Körper nunmehr mit den eigenen Armen zu stützen. Die nun offenen Augen blickten mit einem zunächst nur halb wachen Ausdruck auf den kleinen Bach, der sich im Lauf der Jahrhunderte sein Bett aus dem Gestein genagt hatte. Die Quelle des Rinnsals war nicht zu erkennen, es verschwand irgendwo zwischen den Felsen einige hundert Schritt in nördlicher Richtung. Bergab floss der Bach an einer Hütte vorbei, ein Anblick, der dem Mund des Erwachten das zweite Geräusch innerhalb kurzer Zeit entlockte, das jedoch kaum kräftiger als das erste klang: ein heiserer Laut der Überraschung.

Der erste Versuch, aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen, scheiterte. Er konnte seinen Sturz halbwegs mit den Armen abfangen, während die stämmige Gestalt hinter ihm dieses Mal keine Anstalten machte, ihn zu unterstützen. Nunmehr wieder bäuchlings mit dem Kopf über dem Bachbett liegend, entschied er sich, das nahe Liegende zu tun und zunächst seinen Durst zu stillen. Er schöpfte mit der Hand mehrmals gierig Wasser, war aber trotz seines Zustandes offensichtlich geistesgegenwärtig genug, nach einigen Schlucken inne zu halten und somit seinen Körper vor möglichen Krämpfen zu bewahren. Anschließend unternahm er den zweiten Versuch, auf die Füße zu kommen, dieses Mal erfolgreich. Noch leicht taumelnd, nahm er seine Umgebung zunächst genauer in Augenschein. Die Quelle des Baches war auch in aufrechter Stellung noch nicht auszumachen. Die Hütte, auf die er bereits einen ersten Blick geworfen hatte, stand auf einem Platz, an dem das Gefälle des Hanges nur gering war, eine Art Sims oder Absatz. Dahinter schien sich der Rand einer Klippe zu befinden. Der Platz um die Hütte war eingezäunt. Ein Pferd zerrte dort an den spärlichen Grasbüscheln, die innerhalb der Begrenzung wuchsen. Bei einigen kleineren Verschlägen auf dem Gelände konnte es sich um Ställe für Hühner oder Ziegen handeln. Zwinkernd wegen des Staubs, den ihm der Wind in die Augen blies, wandte er den Blick nun der Gestalt zu, die sein Erwachen aus dem Dämmerzustand bisher regungslos verfolgt hatte. Der Mann hatte verschwitze dunkle Haare, die ihm ungeordnet am Kopf klebten, einen Stoppelbart über dem breiten Kiefer und einen untersetzten Körperbau, der zu diesem Gesicht passte. Der mutmaßliche Bewohner der einsamen Hütte begegnete dem Blick seines Gastes mit ausdruckslosen Augen und wandte sich dann plötzlich der Hütte zu, auf die er sich nun in gemächlicher Gangart zu bewegte, als würde ihn der Fremde nicht im Geringsten interessieren. Dieser folgte ihm mit unsicheren Schritten und fand schließlich die Kraft für ein erstes artikuliertes Wort: „Danke!“

Sein Retter sah kurz schweigend über die Schulter, ohne seinen Gang zu verlangsamen. Während der Wanderer der stämmigen Gestalt folgte, wurde ihm erst bewusst, dass die Hütte aus Bruchsteinen erbaut war, die offenbar von einem nahe gelegenen Ort stammten. Nicht weit entfernt waren die Grundmauern mehrerer verfallener Steingebäude zu erkennen. Der Neuankömmling nahm sich jedoch keine Zeit, sie genauer in Augenschein zu nehmen, sondern folgte dem Einsiedler in seine Behausung.

Das Innere der Hütte bestand aus einem einzigen Raum, der mit einem Tisch sowie einigen Stühlen und Regalen eingerichtet war. Eine Hängematte war in einer Ecke des Raums zwischen zwei Wandhaken aufgespannt. Kochgeschirr hing entweder ebenfalls an der Wand oder war in die Regale gestopft. Fenster, die mit schweren Holzläden versehen waren, befanden sich in allen vier Wänden. Gegenwärtig waren alle geschlossen bis auf zwei in der nördlichen Wand, die durch Stützen nur jeweils einen Spalt geöffnet waren und für das Dämmerlicht in dem großen Raum sorgten. Im Vergleich zu dem brennenden Wind draußen war es hier überraschend kühl.

Der Hüttenbewohner zog die Läden der nördlichen Fenster jetzt ganz hoch, wodurch nunmehr ausreichend Licht ins Innere fiel. Jetzt bemerkte der Gast das große Messer an der Wand, bei dem es sich auch um eine Art von Kurzschwert handeln konnte. Es wurde durch zwei lange Haken locker an der Wand gehalten, als müsste es stets griffbereit sein. Andere, kleinere Messer waren zusammen mit dem Kochgeschirr und einem großen Hackbeil eher achtlos in ein Regel gestopft. Als nächstes fiel der Blick des Fremden auf eine Bodenklappe, die wahrscheinlich zu einem Vorratskeller führte - eine ungewöhnliche Einrichtung für eine eher primitive Behausung wie diese. Mehr als alles andere zog aber die Hängematte die Aufmerksamkeit auf sich. Der Fremde taumelte auf sie zu, als hätte der Anblick ihm seine Müdigkeit wieder bewusst gemacht. Er blieb zögernd vor ihr stehen und sah zu seinem Gastgeber hinüber. Dieser nickte und sprach nun seinerseits die ersten Worte: „Nur zu. Scheinst es nötig zu haben.“ Die Stimme war undeutlich und etwas heiser, aber dennoch kräftig. Der Fremde zögerte immer noch. „Ich werd' dir schon nichts tun“, brummte der Einsiedler. „Wenn ich das wollte, hätte ich dich schon am Bach erledigen können.“ Der Fremde drehte sich erst langsam um und ließ sich dann schwer in die Hängematte fallen. Der Schlaf kam fast augenblicklich.

Als er erwachte, herrschte draußen Dunkelheit. Es schien noch ein wenig kühler geworden zu sein, obwohl ein Feuer im Kamin brannte. Der Einsiedler hatte anscheinend gerade eben einen Topf von einem Haken über dem Kamin genommen und auf den Tisch gestellt. Als der Fremde den Geruch wahrnahm, bewegte sich sein Kehlkopf auf und ab, als er seinen Speichel hinunterschluckte. Auf dem Tisch standen zwei leere Holzschalen, neben denen je ein Löffel lag. Der Fremde erhob sich umständlich aus der Hängematte, wobei er fast stürzte, und setzte sich dann wortlos auf einen Schemel vor einem der Teller. Der Kochtopf enthielt offenbar einen Eintopf aus Linsen und Fleisch. Nachdem sein Gastgeber je eine Kelle in die Schalen gegeben hatte, schaufelte der Fremde die heiße Nahrung mit einer gierigen Geschwindigkeit in sich hinein.

Nach zwei geleerten Tellern fand er die Zeit für weitere Worte: „Ich weiß noch nicht einmal deinen Namen. Deiner Sprechweise nach musst Du auch aus Elnanbia kommen, oder?“

„Mmmh“ war zunächst die einzige Antwort. Nach einem langen Augenblick, in dem der Fremde seinen Gastgeber weiterhin mit fragender Miene musterte, fuhr dieser fort: "Mein Name ist Mulheg."

„Mulheg? Aha. Und du kommst aus Elnanbia. Daher stamme ich auch, genauer gesagt aus Damaham. Na ja, was davon übrig ist.“

Der Mann, der sich Mulheg nannte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Euch hat's auch übel erwischt, was? Ich stamme aus Besva. Verdammtes Drecksnest, bin froh, dass ich da raus bin.“ Ein kurzer, zufriedener Rülpser entwich seinem Mund. Er war offenbar um eine Fortsetzung des Gesprächs nicht sonderlich bemüht. Sein Gast übersah dies entweder, oder es war ihm egal. „Das wäre meine nächste Frage gewesen. Was macht ein Landsmann aus dem Norden in dieser von allen Göttern verlassenen Gegend?“ Er lehnte sich zurück. „Aber ich will nicht unhöflich sein. Zuerst sollst Du wissen, dass ich Iered heiße. Iered aus Damaham, Sohn von weiß-der-Geier.“ Es folgte ein kurzes Kichern, das jedoch keine Reaktion in der Miene seines Gegenübers hervorrief, der weiterhin entspannt und betont gleichgültig zurückgelehnt in seinem Stuhl saß.

