Die Unverfrorenen - Ewald Hetrodt - E-Book

Die Unverfrorenen E-Book

Ewald Hetrodt

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Beschreibung

Es ist höchste Zeit, eine politische Kultur zu beschreiben, in der eine Koalitionsmehrheit im Rathaus einer Kommune, so wie es in den meisten deutschen Städten politische Realität ist, diese Stadt als Beute betrachtet und im Spiel von Gefälligkeiten und Gegengefälligkeiten alle Hemmungen fahren lässt. Am Beispiel der Stadt Wiesbaden zeigt Ewald Hetrodt, wie drei außergewöhnliche Charaktere – der Oberbürgermeister, ein einflussreicher Fraktionschef und der Geschäftsführer der städtischen Immobilien-Holding – sich der städtischen Gesellschaften auf schamlose Weise bedienten. Ein wahrer politischer Krimi und zugleich ein politisches Lehrstück über die strukturellen Schieflagen in vielen deutschen Großstädten.

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Ewald Hetrodt

DIE UNVERFRORENEN

Wie Politiker unsere Städteals Beute nehmen.Ein Exempel

Katharina

INHALT

STADT ALS BEUTE

GEMEINSAM GEGEN DEN OB

EIN SCHNAPS OBENDRAUF

EINE GROSSE STRATEGIE

REICHERTS BAUSTELLEN

WINDBEUTEL

ALLEINGANG

EINE HAND WÄSCHT DIE ANDERE

SHOWDOWN

SCHLUSS

NAMEN UND DATEN

STADT ALS BEUTE

In Wiesbaden hat jeder ein Preisschild am Kopf.“ Volker de Boer muss es wissen. Der Immobilienkaufmann ist seit Jahrzehnten geschäftlich in der hessischen Landeshauptstadt unterwegs. Einen Namen machte er sich mit der Bebauung des Kurecks am nördlichen Ende der prachtvollen Wilhelmstraße. Es war über Jahre hinweg ein Schandfleck, aus dem ein leerstehendes Bürohochhaus herausragte. Als de Boer im Jahr 2016 wieder einmal eine Änderung des Bebauungsplanes anstrebte, lud er den Verfasser dieses Buches in seine „Lounge“ ein, um ihm unter vier Augen exklusiv anzukündigen, dass er in dem Komplex am Kureck ein Hotel unterbringen werde. Das Gespräch war ihm wichtig, denn die Bevölkerung verfolgte das Projekt mit Argusaugen, immer auf neue, schlechte Nachrichten gefasst. Da ersparte sich viel Ärger, wer die Presse nicht gegen sich hatte. Es war ein Vormittag. Man trank einen Cappuccino, als der Gastgeber sich abrupt abwandte und einen Augenblick später mit einer teuren Flasche Rotwein aus einem Nebenraum zurückkehrte. Sie sollte ein Geschenk für den Gesprächspartner sein. Die Zurückweisung schien de Boer als Beleidigung aufzufassen. „Meinen Sie wirklich, dass ich Sie bestechen will? Mit einer Flasche Wein?“

De Boer macht seinen Mitmenschen gern eine kleine Freude – wenn auch nicht immer ganz ohne jeden Hintergedanken. Im Jahr 2015 ließ er zu Weihnachten ein paar Magnumflaschen Champagner der Marke Bollinger im Wert von jeweils 150 Euro ins Rathaus liefern. Vorher hatte er im Büro des damaligen Oberbürgermeisters Sven Gerich (SPD) anrufen lassen. Dort sah man darin kein Problem, weil die Entgegennahme des Weihnachtsgeschenkes amtlich dokumentiert werde. Oliver Franz, der Kreisvorsitzende der CDU, schickte seine Flasche zurück, nicht ohne die Aktion unverzüglich der Presse zu stecken. Wer sonst noch bedacht wurde? „Das weiß ich gar nicht mehr“, behauptet der Achtundsechzigjährige.

Knapp ein Jahrzehnt lang hat der Verfasser aus der kommunalpolitischen Szenerie Wiesbadens berichtet. Zu seinen zahllosen Begegnungen gehörten auch Gespräche mit Michael Reichert, dem Chef der Agentur für integrierte Kommunikation RCC. Sie betreut in der hessischen Landeshauptstadt seit vielen Jahren so gut wie alle lukrativen Projekte der kommunalen Unternehmen und viele Großinvestitionen privater Firmen. Die Rechnungen erreichen oft exorbitante Höhen.

