Die vergessenen Worte - Liz Trenow - E-Book
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Die vergessenen Worte E-Book

Liz Trenow

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Beschreibung

Vergessene Verse bergen das Geheimnis einer verbotenen Liebe …

London 1911: In einem Waisenhaus erregt die junge Maria Romano die Aufmerksamkeit einer adeligen Dame. Die Lady ist beeindruckt von Marias feinen Nadelarbeiten und stellt sie als Näherin für ihren Haushalt ein.

Knapp hundert Jahre später entdeckt Caroline im Haus ihrer Mutter einen alten handgefertigten Quilt. Die Decke ist mit eigentümlichen Versen bestickt und aus seltenen Seidenstoffen gefertigt. Wie ist das wertvolle Stück in die Hand ihrer Familie gelangt? Und welche Bewandtnis hat es mit den Stickereien? Caroline folgt den Spuren der vergessenen Verse und macht eine unglaubliche Entdeckung …

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Buch

London 1911: In einem Waisenhaus erregt die junge Maria Romano die Aufmerksamkeit einer adeligen Dame. Die Lady ist beeindruckt von Marias feinen Nadelarbeiten und stellt sie als Näherin für ihren Haushalt ein. Maria ahnt nicht, wer die Dame ist und für wen sie in Zukunft arbeiten wird, bis sie vor dem Palast steht, der ihre neue Heimat werden soll …

Knapp hundert Jahre später entdeckt Caroline im Haus ihrer Mutter einen alten handgefertigten Quilt. Die Decke ist mit eigentümlichen Versen bestickt und aus äußerst seltenen Seidenstoffen aus königlichem Besitz gefertigt. Aber wie ist das wertvolle Stück in die Hand ihrer Familie gelangt? Und welche Bewandtnis hat es mit den Stickereien? Caroline folgt den Spuren der vergessenen Verse und macht eine unglaubliche Entdeckung …

Autorin

Liz Trenow wuchs in der Nähe einer Seidenspinnerei auf, die sie zu ihrem ersten Roman Das Kastanienhaus inspirierte. Obwohl ihre Vorfahren seit über dreihundert Jahren im Seidengeschäft tätig sind, entschied Liz Trenow sich für einen anderen Beruf. Sie arbeitete viele Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete.

Von Liz Trenow ist bereits erschienen

Das Kastanienhaus

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Liz Trenow

Die

vergessenen

Worte

Roman

Deutsch von Andrea Brandl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Forgotten Seamstress« bei Avon, a division of HarperCollins Publishers, London.
bei Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Copyright der Originalausgabe © 2014 by Liz Trenow Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Ulrike Nikel Umschlaggestaltung: www.bürosüd.de, München, unter Verwendung eines Motivs von Corbis/Mark Fiennes; plainpicture/Antonio Saba wr · Herstellung: sam Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-14366-4V002
www.blanvalet.de

Für David, meinen verlässlichen Quell der Liebe und Unterstützung

Patchwork

Patch|work ([pæt∫wœ:k] n.; -s, -s; Textilw.) Technik zur Herstellung von Wandbehängen, Decken, Taschen o. Ä., bei der Stoff- oder Lederteile verschiedener Farben, Formen und Muster harmonisch zusammengefügt werden [engl., »Flickwerk«]

Quilt

Quilt ([kvılt] m.; -s, -s) (ursprünglich von amerikanischen Siedlerfrauen hergestellte) aus kleinen, verschiedenfarbigen, zugeschnittenen Stoffstücken zusammengesetzte gesteppte Decke, bestehend aus mindestens zwei, meist jedoch drei Lagen (Schauseite, wärmende Zwischenlage, Rückseite), die mittels kunstvoller Sticktechnik miteinander vernäht werden; Verwendung als Bettüberwurf oder Wandbehang

2. April 1970

Sehr geehrter Herr Dr. Meadows,

vielen Dank für Ihr Schreiben, in dem Sie uns um Unterstützung Ihrer Studentin Patricia Morton bitten. Da es uns natürlich ein Anliegen ist, Forschungsarbeiten zu fördern, gewähren wir ihr selbstverständlich Zugang zu allen wichtigen Informationen und stellen den Kontakt zu den entsprechenden Personen her.