Iered ließ sich davon nicht entmutigen. „Du hast es also mitbekommen. Ja, es stimmt, Damaham hat es übel getroffen. Die ganze Siedlung wurde mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht. Es war derselbe Stamm, der schon öfter Überfälle auf die Siedlungen in Elnanbia gemacht hat. Sie nennen ihn den Heuschrecken-Stamm. Der Name ist gar nicht so falsch, besonders in letzter Zeit, als die Überfälle immer übermütiger wurden. Ist ja auch kein Wunder, denn wer soll die Wilden nach dem Zusammenbruch noch aufhalten.“ Er sah versonnen ins Leere. „In den letzten Jahrzehnten, als alles auseinander fiel, brauchten sie keinen nennenswerten Widerstand mehr zu fürchten.“

„Verdammtes Pack. Eigentlich 'ne Schande, dass wir uns das gefallen lassen.“ sagte Mulheg eher beiläufig. "Aber vielleicht haben wir's nicht anders verdient. Unsere Leute hatten noch nie viel Mumm in den Knochen.“ Er kam einer möglichen Entgegnung seines Gegenübers zuvor. „Bilden sich was drauf ein, der Wildnis Land abgetrotzt zu haben. Hah! Ein paar Burgen mit Dörfern drum herum. Gegründet von irgendwelchen Feiglingen oder Halunken, die es in den nördlichen Königreichen nicht geschafft haben.“

Der Gesichtsausdruck Iereds blieb unergründlich. „Na ja, aber wusstest Du, dass Damaham wieder aufgebaut werden sollte?“ Er machte eine kurze Pause, als wollte er die Reaktion seines Gesprächspartners abwarten. Ein Brummen, das sowohl ja als auch nein bedeuten konnte, war jedoch der einzige Kommentar.

Unvermittelt wechselte Iered das Thema. „Willst Du nicht wissen, was mich hier an das Ende der Welt getrieben hat? Du hast mir keine Fragen gestellt, seit ich hier angekommen bin.“

Mulheg sah ihm noch immer nicht ins Gesicht. „Wirst entweder ein Flüchtling oder 'n Verrückter sein.“

Iered sah ihn mit leicht amüsierten Gesichtsausdruck an. „Ein Verrückter?“

„Na ja, ist ja nicht das erste Mal, das jemand den Pass 'runterkommt. Das kommt sogar häufiger vor, als man sich das denkt. Die meisten davon kann man in zwei Gruppen einteilen: Leute, die vor irgendwas abhauen, oder Verrückte, die glauben, dass sie hier unten was finden - ihr Glück machen können. Die wegen irgendeiner irren Idee hier herkommen. Meistens Schatzsucher.“

„So? Gibt es denn hier in den Bergen Schätze zu finden? Juwelen möglicherweise?“

Mulheg schnaufte. „Einmal tauchte hier so ein Wirrkopf auf, der von irgendeinem Gelehrten einen Floh ins Ohr gesetzt bekommen hatte über einen Schatz in der Wüste. Wollte die Oase Yufana finden. Angeblich sollen sie da Reichtümer gehortet haben. Nur hat diese Oase noch nie irgendwer gesehen, und wer was anderes behauptet, den nenn' ich einen Lügner. Die Oase gibt es gar nicht, das ist nur 'ne Legende. Hab' sogar schon mal welche von den Yufani gesehen, das sind bloß hergelaufene Halsabschneider und keine reichen Leute. Die haben kein eigenes Land, ziehen bloß von Wasserloch zu Wasserloch, genau wie die ganzen anderen verdammten Nomaden. Sulcami, Zunsar, Saleru und wie sie alle heißen.“

„Oh, Du hast ja schon Einiges mitgekriegt hier unten, wie es scheint. Kommen hier oft Nomaden vorbei? Wahrscheinlich wegen der Wasserquelle.“

„Ja, unter anderem. Ist manchmal 'ne ganz gute Gelegenheit, um zu handeln, also was zu tauschen. Man muss ja sehen, dass man hier an die Sachen kommt, die man so zum Leben braucht.“

„Hast Du denn Waren, um mit den Nomaden zu handeln?“

Mulheg sah scheinbar gleichgültig zur Seite. „Mmh. Ein bisschen.“

Iered musterte den Einsiedler einen Augenblick aufmerksam. Dann ergriff er wieder das Wort. „Aber um noch einmal auf diese Schatzsucher zurückzukommen. Ich halte es gar nicht für so unwahrscheinlich, dass man hier im Süden was findet. Ich habe mich immerhin wochen-, nein, monatelang durch den Urwald von Peola gekämpft, und dabei ein paar ungewöhnliche Dinge gesehen.“

Dieses Mal war Mulheg aufmerksamer. „Du bist den ganzen Weg von Damaham durch die Wildnis bis hierher zu Fuß gekommen? Du bist zäher, als ich dachte. Ich hab' zwar schon einen ähnlichen Gewaltmarsch hingelegt, aber der hätte mich beinahe erledigt.“

Iered grinste. „Tja, Unkraut vergeht nicht, wie man so sagt. Ich war aber auch schon mehrmals drauf und dran, ins Gras zu beißen. Die Viecher hier unten sind noch das geringste Übel. Die Skarlinger-Stämme sind hier noch um Einiges wilder als in Norden, von diesen Schlangenmenschen ganz zu schweigen.“

„Da hast du recht. Die sind zehnmal schlimmer als die Skarlinger. Dieser Brut geht man am besten aus dem Weg.“

„Nun ja, darauf wollte ich auch hinaus.“ Iered fixierte seinen Gesprächspartner wieder. „Mich hätten sie beinahe erwischt, als ich in der Nähe einer dieser alten Steinbauten vorbeigekommen bin, diese Ruinen, die in Wald stehen, halb mit Pflanzen überwuchert. Genau genommen waren es zwei solcher Erlebnisse, die ziemlich ähnlich abliefen. Nur einmal eben mit Skarlingern und einmal mit diesen Echsen. Beide Male bin ich in der Nähe einer dieser alten Städte gewesen. Kaum kommen irgendwelche halb eingefallenen Mauern in Sicht, tauchen diese Wilden auf und gehen auf einen los wie tolle Hunde. Es könnte denen doch eigentlich egal sein, ob irgendein halb verhungerter Wanderer an ihrem Dorf vorbeikommt. Als wollten sie irgend etwas beschützen. Vielleicht betrachten sie die alten Steinhaufen als heilige Stätten, kann ja sein. Oder sie bewachen wirklich etwas von Wert.“

Iered machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Übrigens habe ich nicht die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt. Ich hatte ein Pferd, aber das habe ich bei dem ersten Überfall eingebüßt. Ich weiß nicht, wie ich geschafft habe, dass ich mit heiler Haut davonkam. Danach dachte ich, es wäre aus. Zu weit weg von irgendeiner befestigen Siedlung, und noch unzählige Tagesreisen vor mir. Ich war der Verzweiflung nahe. Das war noch im nördlichen Teil das Waldes, in dem die Ruinen mit den riesigen Kuppeln stehen. Seltsam, wie viele davon noch stehen, kaum beschädigt, nach all den Jahrhunderten.“

Während Iered noch redete, stand Mulheg auf und räumte den Tisch ab. Den Topf und die Teller stellte er in ein Regal und deckte sie mit einem Lappen ab. Diese Geste der Gleichgültigkeit gegenüber dem Gesprächsthema des Gastes brachte diesen ins Stocken. Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens setzte er seine Plauderei jedoch wieder fort, erneut das Thema wechselnd: „Du hast gesagt, du hättest einen ähnlichen Marsch hinter dir. Bist du auch allein durch die Waldebene hierher gekommen, von Besva her?“ Mulheg schwieg, während sich wieder auf den Stuhl sinken ließ. Iered fuhr fort: „Und, bist du ein Flüchtling oder ein Verrückter?“ Er wartete mit dem Anflug eines Grinsens auf dem Gesicht die Antwort seines Gastgebers ab.

Mulheg räusperte sich. „Ich hatte ein paar Schwierigkeiten.“ Pause. „Braucht dich nicht zu kümmern.“

Iered schien einen Moment nachzudenken und murmelte dann: „Wie ein Schatzsucher siehst Du eigentlich auch nicht aus.“ Etwas lauter fuhr er fort: „Nach den Skarlinger-Stämmen kam ich dann ins Gebiet der Schlangenmenschen. Da war ich zum Glück schon vorgewarnt und daher wachsamer. Habe mich von den Ruinen ferngehalten. Ich habe diese Echsen zum Glück nur aus der Entfernung gesehen. Aber sie waren mir wohl wirklich auf den Fersen. Als ich schon die Vorgebirge erreicht hatte und der Wald nicht mehr ganz so dicht war, habe ich sie manchmal sehen können, weit hinter mir, nur als dunkle Schemen, auf einem Pfad am Hang oder auf einer Hügelkuppe. Ich habe aus Angst kein Lagerfeuer mehr entfacht, auch wenn das wohl wenig genützt hat. Sie zündeten dafür jede Nacht eins an. Das hat mir oft verraten, wo sie sich ungefähr aufhielten. Das hätten sie eigentlich wissen müssen. Es schien fast so, als könnten sie aus irgendeinem Grund nicht darauf verzichten.“

„Ja, die Erfahrung habe ich auch gemacht. Ich bin einmal näher mit einem Stamm in Berührung geraten, als mir lieb war. Das war weiter im Osten, in der Nähe vom Waldrand. Da gibt es 'ne verfallene Stadt, aber eine ganz alte, noch von den Schlangenmenschen. Einer dieser Stämme lebt auch in der Gegend. Die verteidigen wirklich die alten Steine.“