Misstrauen kam auch auf, als der langjährige Fraktionsvorsitzende der CDU, Bernhard Lorenz, auf unterschiedlichen Ebenen, an vielen Fronten und gegen Widerstände auch in der eigenen Partei dafür kämpfte, auf dem Taunuskamm im Nordwesten Wiesbadens Windräder zu errichten. Diese Positionierung ließ sich angesichts der Umstände kaum nachvollziehen. Darum drängte sich die Frage auf, ob Lorenz in seinem Engagement vielleicht von anderen als inhaltlichen Motiven geleitet wurde. So wandte sich der Autor im April 2016 schriftlich an das Unternehmen, das den Großteil der geplanten Anlagen herstellen und liefern sollte. Die Frage lautete, ob der Betrieb geschäftliche Beziehungen zu dem Wiesbadener Rechtsanwalt Lorenz unterhalte. Ein paar Tage später kam die Antwort: nein. Der Verdacht hatte sich nicht bestätigt. Allerdings traf nur ein paar Sekunden nach der Mail des Unternehmens eine elektronische Nachricht von Lorenz ein. Sie bestand aus einem einzigen Zeichen, einem lachenden Emoji.

Die in Wiesbaden herrschenden Umgangsformen vermitteln eine Ahnung von einer politischen Kultur, die sich über zwei Jahrzehnte hinweg herausgebildet hat. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das Beben verstehen, das die Stadt gegen Ende des Jahres 2018 erfasste. Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) entließ Ralph Schüler (CDU), einen der beiden Geschäftsführer der städtischen Holding, die als eine Art Konzernmutter aller kommunalen Unternehmen funktioniert. Schüler rächte sich postwendend, indem er von einem gemeinsamen Urlaub mit Gerich in Andalusien berichtete. Die teuren Hotels und Essen wollte er größtenteils allein bezahlt haben. Kurz danach hatte er den hochdotierten Vertrag als Geschäftsführer erhalten. Auch der Münchener Gastronom und Wies’n-Wirt Roland Kuffler hat Gerich über Jahre hinweg zu verschiedenen Gelegenheiten eingeladen und gleichzeitig mit der Stadt Geschäfte gemacht, bei denen es um Millionen ging. So sah Gerich sich dem öffentlichen Vorwurf ausgesetzt, bestechlich zu sein. Die Staatsanwaltschaften München und Wiesbaden ermitteln. Im Januar 2019 kündigte der vierundvierzigjährige Sozialdemokrat nach einer Amtsperiode an, bei den anstehenden OB-Wahlen nicht mehr anzutreten.

Schließlich stürzte auch Lorenz. Der Unionspolitiker hatte in der Wiesbadener Kommunalpolitik kurz nach der Jahrtausendwende Fuß gefasst. Seitdem prägte er die Verhältnisse. In den zurückliegenden Jahren herrschte er zusammen mit Gerich, Schüler und einigen Helfern. Dass die drei innerhalb von wenigen Wochen nach teilweise spektakulären Enthüllungen in Streit gerieten und allesamt zu Fall kamen, löste in ganz Deutschland Schlagzeilen aus und trug der hessischen Landeshauptstadt die Titulierung „Filzbaden“ ein. Dabei sind die Erschütterungen, die das Trio vom Sockel stießen, nur die sichtbare Eruption einer Entwicklung, die sich bis heute keineswegs erledigt hat.

In Hannover verlor nur wenige Monate später Oberbürgermeister Stefan Schostok (SPD) sein Amt, nachdem die Staatsanwaltschaft Anklage wegen schwerer Untreue gegen ihn erhoben hatte. Er bestreitet, über unzulässige Gehaltszulagen für Spitzenbeamte Bescheid gewusst haben. Im Juli 2019 sprach das Regensburger Landgericht den von seinem Amt suspendierten Oberbürgermeister Joachim Wolbergs nach einem jahrelangen Prozess wegen Vorteilsannahme schuldig. Den Bauunternehmer, der dem Kommunalpolitiker eine sechsstellige Summe hatte zukommen lassen, verurteilte die Richterin wegen Vorteilsgewährung und Verstößen gegen das Parteiengesetz. Laut Transparency International spielen sich die meisten Korruptionsfälle in Deutschland auf der kommunalen Ebene ab. Die Dunkelziffer ist hoch. Denn es gibt zunächst einmal kein erkennbares Opfer, sondern nur zwei Täter. Und die haben ein gemeinsames Interesse daran, dass die Sache nicht herauskommt. Die Aufklärung leidet darunter, dass die Mühlen der Justiz nur allzu langsam mahlen. Dabei ist es höchste Zeit, den Blick auf die korruptiven Strukturen zu richten, die in zahllosen deutschen Städten entstehen. Nirgendwo lassen sie sich besser veranschaulichen als in Wiesbaden.

