Die Tyrannei der Minderheit - Steven Levitsky - E-Book

Die Tyrannei der Minderheit E-Book

Steven Levitsky

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Beschreibung

Wir müssen die Demokratie reformieren, bevor sie sich selbst abschafft

Wie kann es uns gelingen, die Demokratie vor radikalen Minderheiten zu schützen, die sie von innen untergraben, destabilisieren und sogar zu zerstören drohen? Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, Autoren des Weltbestsellers »Wie Demokratien sterben«, zeigen am Beispiel der USA, wie die Kräfte entstehen, die unsere demokratischen Prinzipien in ihren Grundfesten erschüttern und autoritären Strömungen den Weg ebnen. Sie beschreiben das große Paradox westlicher Demokratien: dass nämlich Inklusivität und Diversität oft gerade ausgrenzende Gegenbewegungen erzeugen. So wird deutlich: Die Demokratie steht an einem Scheideweg und muss jetzt reformiert werden, wenn sie nicht zu einer Herrschaft der Minderheit verkommen soll. Die Zukunft der Demokratie steht nicht nur bei den US-Wahlen 2024, sondern – angesichts des Aufstiegs der AfD und anderer rechtspopulistischer Parteien – auch in Deutschland, Europa und dem Rest der Welt auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 458

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Der New-York-Times-Bestseller

Wie können wir die Demokratie vor radikalen Minderheiten schützen, die sie von innen bedrohen? Die beiden Bestsellerautoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt ermöglichen uns ein besseres Verständnis der gefährlichen Zeiten, in denen wir leben: An zahlreichen Beispielen erklären sie, warum sich politische Parteien gegen die Demokratie wenden und wie wir die Anzeichen dafür erkennen. In ihrer pointierten Analyse warnen Levitsky und Ziblatt insbesondere vor den Radikalisierungen von rechts, die das politische System der USA gefährden. Sie zeigen, wie dort und anderswo die Kräfte entstehen, die demokratische Prinzipien erschüttern und autoritären Strömungen den Weg ebnen, und sie machen deutlich: Weltweit sind Demokratien unter Druck geraten. Um sie zu retten, müssen wir sie reformieren – bevor es zu spät ist.

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt sind Professoren für Regierungslehre an der Harvard-Universität. Steven Levitskys Forschungsschwerpunkte sind politische Parteien, Demokratien und Autokratien sowie die Rolle von informellen Institutionen, vor allem in Südamerika. Daniel Ziblatt forscht hauptsächlich zu Demokratie und Autoritarismus in Europa. Seit Oktober 2020 ist er Direktor der Abteilung Transformationen der Demokratie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WBZ). Forschung und Lehre beider Autoren sind preisgekrönt, als Experten auf ihren Forschungsgebieten haben sie mehrere Bücher und zahlreiche Fachartikel verfasst. Ihr gemeinsames Buch »Wie Demokratien sterben« (DVA, 2018) wurde in Deutschland zum besten Sachbuch des Jahres gewählt und in zahlreichen Ländern zum Bestseller.

»Steven Levitsky und Daniel Ziblatt weisen in ihrem eindringlichen, aufrüttelnden neuen Buch darauf hin, dass alte und reiche Demokratien dazu neigen, sich zu halten – die amerikanische Demokratie jedoch, die sowohl alt als auch reich ist, liegt im Sterben. In ›Tyrannei der Minderheit‹ erklären sie, warum, und sie erklären auch, wie man sie retten kann.« Jill Lepore

»Unter den reichen Demokratien ist Amerika in einzigartiger Weise anfällig für Autoritarismus. In ihrem neuen Buch erklären Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, warum das so ist und wie wir es ändern können. Genau wie ihr vorheriges Werk ist auch dieses Buch prägnant, lesbar und überzeugend.«

Anne Applebaum

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Steven Levitsky & Daniel Ziblatt

Die Tyrannei der Minderheit

Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Tyranny of the Minority: How to Reverse an Authoritarian Turn and Forge a Democracy for All bei Crown.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Steven Levitsky and Daniel Ziblatt

Copyright © 2024 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Zitat auf S. 7: »The Hill We Climb« Copyright © 2021 by Amanda Gorman. Used by permission of the author.

Deutsche Übersetzung von Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker, Uda Strätling © 2021 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg.

Redaktion: Jonas Wegerer

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29697-1V001

www.dva.de

In memoriamJill Kneerim und David Ziblatt

Irgendwie, gelitten und gelebt.Eine Nation die nicht zerbrochen ist,nur unvollendet.

Amanda Gorman, The Hill We Climb

Inhalt

Einleitung

Die ANGST, zu verlieren

Die Banalität des Autoritarismus

Das war bei uns doch möglich

Warum die republikanische Partei die Demokratie aufgab

Gezügelte Mehrheiten

Minderheitsherrschaft

Sonderfall Amerika

Die Demokratie demokratisieren

Dank

Anmerkungen

Register

Einleitung

Am 5. Januar 2021 geschah in Georgia Ungewöhnliches. In einem Staat, in dem die Politik lange Zeit von weißer Vorherrschaft geprägt war, gingen so viele Menschen wie noch nie zur Wahl, um den ersten afroamerikanischen und den ersten jüdischen Senator ihres Staats zu wählen. Ersterer, Reverend Raphael Warnock, war erst der zweite Schwarze, der in den Südstaaten seit der Reconstruction (der Wiedereingliederung der 1860/61 aus den USA ausgetretenen Staaten) in den US-Senat gewählt wurde, in den er nun dem Republikaner Tim Scott aus South Carolina folgte. Am Wahlabend stellte er Anhängern seine Mutter, eine frühere Kleinpächterin, mit den Worten vor: »Die 82-jährigen Hände, die es gewohnt waren, die Baumwolle von anderen zu pflücken, haben ihren jüngsten Sohn zum Senator der Vereinigten Staaten gemacht.«[1] Viele sahen eine bessere, demokratischere Zukunft heraufdämmern. »Es entsteht ein neuer Süden«, erklärte LaTosha Brown, Mitgründerin von Black Voters Matter. »Er ist jünger, diverser (…) und inklusiver.«[2] Es war die demokratische Zukunft, für die Generationen von Bürgerrechtsaktivisten gekämpft hatten.

Am nächsten Tag, dem 6. Januar, erlebten die Amerikaner etwas scheinbar Unvorstellbares: einen von ihrem Präsidenten angezettelten gewalttätigen Aufstand. Vier Jahre des Niedergangs der Demokratie waren in einen versuchten Staatsstreich gemündet. Die Angst, Verwirrung und Empörung, die viele Amerikaner empfanden, während sie die Ereignisse verfolgten, entsprachen den Gefühlen, die Menschen in anderen Ländern ausgedrückt hatten, als deren Demokratien sich auflösten. Was sie gerade miterlebt hatten – die Zunahme politisch motivierter Gewalt, die Bedrohung von Wahlhelfern, die Anstrengungen, den Menschen das Wählen zu erschweren, der Versuch des Präsidenten, die Wahlergebnisse umzustürzen –, stellte einen demokratischen Rückschritt dar. Die amerikanische Republik war zwischen 2016 und 2021 nicht zusammengebrochen, aber sie war unbestreitbar weniger demokratisch geworden.

Am 5./6. Januar 2021 wurden innerhalb von 24 Stunden erst das Versprechen der amerikanischen Demokratie und dann die Gefahr, in der sie schwebt, allen lebendig vor Augen geführt: Dem Aufscheinen einer multiethnischen demokratischen Zukunft war ein nahezu undenkbarer Angriff auf das Verfassungssystem der Vereinigten Staaten gefolgt.

Eine multiethnische Demokratie* ist schwer zu erreichen. Nur wenigen Gesellschaften ist es gelungen.[3] Sie ist ein politisches System mit regulären, freien und fairen Wahlen, in denen erwachsene Staatsbürger aller ethnischen Gruppen sowohl das Wahlrecht als auch grundlegende bürgerliche Freiheiten besitzen, wie die Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Es reicht nicht aus, dass diese Freiheiten auf dem Papier existieren: Die Angehörigen jeder ethnischen Herkunft müssen von Gesetzes wegen in gleicher Weise unter dem Schutz der demokratischen und bürgerlichen Rechte stehen. Das Bürgerrechtsgesetz von 1964 und das Wahlrechtsgesetz von 1965 schufen das rechtliche Fundament einer multiethnischen Demokratie in Amerika. Dennoch haben wir sie bis heute nicht erreicht.