Allerdings erbitten wir Ihrerseits die schriftliche Bestätigung, dass die nachfolgenden Vorgaben befolgt werden:

Sämtliche Befragungen müssen anonym erfolgen. Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass die in Miss Mortons Abschlussarbeit verwerteten Informationen keinerlei Hinweise auf die Identität des jeweiligen Patienten beziehungsweise der Schwester enthalten.Die Interviews dürfen ausschließlich mit Einverständnis des Patienten und nach Absprache mit dem zuständigen psychiatrischen Betreuer sowie gegebenenfalls der Zustimmung eines Familienmitglieds geführt werden.Eine Befragung von Klinikmitarbeitern ist lediglich erlaubt, wenn die schriftliche Zustimmung der jeweiligen Vorgesetzten eingeholt wurde.

Für ehemalige Mitarbeiter und Patienten kann der Eastchester Mental Health Service natürlich keine Entscheidungen treffen. Wir setzen aber voraus, dass für sie die gleiche Diskretion gilt. Bitte weisen Sie Miss Morton zudem darauf hin, dass ehemalige und derzeitige Patienten unserer Einrichtung als Informationsquelle für Forschungszwecke nur bedingt geeignet sind. Die Mehrzahl – wenn nicht gar alle – leidet bereits ein Leben lang unter einer psychischen Erkrankung, was eine beschränkte Sichtweise speziell auf die Gegenwart und bestenfalls bedingt relevante Auskünfte zur Folge hat.

Gewiss verstehen Sie, dass uns die ärztliche Schweigepflicht verbietet, sämtliche Details über unsere Patienten preiszugeben. Dennoch bin ich bereit, Miss Morton bei der Befragung einzelner Schützlinge beratend zur Seite zu stehen. Bitte richten Sie ihr aus, sie möge sich mit meiner Sekretärin in Verbindung setzen und einen Termin vereinbaren.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. John Watts

Medizinischer Leiter und Chefarzt

Helena Hall Hospital, Eastchester

Kapitel 1

Kassette 1, Seite 1

April 1970

Die haben mir gesagt, Sie wollen meine Geschichte hören. Wieso ich in Helena Hall war? Tja, gute Frage, die ich mir seit mehr als fünfzig Jahren immer wieder stelle. Ich kann Ihnen erzählen, wie ich hergekommen bin und was mit mir passiert ist. Wieso, ist mir allerdings bis heute ein Rätsel.

Eine tiefe, kehlige Raucherstimme mit ausgeprägtem Ostlondoner Akzent, in der Erheiterung mitschwingt– eine Art Glucksen, das jeden Moment in ein asthmatisches Lachen umschlagen kann.

Vermutlich haben die Sie vor mir gewarnt und gesagt, meine Geschichte sei reine Erfindung. Zumindest wollen diese Seelenklempner, dass Sie genau das glauben.

Die zweite Stimme, ebenfalls die einer Frau: jünger, ausdrucksvoll und gebildet. »Seelenklempner?«

Entschuldigung, Schätzchen, aber so haben wir früher den Psychiater immer genannt. Wenn jemand Geschichten erzählte, die er für erfunden hielt, betrachtete der gute Mann das als Beweis für irgendwelche »unerfüllten Bedürfnisse«.

»Da muss ich Ihnen recht geben«, habe ich zu ihm gesagt und dazu ein bisschen mit den Wimpern geklimpert. »Ich bin praktisch mein ganzes Leben bereits in dieser Irrenanstalt und habe jede Menge unerfüllte Bedürfnisse.« Er lächelte nur und meinte: »Sie müssen sich auf Ihre Genesung konzentrieren, meine Liebe. Blicken Sie nach vorn und nicht zurück. Diese Fantasien wieder und wieder aufzuwärmen und zu verstärken, stellt ein regressives Verhaltensmuster dar. Sie müssen damit aufhören, sonst kommen Sie niemals wieder raus.«

Tja, man kann es drehen und wenden, wie man will, Schätzchen, aber ich muss Ihnen wohl alles erzählen.

»Und ich würde Ihre Geschichte sehr gern hören. Genau aus diesem Grund bin ich hier.«

Das ist wirklich nett von Ihnen. Wenn man so viele Jahre nichts mitbekommt vom normalen Leben, was bleibt einem da schon, außer über früher nachzudenken? Über Zeiten, als man jung war, jeden Tag Neues kennenlernte und Gefühle haben durfte. Als man sich noch lebendig fühlte. Gar nichts ist mir geblieben.

Meine Stickereien und die anderen Arbeiten sind bloß kleine Trostpflaster gewesen. Deshalb erzähle ich meine Geschichte jedem, der sie hören will, und es ist mir völlig egal, wenn die Leute mich für eine Spinnerin halten. Die Erinnerung an ihn und an das Kind, das ich verloren habe, ist schließlich das Einzige, was mir half, den Bezug zur Wirklichkeit nicht völlig zu verlieren.