Die Verwaltung hat immer mehr Aufgaben in kommunale Unternehmen verlagert, die außerhalb des Rathauses erledigt werden und von der Stadtverordnetenversammlung kaum noch zu kontrollieren sind. Die ehrenamtlichen gewählten Mandatsträger verlieren massiv an Einfluss. Die Macht haben die hauptamtlich agierenden Vorsitzenden der größeren Fraktionen. Sie berufen Parteisoldaten als Geschäftsführer der kommunalen Unternehmen und entscheiden mit ihnen über Millionenprojekte – und persönliche Interessen. So nimmt eine kleine parteiübergreifende Clique von Entscheidungsträgern mit einer erstaunlichen Unverfrorenheit die Stadt als Beute.

GEMEINSAM GEGEN DEN OB

Journalisten sind eitel. Das weiß auch Bernhard Lorenz. Denn der langjährige Fraktionsvorsitzende der Wiesbadener CDU verfügt über einen enormen Erfahrungsschatz. Einmal beendete er ein Telefonat mit dem Verfasser mit den Worten: „Die ganze Materie ist so hochkomplex, dass es in der ganzen Stadt nur zwei Leute gibt, die in der Lage sind, sie gedanklich zu durchdringen.“ Gemeint waren er selbst, natürlich, und sein Gesprächspartner. Der sollte sich geadelt fühlen. Eine Kapazität, die die überwältigende Mehrheit seiner Mitmenschen für minderbemittelt hielt, hob ihren Gesprächspartner in ihre intellektuellen Höhen empor. Aber Lorenz kann auch anders. Er habe noch jeden Oberbürgermeister kleingekriegt, verkündet er gerne. Und wenn eines seiner Opfer, der frühere Rathauschef Helmut Müller (CDU), ihm gegenübersitzt, scheint ihn das nicht zu stören.

Das methodische Repertoire des 1969 in Darmstadt geborenen Rechtsanwalts ist also breit. Er verfügt nicht nur über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, sondern auch über ein kommunikatives Instrumentarium, mit dem er viele Angehörige der CDU-Fraktion im Rathaus über Jahre hinweg nachhaltig bearbeitete. Lorenz war in der Lage, ihnen ein gutes Gefühl zu geben. Wenn ein Stadtverordneter, der einen Doktortitel erworben hat, dafür in seiner Partei eine besondere Ehrung erfährt, vergisst er das nicht. Er ärgert sich womöglich noch oft über Lorenz, er schimpft vielleicht sogar laut über ihn, aber im Grunde seines Herzens bleibt er immer dankbar dafür, dass dieser Mann ihm einst die Würdigung zukommen ließ, die ihm gebührte. Und wenn der Fraktionschef in kritischen Abstimmungen Unterstützung braucht, dann bekommt er sie. Die Arroganz, die viele dem Unionspolitiker ankreiden, ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Der Wagner-Liebhaber ist nicht nur intelligent, sondern manchmal auch sensibel. Von einigen Stadtverordneten wurde er als eine Art Klassenlehrer oder gar als Familienoberhaupt gesehen. Manchen seiner Leute verschaffte er ein kleines finanzielles Zubrot. Ein Mandat im Aufsichtsrat einer größeren städtischen Gesellschaft bringt 160 Euro im Monat und 55 Euro pro Sitzung. In den kleineren wird immerhin noch etwas mehr als die Hälfte gezahlt. Wer einen Ausschuss der Stadtverordnetenversammlung leitet, bekommt dafür 270 Euro im Monat zusätzlich.