Als Mulheg nicht weitersprach, ergriff Iered das Wort: „Irgendwas muss es dort doch geben. Ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich, dass sie nur Steine verteidigen.“

„Kannst es ja herausfinden. Aber wenn Du mich fragst, solltest Du dann lieber sehen, ob Du nicht eher was in den verlassenen Siedlungen von Elnanbia findest. Ist gesünder.“

„Einige haben das versucht. Ich hatte doch schon erwähnt, dass Damaham wieder besiedelt werden sollte. Der Graf von Siyebo erhob Anspruch darauf, weil keiner der alten Grafen von Damaham überlebt hat. Aber eigentlich ging es dabei weniger um Landbesitz. Der ist hier im Süden ohnehin nicht viel wert. Er war an etwas ganz anderem interessiert. Du weißt doch sicher, dass Tareoso aus Zalebrien in Damaham das Sagen hatte.“

„Ist mir bekannt. Soll sich in der dunklen Kunst ausgekannt haben, wie viele, die vor dem Untergang in Zalebrien ihr Unwesen getrieben haben. Aber der konnte noch rechtzeitig seinen verfluchten Arsch retten.“ Verdammtes Dreckspack. Würd' mich nicht wundern, wenn da was dran ist, dass die mit dem Reich von Korva gemeinsame Sache gemacht haben.“

„Und damit ihren eigenen Untergang herbeigeführt? Unwahrscheinlich.“

„Wer weiß? Diese Hexer sind doch alle nicht ganz richtig im Kopf.“

„Nun, wie dem auch sei. Wie Du schon richtig bemerkt hast, konnte Tareoso noch rechtzeitig entkommen. Weißt Du aber auch, dass er einen Schatz mitnehmen konnte?“

„Das kann man vermuten. Ohne leere Hände ist er sicher nicht gegangen. Wie hätte er auch sonst so schnell wieder Fuß fassen können in Elnanbia.“

„Genau. Er ließ sich also in Damaham in Elnanbia nieder und half dabei, den Ort zu einem kleinen Handelsstützpunkt auszubauen. Sein Reichtum kam ihm dabei zugute. Es sollen wohl hauptsächlich Juwelen gewesen sein.“ Iered nahm einen Schluck aus seinem Becher. „Und einige besondere Stücke.“ Er fuhr fort: „Er hatte mit seinem Fortgang aus Elnanbia aber das Ende seiner Familie im Grunde nur hinausgezögert. Er selbst war damals schon uralt, über neunzig Jahre. Nicht mehr stark genug, um das Unglück noch zu verhindern. Das war jetzt vor - lass mich nachdenken - etwa sechzehn Jahren.“

„Ja , hab' davon gehört. Diese Götzenanbeter aus den Bergen waren's. Haben Damaham überrannt.“

„Dieser verschworene Bund sucht mittlerweile halb Elnabia heim. Im Norden ist niemand mehr wirklich sicher. Pech für Tareoso, dass ausgerechnet sein größter Feind in diesem Kult zu einem hohen Tier aufgestiegen war. Nun ja, aber irgendwie scheint er es doch geschafft zu haben, den Häschern seines Gegners ein letztes Schnippchen zu schlagen. Keiner seiner Familie entkam lebend, aber die Juwelen konnten die Mörder auch nicht finden, so sehr sie auch danach suchten.“

„Ist schon komisch. Viele Leute schützen ihren Besitz besser als sich selbst. Nur haben sie dann nichts mehr davon, wenn sie erst mal unter der Erde sind.“

„Tja, und auch der Graf von Siyebo konnte sie später nicht finden, als er die alte Burg durchsuchte. Er fand aber ein Geheimversteck, das anscheinend erst vor kurzem geöffnet wurden war. Er schäumte vor Wut. Offenbar war ihm jemand zuvorgekommen.“

„Das nennt man Pech. Oder Glück für den Finder, wie man's nimmt.“

„Eben. Daran kann man sehen, dass es hin und wieder doch etwas Lohnenswertes zu finden gibt, wenn man weiß, wo man suchen muss. Nicht alle Schatzsucher sind Verrückte.“

„Wie du meinst.“ Mulheg gähnte. „Wenn Du willst, kannst Du diese Nacht noch in der Hängematte schlafen. Ich mach mir in der Ecke ein Lager. Du musst erst mal zu Kräften kommen.“

„Danke. Da lasse ich mich nicht zweimal bitten.“

Am nächsten Tag nahm Iered die Überreste der Steingebäude näher in Augenschein, die sich nicht weit von der Hütte entfernt über einen großen Teil des Hanges ausbreiteten. Die Steine der Grundmauern waren offenbar im Lauf der Jahrhunderte von Wind derart abgeschliffen worden, das nur noch dort Ecken und Kanten zu sehen waren, wo die Steine für den Bau der Hütte herausgebrochen worden waren. Der Wind hatte etwas nachgelassen, doch die Luft hatte sich schnell wieder erwärmt, und die Steine wurden durch das grelle Sonnenlicht aufgeheizt. An den Stellen, an denen große Teile der Grundmauern freilagen, konnte man erkennen, dass sie erstaunlich dick waren und früher recht große Innenräume umschlossen haben mussten. Es musste sich um beeindruckende Bauten gehandelt haben.

Als Iered nachdenklich die Überreste der nicht mehr vorhandenen Wände abschritt, fiel sein Blick auf einen Felsbrocken, der auf einer Öffnung im Boden lag. Neugierig betrachtete Iered das auffallend kreisförmige Loch. Obwohl der Felsen den Blick zum größten Teil behinderte, war doch der gemauerte Rand zu erkennen. „ine Zisterne?“ murmelte Iered, als er plötzlich aus Richtung des Baches Mulheg rufen hörte.

Iered fand ihn in der Nähe des Ufers kauernd vor. Als er näher kam, wandte sich Mulheg zu ihm um. „Hast Du gestern Nacht irgend etwas gehört?“

„Nein. Worum geht es denn?“ Er sah zu der Stelle, die Mulheg betrachtet hatte und erkannte bereits den Grund für dessen Frage. Hufspuren führten zum Bach und wieder davon fort, vermischt mit Abdrücken menschlicher Stiefel. „Nomaden?“ vermutete Iered.

„Möglich. Aber nicht gerade wahrscheinlich. Es sieht nach einem einzigen Reiter aus, der wohl schwere Stiefel trug, nicht in der Art der Nomaden. Außerdem würden sie sich nicht nachts an die Wasserquelle 'ranschleichen. Wenn die aufkreuzen, machen die immer ein Volksfest draus.“ Er blickte über die Schulter. „Die Spuren kommen aus Richtung Pfad und führen auch wieder dorthin zurück. Ab da kann ich nichts mehr erkennen.“

Iered blickte auf und sah sich um. Er ließ seinen Blick über die Berghänge und die schwarzen Schatten der Schluchten dazwischen schweifen, über die Felsen, die den Blick auf den Pfad in die Ebene versperrten und anschließend über den Felsabsatz, hinter dessen Rand die Wüste als gleißend weißer Streifen am Horzont mit den Himmel verschmolz. „Ob der Reiter noch in der Nähe ist?“

„Wer weiß. Kann mir aber nicht vorstellen, was der hier suchen sollte. Vielleicht hatte er's eilig und wollte nur seinen Wasserschlauch auffüllen.“ Schnaufend machte er sich wieder auf den Weg zur Hütte, wobei Iered auffiel, dass er nun den Blick nicht mehr gleichgültig nach unten richtete, sondern sich verstohlen umsah. Iered holte ihn mit hastigen Schritten noch vor der Hütte ein und hielt nun mit ihm Schritt.

„Was ich noch fragen wollte: Führen die Spuren von den Bergen in die Wüste oder ist es umgekehrt?“

„Kommen aus den Bergen.“

"Aha. Und was könnte sein Ziel sein? Was liegt in der Richtung?"

„Na was schon. Die beschissene Wüste. Sonst nichts.“

„Aber es muss doch irgendetwas dort draußen geben. Oasen zum Beispiel.“

„Das liegt alles ziemlich weit weg. Wenn man sich nach Südwesten hält und viel Glück hat, kommt man nach wer weiß wie vielen Tagesreisen nach Tepem. Das ist eine Oase nicht weit vom Tal des Jir. Den Fluss erreicht man natürlich auch, wenn man sich noch weiter westlich hält. Ziemlich genau Richtung Süden liegt der Serir-See, und zur Oase Dan Kasram kommt man in südöstlicher Richtung. Diese Oase ist aber noch weiter weg. Da bracht man schon 'ne Menge Wasservorräte und ein gutes Pferd oder ein Kamel. Deshalb reist man hier auch üblicherweise in einer Karawane. Erhöht die Aussicht zu überleben.“

„Könnte man nicht entlang der Berge oder in den Tälern reisen, Richtung Osten oder Westen? Dort hat man vielleicht bessere Bedingungen.“

„Nicht unbedingt. Im Westen der Berge fängt bald das Stammesland von Crin Ragh an. Vier Stämme teilen das Gebiet dort unter sich auf. Schlangenmenschen. Die sind nicht gerade freundlich gegenüber Fremden eingestellt.“

„Wie weit ist das denn ungefähr?“

Mulheg blieb stehen und deutete mit dem Zeigefinger in westliche Richtung. „Siehst du dort, wenn du zwischen dem Felseinschnitt hindurchsiehst, den Gipfel weit hinten, der südliche Hang steiler als der nördliche? Ungefähr dort fängt das Stammesland an. Zu Pferd etwa fünf oder sechs Tage. Sobald du abgeschlachtet wirst, bist du da."