So ist beispielsweise der Zugang zur Wahl weiterhin ungleich.[4] Laut einer Umfrage des Public Religion Research Institute (PRRI) von 2018 ist die Wahrscheinlichkeit, dass Afroamerikanern und Latinos gesagt wird, ihnen fehle die nötige Identifikation, um wählen zu können, dreimal so hoch wie für Weiße, und die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen – fälschlicherweise – mitgeteilt wird, ihre Namen stünden nicht in der Wählerliste, ist zweimal so hoch.[5] Gesetze, die Vorbestraften das Wahlrecht entziehen, betreffen unverhältnismäßig viele Afroamerikaner. Und nichtweiße Staatsbürger werden immer noch nicht in gleicher Weise wie Weiße vom Gesetz geschützt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Schwarze von der Polizei getötet werden, ist doppelt so hoch wie die entsprechende Gefahr für Weiße – obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass Schwarze Polizeiopfer bewaffnet sind, nur halb so groß ist wie bei Weißen –; Schwarze werden häufiger als Weiße von der Polizei angehalten und durchsucht; und sie werden bei ähnlichen Straftaten häufiger festgenommen und verurteilt – und dies mit längeren Haftstrafen.[6] Wer bezweifelt, dass Schwarze Staatsbürger nicht die gleiche Versammlungsfreiheit besitzen wie weiße, mache den Kyle-Rittenhouse-Test: Könnte ein junger Schwarzer mit einem halbautomatischen Gewehr Staatsgrenzen überqueren, sich von der Polizei unbehelligt einer Demonstration nähern, in die Menge schießen, zwei Menschen töten – und ungeschoren davonkommen?[7]

Aber auch wenn Amerika noch keine wahre multiethnische Demokratie ist, ist es dabei, eine zu werden. In dem halben Jahrhundert zwischen der Verabschiedung des Wahlrechtsgesetzes und Donald Trumps Wahl zum Präsidenten hat sich die amerikanische Gesellschaft tiefgreifend verändert. Eine massive Einwanderungswelle formte eine zuvor überwiegend weiße, christliche Gesellschaft in eine diverse, multiethnische um.[8] Gleichzeitig weichte die wachsende politische, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Macht nichtweißer Amerikaner seit Langem bestehende Hierarchien in Bezug auf Race auf – und begann sie einzuebnen.[9] Umfragen zeigen, dass zum ersten Mal in der US-Geschichte eine Mehrheit der Amerikaner ethnische Diversität und Gleichbehandlung (ohne Unterscheidung aufgrund von Race) – die beiden Grundpfeiler der multiethnischen Demokratie – gutheißt.[10] 2016 befand sich Amerika an der Schwelle zu einer echten solchen Demokratie – die der Welt als Vorbild einer diversen Gesellschaft hätte dienen können.

Aber gerade als dieses neue demokratische Experiment Fuß zu fassen begann, erlebte Amerika einen autoritären Rückschlag von solchem Ausmaß, dass die Fundamente der Republik erschüttert wurden und die amerikanischen Verbündeten in aller Welt sich besorgt fragten, ob das Land überhaupt noch eine demokratische Zukunft habe. Bedeutende Schritte demokratischer Inklusion rufen häufig heftige – und sogar autoritäre – Reaktionen hervor. Aber der Angriff auf die amerikanische Demokratie übertraf alles, was wir uns 2017, als wir unser erstes Buch – Wie Demokratien sterben – schrieben, vorstellen konnten.[11] Wir untersuchten gewaltsame Aufstände und Versuche der Wahlanfechtung überall auf der Welt, von Frankreich und Spanien über die Ukraine und Russland bis zu den Philippinen, Peru und Venezuela. Aber wir dachten nicht im Traum daran, dass so etwas bei uns geschehen könnte. Genauso wenig kam es uns in den Sinn, dass eine der beiden großen Parteien der Vereinigten Staaten sich im 21. Jahrhundert von der Demokratie abwenden könnte.

Das Ausmaß des demokratischen Rückschritts war atemberaubend. Organisationen, die den Gesundheitszustand von Demokratien in aller Welt zahlenmäßig erfassen, haben ihn bewertet. So gibt Freedom House in seinem globalen Freiheitsindex Ländern jedes Jahr Punkte von 0 bis 100, wobei 100 die demokratische Höchstnote darstellt. 2015 erhielten die Vereinigten Staaten 90 Punkte, was etwa der Bewertung von Ländern wie Kanada, Italien, Frankreich, Deutschland, Japan, Spanien und Großbritannien entsprach. Danach sank der Wert stetig bis auf 83 im Jahr 2021. Damit lag Amerika nicht nur hinter sämtlichen etablierten Demokratien Westeuropas, sondern auch hinter neuen oder historisch schwierigen Demokratien wie Argentinien, Tschechien, Litauen und Taiwan.

Dies war eine außerordentliche Wende. Nach so gut wie jeder großen wissenschaftlichen Darstellung dessen, was Demokratien gedeihen lässt, hätten die Vereinigten Staaten gegen Rückschläge immun sein müssen. Wissenschaftler haben in Bezug auf moderne politische Systeme zwei Quasigesetze gefunden: Reiche Demokratien sterben nicht, und alte Demokratien sterben nicht. Die Politologen Adam Przeworski und Fernando Limongi haben in einer Untersuchung festgestellt, dass keine Demokratie, die reicher war als Argentinien im Jahr 1976 – das ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von, nach heutigem Wert, 16 000 Dollar pro Kopf hatte –, jemals zusammengebrochen ist.[12] Danach ist jedoch die Demokratie in Ungarn – mit einem Pro-Kopf-BIP von 18 000 Dollar (nach heutigem Wert) – erodiert. Das Pro-Kopf-BIP der Vereinigten Staaten betrug 2020 rund 63 000 Dollar – fast viermal so viel wie dasjenige des reichsten Landes, das jemals einen demokratischen Zusammenbruch erlebt hatte. Ganz ähnlich war noch nie eine über 50-jährige Demokratie zusammengebrochen, und selbst wenn man den Zeitpunkt der Verabschiedung des Wahlrechtsgesetzes im Jahr 1965 als den Augenblick der Demokratisierung der Vereinigten Staaten betrachtet – immerhin wurde damals das allgemeine Wahlrecht für Erwachsene eingeführt –, war unsere Demokratie über fünfzig, als Trump Präsident wurde. Geschichte und jahrzehntelange sozialwissenschaftliche Forschung hatten uns also gleichermaßen versichert, dass die amerikanische Demokratie sicher sein sollte. Und doch war sie es nicht.

Amerika steht mit seiner wachsenden Diversität natürlich nicht allein da, noch erlebt es als einziges Land eine rechtsextremistische Reaktion auf diesen demografischen Wandel. Die Zahl von im Ausland geborenen Einwohnern ist in den meisten der ältesten demokratischen Länder der Welt gestiegen, insbesondere in Westeuropa. Immigranten und ihre Kinder stellen heute ein wachsendes Segment selbst von einst homogenen Gesellschaften wie der norwegischen, schwedischen und deutschen. Städte wie Amsterdam, Berlin, Paris und Zürich sehen fast so divers aus wie amerikanische Großstädte. Und die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 brachte Millionen nordafrikanischer und nahöstlicher Neuankömmlinge nach Europa, was Einwanderung und ethnische Diversität zu politischen Themen von großer Sprengkraft machte.[13] Zusammen mit den Nachwirkungen der Finanzkrise von 2008 löste diese Veränderung einen radikalen Rückschlag aus.[14] In fast jedem europäischen Land sind zwischen 10 und 30 Prozent der Wähler – insbesondere weiße, weniger gebildete, die in absteigenden Regionen und außerhalb der städtischen Zentren leben – für fremdenfeindliche Appelle empfänglich.[15] Und von Großbritannien und Frankreich über Italien und Deutschland bis nach Schweden haben diese Wähler rechtsextremen Parteien und Bewegungen Wahlerfolge beschert.

Doch Amerika hob sich in zweierlei Hinsicht ab. Zum einen war dort die Reaktion auf die zunehmende Diversität ungewöhnlich autoritär. In Westeuropa hat der Aufstieg fremdenfeindlicher und gegen das Establishment gerichteter Parteien selten solch antidemokratische Formen angenommen wie in den Vereinigten Staaten. Viele Einstellungen der westeuropäischen rechtsextremen Parteien gaben Anlass zur Sorge, wie ihr Rassismus, ihre Fremdenfeindlichkeit, ihre Missachtung von Minderheitenrechten und in manchen Fällen ihre Sympathie für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Aber bisher haben sie alle nach demokratischen Regeln gespielt, Wahlergebnisse akzeptiert und politische Gewalt vermieden. Zum anderen gelangten in den Vereinigten Staaten extremistische Kräfte an die Macht, während sie in Europa entweder in der Opposition sind oder – in manchen Fällen – Koalitionsregierungen angehören.

Wir müssen uns also einer unangenehmen Tatsache stellen: Gesellschaftliche Diversität, kulturelle Gegenbewegungen und rechtsextreme Parteien sind in allen westlichen Demokratien vorhanden, aber nur in Amerika konnte eine solche Partei die Kontrolle über die nationale Regierung gewinnen und die demokratischen Institutionen angreifen. Warum trat Amerika als einzige unter den westlichen Demokratien an den Abgrund? Diese Frage sollte uns seit dem 5./6. Januar 2021 verfolgen.

Man ist versucht, die Trump-Ära abzuhaken. Immerhin ist Präsident Trump nicht wiedergewählt worden, und seine Versuche, das Ergebnis der verlorenen Wahl anzufechten, sind gescheitert. In den Zwischenwahlen zum Kongress von 2022 wurden in wichtigen Swingstaaten zudem die gefährlichsten Wahlleugner besiegt. Es hat den Anschein, als wären wir der Kugel ausgewichen – als hätte das System letzten Endes funktioniert. Und als müssten wir uns, da Trumps Einfluss auf die Republikanische Partei nachlässt, nicht mehr so viele Sorgen über das Schicksal unserer Demokratie machen. Vielleicht war die Krise gar nicht so schlimm, wie wir anfangs fürchteten. Vielleicht war die Demokratie gar nicht dabei, zugrunde zu gehen.