Nachdem Lorenz im Sommer 2001 in einer Kampfabstimmung zum Chef der CDU-Rathausfraktion gewählt worden war, widmete er sich anschließend dem unterlegenen Parteifreund Andreas Guntrum. Damit der keinen Grund hatte, ihm gram zu sein und womöglich noch Schwierigkeiten zu machen, beförderte Lorenz ihn bei der nächsten Gelegenheit in die Geschäftsführung der Stadtentwicklungsgesellschaft. Dieser Vorgang war so einfach, wie es klingt. Denn an der Spitze der Gesellschaft steht von jeher ein Duo. Sowohl die Sozialdemokraten als auch die Union entsenden einen Vertreter. Die Nominierung der CDU war Lorenz’ Sache. Heute verdient Guntrum nach den Angaben der Stadt mehr als 200 000 Euro im Jahr – ein guter Grund, mit demjenigen, dem er seine fürstliche berufliche Existenz verdankt, in unverbrüchlicher Treue zu kooperieren. Er zögert nicht, zu helfen, wenn Lorenz ihn darum bittet. Solche Dienste werden alten Freunden im Alltag wie selbstverständlich erwiesen und nicht an die große Glocke gehängt.

Als seine Erfüllungsgehilfen betrachtete Lorenz auch die Politiker, denen er zu ihrem Amt verholfen hatte. Treu ergeben waren ihm beispielsweise der Wirtschaftsdezernent Detlev Bendel und die Dezernentin für Schule und Kultur, Rose-Lore Scholz. Bei Bendel nahm die Loyalität bisweilen komische Züge an. Journalisten, die ihn sprechen wollten, warteten normalerweise zwei bis drei Tage auf einen Rückruf. Aber irgendwann erwies sich, dass der vielbeschäftigte Dezernent innerhalb von kürzester Zeit selbst im Urlaub greifbar war, wenn man im Vorzimmer nur darauf hinwies, dass der große Vorsitzende dazu geraten hatte, sich vertrauensvoll an Bendel zu wenden. Lorenz kokettierte damit, dass die Dezernenten ihn und nicht etwa den Oberbürgermeister als ihren eigentlichen Chef betrachteten.

Aber nicht nur gutbezahlte Posten schaffen Loyalitäten, sondern auch die Hoffnung darauf. Am größten war sie in der Riege der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Dort hielt Hans-Martin Kessler seinem Chef jahrelang den Rücken frei. Er gehörte der Stadtverordnetenversammlung seit 1989 an und stieg bald zum Sprecher der Fraktion für Planung, Bau und Verkehr auf. 2002 übernahm er den entsprechenden Fachausschuss der Stadtverordneten. Auf den Lohn für seine treuen Dienste musste er lange warten. Erst 2017 wurde er Dezernent für Stadtentwicklung und Bau. Aber persönlich profitiert hat er von seinem politischen Einfluss schon viel früher. Als die von Skandalen erschütterte, knapp am Ruin vorbeigeschrammte Mainzer Wohnbau GmbH im Jahr 2009 für 147 Millionen Euro 2825 in den rechtsrheinischen Stadtteilen Amöneburg, Kastel und Kostheim gelegene Wohnungen an die Stadt Wiesbaden verkaufen wollte, war als führendes und fachkundiges Mitglied der CDU-Fraktion auch Kessler gefragt.

Es hätte in seiner Hand gelegen, das Geschäft zu verhindern oder beispielsweise einen niedrigeren Kaufpreis durchzusetzen. Und es gab durchaus Argumente, die sich gegen die Transaktion vorbringen ließen. So erklärte beispielsweise die FDP, obwohl sie Teil des damaligen Jamaika-Bündnisses war, dass der Wert der Wohnungen nicht viel mehr als 100 Millionen Euro betrage. Fraktionschef Michael Schlempp führte entsprechende Gutachten ins Feld und schlug vor, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens abzuwarten, um die Immobilien dann zu erwerben. Weil das Geschäft also alles andere als ein Selbstläufer war, konnte aus Mainzer Sicht ein gutes Verhältnis zu führenden Wiesbadener Politikern nicht schaden. Dass Kessler dazugehörte, machte sich für ihn bezahlt. Die Proviantmagazin Verwaltungs GmbH, eine Tochter der Wohnbau, verkaufte ihm und seiner Ehefrau eine in Kastel gelegene Immobilie für 310 000 Euro. Diese Summe entsprach in etwa dem damaligen Wert des Grundstücks. Das darauf stehende großzügige, zirka 70 Jahre alte Einfamilienhaus blieb offensichtlich unberücksichtigt.