Sie gingen stumm weiter, bis sie die Hütte erreichten. Bevor Mulheg hineingehen konnte, fragte Iered: „Was ist das da hinten eigentlich für eine Öffnung im Boden? Ein Steinbrocken ist daraufgerollt.“

„Das gehört zu den anderen Überresten. War wohl früher eine Zisterne. Ich hab' den Stein selbst draufgerollt, damit ich nicht zufällig reinfalle und mir den Hals breche.“

„Hast du eine Ahnung, was das für Ruinen sein könnten? Hast du vielleicht irgendwelche Geschichten gehört?“ Iered schien sich dies eher selbst zu fragen. In seinem Tonfall schwang bereits mit, dass er keine befriedigende Antwort von Mulheg erwartete.

„Nein. Jedenfalls keine zuverlässigen. Von den Wüstenvölkern - ich meine den heutigen - wird's keines gewesen sein. Die leben in Zelten oder Lehmhütten. Es gab hier vor Urzeiten mal Schlangenmenschen-Reiche, mit unaussprechlichen Namen. Eins davon könnte die Gegend hier beherrscht haben. Das ganze kümmert mich auch nicht besonders. Schätze findest Du hier auf jeden Fall keine.“

„Ja? Wie kannst Du da so sicher sein?“ Iered hatte ihm den Rücken zugedreht und betrachtete die Berggipfel. „Ich habe gehört, dass es früher in der Gegend - also auch in der Wüste Thakeb - mehr Regen gegeben haben soll. Es war vielleicht alles einmal fruchtbares Land. Als die Dürre kam, sind die Bewohner dieser Länder fortgezogen, auch ins Tal des Jir.“

„Was Du nicht sagst.“ Mulheg hatte die Hütte schon betreten und machte sich dort an der Klappe im Boden zu schaffen. Iered drehte sich um und beobachtete, wie sein Gastgeber in die Öffnung stieg und nach wenigen Augenblicken mit Brot und getrocknetem Fleisch wieder auftauchte.

„Ich könnte mal wieder einen Bissen vertragen“, sagte der Mann mit dem Stoppelart und der stämmigen Figur. „Du kannst Dir ruhig was mitnehmen, wenn Du weiterreist. Wo immer Du auch hinwillst. Es ist reichlich da.“

„Du scheinst ja ausgesprochen gut versorgt zu sein. Mit den Nomaden verstehst du wohl zu verhandeln.“

Mit leichter Verärgerung in der Stimme sagte Mulheg: „Erwarte nur nicht, dass ich dich hier noch wochenlang bewirte. Ich führe hier kein Gasthaus.“

„Oh, keine Angst, ich werde bald aufbrechen, vielleicht heute noch.“ Iered hatte den Raum betreten und sah durch eines der Fenster nach Süden, die nunmehr ebenfalls offenstanden. „Ich denke, ich werde die Berge verlassen. Mit Schlangenmenschen will ich mich nicht anlegen. Zumindest nicht mit den wilden. ich halte mich am besten südwestlich, bis ich den Fluss Jir erreiche. Ich bin zwar noch nie dort gewesen...“

„... aber bessere Aussichten, mit heiler Haut davonzukommen, hast du dort schon, das stimmt. Sind zwar alle seltsam und unberechenbar, diese Echsen, aber es leben ja auch richtige Menschen da“"

„Gut, und mit dem Proviant, den du mir freundlicherweise überlässt, und frischen Wasservorräten dürfte ich gut vorankommen. Ich werde mich gleich mal ans Packen machen. Aber vorher hole ich noch den Schatz, den du in der Zisterne versteckt hast.“

Die letzten Worte sprach Iered im gleichen Plauderton aus, in dem er das übrige Gespräch geführt hatte, doch ließ er Mulheg dabei nicht aus den Augen. Dieser drehte den Kopf in die Richtung des Gesprächspartners, dem er bislang nur halb zugewandt war. Für einen kurzen Augenblick fixierten sich die beiden Männer stumm. Plötzlich machte Mulheg eine blitzschnelle Bewegung zur Wand und griff mit einer Flinkheit, die er bisher mit keiner einzigen Regung hatte erahnen lassen, nach der Klinge an der Wand. Iered konnte nicht verhindern, dass Mulheg bereits mit der Waffe in der Hand zum Hieb ansetzte, bevor er seinerseits zum Gegenangriff übergehen konnte. Er versuchte erst gar nicht, sein eigenes Schwert zu ziehen, sondern stürmte auf Mulheg zu und versuchte dabei, dessen rechten Arm zu ergreifen. Er schaffte es tatsächlich, seinen Gegner vor dem Hieb zu erreichen und ihn an die Wand zu drängen. Der Versuch, ihm bei der Gelegenheit sein Schwert zu entreißen, war jedoch zum Scheitern verurteilt. Selbst den Arm konnte er nur kurz im Griff behalten, bevor dieser mit einer ungeahnten Kraft vorschnellte und ihn mit dem Ellbogen voran im Gesicht traf. Für kurze Zeit verlor Iered die Orientierung, während Lichter vor seinen Augen tanzten, so dass der Vorteil der Überraschung dahin war. Mulheg bewegte sich nun seinerseits auf den hageren Mann zu, der am Tisch in der Mitte des Raumes Halt gefunden hatte. Iered sah die Klinge bereits in einem eleganten Bogen zielsicher auf seinen Kopf zuschießen, als er die Kraft für eine verzweifelte Verteidigung fand. Er tauchte unter dem Hieb weg und rollte auf dem Boden auf die Beine seines Gegners zu. Er nahm dabei nur am Rande wahr, dass der Hieb seines Gegners die Tischkante traf. Es sah für einen Moment so aus, als hätte er den untersetzten Mann tatsächlich zu Fall bringen können, doch bewies dieser erneut eine erstaunliche Geschicklichkeit. Er stieß sich mit den Händen am Tisch ab und ließ sich gezielt auf seinen Gegner fallen, so dass beide Kämpfer nun kreuzförmig übereinander am Boden lagen. Mulhegs Gewicht trieb Iered die Luft aus den Lungen, was ihn aber nicht davon abhielt, nach seinem Schwert am Gürtel zu tasten. Die einzige Möglichkeit bestand darin, die Waffe frei zu bekommen und Mulheg in den Körper zu treiben. Sich des enormen Gewichts seines Gegners auf andere Art zu entledigen, war angesichts des Kräfteunterschieds aussichtslos. Mulheg durchschaute diese Absicht schnell. Er packte den tastenden Arm mit der einen Hand am Ellbogen und der anderen am Handgelenk und verdrehte ihn so schmerzhaft, dass Iered laut aufschrie. Dieser schlug nun mit seiner linken Faust auf das stoppelbärtige Gesicht seines Peinigers ein, ohne jedoch einen sichtbaren Schaden oder auch nur ein Anzeichen des Schmerzes bei diesem hervorzurufen. Stattdessen fand Mulheg jetzt sogar die Kraft zu sprechen: „Na, was sagst Du jetzt? Hast dich schon als Gewinner gesehen, was? Hast gedacht, heute ist dein großer Tag. Ich hab' schon ganz andere als dich...“ Der Rest des Satzes ging in ein unartikuliertes Geräusch über, eine Mischung aus Stöhnen und Würgen. Die Hände des dicken Mannes waren immer noch um den Arm seines Gegners verkrampft, doch hatten die Augen nun einen glasigen Blick bekommen, und die Arme schien den schweren Körper nicht mehr tragen zu können. Als der Rumpf sich auf den darunter liegenden Körper herabsenkte, spürte Iered plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust. Schließlich fand er doch noch die Kraft, sich der bedrückenden Last zu entledigen, indem er sie unter höchster Anstrengung beiseite rollte. Mulheg regte sich nicht mehr. Nun bemerkte Iered das Blut auf seiner Brust und an etwa der gleichen Stelle auf der Brust seines Gegners. Doch ragte dort zusätzlich ein spitzer, dünner Gegenstand aus der Mitte des Blutflecks, was wohl der Grund für die kurze Empfindung des stechenden Schmerzes in Iereds Brust war.

Als er sich in eine sitzende Haltung aufgerichtet hatte, konnte er soweit über den Tisch sehen, dass er in der Türöffnung den Verursacher der tödlichen Verletzung Mulhegs sehen konnte. Der Mann, dessen Gesicht durch das von hinten einfallende Licht im Schatten lag, stand dort völlig regungslos. Er hielt immer noch die Armbrust im Anschlag, wodurch er wie das Standbild eines Schützen wirkte.