Dieser Gedanke ist verständlich. Für diejenigen, die von den nicht enden wollenden Krisen der Trump-Ära genug hatten, war die Theorie der einzelnen Kugel (der man ausgewichen war) beruhigend. Leider ist sie irreführend. Die Gefahr für die amerikanische Demokratie ging nie nur von einem »starken« Mann mit sektenartiger Gefolgschaft aus. Die Probleme reichen darüber hinaus. Tatsächlich sind sie tief in unserer Politik verwurzelt. Solange wir diese tiefgreifenden Probleme nicht anpacken, bleibt unsere Demokratie verwundbar.

Um Amerikas demokratischen Rückschlag völlig umzukehren – und, was entscheidend ist, einen neuen zu verhindern –, müssen wir seine Ursachen erkennen. Welche Kräfte bringen eine etablierte Partei dazu, sich von der Demokratie abzuwenden? Dies geschieht nicht oft, aber wenn es passiert, kann es selbst ein gut eingeführtes politisches System zerstören. Die Erfahrungen anderer Länder, aber auch Episoden aus der eigenen Geschichte – wie die autoritäre Reaktion der Demokratischen Partei der Südstaaten auf die Reconstruction nach dem Bürgerkrieg – können uns eine Lehre sein.

Außerdem müssen wir erkennen, warum Amerika für einen demokratischen Rückschlag derart anfällig war. Diese Frage zwingt uns, die Hauptinstitutionen unserer Demokratie genauer unter die Lupe zu nehmen. Reaktionäre Wähler sind in den Vereinigten Staaten ebenso in der Minderheit wie in Europa. Dies ist ein wichtiger – und häufig übersehener – Punkt. Die Republikanische Partei hat unter Trump, wie rechtsextreme Bewegungen in europäischen Ländern, stets nur eine politische Minderheit repräsentiert. Aber im Gegensatz zu den rechtsextremen Parteien in Europa gelang es ihr, die nationale Regierung zu stellen.

Dies führt uns zu einer anderen beunruhigenden Wahrheit. Das Problem, mit dem wir es heute zu tun haben, ist zum Teil in etwas begründet, das viele von uns verehren: in unserer Verfassung. Die Vereinigten Staaten besitzen die älteste geschriebene Verfassung der Welt. Als brillantes Werk politischer Handwerkskunst bildet sie das Fundament von Stabilität und Prosperität und hat über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg die Macht allzu ehrgeiziger Präsidenten in Schach gehalten. Aber ihre Mängel gefährden heute unsere Demokratie.[16]

Als Produkt einer vordemokratischen Zeit erlaubt es die US-Verfassung parteilichen Minderheiten, die Mehrheit zu behindern und manchmal sogar zu regieren. Institutionen, die solche Minderheiten ermächtigen, können zu Instrumenten der Minderheitsherrschaft werden. Und besonders gefährlich sind sie in den Händen von extremistischen oder antidemokratischen Minderheiten.

Bekannte Denker des 18. und 19. Jahrhunderts, von Edmund Burke über John Adams und John Stuart Mill bis zu Alexis de Tocqueville, befürchteten, dass die Demokratie zur »Tyrannei der Mehrheit« werden könnte – dass sie es der Mehrheit erlauben würde, auf den Rechten der wenigen herumzutrampeln. Dies kann ein echtes Problem sein: Im 21. Jahrhundert haben regierende Mehrheiten in Venezuela und Ungarn die Demokratie untergraben, und in Israel besteht die Gefahr, dass sie es tun. Aber das politische System der Vereinigten Staaten hat die Macht von Mehrheiten stets in Schranken gehalten. Die amerikanische Demokratie steht eher vor dem entgegengesetzten Problem: Wählermehrheiten können häufig nicht die Macht gewinnen, und wenn sie es tun, können sie häufig nicht regieren. Heute besteht die akute Gefahr in der Herrschaft einer Minderheit. Während die Gründer der Vereinigten Staaten die Republik vor der Scylla der Mehrheitstyrannei bewahrten, haben sie die Charybdis der Minderheitsherrschaft außer Acht gelassen.

Warum tauchen die Gefahren für die amerikanische Demokratie jetzt auf, im frühen 21. Jahrhundert? Immerhin ist die Verfassung Jahrhunderte alt. Nachzuvollziehen, wie wir an diesen Punkt gelangt sind, ist ein Hauptanliegen dieses Buchs. Die drängendere Frage ist jedoch, wie man ihn überwinden kann. Eins ist klar: Unsere Institutionen werden unsere Demokratie nicht retten. Wir werden sie selbst retten müssen.

* Anmerkung zur deutschen Übersetzung: Die Autoren verwenden den Begriff »multiracial democracy« und schreiben dazu in einer Anmerkung: »Korrekter wäre der Begriff ›multiethnische Demokratie‹, da er nicht nur verschiedene Races umfasst, sondern auch ethnische Gruppen, die nicht ›rassisch‹ bestimmt sind (wie Latinos und Juden). Aber wegen der zentralen Bedeutung, die der Race in den Vereinigten Staaten historisch beigemessen wird, und da der Begriff der ›multiracial democracy‹ in der amerikanischen öffentlichen Debatte gebräuchlicher ist, verwenden wir diesen.«

Da im Deutschen der Begriff »Rasse« nicht wie im englischen Sprachgebrauch eine politisch soziale Kategorie meint, sondern biologisch konnotiert ist, wird hier weitestgehend auf ihn verzichtet und das englische »Race« an seine Stelle gesetzt. Feststehende Begriffe wie »Rassentrennung«, »Rassenhierarchie« usw. werden der besseren Lesbarkeit wegen beibehalten. Die »multiracial democracy« wird durchgängig mit »multiethnische Demokratie« übersetzt. »Schwarz« wird wie im Original großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich hierbei um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt, um eine bestimmte Art und Weise der Wahrnehmung.

Die ANGST, zu verlieren

Als am Abend des 30. Oktober 1983 nach der ersten demokratischen Wahl in Argentinien seit zehn Jahren die Stimmen ausgezählt wurden, standen die Peronisten, die sich in ihrem Wahlkampfzentrum in Buenos Aires zusammengefunden hatten, unter Schock.[1] »Wann kommen die Stimmen aus dem Industriegürtel herein?«, fragten führende Parteigenossen nervös. Aber diese Stimmen waren schon hereingekommen. Die Peronisten – die argentinische Partei der Arbeiterklasse – hatten zum ersten Mal überhaupt eine freie Wahl verloren.

»Wir hatten es nicht kommen sehen«, erinnert sich Mario Wainfeld, damals ein junger Anwalt und peronistischer Aktivist.[2] Seit der ehemalige Offizier Juan Perón 1946 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt worden war, waren die Peronisten die beherrschende Partei Argentiniens. Unter Perón, einem begnadeten Populisten, war der argentinische Sozialstaat aufgebaut worden, und die Arbeiterbewegung hatte sich auf das Vierfache vergrößert, was Perón die tiefe Loyalität der Arbeiterklasse einbrachte, die ihm sogar ergeben blieb, nachdem er 1955 durch einen Militärputsch gestürzt worden und für 18 Jahre außer Landes gegangen war. Obwohl der Peronismus für den größten Teil der nächsten 20 Jahre verboten war, überlebte er nicht nur, sondern blieb an den Wahlurnen eine mächtige Kraft: Die Peronisten gewannen jede Wahl, an der sie teilnehmen durften. Und als der alternde Perón 1973 nach Argentinien zurückkehren und sich um das Amt des Präsidenten bewerben durfte, erzielte er mit 62 Prozent der Stimmen einen ungefährdeten Sieg. Er starb ein Jahr später, und 1976 fiel das Land erneut einem Staatsstreich zum Opfer, auf den eine siebenjährige Militärdiktatur folgte.

Als 1983 die Demokratie wiedereingeführt wurde, erwartete so gut wie jeder, dass der peronistische Kandidat, Ítalo Lúder, gewinnen würde. Doch Argentinien hatte sich verändert. Perón war nicht mehr da, der Niedergang der Industrie hatte Hunderttausende von Arbeitsplätzen gekostet und die peronistische Arbeiterklassenbasis verkleinert. Gleichzeitig fühlten sich jüngere Wähler und solche aus der Mittelschicht von der alten Garde der peronistischen Gewerkschaftsführer zurückgestoßen. Als Argentinien die brutale Militärdiktatur hinter sich ließ, zogen die meisten von ihnen Raúl Alfonsín vor, den menschenrechtsorientierten Kandidaten der konkurrierenden Unión Cívica Radical (UCR). Die peronistische Führung hatte den Kontakt zu den Wählern verloren und verschlimmerte ihre Lage noch, indem sie kriminelle und weltfremde Kandidaten aufstellte. So war der Kandidat für den Gouverneursposten in der überaus wichtigen Provinz Buenos Aires, Herminio Iglesias, für seine Schießereien mit rivalisierenden peronistischen Fraktionen in den gewalttätigen 1970er-Jahren berühmt. Bei der letzten Wahlkampfkundgebung der Peronisten zwei Tage vor der Wahl steckte Iglesias – live vom Fernsehen übertragen – mitten auf der Bühne einen Trauerkranz in Brand, der an einem Sarg mit Alfonsíns Namen hing. Diesen kruden Auftritt fanden die meisten Argentinier, die gerade ein Jahrzehnt voller schrecklicher Repressionen hinter sich hatten, abstoßend.