Der politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess lässt sich ziemlich genau nachvollziehen: Im Juli 2006 einigen sich CDU, SPD und FDP in Mainz angesichts der desaströsen Haushaltslage der Stadt auf ein Programm zur Konsolidierung, das ausdrücklich auch den Verkauf von Wohnungen aus dem Bestand der Wohnbau nicht ausschließt. Die Stadt Wiesbaden hält als Mitgesellschafter an dem Mainzer Unternehmen einen Anteil von 17,1 Prozent. Rasch verengt sich die Debatte auf die Wohnungen in den rechtsrheinischen, zu Wiesbaden gehörenden Stadtteilen. Dort, in Amöneburg, Kastel und Kostheim,bekunden die Kommunalpolitiker Interesse. Im Frühjahr 2007 beschließt der Mainzer Stadtrat, die Nachbarstadt bei den Veräußerungen einzubeziehen. Im Mai fordert die Wiesbadener SPD die Wohnbau auf, ihre Verkaufsabsichten offenzulegen, damit man planen könne. Im August 2007 beklagt der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel (SPD) öffentlich, dass die Wiesbadener CDU eine „Geisterdebatte“ über den Preis der rechtsrheinisch gelegenen Wohnungen „angezettelt“ habe. Sie versuche auf diese Weise, die Stimmung unter den Mietern anzuheizen, „offenkundig um einen Preis zu drücken“. Im Sommer 2009 kommt das Millionengeschäft zwischen Mainz und Wiesbaden zustande. Am 2. Juli beschließt die Mehrheit der Wiesbadener Stadtverordneten in nichtöffentlicher Sitzung gegen die Stimmen der FDP und vier weiterer Stadtverordneter den Kauf der Wohnungen.

Kessler erwirbt das Haus zu Beginn des Jahres 2008, also mitten in einem laufenden bilateralen Prozess, an dem er selbst beteiligt ist. Während die Diskussion vor und hinter den Kulissen geführt wird, schließt ausgerechnet einer der entscheidenden parlamentarischen Akteure Wiesbadens mit der Mainzer Seite ein äußerst günstiges privates Geschäft ab. Jörg Suckfiel, Geschäftsführer der Wohnbau, bestätigt den Verkauf des Gebäudes an die Eheleute Kessler. „Das haben wir nachvollziehen können.“ Weitere Auskünfte kann er nach eigenem Bekunden aber nicht geben, weil die Akte aus Gründen des Datenschutzes und gemäß den gesetzlichen Aufbewahrungsfristen im Jahr 2018 „ordnungsgemäß entsorgt“ worden sei.

Der Verfasser konfrontierte auch Kessler mit dem Vorgang. „Zum Erwerb meines Hauses treffen Ihre Informationen und Annahmen nicht zu“, lautete die schriftliche Stellungnahme. Sie irritiert. Denn die von dem Unionspolitiker bestrittene Darstellung ist schwarz auf weiß belegt. Der Preis in Höhe von 310 000 Euro ist in dem Kaufvertrag ausgewiesen, der am 16. Januar 2008 beurkundet wurde. Der amtliche Bodenrichtwert lag damals bei 600 Euro pro Quadratmeter. Der Wert des 507 Quadratmeter großen Grundstücks belief sich demnach auf insgesamt 304 200 Euro, entsprach also in etwa dem gezahlten Betrag. Zugespitzt formuliert: Kessler hat das ganz in der Nähe des Rheinufers gelegene Haus auf dem Grundstück quasi geschenkt bekommen. Käufer und Verkäufer ließen auch die Frage unbeantwortet, ob ein Gutachten zu dem Wert des Hauses erstellt wurde. Es dient üblicherweise dem Schutz vor dem Vorwurf der Untreue gegenüber den beteiligten Entscheidungsträgern, wenn kommunale Wohnungsunternehmen oder etwa die Immobilienabteilungen von Sparkassen Geschäfte mit Kommunalpolitikern abwickeln. Beide Seiten können auf diese Weise dokumentieren, dass alles mit rechten Dingen zuging und die Politik keine Rolle gespielt hat. Dass Suckfiel zu den Umständen des Geschäfts nichts mehr einfällt, ist bemerkenswert. Er nahm als Vertreter der Proviantmagazin an dem Notartermin teil.