„Verdammt spät!“ rief Iered, der sich wieder auf die Füße erhoben hatte. Er warf einen letzten Blick auf Mulhegs Leiche und ging dann, noch unsicheren Schrittes, auf die Tür zu. Der Schütze drehte sich wortlos um und gab den Eingang frei. Immer noch schweigend gingen die beiden Männer den staubigen Hang entlang, bis sie bei dem Felsen ankamen, der die Zisterne verdeckte. Sie umkreisten ihn und stemmten sich von der höher gelegenen Seite dagegen. Einige Augenblicke später rollte der Stein von der Öffnung und polterte noch einige Schritte den Hang hinab. Iered, der bei diesem Kraftakt schon halb in das frei gewordene, ummauerte Loch gestürzt war, stützte sich nun mit den Händen am Rand ab und tastete mit den Füßen nach halt in dem dunklen Schacht. Schließlich verschwand er völlig darin, tauchte aber schon kurze Zeit später wieder auf. Der Andere reichte ihm die Hand und zog ihn wieder an die Oberfläche. Iereds linke Hand hielt nun einen Beutel umklammert, der an der Oberseite mit einem Strick verschnürt war. Obwohl der andere Mann Anstalten machte, ihm zu helfen, ließ Iered es sich nicht nehmen, den Knoten des Strickes selbst zu lösen. Anschließend ließ er den Inhalt klimpernd über seine Hand rieseln, bis ein größerer Gegenstand herausfiel. Ein grimmiges Lachen entrang sich seiner Kehle, in das sein Gefährte bald einstimmte. Iered hielt den Gegenstand ins Sonnenlicht und sagte, während er ihn betrachtete, mit feierlicher Stimme: „Der Grundstein ist gelegt.“

1

Die Möwen kündigten es zuerst an. Man sah sie wie eine weiße Sturmwolke vor den graugrünen Hügeln jenseits des Strandes umherwirbeln. Ihr Gekreisch wurde meilenweit durch die Seeluft an das Schiff herangetragen. Ständig über den Abfällen des Hafens kreisend, waren sie wie ein lebendes, lärmendes Leuchtfeuer für jeden, der sich von See oder Land näherte. Es dauerte lange, bis schließlich der Leuchtturm als zweites sichtbares Zeichen hinzukam. Er war immer das erste Gebäude, das man erkannte, gefolgt von der glänzend weißen Kuppel des Tempels im Stadtzentrum. Kerim erinnerte sich an die Möwen erst jetzt, da er sie wieder sehen und hören konnte. Er hatte sie nie wirklich beachtet, als er noch in der Stadt wohnte, doch nun riefen nur sie ihm ein Bild seiner Heimat vor Augen, das so deutlich und lebendig war, wie es keine Erinnerung und kein nächtlicher Traum in der Fremde je sein konnte. Er wusste, wo er den Leuchtturm suchen musste und wo die Kuppel des Asal-Tempels als nächste Wegmarke erscheinen musste. Er konnte die Segel der vor der Stadt ankernden Dhaus schon vor sich sehen, die sich kaum von den dahinter liegenden hellen Fassaden der Kaufmannshäuser und Lagerhallen abheben würden. Nur drei Gebäude würden aus dieser Front herausstechen: Neben dem Leuchtturm noch die riesige alte Festung mit ihren Rundtürmen und der neue Palast des Patriarchen.

„Pavat“, sagte Kerim, und holte tief Luft. „Gleich werden wir den Hafen sehen können.“

„Deine berühmte Heimatstadt?“ war eine raue Stimme hinter ihm zu vernehmen. Kerim zuckte zusammen. Er hatte sich über die Reling gelehnt, den Blick bislang immer starr auf die Küste gerichtet. Er hatte gedacht, dass nur sein Diener bei ihm wäre, und nicht gehört, wie Gereth hinzugekommen war. Er drehte sich lächelnd um. „Ja, sie muss gleich in Sichtweite sein“, wiederholte er etwas zerstreut. „Bist Du schon gespannt?“

Gereth antwortete nicht, sondern lehnte sich lässig an die Reling, ein schiefes Lächeln auf dem stoppelbärtigen Gesicht. „Das Gekreische hört man ja bis hierher. Diese Biester sind ein gutes Zeichen. Das bedeutet eine reiche und fette Stadt. Wenn auch die Freudenhäuser was taugen, werde ich mich schon wie zu Hause fühlen. Diese glutäugigen Frauen bei euch hier unten wären genau das richtige nach der langen Überfahrt.“

Kerims Stimmung schlug plötzlich um. Er wandte seinen Blick wieder auf die See, ohne Interesse an einer Fortsetzung des Gesprächs. Die lange Seefahrt war Kerim wie trotz aller Strapazen wie eine Erholung vorgekommen, vor allem geistiger Art. Für einige kostbare Wochen hatte er keine Geschäfte zu tätigen, Unterredungen zu führen oder Verpflichtungen nachzukommen gehabt. Andere erledigten während diese Zeit die Arbeit. Sobald er wieder einen Fuß an Land setzen würde, wäre diese Rast vorüber. Die meiste Zeit hatte er es tatsächlich geschafft, gelassen in sich zu ruhen, ohne in dunkles Brüten zu verfallen. Wenn er doch einmal in eine melancholische Stimmung verfiel, war es meistens Gereth Cordren, dem es mit seinen Scherzen gelang, ihn wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen. Gereth schien der einzige unter der Mannschaft zu sein, der wirklich Interesse an einem Gespräch mit Kerim hatte. Selbst Kapitän Yandrol, obwohl meistens gut gelaunt, begegnete seinem Reisegast oft nur mit einer Art höflicher Zurückhaltung. Zu Gereth dagegen hatte sich während der Reise fast so etwas wie Freundschaft entwickelt, was daran liegen mochte, dass er in gewisser Weise ebenfalls ein Außenseiter wie Kerim war. Er war der einzige Urdländer unter der Besatzung des Schiffes.

Kerim lehnte weiter an der Reling, während er abwechselnd die Küste beobachtete und in Gedanken versunken ins Nichts starrte. „Stell dich am besten weiter vorne am Bug auf, dann kannst du dich als Gallionsfigur nützlich machen“, waren die Worte, mit denen Gereth sich wieder entfernte.

Langsam kamen nun tatsächlich die Gebäude des Hafens als gezacktes, helles Band am Ufer in Sichtweite. „Soll ich unser wichtigstes Gepäck schon bereitstellen?“ Dieses Mal war es die Stimme seines Dieners, die Kerim aus seinem Grübeln riss.

„Du musst Dich nicht beeilen, Taref. Dafür haben wir auch nach dem Anlegen noch genug Zeit.“ Die scheinbare Eilfertigkeit seines Bediensteten besserte Kerims Laune nicht. Dann fügte er doch noch hinzu: „Aber es kann auch nicht schaden, schon einmal alles zusammenzusuchen und zu überprüfen.“ Damit wäre Taref wenigstens für eine Weile beschäftigt. Es sollte auch nicht so aussehen, als würde Kerim absichtlich Zeit schinden. Der kleine, aber kräftig gebaute Mann deutete kurz eine Verbeugung an und verschwand dann unter Deck.

Als das Schiff schließlich in die schmale Bucht von Pavat einlief, bot sich Kerim der vertraute Anblick der unzähligen vor dem Hafen ankernden oder an den Holzstegen festgemachten Dhaus. Nur im Süden des Hafens war eine Störung des gewohnten Bildes auszumachen. Dort lag am Steinkai, dem einzigen, der bis jetzt fertiggestellt war, ein breite Kogge. Kerim wusste, dass sie nur den Tenarsons gehören konnte, der einzigen urdländischen Kaufmansfamilie, die bisher einen festen Wohnsitz hier im Süden bezogen hatte. Die andere Seite des Kais, der weiter in die Bucht hineinragte als die älteren Holzstege, war noch frei für ein zweites großes Schiff. Dort, wo der Kai am Ufer endete, begann eine Straße, die vom Hafen aus zwischen den neuen Steinhäusern geradewegs auf den Basar im südlichen Teil von Pavat zuführte. Kerim erinnerte sich noch daran, dass sich in seiner Kindheit auf der südlichen Straßenseite anstelle der heutigen Steinhäuser der wohlhabenden Kaufmanns- und Handwerkerfamilien noch die ärmlicheren Hütten der Lehmstadt erstreckt hatten. Sie waren inzwischen zurückgedrängt worden, so wie sich die gesamte Lehmstadt nach Norden, Süden und Westen verschoben hatte. Die Stadt war gewachsen.

Je näher sie der Anlegestelle kamen, desto mehr verbanden sich nun auch Geräusche und Gerüche zu einem vertrauten Muster, das Kerim wohl auch mit verbundenen Augen jederzeit als die Stadt erkennen würde, in der er aufgewachsen war. Hin und wieder schloss er tatsächlich für einige Zeit die Augen, als würde dies seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. Wenn er die Augen öffnete, fiel sein Blick nacheinander auf einzelnen Gebäude des Hafens, dem Kurs des einlaufenden Schiffes folgend: zuerst die Häuser der nördlichen Lehmstadt, dann die Flussmündung, dann die ältesten Häuser der Steinstadt mit dem Leuchtturm in ihrer Mitte, dann die prunkvollen Häuser der wohlhabenden Kaufmannsfamilien, das Haus der Khadris-Familie...