Als die ersten Wahlergebnisse Alfonsín vorn sahen, verfielen die führenden Peronisten in ihrer verzweifelten Suche nach einer Erklärung vorübergehend darauf, die Niederlage zu leugnen. »Die Stimmen aus La Matanza [einer peronistischen Hochburg mit Arbeiterklassenbevölkerung im Ballungsraum von Buenos Aires] sind noch nicht ausgezählt«, erklärte Parteiboss Lorenzo Miguel.[3] Der peronistische Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten, Deolindo Bittel, warf den Wahlbehörden sogar vor, die Resultate aus Arbeitervierteln zurückzuhalten.[4] Um Mitternacht war jedoch klar, dass es keine weiteren Stimmen mehr gab. Die Peronisten haben ein Schlagwort: »Die einzige Wahrheit ist die Realität«, und die Realität war, dass sie die Wahl verloren hatten.

Die Niederlage war schwer zu verdauen. Führende Peronisten verbargen sich zunächst vor der Öffentlichkeit, um ihre Wunden zu lecken.[5] Aber keiner von ihnen dachte daran, das Wahlergebnis anzufechten.[6] Am nächsten Tag nahm der unterlegene peronistische Kandidat, Lúder, an einer Pressekonferenz des gewählten Präsidenten, Alfonsín, teil und gratulierte ihm zum Sieg. Auf die Frage eines Reporters nach der historischen Niederlage der Peronisten antwortete Lúder: »Alle Politiker müssen mit der Tatsache zurechtkommen, dass Wahlen (…) unerwartete Resultate haben können.«[7]

Nach der Wahl brach unter den Peronisten ein heftiger Streit über die Zukunft der Partei aus. Eine neue, als Renovación (Erneuerung) bekannte Fraktion forderte den Rücktritt der gesamten Parteiführung. Nach ihrer Ansicht musste sich der Peronismus, wenn er wieder eine Wahl gewinnen wollte, den Veränderungen in der argentinischen Gesellschaft anpassen. Die Partei müsse ihre Basis verbreitern und die Mittelschichtwähler ansprechen, die sich von dem Trauerkränze abfackelnden Peronismus von 1983 abgestoßen fühlten. Obwohl von inneren Kritikern als »Schlips-und-Kragen-Peronisten« lächerlich gemacht, gelang es den Erneuerern schließlich, die raubeinige alte Garde an den Rand zu drängen und das Ansehen der Partei bei Mittelschichtwählern zu verbessern. Die nächsten beiden Wahlen gewann die peronistische Partei mit Leichtigkeit.

So sollte Demokratie funktionieren. »Demokratie ist ein System, in dem Parteien Wahlen verlieren«, brachte es der Politologe Adam Przeworski auf den Punkt.[8] Niederlagen schmerzen, aber in einer Demokratie sind sie unvermeidlich. Und wenn man unterliegt, sollte man tun, was die Peronisten getan haben: die Niederlage akzeptieren, nach Hause gehen und sich überlegen, wie man in der nächsten Wahl eine Mehrheit für sich gewinnen kann.

Die Norm der Akzeptanz von Niederlagen und der friedlichen Machtübergabe bildet die Grundlage der modernen Demokratie. Am 4. März 1801 wurden die Vereinigten Staaten zur ersten Republik in der Geschichte, in der nach einer Wahl ein Machtwechsel von einer Partei zu einer anderen vollzogen wurde.[9] An diesem Tag verließ der scheidende Präsident John Adams, einer der Führer der Partei der Gründer der Vereinigten Staaten, der Föderalisten, Washington vor Morgengrauen in aller Stille in einer Kutsche. Der gewählte Präsident, Thomas Jefferson von der rivalisierenden Demokratisch-Republikanischen Partei, dem Adams in der vorangegangenen Wahl unterlegen war, wurde wenige Stunden später im US-Senat vereidigt.

Dieser Übergang war für das Überleben der neuen Republik unerlässlich.[10] Aber er war weder unvermeidlich noch leicht.[11] 1800 war die Norm, eine Niederlage zu akzeptieren und die Macht zu übergeben, noch nicht eingeführt. Schon die bloße Existenz einer Oppositionspartei galt als illegitim. Politiker, einschließlich vieler Gründerväter, setzten sie mit Aufwiegelung und sogar Verrat gleich.[12] Und da noch nie zuvor ein Machtwechsel stattgefunden hatte, war keineswegs davon auszugehen, dass die Opposition ihn nach künftigen Wahlen ebenfalls vollziehen würde. Die Macht abzugeben, war ein »Sprung ins Unbekannte«.[13]

Besonders schwierig war der Übergang für die Föderalisten, die mit dem »Gründerdilemma«, wie man es nennen könnte, zu kämpfen hatten: Damit ein neues politisches System Fuß fassen konnte, mussten seine Gründer akzeptieren, dass sie nicht für immer das Sagen haben konnten. Als Mitautoren der Verfassung und Erben George Washingtons hielten sich führende Föderalisten wie Adams und Alexander Hamilton für die rechtmäßigen Verwalter der neuen Republik.[14] In ihren Augen waren ihre eigenen Interessen und diejenigen der Nation deckungsgleich, und es widerstrebte ihnen, die Macht an unerprobte Herausforderer abzugeben.

Daher bedeutete die Entstehung der Demokratisch-Republikanischen Partei, der ersten Oppositionspartei der Vereinigten Staaten, eine Herausforderung für die Stabilität der neuen Nation.[15] Die ersten demokratisch-republikanischen Gesellschaften waren 1793 in Pennsylvania und anderen Staaten gegründet worden, und die Bewegung hatte sich unter der Führung von Jefferson und James Madison rasch zu einer echten Opposition entwickelt. Die demokratischen Republikaner waren in vielen damals wichtigen Fragen anderer Ansicht als die Föderalisten, etwa in der Wirtschaftspolitik, in Bezug auf die Staatsverschuldung und vor allem beim Thema von Krieg und Frieden. Sie betrachteten die Föderalisten als Quasimonarchisten – »Monokraten« – und befürchteten, dass Adams’ diplomatische Fühlungnahme mit Großbritannien ein verdeckter Versuch war, die britische Herrschaft über Amerika wiederherzustellen.[16]

Umgekehrt sahen viele Föderalisten in den demokratischen Republikanern nichts anderes als Verräter. Sie hatten sie im Verdacht, in einer Zeit, in der zunehmende Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich die Gefahr eines Krieges heraufbeschworen, mit der französischen revolutionären Regierung zu sympathisieren.[17] Republikanische »innere Feinde«, fürchteten sie, würden eine französische Invasion unterstützen.[18] Diese Ängste wurden durch Sklavenaufstände im Süden verstärkt.[19] Nach Ansicht der Föderalisten waren diese Rebellionen – wie der von Gabriel Prosser organisierte Aufstand Mitte 1800 in Virginia –, von den Republikanern und ihrer Ideologie angeregt, ganz im Sinne eines von föderalistischen Zeitungen vermuteten »wahren französischen Plans«.[20]

Zuerst versuchten die Föderalisten, ihre Opponenten auszuschalten. 1798 verabschiedete der Kongress die Alien and Sedition Acts, die benutzt wurden, um demokratische Republikaner und Zeitungsherausgeber, die die Bundesregierung kritisiert hatten, ins Gefängnis zu bringen. Die Gesetze polarisierten das Land. Virginia und Kentucky erklärten sie auf ihrem Territorium für null und nichtig, was die Föderalisten wiederum als Aufruhr ansahen. Da er das Verhalten Virginias als Teil einer »Verschwörung« ansah, forderte Hamilton die Regierung Adams auf, eine »solide Militärmacht« aufzustellen, die »gegen Virginia eingesetzt« werden könne.[21] Daraufhin begann die Staatsregierung von Virginia ihrerseits ihre Miliz zu mobilisieren.[22]

Die junge Republik schwebte am Vorabend der Wahl von 1800 in der Gefahr von Gewalttätigkeiten und sogar einem Bürgerkrieg. Das vom Parteienstreit beförderte gegenseitige Misstrauen gefährdete die Aussicht auf eine friedliche Machtübergabe. »Föderalisten und Republikaner«, bemerkt der Historiker James Sharp, »waren willens zu glauben, dass ihre Opponenten zu buchstäblich allem fähig waren, um die Macht zu gewinnen oder zu behalten, ganz gleich, wie verräterisch oder gewalttätig es wäre.«[23]

Tatsächlich dachten Föderalisten darüber nach, wie man den Wahlvorgang unterlaufen könnte. Im Senat beschlossen sie ein Gesetz, das die Schaffung eines Komitees aus je sechs Mitgliedern beider Kammern des Kongresses – die von den Föderalisten dominiert wurden – sowie dem Obersten Richter der Vereinigten Staaten vorsah, das entscheiden sollte, »welche Stimmen zählen und welche ungültig sind«.[24] Hamilton drängte den Gouverneur von New York, John Jay, eine Sondersitzung des vor der Auflösung stehenden (föderalistisch dominierten) Staatsparlaments einzuberufen, um ein Gesetz zu verabschieden, das das Recht, Wahlmänner zu ernennen, vom neu gewählten (demokratisch-republikanisch dominierten) Parlament auf den Gouverneur (den Föderalisten Jay) übertragen sollte. In einem von Feindseligkeit gegen seine Rivalen strotzenden Brief vertrat Hamilton jene Art von Politik mit harten Bandagen, die – wie wir in Wie Demokratien sterben gezeigt haben – Demokratien zerstören kann:

»In Zeiten wie dieser, in der wir leben, darf man nicht übermäßig skrupulös sein. Es ist leicht, durch strikte Einhaltung gewöhnlicher Regeln die grundlegenden Interessen der Gesellschaft zu opfern (…) [Aber s]ie sollten nicht verhindern, einen rechtlichen und verfassungsmäßigen Schritt zu unternehmen, um auszuschließen, dass ein Atheist in der Religion und ein Fanatiker in der Politik das Steuer des Staats übernimmt.«[25]

Die Föderalisten setzten dies nie in die Tat um, aber die bloße Bereitschaft, darüber nachzudenken, zeigt, wie schwer es der ersten regierenden Partei Amerikas fiel, ihre Niederlage zu akzeptieren.