Aber zurück zu Lorenz: Er war in der Fraktion keineswegs nur der Kümmerer, sondern auch der alleinige Bestimmer. Und er verlangte, dass man ihm folgte. Der langjährige Geschäftsführer der Fraktion, Sven-Uwe Schmitz, ein kritischer Geist, bekam das zu spüren. Der promovierte Politikwissenschaftler hatte neben seiner Hauptbeschäftigung noch ein ehrenamtliches Mandat als Stadtverordneter inne. Das aber hätte Lorenz gern in anderen, absolut loyalen Händen gewusst. Denn es kam auf jede Stimme an, nachdem die CDU bei den Kommunalwahlen des Jahres 2016 acht Prozentpunkte eingebüßt hatte und nur noch auf 24,7 Prozent gekommen war. So entließ Lorenz den Geschäftsführer. Die Kündigung habe Lorenz ihm wenige Tage zuvor angekündigt, berichtete Schmitz. Gleichzeitig habe er gedroht, die Verträge der fünf anderen Mitarbeiter in der Geschäftsstelle nicht zu verlängern. Schließlich habe Lorenz gesagt, dass alle bleiben könnten, wenn Schmitz eine Bedingung erfülle: die Aufgabe seines ehrenamtlichen Mandats als Stadtverordneter. Schmitz weigerte sich. Der von ihm angekündigte Kündigungsschutzprozess endete mit einem Vergleich. Die Fraktion musste 25 800 Euro an Schmitz zahlen. Die anderen fünf Mitarbeiter verließen die Geschäftsstelle aus freien Stücken. Schmitz fand eine Stelle im Innenministerium. Die Berichterstattung über die Kündigung hatte ein Bürger zum Anlass genommen, wegen versuchter Nötigung Strafanzeige gegen Lorenz zu erstatten. Der erklärte, dass er mit Schmitz nur ein „Planungsgespräch“ geführt und ihm erklärt habe, dass der Hauptberuf des Geschäftsführers und sein Ehrenamt als Stadtverordneter nicht miteinander vereinbar seien. Er bestritt auch, damit gedroht zu haben, die Verträge der übrigen fünf Mitarbeiter nicht zu verlängern. Stattdessen habe er lediglich darauf hingewiesen, dass ein neuer Geschäftsführer gegebenenfalls eigene personelle Vorstellungen habe und die Stellen der gegenwärtigen Mitarbeiter darum nicht sicher seien. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein. Dass Hauptberuf und Ehrenamt nicht in einer Hand sein sollten, sei eine nachvollziehbare politische Grundüberlegung, äußerte der Sprecher der Justizbehörde. Sie war auf eine in die Irre führende Argumentation hereingefallen. Denn die ins Feld geführte „Grundüberlegung“ galt in der Vergangenheit weder für Schmitz’ Vorgänger, den inzwischen verstorbenen Unionspolitiker Ulrich Weinerth, noch für Schmitz selbst. Er war seit 2013 gleichzeitig Fraktionsgeschäftsführer und Stadtverordneter. Dass Hauptberuf und Ehrenamt in einer Hand lagen, war in der Unionsfraktion nie zuvor ein Problem gewesen. Die Staatsanwälte wurden Opfer eines Scheinargumentes, weil sie sich nicht der Mühe unterzogen hatten, die tatsächlichen politischen und organisatorischen Strukturen nachzuvollziehen.

Lorenz hat schon immer polarisiert. Als junger Mitarbeiter im Justizministerium löste er bei verschiedenen Unionspolitikern eine Skepsis aus, die sich bis heute nicht gelegt hat – im Gegenteil: Im Herbst 2013 begründete Horst Klee, der Ehrenvorsitzende der Wiesbadener CDU, seine letzte Kandidatur für den Landtag damit, dass er zwar schon 73 Jahre alt sei, seine Parteifreunde in der Landtagsfraktion ihn aber dringend gebeten hätten, weiterzumachen. Ansonsten wäre Lorenz zum Zuge gekommen. Damals bezeichnete ein führender hessischer Unionspolitiker Lorenz als „Sargnagel der Wiesbadener CDU“.