Kerim beschloss unvermittelt, unter Deck zu gehen und Taref bei den Vorbereitungen zu helfen, anstatt weiter abzuwarten, bis das Schiff einlief. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es die alles beherrschende alte Festung an der Kanalmündung passiert haben würde, um schließlich am Steinkai seinen vorläufigen Ruheplatz zu finden. Kerim eilte die Treppe hinab unter Deck, wo Taref die Arbeit fast schon beendet hatte. Kerim schaffte es jedoch, diese einfache Tätigkeit noch solange durch Ausräumen und erneutes Packen von Kisten und Koffern hinauszuzögern, bis das Schiff längst am Kai vertäut war.

Als er wieder an Deck kam, sah er dort zu seiner Überraschung inmitten des hektischen Durcheinanders einen Mann, der sich mit Kapitän Yandrol unterhielt, aber nicht zur Besatzung gehörte. Der Neuankömmling war in der farbenfrohen Art der elurnischen Kaufleute gekleidet. Einen Atemzug später erkannte Kerim ihn als seinen Bruder. Khamir hatte sich in den zwei Jahren der Abwesenheit kaum verändert, so dass Kerim sich fragte, weshalb er für einen kurzen Augenblick verwirrt gewesen war. Vielleicht war es einfach dessen plötzliches, unerwartet schnelles Erscheinen an Deck. Vermutlich hatte man Yandrols Schiff schon von weitem erkannt, so dass der Empfang entsprechend vorbereitet werden konnte. Jetzt fielen Kerim auch die Leute in Begleitung seines Bruders auf, die respektvoll Abstand hielten: der unvermeidliche Anhang, bestehend aus mindestens zwei Bediensteten, ohne die kein Kaufmann, der ein gewisses Ansehen genoss, außer Haus gehen würde. Kerim erkannte den Majordomus, der gleichzeitig die Aufgabe eines Leibwächters erfüllte, sowie den Leibdiener seiner Eltern, beziehungsweise nunmehr nur noch seiner Mutter.

Kerim wandte den Blick wieder seinem älteren Bruder zu, der sich bis eben noch mit heiterer Miene mit Kapitän Yandrol unterhalten hatte. Kerim fand diese Fröhlichkeit im Anbetracht der Umstände etwas unpassend, bis er sich erinnerte, dass die Heimkehr des Bruders durchaus ein Anlass zur Freude war.

Khamir hatte seinen kleineren Bruder jetzt entdeckt und kam ihm hastig mit strahlender Miene entgegen. Der Empfang war wie zu erwarten herzlich, fast stürmisch. Kerim musste sich erst wieder an die kräftigen Umarmungen gewöhnen, mit denen man hierzulande seine Freunde und Bekannten zu begrüßen pflegte. Es war erstaunlich, wie schnell ihn diese einfache Geste seine vorherige düstere Stimmung vergessen ließ und ihm bewusst machte, wie sehr er seine Stadt und seine Familie vermisst hatte.

„Kerim, willkommen zu Hause! Zwei lange Jahre! Lass dich ansehen.“ Sein Bruder musterte ihn kurz. „Du bist blass geworden. Dort oben hat die Sonne wohl wirklich nicht sehr viel Kraft. Aber das wird sich ändern. Zuerst werden wir ein großes Festmahl veranstalten. Wir haben uns so viel zu erzählen.“ Khamir schien etwas in Kerims Gesicht zu lesen. „Aber das hat Zeit. Komm, gehen wir zusammen nach Haus, ganz ohne Hast. Möchtest Du am Strand entlang oder durch die Stadt, über den Basar?“

"Das Gepäck und die Waren..."

„Mach dir keine Sorgen, das wird Taref schon allein hinbekommen. Ich habe mit Kapitän Yandrol schon das Wichtigste besprochen. Er ist ein zuverlässiger Mann. Er hat sicher gut auf dich aufgepasst.“

„Ja, er war oft eine große Hilfe. Aber was ist mit der...“

„Ja, ja, ich weiß, Tamur hat sich dessen schon angenommen. Er wird die Urne sicher für uns nach Haus bringen.“

Kerim sah sich um und entdeckte den Majordomus, wie er bereits mit dem in Leinen eingeschnürten Gegenstand in beiden Händen an Deck stand und zu ihnen hinüber sah. Er schien das Gespräch der Brüder gelassen abzuwarten. Kerim wandte sich wieder Khamir zu. Er konnte einen entschuldigenden Tonfall nicht ganz vermeiden, als er sagte: „Es entsprach zwar nicht genau Vaters Vorstellungen über die Zeremonie, aber es war die einzige Möglichkeit, dort eine Bestattung nach den richtigen Riten zu ermöglichen. Es war besser, die Überreste zu überführen. Die Verbrennung habe ich überwacht, sie benutzen dafür auch Brandgruben ähnlich den...“

„Lass es gut sein“, warf Khamir sanft ein, „hier ist nicht der richtige Ort

für solche Gespräche. Ich ziehe es vor, zunächst zu erfahren, wie es meinem lebendigen Bruder ergangen ist. Endlich sind wir wieder vereint.“

Kerim wusste für einen Moment nicht, welche Worte er wählen sollte, um das Gespräch fortzusetzen. Schließlich sagte er etwas unbeholfen: „Ich bin auch froh, wieder bei euch zu sein. Natürlich bin ich neugierig, was ihr - du mir zu erzählen hast.“

„Komm erst einmal von Bord, wir wollen den Männern nicht im Weg herumstehen.“ Khamir legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter und schob ihn sanft in Richtung der Planke, die auf den Steinkai führte. Als sie auf das Ufer zugingen, deutete Kerim auf die Kogge zu ihrer Linken und fragte: „Wie oft laufen Schiffe der Tenarsons hier ein?“

Khamir schien kurz über etwas zu grübeln, antwortete dann aber wie beiläufig: „Ach, das ist ein Kommen und Gehen, fast das ganze Jahr über. Außer natürlich im Winter, wenn die Winde ungünstig sind.“

„Schattenzeit“, murmelte Kerim.

„Was?“

"Die Urdländer nennen es die Schattenzeit. Die kälteste Zeit im Jahr. Sie unterscheiden sechs Jahreszeiten, nicht vier. Aber das weißt du wohl schon.“

„Ich habe davon gehört. Nun, am Strand entlang oder über den Basar?“ Sie waren an der Hafenmauer angekommen.

"Ich würde gern durch die Stadt gehen." Dieser Weg würde länger dauern, was Kerim entgegenkam. Er musste sich eingestehen, dass er das zwanglose Geplauder mit seinem Bruder durchaus genießen konnte. Außerdem brannte er tatsächlich darauf, wieder durch das Gewimmel seiner Heimatstadt zu gehen und sich dabei an die Farben, die Geräusche und die Gerüche zu erinnern.

Sie schlugen den Weg in die Hafenstraße ein, die sie direkt zum Basar führen würde. An der zweiten Kreuzung kamen sie an einem Bettler vorbei, der an der Ecke im Schatten eines der neuen Steinhäuser auf der Südseite der Straße saß. Für Kerim war dies ein gewohnter Anblick, den er auch während seines Aufenthalts in der Stadt Imgalion hoch im Norden nicht hatte entbehren müssen. Der einzige Unterschied war, dass der Bettler hier in der üblichen Art der Inselleute gekleidet war. Er war der erste, den Kerim nach seiner Ankunft zu Gesicht bekam. Da er zur Linken seines Bruders ging, kam er nah an dem Mann vorbei, so dass dieser ihn ansprach. Zumindest glaubte Kerim das, als der Bettler murmelte: „Ein Almosen gegen das Verderben. Die Flut kommt.“

Kerim war nicht sicher, ob es wirklich das war, was er gehört zu haben glaubte. Er blieb stehen und wandte sich dem Bettler zu. „Was habt ihr gesagt?“

Der Bettler erhob nun leicht den Kopf. Die obere Hälfte seines Gesichts war zuvor durch das tief hinunter gezogene Kopftuch verborgen gewesen, doch nun erkannte Kerim zweierlei: Der Bettler war zwar schmutzig und ausgemergelt, doch noch recht jung. Die vermutliche Ursache für seinen erbärmlichen Zustand wurde nun sichtbar. Er war mit Blindheit geschlagen, allerdings wohl nicht von Geburt an. An der Stelle, wo seine Augen sein sollten, war grausig vernarbtes Gewebe zu sehen. Er sprach jetzt etwas deutlicher. "Bitte ein Almosen für einen dem Verderben anheim gefallenen Mann. Die Götter werden es euch danken.“

Kerim erwiderte nichts, sondern grübelte darüber nach, was der Bettler zuvor gesagt hatte. Mit Sicherheit hatte er seine Worte nicht genau wiederholt. Es schien fast unmöglich, dass jemanden seine Ohren so sehr täuschen konnten. In Gedanken versunken holte Kerim eher unbewusst seinen Geldbeutel aus seinem Gewand hervor. Überraschend schritt sein Bruder nun ein und griff nach seinem Arm. "Lass das sein, komm weiter." Er riss Kerim förmlich mit sich, als er, zwar nicht eilend, aber doch entschlossenen Schrittes, den Weg zum Basar fortsetzte. Bevor Kerim etwas sagen konnte, erklärte er: "Chulefan hat das Betteln innerhalb der Steinstadt verboten. Nicht nur die Bettler, auch diejenigen, die dort Almosen geben, werden bestraft."