Die Wahl von 1800 wäre beinahe auch an einem Mangel des Wahlsystems gescheitert. Im Dezember ergab die Auszählung der Stimmen des Wahlmännerkollegiums ein verwirrendes Bild: Während Adams klar verloren hatte, lagen die beiden demokratisch-republikanischen Kandidaten, Jefferson als Präsidentschaftskandidat und Aaron Burr als Kandidat für die Vizepräsidentschaft, mit jeweils 73 Stimmen gleichauf. Damit hatte das scheidende Repräsentantenhaus, in dem immer noch die Föderalisten die Mehrheit stellten, das letzte Wort.

Während Adams widerstrebend die Niederlage einräumte und seine Rückkehr ins heimatliche Quincy in Massachusetts vorbereitete, sahen viele Föderalisten eine Gelegenheit, sich mit harten Mitteln an der Macht zu halten. Einige brachten die Möglichkeit einer Neuwahl ins Spiel, andere wollten Burr wählen – wahrscheinlich im Gegenzug für eine föderalistische Beteiligung an dessen Regierung.[26] Ein solches Vorgehen war völlig legal, aber da die siegreichen Republikaner eindeutig Jefferson als Präsidenten und Burr als Vizepräsidenten vorgesehen hatten, hätte es, wie eine Zeitung es damals ausdrückte, »gegen den Geist der Verfassung« verstoßen, die »die Ausführung des Volkswillens« verlangt.[27] In föderalistischen Kreisen tauchte damals sogar eine noch umstrittenere Idee auf, nämlich die, die Debatte im Repräsentantenhaus über den 4. März 1801, an dem die Frist für die Amtseinführung des neuen Präsidenten enden würde, auszudehnen, wonach – mit den Worten von Senator Gouverneur Morris – »die Regierung einem [Übergangs-]Präsidenten des Senats in die Hände fallen« würde – einem Föderalisten.[28] Ein solcher Schritt hätte nach Jeffersons Ansicht »die Verfassung überstrapaziert«, und er hätte so gut wie sicher eine Verfassungskrise ausgelöst.

Dass föderalistische Führer solche Überlegungen anstellten, bestärkte die Republikaner in ihrer Befürchtung, die Föderalisten planten die Macht auf illegale Weise zu »usurpieren«.[29] Dies brachte Jefferson und seine Verbündeten dazu, »gewaltsamen Widerstand«, wie Jefferson es ausdrückte, in Erwägung zu ziehen; die Gouverneure von Pennsylvania und Virginia mobilisierten ihre Milizen und drohten mit Abspaltung, sollte Jeffersons Wahl blockiert werden.[30]

Am verschneiten Vormittag des 11. Februar 1801 trat das Repräsentantenhaus zusammen, um das Patt des Wahlmännerkollegiums aufzulösen. Laut Verfassung hatten die Delegationen der 16 Bundesstaaten jeweils eine Stimme, sodass neun Stimmen für eine erfolgreiche Wahl nötig waren. Fünf qualvolle Tage lang hatten 35 Abstimmungen ein ums andere Mal dasselbe Ergebnis erbracht: Acht Staaten stimmten für Jefferson, sechs für Burr, und zwei enthielten sich der Stimme, weil ihre Delegationen sich nicht zu einigen vermochten. Mindestens ein Föderalist würde für Jefferson stimmen müssen, um die Blockade aufzuheben. Am sechsten Tag endlich verkündete der föderalistische Abgeordnete James Bayard aus Delaware (der einzige Delegierte dieses Bundesstaats), dass er seine Unterstützung für Burr aufgebe, woraufhin er aus den Reihen der Abgeordneten als Verräter beschimpft wurde. Delaware, erklärte Bayard, werde sich der Stimme enthalten. Wenig später gaben Maryland und Vermont, die sich bisher der Stimme enthalten hatte, Jefferson ihre Stimme, sodass er über eine solide Mehrheit von zehn Stimmen verfügte.[31] Zwei Wochen später wurde er als Präsident vereidigt.

Warum gaben die Föderalisten nach? Bayard erklärte in einem Brief an einen Freund, er habe sein Wahlverhalten geändert, weil er fürchtete, dass die Alternative zu Jefferson der Zusammenbruch der Verfassung oder sogar ein Bürgerkrieg gewesen wäre:

»Einige unserer von unmäßigem Hass auf Jefferson erfüllten [föderalistischen] Herren waren geneigt, zu den schlimmsten Extremen zu greifen. Da ich entschlossen war, weder die Verfassung zu gefährden noch einen Bürgerkrieg zu riskieren, hielt ich den Augenblick für gekommen, an dem es nötig war, einen beherzten Schritt zu tun.«[32]

Daraufhin vollzog die Regierung Adams widerstrebend die erste Machtübergabe in der amerikanischen Geschichte. Sie verlief weder vollkommen friedlich – die Gefahr von Gewaltausbrüchen war stets vorhanden –, noch geschah sie automatisch. Aber indem sie die Niederlage akzeptierten und aus dem Amt schieden, trugen die Föderalisten erheblich zur Festigung des Verfassungssystems bei, aus dem schließlich die amerikanische Demokratie erwachsen sollte.

Wenn Parteien zu verlieren lernen, kann die Demokratie Wurzeln schlagen. Und wenn die Demokratie Wurzeln schlägt, wird der Machtwechsel zu einer Routine, welche die Menschen als selbstverständlich betrachten. Im Dezember 2021, 72 Jahre nach der Wiedereinführung der Demokratie in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, schied die Langzeitkanzlerin Angela Merkel aus dem Amt, nachdem ihre Christlich-Demokratische Union in jenem Herbst der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei unterlegen war. Die einfache Vereidigungszeremonie des neuen sozialdemokratischen Bundeskanzlers glich einer Hochzeitszeremonie im Standesamt mit der Unterzeichnung und Aushändigung von Dokumenten. Beobachter waren eher über die neuesten COVID-Zahlen beunruhigt, als dass sie sich wegen der Möglichkeit von Gewalttätigkeiten oder einer illegalen Machtübernahme Gedanken machten. Als der neue Kanzler, Olaf Scholz, seinem unterlegenen Kontrahenten, dem Christdemokraten Armin Laschet, in einem Reichstagsflur begegnete, tauschten sie einen freundlichen Faustgruß aus.

Wie kommt eine Demokratie an den Punkt, an dem Deutschland heute ist, wo ein Machtwechsel völlig undramatisch vonstattengeht? Wie erreicht man, dass die Akzeptanz einer Niederlage zur Norm wird?

Zwei Umstände sind dabei hilfreich. Zum einen akzeptieren Parteien eine Niederlage leichter, wenn sie davon ausgehen können, dass sie in Zukunft wieder eine Chance bekommen werden zu siegen.

Die Peronisten mögen von der Niederlage von 1983 geschockt gewesen sein, aber sie blieben Argentiniens größte Partei, die mehr Mitglieder hatte als alle anderen Parteien zusammengenommen. In der Zuversicht, künftig wieder den Sieg davontragen zu können, machten sich viele Peronisten umgehend an die dafür notwendige Arbeit. So begann Carlos Menem, der gerade zum Gouverneur der kleinen Provinz La Rioja gewählt worden war, bald nach der Niederlage seiner Partei darauf hinzuarbeiten, in der nächsten Präsidentschaftswahl als Kandidat anzutreten. Er gewann die Wahl von 1989, und die Peronisten sollten auch die folgenden fünf Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden.

Obwohl die Unsicherheit führender Föderalisten über die Zukunft den Machtübergang von 1801 in den Vereinigten Staaten schwierig machte, gewannen viele von ihnen letztlich die Zuversicht, bald wieder an die Macht zu gelangen. »Wir sind nicht tot«, erklärte ein Föderalist drei Tage nach Jeffersons Amtseinführung.[33] Fisher Ames riet seinen föderalistischen Parteigenossen, ihre Oppositionsrolle anzunehmen, denn sie würden »bald wieder die Oberhand gewinnen« und müssten »bereit sein, wieder in überlegener Weise die Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen«.[34] Auch Oliver Wolcott jr., Adams’ Finanzminister, erwartete, dass die Föderalisten »eine Partei bleiben und [ihren] Einfluss binnen Kurzem zurückgewinnen« würden.[35] Ein Föderalist aus New Jersey, der gerade begonnen hatte, ein Haus zu bauen, verkündete sogar, er werde den Bau ruhen lassen, bis die Föderalisten wieder an die Macht kämen (ein Versprechen, das sich letztlich als Fehler herausstellte).[36]

Der zweite Umstand, der dazu beiträgt, dass Parteien Niederlagen akzeptieren, ist die Gewissheit, dass ein Machtverlust keine Katastrophe zur Folge hat – dass ein Regierungswechsel nicht das Leben, den Lebensunterhalt oder die Grundprinzipien der scheidenden Regierungspartei und ihrer Anhänger gefährdet. Wahlen machen oft den Eindruck von Wetten um hohe Einsätze, doch wenn die Einsätze zu hoch sind und die unterlegene Partei fürchten muss, alles zu verlieren, wird sie zögern, die Macht abzugeben. Anders gesagt: Verlustangst bringt Parteien dazu, sich gegen die Demokratie zu wenden.