Er selbst betonte regelmäßig, er sei täglich 24 Stunden für die Partei und die Stadt unterwegs. Tatsächlich hatte er 15 Mandate in Aufsichtsgremien inne, bevor er nach seinem Abgang als Fraktionschef zu Beginn des Jahres 2019 neun davon aufgab. Bis dahin brachten ihm diese Posten insgesamt weit über eintausend Euro ein – im Monat. Die Aufwandsentschädigung für Stadtverordnete beläuft sich auf 660 Euro, der Fraktionsvorsitz ist zusätzlich mit 550 Euro veranschlagt. Für den Vorsitz im Beteiligungsausschuss bekommt Lorenz noch einmal 270 Euro. Als Mitglied des Ortsbeirates im Stadtteil Klarenthal bezieht er 110 Euro. Schließlich kann er sich den Verdienstausfall für die Stunden erstatten lassen, die er in Gremiensitzungen verbringt. Zumindest bis zum März 2019 galt für ihn als Selbständigen die gedeckelte Pauschale von 1200 Euro im Monat. Vorsichtig geschätzt, bescherten ihm seine „Ehrenämter“ Einnahmen in der Größenordnung von 50 000 Euro im Jahr. Diese Summe ist kein Skandal. In anderen Kommunen wird der Fraktionsvorsitz von vornherein als hauptamtliche Tätigkeit eingestuft und entsprechend vergütet. Höchst bedenklich aber ist die Machtkonzentration, die durch die Ämterhäufung entsteht, ganz abgesehen von der Frage, ob eine Person allein überhaupt in der Lage ist, diese Mandate verantwortungsvoll wahrzunehmen. Hinzu kommt ja noch Lorenz’ Anwaltskanzlei. Wenn er sich mal wieder mit Top-Mandaten brüstete, fragte man sich immer, wie er angesichts des Aufwands für seine politische Tätigkeit überhaupt noch Zeit für seinen eigentlichen Beruf fand.

In Anbetracht der extrem anmutenden Beanspruchung als Fraktionsvorsitzender, Mitglied in zahllosen Gremien und Rechtsanwalt ließ sich die zusätzliche jahrelange „Tätigkeit“ für die Sparkassenversicherung kaum noch nachvollziehen. Lorenz wurde im Jahr 2008 einer von zwei Geschäftsführern einer Tochtergesellschaft dieses öffentlich-rechtlichen Unternehmens. Dessen Aufsichtsrat gehören Landräte und Rathauschefs wie Gerich an. Lorenz kam von der Allianz-Versicherung und brachte fachliche Kenntnisse mit. Aber bei seiner Einstellung ließ sich die Zentrale in Stuttgart auch durch die politische Schlüsselstellung des Bewerbers im Wiesbadener Rathaus beeinflussen. Dem Unternehmen, das zur sogenannten kommunalen Familie gehört, erschien es vorteilhaft, eine auf dieser Ebene so einflussreiche Persönlichkeit in seinen Reihen zu haben. Lorenz’ Gehalt belief sich auf mehr als 100 000 Euro im Jahr. Doch zu Beginn des Jahres 2017 wurde die Tochtergesellschaft überflüssig. Für ihren Weiterbetrieb gebe es aufgrund von verschiedenen Veränderungen keine ökonomische Basis mehr, teilte die Sparkassenversicherung mit. Beide Geschäftsführer mussten gehen. Lorenz klagte. In der ersten Instanz unterlag er. Im Frühjahr 2019 einigte man sich auf einen Vergleich.

Lorenz hätte längst den Anspruch erheben können, Dezernent zu werden. Dann würde er von der Stadt ein Jahreseinkommen in der Größenordnung von 150 000 Euro beziehen. Eine Position als Geschäftsführer einer größeren städtischen Gesellschaft, die für ihn ebenfalls erreichbar gewesen wäre, trüge ihm womöglich eine Viertelmillion ein. Aber er wollte mehr. Darum ging er einen anderen Weg. Den ersten Abschnitt legte er gemeinsam mit dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Rolf Praml zurück. Beide galten in der Wiesbadener Kommunalpolitik als intellektuelle Überflieger – völlig zu Recht, wie sie selbst meinten. Praml war hessischer Staatssekretär für Bildung und Wissenschaft, als er im Jahr 1997 in der Landeshauptstadt vergeblich für das Amt des Oberbürgermeisters kandidierte. Danach stand er sechs Jahre lang als Oppositionschef an der Spitze der sozialdemokratischen Stadtverordneten, anschließend scheiterte er gegen den Amtsinhaber der CDU im Rathaus auch im zweiten Anlauf. Der persönliche Misserfolg mag erklären, dass Praml die Direktwahl des Rathauschefs ablehnte. Sie macht aus dem Oberbürgermeister eine Autorität aus eigener Kraft. Solche Leute konnte Praml nicht brauchen. Er einigte sich lieber mit Lorenz hinter verschlossenen Türen auf eine Marschroute, die dann von den Stadtverordneten zu befolgen war. Der frühere sozialdemokratische Oberbürgermeister Achim Exner bezeichnete die beiden gern als siamesische Zwillinge. Sie harmonierten tatsächlich. Und sie stimmten in der Auffassung überein, dass unabhängig von der Popularität Einzelner die Stadtverordneten, und damit vor allen anderen sie selbst, das entscheidende Machtzentrum der Stadt bildeten. Als Praml den Fraktionsvorsitz im Jahr 2004 abgab, arbeitete Lorenz mit dessen Nachfolgerin Elke Wansner partnerschaftlich zusammen – allerdings nur bis zur Bildung der Jamaika-Koalition im Jahr 2006. Im Unterschied zu Praml unternahm der Unionspolitiker erst gar nicht den Versuch, zum Stadtoberhaupt gewählt zu werden. Stattdessen arrangierte er sich erst einmal mit den gewählten Rathauschefs, um nicht von ihnen gestört zu werden, wenn er mit den Vorsitzenden der anderen Fraktionen den Kurs der Politik zu bestimmen suchte.