Kerim ging einen Augenblick schweigend weiter, bevor er fragte: "Aber welchen Sinn soll dieses Gesetz haben? Man hat hier doch immer Almosen gegeben."

"Du weißt doch wie das ist. Fürst Chulefan folgt oft seinen Launen bei solchen Erlässen. Es lohnt sich nicht, nach dem Grund zu fragen. Aber wir sollten uns bei einem Gesetzesverstoß lieber nicht sehen lassen."

Kerim war verwundert. „Wer soll uns denn hier beobachten? Außerdem, was könnte denn schlimmstenfalls passieren?“ Die Angst seines Bruders wegen dieser Lappalie kam ihm geradezu lächerlich vor und passte gar nicht zu dessen Charakter.

„Vielleicht bist Du nicht ganz im Bilde, dass wir bei der Herrscherfamilie zur Zeit nicht besonders gut angesehen sind.“ Khamir schwieg einen Augenblick. Etwas schien in ihm zu arbeiten. Er fuhr fort: „Außerdem sollte man heute nicht mehr jede Art von Pack unterstützen. Die Zeiten haben sich geändert.“

Für Kerim hörte sich das wie eine lahme Ausrede an, um von dem wahren Grund abzulenken. Er hätte nie gedacht, seinen lebensfrohen Bruder einmal über den Verfall der Sitten nörgeln zu hören wie einen greisen Priester des Asal. Außerdem passte derartige Knauserigkeit nicht zu Kerims Bild von den Gebräuchen seiner Inselheimat. Er knüpfte an das vorherige Thema an. "Wie sehr mischen sich die Tenarsons in die Stadtpolitik ein?"

"Genug, um es nicht vor den Augen der Einheimischen verbergen zu können, wie du vielleicht an der stolzen neuen Erweiterung unseres Hafens sehen konntest."

"Soll das heißen, die Pavatras haben den Kai auf eigene Kosten gebaut?"

"Wusstest du das nicht? Wie sagt man bei euch oben in Urdland? Eine Hand wäscht die andere. Ein kleines Entgegenkommen für den Reichtum, den die Geschäfte der Tenarsons in die fürstlichen Schatzkammern strömen lassen."

Inzwischen hatten sie den Basar erreicht. Die Luft war hier, im Gedränge schwitzender Körper, noch stickiger als in der übrigen Stadt. Hinzu kamen die Angriffe der Fliegen und Bremsen, ein weiteres Erkennungszeichen der Städte im Süden, aber eines, das Kerim nicht unbedingt vermisst hatte. Das Ungeziefer verfolgte die Brüder schon seit Betreten des Hafens, doch hier im Gemisch verschiedenster, teils angenehmer, doch größtenteils abstoßender Gerüche, schien die wahre Heimat dieser Quälgeister zu sein.

Sie schlugen den Weg nach Norden zur Kanalbrücke ein, der sie über den nördlichen Teil des Basars führen würde. Der Markt, auf dem Lebensmittel, Stoffe, Haustiere und Dinge des täglichen Bedarfs verkauft wurden, zog sich in der Form eines Halbmonds um den südwestlichen Teil die Steinstadt und trennte diesen Kern Pavats somit von der Lehmstadt, der Ansammlung an Häusern und Hütten, aus denen sich die Außenbezirke zusammensetzten. Die unregelmäßige Front dieser gelblich-braunen Behausungen war über den bunten Baldachinen der Verkaufsstände zur Linken zu sehen. Als Kerim den Blick durch die Schatten darunter schweifen ließ, aus denen ein ständiges Stimmengewirr drang, stellte er nach einiger Zeit fest, dass sich auch im Warenangebot die neuen Zeiten bemerkbar machten. Zwischen den gewohnten Anblicken der Stände der Vogelhändler, die Grudars, Zamivus oder Orluri-Falken feilboten, preiste zumindest einer mit lauter Stimme exotische Tiere vom Festland an, hauptsächlich wohl Katzen und Hunde.

"Ich habe Dich noch gar nicht gefragt, ob du eine angenehme Reise hattest", fragte Khamir.

"Ich kann mich nicht beklagen. Das Wetter war sogar die meiste Zeit ausgezeichnet, und wir wurden von bösen Überraschungen verschont."

"Du meinst damit Seeräuber, nehme ich an?" Kerim nickte. Sein Bruder fuhr fort: "Jetzt, da der Schiffsverkehr nach Urdland durch die Handelsverbindungen immer mehr zunimmt, wäre ein Schiff wie unseres schon ein dicker Brocken für dieses Gesindel gewesen, hätten sie davon erfahren."

"Wir hatten Glück. Wir kamen der Inselgruppe ziemlich nah, auf der sie ihre meisten Stützpunkte haben. In Imgalion habe ich gehört, dass während des letzten Jahres fast ein Dutzend Schiffe auf diesem Seeweg verschwunden sind."

"Irgendwann wird eine von beiden Seiten Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Auf die Dauer kann es so nicht weitergehen. Übrigens haben wir hier in den südlichen Gewässern während deiner Abwesenheit ebenfalls Probleme mit verschwundenen Schiffen bekommen."

"Das wundert mich nicht. Es fahren ja auch viel mehr Schiffe zwischen den Inseln und dem Festland als früher, sogar hinunter bis Onsaria. Es ist fast schon seltsam, dass die Piraterie nicht viel früher angefangen hat."

"Halte mich nicht für verrückt, aber ich wäre fast froh, wenn sich herausstellen würde, dass wirklich nur Seeräuber dahinterstecken."

Kerim sah seinen Bruder verwundert an. "Das musst Du mir erklären."

"Nun ja, es hat vor kurzem böse Omen gegeben. Es sind nur Gerüchte, aber anscheinend hat Kedran Maresi mit dem Herrscher über bestimmte Zeichen gesprochen. Die Asal-Priester machen die Stadt verrückt mit ihren Andeutungen. Es gab keine Verlautbarung, jedenfalls noch nicht, aber offenbar hat Chulefan die Warnungen ernst genommen. Es gab eine Reihe merkwürdiger Erlässe, wie das Bettelverbot, von dem ich dir erzählt habe. So etwas geschieht doch meistens, wenn Kedran mal wieder schlecht geträumt hat."

"Du nimmst das also nicht wirklich ernst?"

"Für uns wäre es besser, wenn sich die Lage so schnell wie möglich entspannen würde, bevor der Handel davon beeinträchtigt wird. Du weißt ja, ich bin immer zuversichtlich in solchen Dingen. Daher hoffe ich, dass sich bald herausstellt, dass nichts Ernstes dahintersteckt."

Die Brüder gingen eine Weile schweigend weiter. Sie hatten jetzt den Basar verlassen und gingen auf die Kanalbrücke zu, hinter der die Altstadt lag. Nachdem sie die Brücke überquert hatten, nahmen sie das Gespräch wieder auf, plauderten aber nun über leichtere Themen. Sie gingen über den Tempelplatz in nördlicher Richtung, bogen an der zweiten Kreuzung nach links ab und dann wieder nach Norden. Als sie endlich an ihrem Haus angekommen waren, hatte Khamir seinen kleinen Bruder wieder auf den neuesten Stand gebracht, was das Geschehen in der Stadt Pavat betraf. Kerim redete wenig. Er nahm an, dass sein Bruder sich das Verhör über Kerims Erlebnisse in Urdland für die größere Runde zu Hause aufsparte, bei der der gesamte männliche Teil der Familie anwesend sein würde.

Tatsächlich hatten sich seine Verwandten bereits in der Eingangshalle und im Innenhof zum Empfang eingefunden. Sein Onkel Anduri kam ihm als Erster entgegen. Der grauhaarige kleine Mann war auch im Halbdunkel des Hauses unverwechselbar, weil sein Gesicht immer noch so glattrasiert war, wie Kerim es seit seiner Kindheit kannte. Der Bruder seines verstorbenen Vaters hatte es stets abgelehnt, einen Bart zu tragen, wie es für einen Mann seines Standes eigentlich üblich war. Er sah somit eher wie ein Hausdiener oder wie ein Fremder aus Terengan aus. Auch seine Kleidung war passend dazu von auffälliger Schlichtheit; auffällig wegen des Gegensatzes zu seinem selbstbewussten Auftreten, das keinen Zweifel daran ließ, dass er ein Herr und kein Diener war. Wie sein Bruder und dessen erstgeborener Sohn verfügte er über die Fähigkeit, einen Raum mit Menschen völlig zu beherrschen, wenn er dies wünschte. Trotz seines einnehmenden Charakters war er Kerim aber sonst immer als rücksichtsvoller und bescheidener Mann erschienen. Er selbst hatte von ihm die Angewohnheit der Bartlosigkeit übernommen, nicht aber die Gabe, Gespräche mit Leichtigkeit an sich zu reißen.