Für den Machtübergang von 1801 war die Verringerung der Einsätze entscheidend. Im vorangegangenen polarisierten Wahlkampf hatten viele Föderalisten die Republikaner als existenzielle Bedrohung dargestellt und einen Sieg Jeffersons mit einer jakobinischen Revolution gleichgesetzt. Die Republikaner, so die Angst, würden die Föderalisten in Armut stürzen und ins Exil treiben oder, schlimmer noch, »in [ihrem] Blut waten«, wie es der föderalistische US-Senator Uriah Tracy befürchtete.[37] Letzten Endes erkannten Hamilton und andere Gründerväter jedoch an, dass Jefferson ein Pragmatiker war, der im Rahmen des bestehenden Systems handeln würde.[38] »Ich kann mir nicht vorstellen«, schrieb Rufus King an einen föderalistischen Freund, »dass unsere Regierung oder die Sicherheit unseres Eigentums in irgendeiner materiellen Weise« durch einen Sieg Jeffersons »berührt werden kann oder wird«.[39] Hinterzimmerverhandlungen scheinen führende Föderalisten davon überzeugt zu haben, dass wichtige Institutionen und politische Prioritäten – wie die Navy, die Bank of the United States und die Staatsverschuldung – unter Jefferson geschützt sein würden.[40] Um ganz sicherzugehen, schufen die aus dem Amt scheidenden Föderalisten 16 neue Richterstellen an Bundesgerichten und besetzten sie mit ihren Getreuen.[41] So konnten die Föderalisten die Macht abgeben, ohne befürchten zu müssen, dass Jeffersons Präsidentschaft verheerende Folgen zeitigen würde.[42] Nach dessen konzilianter Antrittsrede prophezeite Hamilton, der neue Präsident werde »sich keinen gefährlichen Neuerungen verschreiben, sondern in wesentlichen Punkten in die Fußstapfen seiner Vorgänger treten«.[43]

Ist eine Partei voller Befürchtungen – dass sie nicht in der Lage sein werde, künftig wieder Wahlen zu gewinnen, oder, noch grundlegender, mehr verlieren werde als nur eine Wahl –, fällt es ihr schwerer, eine Niederlage zu akzeptieren. Wenn sich eine Niederlage für Politiker oder ihre Wähler wie eine existenzielle Bedrohung anfühlt, werden sie verzweifelt versuchen, sie abzuwenden.

Solche Ängste regen sich häufig in Zeiten tiefgreifenden sozialen Wandels. Aus der Forschung der politischen Psychologie wissen wir, dass der soziale Status – die eigene Stellung in Relation zu anderen – politische Einstellungen nachdrücklich prägen kann.[44] Wir messen unseren sozialen Status häufig am Status der Gruppe, mit der wir uns identifizieren. Diese Gruppen können durch die Gesellschaftsschicht, die geografische Region, durch Religion, Race oder Ethnizität bestimmt sein, und wo sie in der umfassenderen sozialen Hackordnung angesiedelt sind, beeinflusst das individuelle Selbstwertgefühl. Ökonomische, demografische, kulturelle und politische Veränderungen können bestehende soziale Hierarchien erschüttern, indem sie den Status einiger Gruppen erhöhen und den relativen Status anderer unvermeidlicherweise senken. Die von Barbara Ehrenreich »Angst vor dem Absturz« genannte Furcht kann eine mächtige Kraft sein.[45] Wenn eine Partei eine Gruppe repräsentiert, die das Gefühl hat, an Boden zu verlieren, radikalisiert sie sich häufig. Da der Lebensstil ihrer Wähler auf dem Spiel zu stehen scheint, verspüren die Parteiführer den Druck, unbedingt gewinnen zu müssen. Eine Niederlage ist dann nicht mehr akzeptabel.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blockierten Existenzängste die demokratische Entwicklung in Deutschland. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war das Deutsche Kaiserreich nur teilweise demokratisch. Es wurde immer noch von einem kleinen Kreis hochstehender Aristokraten, Industrieller und Beamter beherrscht. Zwar gab es landesweite Wahlen, aber die wirkliche Macht lag in Preußen, dessen stark eingeschränktes Wahlrecht die Reichen bevorzugte: Durch die Einteilung in »Abteilungen« oder (Wähler-)Klassen, je nach Steuerleistung, erhielten Wohlhabende gleichsam mehr Stimmgewicht. Außerdem gab es in Preußen bis 1903 keine geheime Stimmabgabe, sodass die lokalen Eliten und Beamten stets im Blick hatten, wen die Menschen wählten. Und selbst noch nach 1903 setzten Großgrundbesitzer und Industrielle Staatsbeamte unter Druck, um zu erreichen, dass sie Abstimmungen in ihrem Sinn manipulierten.

Die Forderung nach politischen Reformen war weitverbreitet. Deutschland war ein Industrieland mit einer großen Mittelschicht und einer starken Zivilgesellschaft. Doch die demokratischen Reformer sahen sich einer reaktionären, schrumpfenden und dadurch in zunehmendem Maß verängstigten konservativen Elite gegenüber. Die deutschen Konservativen und ihre Verbündeten, die Großgrundbesitzer, hatten sich lange Zeit auf ein zurechtgeschustertes Wahlsystem gestützt und waren überzeugt, dass jede Änderung der Wahlregeln ihre Macht verwässern und zu für sie ungünstigen Wahlergebnissen führen würde. Und dies, so glaubten sie, würde den Untergang der gesamten aristokratischen Ordnung bewirken. Die Demokratie stellte somit eine Bedrohung für alles dar, wofür sie standen. Die Großgrundbesitzer befürchteten, dass sie die Kontrolle über die billigen Arbeitskräfte auf dem Land verlieren würden, die ihr veraltetes Agrarsystem trugen. Fabrikbesitzer in den boomenden Industriegebieten befürchteten, dass sie die Kontrolle über die Arbeiter verlieren würden, die in der wachsenden Arbeiterbewegung Rückhalt fanden.

Kurz, preußische Konservative fürchteten mehr als den Verlust von Wahlen. Sie sahen ihre beherrschende Stellung in der Gesellschaft in Gefahr. Im Mai 1912, als zum letzten Mal vor dem Krieg versucht wurde, das preußische Wahlrecht zu reformieren, trat der Vorsitzende der Deutschkonservativen Partei, Ernst von Heydebrand und der Lasa, ans Rednerpult des Preußischen Abgeordnetenhauses, um leidenschaftlich die alte Ordnung zu verteidigen: »Die unterschiedslose Masse der Bevölkerung zur Herrschaft zu bringen, (…) ist ein Schlag ins Gesicht gegen das Naturgesetz, welches will, daß der Tüchtigste, daß der Beste, daß der Würdigste mitarbeitet an den Geschicken des Landes (...).«[46] Während des Ersten Weltkriegs verkörperte General Erich Ludendorff die extreme Form des deutschen Konservatismus. An einen Freund schrieb er, die Demokratie sei »ein Schrecken ohne Ende«. »Mit dem [allgemeinen gleichen] Wahlrecht können wir nicht leben«, empörte er sich. »Es wäre schlimmer wie ein verlorener Krieg.«[47]

Also stimmten deutsche Konservative ein ums andere Mal – insgesamt 16-mal – gegen eine Wahlrechtsreform. Von der tiefsitzenden Furcht vor Arbeiterklasse und Sozialismus beherrscht, widersetzten sie sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs jeder Demokratisierung.

Deutsche Konservative lernten erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu verlieren. Aber manchmal büßen selbst etablierte demokratische Parteien die Fähigkeit ein, Niederlagen hinzunehmen. Um zu sehen, wie und warum, wenden wir uns einer völlig anderen Umgebung zu: dem Thailand des 21. Jahrhunderts. Das Land hat mit über einem Dutzend Militärputsche seit den 1930er-Jahren eine unruhige Geschichte hinter sich. In den 1990ern schien sich jedoch die Demokratie zu festigen. Volksproteste hatten der Militärherrschaft ein Ende bereitet, und die in der Mittelschicht beheimatete Demokratische Partei, von jeher ein Gegner des Militärs und ein bedeutender Akteur bei den Protesten, gewann die Wahl von 1992.[48] Eine neue Verfassung, ein Jahrzehnt mit zweistelligen Wachstumsraten der Wirtschaft und eine wachsende, selbstbewusster werdende Mittelschicht versprachen eine gesicherte demokratische Zukunft des Landes. Manche Beobachter sahen Thailand sogar auf dem Weg an die Seite anderer, reicherer ostasiatischer Demokratien, wie Japan, Südkorea und Taiwan.[49]

Aber am Anfang des 21. Jahrhunderts liefen die Dinge schief. Eine Reihe von Militärputschen zerstörte die noch in den Kinderschuhen steckende thailändische Demokratie und machte die Armee erneut zur dominierenden Kraft. Und überraschenderweise begrüßte die Demokratische Partei, die in den 1990er-Jahren noch für die Demokratie gekämpft hatte, diese Entwicklung. Was war geschehen?