Der Oberbürgermeister steht an der Spitze der Verwaltung und leitet die Sitzungen des Magistrats. Dieses Gremium ist in etwa mit dem Kabinett im Bund oder in den Ländern vergleichbar. Ihm gehören selbst in Großstädten aber neben dem OB nur fünf bis sechs Dezernenten an, die für Aufgabenfelder wie Wirtschaft, Finanzen, Schule, Kultur, Soziales, Stadtplanung und Bau verantwortlich sind. Oft hat einer von ihnen zusätzlich das Amt des Bürgermeisters inne. Die hauptamtlichen Mitglieder des Magistrats, die Dezernenten also, werden von den Stadtverordneten direkt gewählt und führen deren Beschlüsse aus. Außerdem treffen sie Entscheidungen zu laufenden Verwaltungsangelegenheiten. Dabei stützen sie sich auf die Ämter der Kernverwaltung. Darüber hinaus sind den Dezernenten kommunale Unternehmen zugeordnet. Überall in Deutschland wurden im vergangenen Jahrhundert beispielsweise Energieversorger, Verkehrsgesellschaften und Wohnungsbauunternehmen aus den Rathäusern ausgelagert, damit sie sich in einer privatrechtlichen Gesellschaftsform, von Verwaltungsvorschriften befreit, die Vorteile der freien Wirtschaft zunutze machen können. Dazu zählen enorme steuerliche Vorteile. Den Einfluss der Kommunen sollen Aufsichtsgremien wahren. An deren Spitze stehen in der Regel die fachlich zuständigen Dezernenten, das kann auch der Oberbürgermeister sein. Hinzu kommen Stadtverordnete, die weder über die nötigen Kenntnisse noch über die nötige Zeit verfügen, um ihre Kontrollfunktion wirksam auszuüben. Außerdem werden sie eingeschüchtert, beispielsweise durch die Vorschrift, dass die Sitzungen des Aufsichtsrates streng vertraulich seien und bestraft werden könne, wer plaudere. So behält jeder für sich, was er glaubt verstanden zu haben – auch wenn die Beschlüsse seltsam anmuten.

Als CDU, FDP und Grüne im Jahr 2006 in Wiesbaden eine der ersten Jamaika-Koalitionen der Republik bildeten, verlangte die Ökopartei für ihre Zustimmung den Preis von rund 175 000 Euro im Jahr. Mit dieser Summe war damals die Position eines Geschäftsführers der Verkehrsgesellschaft ESWE dotiert, die der Fraktionschef der Grünen, Stefan Burghardt, bekam. Der Ministerialbeamte hatte schon immer zu Recht darauf hingewiesen, dass die Besserverdienenden nicht im Magistrat säßen, sondern in den städtischen Gesellschaften. Das Grundgehalt eines Dezernenten bewegt sich in der ungefähren Größenordnung von 120 000 Euro. Die Grünen seien „gekauft“ worden, lautete der Vorwurf der Opposition. Aus dem Dreierbündnis hieß es hingegen, die Partei habe bei den Kommunalwahlen ein viel besseres Wahlergebnis erzielt als die FDP, aber sie stelle nicht mehr Dezernenten. Dafür bekomme sie nun die Stelle eines Geschäftsführers. Damit war es gleichsam offiziell: Nicht nur die Dezernentenposten zählen zur Verfügungs- und Verhandlungsmasse, sondern auch die Positionen der Geschäftsführer in den städtischen Unternehmen.