Anduri fragte nach dem Verlauf der Reise, Kerims Gesundheit und seinem sonstigen Befinden und schien im Allgemeinen vorerst noch nicht über geschäftliche Dinge sprechen zu wollen. „Du musst sehr erschöpft sein. Ich habe Sinaf angewiesen, ein Bad für dich vorzubereiten. Ich kann mir denken, dass du dich danach sehnst, den Schmutz der Seereise abwaschen.“

Kerim kam kaum zu Wort, weil seine Verwandten ihn der Reihe nach mit ihren Willkommensgrüßen und danach mit ihren Fragen bestürmten. Am erdrückendsten war die Umarmung seiner Mutter Kenola, der die Trauer über den Abwesenheit ihres Ehemannes während dieses Empfangs nicht anzusehen war. Während der kommenden Trauerfeier würde sich dies aber mit Sicherheit ändern.

Nachdem Kerim das Begrüßungsritual auch mit seiner Tante Mihrema, Anduris Frau, hinter sich gebracht hatte, trat er aus der schattigen Empfangshalle in den etwas helleren Innenhof. Wie bei allen größeren Häuser in Pavat war der Innenhof ein unverzichtbarer baulicher Bestandteil. Im Zusammenspiel mit den offenen Fenstern in der Südseite des Hauses wirkte er wie ein Kamin, der ständig frische Luft hereinsog und für damit für Kühlung sorgte. Im Erdgeschoss war der Hof von schattigen Arkaden umgeben, direkt darüber im ersten Stock befanden sich auf drei Seiten Galerien, über die man die Gemächer erreichen konnte. Auf die mittlere Galerie führte eine breite Treppe, der Kerim nun gegenüberstand.

Vor der Treppe hatten sich seine übrigen weiblichen Verwandten aufgestellt: Ayanla, Khamirs Frau, und Sheza, die Tochter Anduris und Mihremas. Auf das Wiedersehen mit Sheza hatte sich Kerim am meisten gefreut. Mit ihrer lebhaften und aufgeweckten Wesensart hatte sie Kerim seit ihrer Geburt für sich eingenommen. Obwohl er sich hütete, dies jemals laut zu sagen, hatte er Sheza gegenüber Khamir immer als Spielkameradin vorgezogen. Sie waren noch zusammen durch das Haus getobt, als Kerim eigentlich schon zu alt für derart wilde Spiele war. So oft es ging, und das war selten genug, schlichen sie sich zusammen aus dem Haus und erkundeten die Stadt. In den letzten Jahren war ein weiterer Spielgefährte hinzugekommen, der Sheza nie von der Seite wich: ein kleines Kropona-Äffchen, das ihr Anduri zu ihrem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Das Haustier musste Sheza bald öfter trösten, weil Kerim nun tatsächlich begann, sich für zu erwachsen für ihre früheren Spiele zu halten. Der Hauptgrund für das allmähliche Lösen ihrer einst so engen Beziehung war jedoch ein anderer: Kerim hatte eine andere Person getroffen, mit der er nun seine meiste Zeit verbrachte. Dennoch waren Sheza und Kerim bis zu seiner Abreise immer noch vertrauter miteinander als mit allen anderen Familienmitgliedern. Sie vertrauten sich ihre Geheimnissee an und mussten nur einen Blick austauschen, um ihre Gedanken zu erraten. Kerim wollte Sheza gerade als Erste umarmen, um herauszufinden, wie sehr sich das Mädchen während seiner Abwesenheit verändert hatte, als sein Blick auf den kugelrunden Bauch seiner Schwägerin Ayanla fiel.

Nach einem Augenblick der Verblüffung wandte er sich zu seinem Bruder um. „Khamir, du Mistkerl...“ Der Angesprochene lachte ihn still an. Die Umstehenden taten es ihm daraufhin gleich. "Du hast es also nicht für nötig gehalten, dieses Thema einmal kurz zu erwähnen?“ frage Kerim mit gespielter Wut.

„Deinen Gesichtsausdruck wollte ich mir einfach nicht entgehen lassen, kleiner Bruder und demnächst Onkel.“

Kerim wandte sich wieder den jungen Frauen zu. „Nun ja, die Überraschung ist dir gelungen. Gut zu wissen, dass du in der Beziehung immer noch der Alte bist.“

Nun konnte sich auch Kerim ein Grinsen nicht mehr verkneifen. „Meinen Glückwunsch, Schwägerin“, sagte er, als er mit ausgebreiteten Armen auf Ayanla zuging.

„Ich danke dir, Kerim“, antwortete sie, „und herzlich willkommen. Wir haben dich wirklich vermisst. Nimm meinem Mann diesen Streich nicht übel“ sagte sie, wobei sie kurz einen nicht ganz ernst gemeinten vorwurfsvollen Blick in Khamirs Richtung warf. „Er ist sehr stolz darauf, jetzt endlich ein Erben zu bekommen.“

Kerim erinnerte sich an das Ereignis, auf das sie anspielte. Es war nicht ihre erste Schwangerschaft. Schon vor seiner Abreise hatte sie ein Kind geboren, das aber kurz nach der Geburt im Kindbett gestorben war. Solche frühen Tode waren zwar im allgemeinen keine Seltenheit, selbst bei der sehr guten ärztlichen Versorgung, die sich die wohlhabenden Familien leisten konnten, doch warf es damals einen Schatten auf die bevorstehende Unternehmung. Es wurde als schlechtes Omen für die Fahrt und die Verhandlungen in Urdland angesehen. Auch wenn dies kaum jemand offen aussprach, musste man kein Gedankenleser sein, um zu wissen, was damals in den Köpfen seiner Verwandten vorging.

Dabei fiel Kerim jetzt ein, dass man das tragische Ereignis im Nachhinein tatsächlich als schlechtes Vorzeichen deuten konnte. Immerhin war das Familienoberhaupt der Helessans fern der Heimat gestorben, in einem Land voller fremder Barbaren. Sollte sich diese Kette von Unglücksfällen vielleicht noch fortsetzen? Hatten sie womöglich alle einen völlig falschen Weg eingeschlagen?

Eine helle Stimme riss ihn aus dem düsteren Gedankengang, der ihn gegen seinen Willen heimgesucht hatte.

„Ich glaube, du hast sie lange genug umarmt, kleiner Mann.“ Shezas Stimme vollbrachte das kleine Wunder, ihn sofort wieder in eine fröhliche Stimmung zu versetzen. Er war froh, dass durch die Umarmung niemand seine plötzlich ernste Miene bemerkt hatte. Fast ein wenig zu heftig löste er sich von Ayanla, um sich dem Mädchen zuzuwenden, das nunmehr schon eine junge Frau war, wie er bemerkte.

„Aber, aber, Sheza“, erwiderte er, als er ihr lächelnd gegenüberstand, „mit mir bist Du immer noch nicht auf Augenhöhe, obwohl du aufgeholt hast.“

Tatsächlich war Sheza während der zwei Jahre gewachsen. Zudem hatte ihre Schönheit mit dem Erblühen zur Frau noch zugenommen. Sie trug ihre Haare jetzt etwas länger. Aber noch etwas anderes fiel ihm auf. Ein ernster, oder vielleicht sogar trauriger Gesichtszug stahl sich zwischen ihr Lächeln.

„Ich habe dafür aber noch Zeit“, sagte Sheza, „du siehst aber so aus, als ob Du während der Reise noch geschrumpft wärest.“

Als sich Kerim aus ihrer Umarmung gelöst hatte, fragte er: „Wo ist denn dein Begleiter, der kleine Kneifer?“

„Ach, der ist vor ein paar Monaten gestorben.“ Nun setzte sie einen eindeutig betrübten Gesichtsausdruck auf.

„Das tut mir sehr leid. Vielleicht schenkt dir Onkel Anduri einen anderen?"

„Ach, ich weiß gar nicht, ob ich noch mal ein Haustier haben möchte“, erwiderte Sheza, während sie düster ins Leere starrte.

Kerim wunderte sich. Sie hatte ihren Affen zwar sehr geliebt, doch dass ihr der Verlust noch nach Monaten so nahe gehen würde, hätte er nicht gedacht.

Irgendwann rang sie sich jedoch wieder ein Lächeln ab, und sie scherzten noch ein wenig miteinander, bis sich Kerim wieder seinem Onkel zuwandte. „Du hattest etwas von einem Bad erwähnt, Anduri?“

Sein Onkel lachte. „Ich hoffe, dass es nicht schon kalt ist. Lass Dich nicht aufhalten. Wir erwarten Dich dann wieder zum Abendessen in einer Stunde.“ Dies war das Zeichen für die Familienmitglieder, die Versammlung aufzulösen.

Kerim verbrachte lange Zeit im Bad, das er überaus genoss. Er schaffte es, die düsteren Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen und sich stattdessen der angenehmen Leere des Halbschlafs zu ergeben.

Als er das Bad verließ, begab er sich in den ersten Stock, wo sein Zimmer lag. Es war ein schmaler Raum auf der Nordseite der Galerie in der Nähe des Zimmers seines verstorbenen Vaters.