Also, wo soll ich anfangen?

»Am besten ganz vorn. Der Kassettenrekorder läuft.«

Sie müssen ein bisschen nachsichtig mit mir sein, Schätzchen, immerhin ist das alles lange her. Ich bin dieses Jahr vierundsiebzig geworden, und meine grauen Zellen sind nicht mehr das, was sie mal waren. Trotzdem will ich es versuchen. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich während des Redens weiternähe, oder? Es hilft mir, mich zu konzentrieren und zu entspannen. Ohne Nadel in der Hand bin ich nicht glücklich. Es ist bloß eine einfache Applikationsstickerei mit Knopflochstichen, kinderleicht. Auf diese Weise franst der Stoff nicht aus.

Die Erzählung bricht ab. Ein heftiger, rasselnder Raucherhusten ertönt, dann ein abschließendes Räuspern.

Ist schon wieder besser. Okay, fangen wir an.

Mein Name ist Maria Romano. Ich glaube, meine Mutter stammte ursprünglich aus Rom, aber wir lebten im Londoner East End. Keine Ahnung, warum sie eine sonnige Stadt gegen eine so triste Gegend eingetauscht hat.

Sind die Leute in Italien eigentlich alle so klein? Mum war winzig, wurde mir erzählt, und ich brachte es ebenfalls auf höchstens einen Meter fünfzig. Jetzt bin ich eher noch kleiner, weil man ja im Alter schrumpft. Mit so einer geringen Größe hat man nicht die leiseste Chance gegen andere, und deshalb braucht man flinke Beine. Und genau die hatte ich. Vielleicht war ich aus diesem Grund auch eine leidenschaftliche Tänzerin, obwohl ich kaum Gelegenheit hatte, irgendwelche Tanzvergnügen zu besuchen. Gelaufen bin ich allerdings wie der Wind. Ständig. Trotzdem gab es Dinge in meinem Leben, vor denen ich nicht davonlaufen konnte, und diese Anstalt gehörte dazu.

Das Seltsame ist, dass wir uns jahrelang danach sehnten, endlich rauszukommen, doch sobald wir es durften, wollten viele wieder zurück. Hier fühlten wir uns sicher, hier hatten wir Freunde, hier waren wir zu Hause. Als sie uns sagten, dass wir bald irgendwo draußen leben könnten, bekam ich es mächtig mit der Angst zu tun. Geriet anfangs regelrecht in Panik. Und wenn esmir schon Sorgen bereitete, was sollten da erst die richtig Verrückten sagen? Die kamen mit so was gar nicht klar als Sozio… oder wie das heißt. Was denken Sie darüber?

»Darüber unterhalten wir uns später. Lassen Sie uns erst einmal über Sie sprechen, und erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

Das tue ich, wenn Sie unbedingt wollen. Allerdings kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, was an einer alten Frau wie mir so interessant sein soll. Wo war ich stehen geblieben?

»Bei Ihrer Mutter.«

Ach, ja. Meine arme Mum. Meine Haut- und Haarfarbe sind der eigentliche Grund, weshalb ich glaube, dass sie Italienerin war. Inzwischen bin ich grau, und meine Haut ist fahl, aber früher wurde ich im Sommer so braun, dass die anderen meinten, ich sei in Schuhwichse gefallen. Und um meine glänzenden schwarzen Locken wurde ich von allen Mädchen im Waisenhaus beneidet. Nora erzählte mir später, die Jungs hätten gesagt, ich sei ein heißer Feger. Tatsächlich lernte ich schnell, dass ein Blick aus meinen großen, dunklen Augen genügte, damit sie knallrot anliefen und rasch wegschauten.

»Das Waisenhaus?«

Ja, meine Mum starb, als ich gerade mal zwei Jahre alt war, ein kleines Würmchen. Ich weiß nicht genau, woran. Vermutlich an einer dieser Seuchen, die damals in den Armenvierteln der Stadt wüteten und um die sich kein Arzt scherte. Nicht bei uns armen Teufeln. Für uns gab’s kein Penizillin und keine Impfungen oder so. Heute kann man sich das nicht vorstellen, doch damals, um die Jahrhundertwende, war vieles anders.

Soweit ich weiß, machte sich mein Vater gleich aus dem Staub, nachdem er seinen Spaß gehabt hatte. Großeltern waren wohl ebenfalls keine da, und so bin ich im Castle gelandet. Na ja, so nannten wir das Waisenhaus, weil es so riesig und düster war und wie eine Burg aussah mit den spitzen Fenstern und diesen Dingern ganz oben auf den Mauern, wo eigentlich das Dach sein sollte. Wie heißen die gleich?