Ein aufschlussreicher Moment war der erste Sonntag im Februar 2014, ein Wahltag. In Bangkok, einer Metropole mit damals über 8 Millionen Einwohnern, war es schon immer schwierig gewesen, zu den Wahlurnen zu gelangen. Aber diesmal war es noch schwieriger als sonst. Überwiegend aus der gebildeten Mittelschicht stammende Demonstranten verstopften die Straßen.[50] Seit Monaten hatten sie auf den zentralen Plätzen, vor Einkaufszentren und auf großen Straßenkreuzungen der Stadt karnevalartige Versammlungen organisiert, bei denen politische Reden mit Livemusik und öffentlichen Fernsehvorführungen auf riesigen Leinwänden auf dem Programm standen. Studenten und Akademiker, die von ihren Bürojobs kamen, erschienen mit aufs Gesicht gemalten thailändischen Fahnen und posierten für Selfies, um diese dann auf Facebook zu posten.[51] Schauspieler, Popstars und Sprösslinge einiger der reichsten Familien des Landes beteiligten sich. In einem viel beachteten Augenblick von radikalem Schick durchbrach die 28-jährige Chitpas Bhirombhakdi, Erbin des 2,6 Milliarden Dollar schweren Singha-Bier-Familienvermögens, mit einem Bulldozer eine Polizeisperre. Als die Polizei Tränengas einsetzte, postete sie auf Instagram Bilder, die sie zeigten, wie sie die Augen von Demonstranten mit Wasser ausspülte. »Leute, die man normalerweise auf den Gesellschaftsseiten sieht, waren auf den Straßen«, sagte der Herausgeber der Bangkoker Modezeitschrift Thailand Tatler einem Reuters-Journalisten. »All die Leute aus den großen Familien, die man die schweigende Minderheit nennt. Nun, sie schweigen nicht mehr.«

Trotz der Partyatmosphäre hatten die Versammlungen einen ernsten Zweck: Die Demonstranten forderten den Rücktritt der amtierenden Ministerpräsidentin Yingluck Shinawatra, der sie Korruption vorwarfen. Und nachdem Yingluck eine Wahl angesetzt hatte, gingen sie auf die Straße, um gegen die Wahl zu protestieren. Überraschenderweise gehörten viele der Organisatoren der Proteste der Demokratischen Partei an. Unter Führung des ehemaligen Generalsekretärs der Partei, Suthep Thaugsuban, hatte eine Gruppe, die sich »Volksausschuss für den Wandel Thailands zu vollständiger Demokratie mit dem König als Staatsoberhaupt« oder in selbst gewählter englischer Form People’s Democratic Reform Committee (PDRC) nannte, eine ausgeklügelte Kampagne organisiert, um die Wahl zu verhindern. Aktivisten von PDRC und Demokratischer Partei hinderten Kandidaten physisch daran, sich registrieren zu lassen, und Protestführer forderten zum Wahlboykott auf. Die Demokraten entschieden sich schließlich – offenbar in Absprache mit den Protestlern – dafür, der Wahl aus Protest fernzubleiben, und zwei Tage vor der Öffnung der Wahllokale beantragten Anwälte der Demokratischen Partei beim Verfassungsgericht, die Wahl für ungültig zu erklären.[52] Am Wahltag störten Demonstranten die Ausgabe von Wahlzetteln, drängten Wahlhelfer dazu, Wahllokale zu schließen, und schüchterten Wähler ein.[53] In nahezu jedem fünften Wahlbezirk wurde die Wahl behindert.[54] Vielerorts konnten Wahlhelfer nicht in ihr von Demonstranten belagertes Wahllokal gelangen. Frustrierte Wähler bildeten Schlangen und riefen mit ihren Wahlscheinen in der Hand: »Wahl! Wahl! Wir wollen heute wählen!« Aber die aus der Mittelschicht stammenden Bangkoker Demonstranten hatten die Wahl abgeschrieben. Einer ihrer Slogans, den die Immobilienmagnatin Srivara Issara aufgebracht hatte, als sie sich der Protestbewegung anschloss, lautete: »Moralischer Anstand steht über der Demokratie!«[55]

Die Demonstranten störten die Wahl vom Februar 2014 mit Erfolg, das Verfassungsgericht erklärte sie für null und nichtig. Im Mai wurde Premierministerin Yingluck wegen einer Formalie ihres Amtes enthoben, und zwei Wochen später verhängte das Militär mit Zustimmung des Königs das Kriegsrecht, kassierte die Verfassung und bildete eine »Nationalrat für Frieden und Ordnung« genannte Junta, die der thailändischen Demokratie ein Ende bereitete. PDRC-Aktivisten feierten den Staatsstreich und dankten den Soldaten, denen sie für ihren Einsatz Rosen überreichten. »Dies ist ein Siegestag«, verkündete der Protestführer Samdin Lertburr. »Das Militär hat seine Aufgabe erfüllt. Und wir haben unsere Aufgabe erfüllt.«[56] Später segneten die Demokraten den Putsch de facto ab, indem sie sich der vom Militär gebildeten Regierung anschlossen.[57]

Wie konnte eine Mittelschichtpartei wie die thailändische Demokratische Partei, die sich lange als Vorkämpfer der Demokratie verstanden hatte, eine Wahl verhindern und einen Militärputsch gutheißen?

Die Partei war eine Partei von Akademikern, Studenten und städtischen Mittelschichtangehörigen, also derjenigen Gruppen, die an den PDRC-Protesten teilnahmen. Ihre Basis hatte sie vor allem in Bangkok und im Süden des Landes. Aber Bangkok ist nur eine kleine Insel in einem Land mit rund 70 Millionen Einwohnern, und um die armen Reisbauern, Landarbeiter, Taxifahrer, kleinen Ladenbesitzer und andere ländliche und kleinstädtische Wähler im Kerngebiet Thailands nördlich von Bangkok hatte sie sich nie bemüht. Lange Zeit spielte dies kaum eine Rolle. Die Millionen von Wählern im provinziellen Kerngebiet hatten keine festen Beziehungen zu den vielen Parteien im fernen Bangkok, und ihre Stimmen wurden häufig von lokalen politischen Maklern gekauft.[58] Diese Fragmentierung ermöglichte es den Demokraten, konkurrenzfähig zu bleiben, obwohl sie weitgehend auf Bangkok und den Süden beschränkt waren. Aber dies änderte sich in den späten 1990er-Jahren. 1997 ließ die asiatische Finanzkrise die Unterstützung für die etablierten Parteien, insbesondere die Demokraten, bröckeln, sodass ein Außenseiter wie der steinreiche Unternehmer Thaksin Shinawatra und seine neu gegründete Partei Thai Rak Thai (Thais lieben Thais, TRT) in der Wahl von 2001 einen überwältigenden Sieg erringen konnten.

Thaksin war umstritten, da seine Regierung in zahlreiche Korruptionsfälle verwickelt war.[59] Aber er war auch ein geschickter Politiker, der begriffen hatte, dass eine auf die ärmeren ländlichen Regionen im Norden ausgerichtete Politik sich in Wahlen auszahlen konnte. Im Wahlkampf von 2001 beschwor er einen »neuen Sozialvertrag«, der ein dreijähriges Moratorium für bäuerliche Schulden, Beihilfen für die Diversifizierung der dörflichen Wirtschaft über den Reisanbau hinaus und ein ehrgeiziges Programm für ein universelles Gesundheitssystem umfasste.[60] Und er lieferte.[61] Seine Regierung pumpte Milliarden von Dollar für öffentliche Aufgaben ins arme Kernland und machte Thailand zu einem der ersten Länder der Welt mit mittlerem Einkommen mit einer universellen Gesundheitsversorgung.[62] Die Armutsquote sank drastisch, insbesondere in ländlichen Gebieten, und zum ersten Mal seit Jahrzehnten nahm auch die Ungleichheit ab.[63]

Thaksins Sozialpolitik zahlte sich an den Wahlurnen aus. In der Wahl von 2005 gewann seine TRT erstaunliche 60 Prozent der Stimmen, fast dreimal so viele wie die zweitplatzierten Demokraten. Plötzlich waren die Demokraten nicht mehr konkurrenzfähig. Als Thaksin angesichts zunehmender Kritik an seinem Finanzgebaren 2006 Neuwahlen ausschrieb, begannen die Demokraten an ihren demokratischen Normen zu rütteln. Sie boykottierten die Wahl – die Thaksin erneut mit großer Mehrheit gewann –, und kurz darauf wurde sie vom Verfassungsgericht annulliert. Einige Monate später ergriff das Militär die Macht und zwang Thaksin, ins Ausland zu fliehen, um seiner Verhaftung zu entgehen. Das Militär kündigte zwar für 2007 eine Wahl an, schloss Thaksins TRT aber von ihr aus.

Der Ausschluss funktionierte nicht. Sieger der Wahl von 2007 wurde die neu gegründete Partei der Volksmacht, die als Vertretung für die TRT und den exilierten Thaksin fungierte. Als auch diese Partei aufgelöst wurde, bildeten Thaksin-Anhänger eine dritte Partei, die Pheu Thai (Partei für Thais), die unter der Führung von Thaksins Schwester Yingluck die Wahl von 2011 gewann, in der sie fast doppelt so viele Parlamentssitze eroberte wie die Demokraten.

Die Demokratische Partei schien nicht mehr in der Lage zu sein, freie, faire Wahlen zu gewinnen. Trotz ihrer engen Beziehungen zur Monarchie und des Rückhalts durch das Thai-Establishment hatte sie zwischen 2001 und 2011 in fünf aufeinanderfolgenden Wahlen den Kürzeren gezogen.

Aber es waren nicht die Wahlniederlagen, die ihre gebildeten und gut qualifizierten Mittelschichtanhänger 2013/14 auf die Straße brachten. Genauso wenig war es die Wut über die vermeintliche Korruptheit der Regierung Yingluck oder das vorgeschlagene Amnestiegesetz, dessen Verabschiedung es Thaksin erlaubt hätte, nach Thailand zurückzukehren. Die Wut hatte tiefere Gründe: Die Bangkoker Elite haderte mit der Verschiebung des Macht-, Reichtums- und Statusgleichgewichts in der thailändischen Gesellschaft. Sie hatte lange an der Spitze der politischen, ökonomischen und kulturellen Hierarchien gestanden. Die angesehensten Universitäten befanden sich in Bangkok. Wohlhabende schickten ihre Kinder, wenn nicht auf Universitäten in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten, auf diese Hochschulen. Diese Eliteinstitutionen bedeuteten ihrerseits den Zugang zu gehobenen Positionen in der Privatwirtschaft oder im Staatsapparat. Obwohl Regierungen im 20. Jahrhundert mit hoher Frequenz kamen und gingen, blieb der Kreis der Führungselite bemerkenswert stabil – und geschlossen.

Unter Thaksin begann sich dies zu ändern. Seit 2001 war der Anteil, den die Armen am Nationaleinkommen verbuchen konnten, gestiegen, was die Ungleichheit verringerte, zugleich aber die städtische Mittelschicht belastete.[64] Thaksin und Yingluck hatten die Armen auf dem Lande mobilisiert wie noch niemand zuvor und damit die wohlige, um Bangkok kreisende Welt, welche die thailändische Politik seit Jahrzehnten dominiert hatte, aufgeschreckt. Obwohl Thaksins Ruf durch Korruptions-, Steuervermeidungs- und Machtmissbrauchsvorwürfe angekratzt war, blieb seine Anziehungskraft, wie die anhaltenden Wahlerfolge seiner Bewegung zeigten, ungebrochen.[65]

Was die Bangkoker gesellschaftliche und politische Elite an Thaksins Siegen wirklich verstörte, war also, wer da auf der anderen Seite gewann. Die Bangkoker Singha-Bier-Erbin Chitpas Bhirombhakdi, die sich mit ihren Aktionen in den Protesten von 2014 hervorgetan hatte, drückte diese Stimmung in einem Interview mit der Japan Times mit den Worten aus, den Thailändern fehle ein »wahres Verständnis« der Demokratie, »insbesondere in den ländlichen Gebieten«.[66] Ein anderer hochrangiger Protestler, Petch Osathanugrah, damaliger Vorstandsvorsitzender eines thailändischen Energydrinkherstellers und eine bekannte Figur der Kulturszene, eröffnete einem Reporter: »Ich bin nicht wirklich für die Demokratie (…). Ich glaube, wir sind nicht bereit dafür. Wir brauchen eine starke Regierung wie in China oder Singapur, fast wie eine Diktatur, aber zum Besten des Landes.«[67] Die meisten Demonstranten teilten diese Meinung. 2014 wurden 350 Protestler in einer Umfrage gefragt, ob sie mit der Feststellung »Die Thais sind für das gleiche Wahlrecht noch nicht bereit« übereinstimmten. Nur 30 Prozent der Befragten fanden, dass sie »die Grundsätze der Demokratie verletzt«, während 70 Prozent ihr entweder zustimmten oder erklärten: »Wir müssen diese Realität akzeptieren.«[68]

Diesem Vorbehalt gegenüber der Demokratie lag bei vielen hochstehenden Thais die Furcht zugrunde, verdrängt zu werden. Während die städtische Mittelschicht einst die demokratischen Normen hochgehalten hatte, stellte sie nun fest, wie der politische Analyst und Autor Marc Saxer anmerkt, dass sie sich

»in der Minderheit befand. Von cleveren politischen Unternehmern mobilisiert, war es jetzt die Peripherie, die mit Leichtigkeit jede Wahl gewann. Ohne den Aufstieg einer ländlichen Mittelschicht wahrzunehmen, die die volle Beteiligung am gesellschaftlichen und politischen Leben einfordert, interpretiert die Mittelschicht im Zentrum die Forderung nach Gleichberechtigung und öffentlichen Gütern im Sinne von ›die Armen werden gierig‹.«[69]

Dieses Gefühl trieb die Demonstranten von 2013/14 auf die Straße. Ihr Hauptziel bestand, dem Politologen Duncan McCargo zufolge, darin, zurückzukehren in »eine Fantasieära vor Thaksin, in der das herrschende Netzwerk und seine Anhänger noch das Sagen hatten und die Wähler in der Provinz marginalisiert werden konnten«.[70]

Viele der Mittelschichtgruppen, die in den 1990ern für die Demokratie eingetreten waren, versetzten deren Konsequenzen in Angst und Schrecken. Deshalb wiesen die Demonstranten 2014 den Versuch der Premierministerin Yingluck, den Aufruhr durch die Ansetzung einer Neuwahl zu besänftigen, zurück und boykottierten die Wahl. Tatsächlich gab es nichts, was die Demonstranten und ihre Verbündeten von der Demokratischen Partei mehr fürchteten als eine freie und faire Wahl. Deshalb unterstützten die Demokraten, die einst Putsche und absolutistische Königsmacht leidenschaftlich abgelehnt hatten, auch insgeheim den Staatsstreich von 2014 und traten später sogar in die von Militärs geführte Regierung ein.[71] Als die Demokratie einer Bewegung Auftrieb verlieh, welche die soziale, kulturelle und politische Vorherrschaft der Bangkoker Elite gefährdete, wandten sich die Demokraten gegen die Demokratie.

Angst ist häufig der Grund für eine Wende zum Autoritarismus. Angst davor, politische Macht zu verlieren, und – vielleicht wichtiger noch – Angst um eine dominante gesellschaftliche Stellung. Aber wenn Angst angestammte Parteien dazu bringen kann, sich gegen die Demokratie zu wenden, wozu treibt sie sie dann eigentlich? In Thailand waren die konkreten Angreifer auf die Demokratie leicht zu identifizieren: Zum zwölften Mal in der Geschichte des Landes ergriffen Militärs die Macht. In tiefer verwurzelten Demokratien sind die Angriffe häufig schwerer zu erkennen und schwerer aufzuhalten.

Die Banalität des Autoritarismus

Ende Januar 1934 war Paris von Unruhe erfasst. Vor anderthalb Jahrzehnten war Frankreich siegreich aus dem Weltkrieg hervorgegangen, und die meisten Franzosen waren es gewohnt, ihr Land, die älteste Demokratie Europas, als Modell für den Rest des Kontinents anzusehen. 1934 war die Welt jedoch aus den Angeln gehoben. Die Weltwirtschaftskrise, eine Reihe großer Korruptionsskandale, zunehmender Aufruhr auf den Straßen und eine instabile Regierung – in den vorangegangenen fünf Jahren hatte man 13 Ministerpräsidenten gehabt – weckten in einem zunehmenden Teil der Bevölkerung Angst und Unmut.

Am Nachmittag des 6. Februar 1934 versammelten sich Zehntausende junger Männer – überwiegend Mitglieder von Veteranenverbänden und rechten Milizen (oder »Ligen«) mit Namen wie Junge Patrioten, Französische Aktion und Croix de Feu (Feuerkreuz) – auf der Place de la Concorde gegenüber dem Palais Bourbon, dem Sitz der Nationalversammlung.[1] Obwohl die einzelnen Gruppen unterschiedliche Ideologien und Ziele vertraten, einte sie die Ablehnung der Demokratie. Manche von ihnen waren quasifaschistisch und ahmten Mussolinis Schwarzhemden nach. So beispielsweise die Jungen Patrioten, die den italienischen Faschismus bewunderten und häufig in blauen Jacken und mit Barett auf dem Kopf durch die Straßen marschierten.[2] Andere Gruppen wollten die Nationalversammlung abschaffen und durch ein »Ministerium für öffentliche Sicherheit« ersetzen oder sogar eine bonapartistische Regierung wiederbeleben.[3] Wieder andere hofften bloß, die Auszählung von Stimmen in der Nationalversammlung verhindern und eine rechte Regierung installieren zu können.[4] Aber alle diese Gruppen betrachteten sich als Patrioten, die Slogans wie »Frankreich den Franzosen« skandierten; und alle diese Gruppen verachteten ihre liberalen und sozialistischen Gegner als schwach und sogar verräterisch.[5]

An diesem Februarabend liefen die Dinge aus dem Ruder.[6] Ein erregter Mob zog in Richtung Nationalversammlung