»Zinnen?«

Genau. Jedenfalls war es eine richtige Festung mit hohen Eisentoren und Backsteinmauern. Damit keine Fremden reinkommen könnten, haben sie uns erzählt. Natürlich wussten wir, dass die Mauern in Wahrheit uns am Weglaufen hindern sollten. Einen Garten mit Bäumen und Blumen, wie ihn richtige Burgen und Schlösser haben, gab es nicht, sondern nur einen Hof, wo wir bei schönem Wetter spielen durften.

Was das Innere angeht, sind mir vor allem die dunklen Holzvertäfelungen, die Steinfußböden und die riesigen Treppen, die drei oder vier Stockwerke nach oben führten, in Erinnerung geblieben. Wenn wir in die Schlafsäle gingen, schienen wir geradewegs in den Himmel zu steigen. Waisenhaus klingt immer so bedrückend, war es aber nicht, und ich wüsste nicht, jemals dort unglücklich gewesen zu sein. Ich kannte ja nichts anderes. Wir hatten es warm, bekamen gutes Essen, und man war nie allein. Einige der Mädchen wurden sogar echte Freundinnen für mich.

Am Anfang fürchteten wir uns allerdings vor den Nonnen, weil sich die weiten Ärmel ihrer langen schwarzen Gewänder wie Fledermausflügel bauschten, wenn sie uns durch die Gänge scheuchten. Dabei waren die meisten recht nett – nur ein paar benahmen sich manchmal gemein. Was einen ja nicht zu wundern braucht, so ganz ohne Männer und immer von einer Horde ungezogener Kinder umgeben.Jedenfalls war es ein besserer Start ins Leben, als ich ihn bei meiner armen Mum gehabt hatte.

Schade, dass es nicht immer so weiterging.

Was unsere Zukunft betraf, kannten die Nonnen bloß ein einziges Ziel: Sie wollten uns kleinen Ungeheuern gute Manieren sowie einigermaßen Lesen und Schreiben beibringen. Und natürlich solche Dinge wie Kochen, Hauswirtschaft und Handarbeiten. Damit wir später, wenn wir alt genug waren, als Hausmädchen arbeiten konnten. Und so was Ähnliches habe ich ja auch getan.

Mir lag Handarbeiten besonders, da stellte ich mich sehr geschickt an und wurde oft deswegen gelobt. Was mir runterging wie Honig.Ein Gottesgeschenk, sagten die Nonnen, doch ich sah das anders. Meiner Meinung nach hatte diese besondere Begabung mit meinen winzigen Fingern zu tun und mit meinem Ehrgeiz. Ich strengte mich nämlich mehr an als die anderen und wollte unbedingt immer alles richtig machen. Außerdem war es ein schöner Zeitvertreib – viel Abwechslung hatten wir ja nicht.

Mögen Sie Handarbeiten, Kindchen?

»Weniger. Meine Stärke ist eher das Schreiben.«

Sie sollten es mal versuchen. Es gibt nichts Schöneres, als aus einer alten Wolldecke, die keiner mehr haben will, einen wunderschönen Mantel zu zaubern, der ein Kind viele kalte Winter lang wärmt. Oder kleine Baumwollfetzen zu einer Patchworkdecke zusammenzufügen, die ganz weich auf der Haut ist und für jedes Zimmer eine Zierde darstellt.

Jedenfalls verbrachten wir im Handarbeitssaal den Großteil unserer Zeit und arbeiteten fleißig. Was hätten wir sonst tun sollen? Nicht mal nach draußen schauen konnten wir, weil die Fenster sich hoch oben unter der Decke befanden. Im Winter drängten wir uns um den alten Ofen in der Ecke, im Sommer saßen wir in Grüppchen an langen Tischen. Immer mussten wir aufpassen, dass wir nicht zu laut schwatzten, denn die Nonnen hatten Ohren wie Luchse.

Wir machten alles mit der Hand – Nähmaschinen hatten wir keine. Deshalb war es wichtig zu wissen, welche Nadel man für welchen Stoff und für welchen Faden verwenden musste. Schon mit zehn Jahren hatte ich das drauf und beherrschte zudem ein ganzes Dutzend unterschiedlicher Stiche. Vom einfachen Vor- und Steppstich bis zu den raffiniertesten Zierstichen wie dem Ähren- oder dem Knötchenstich. Außerdem bekam ich alle meist so gleichmäßig hin, dass man am Ende nicht sehen konnte, ob sie von Hand oder mit der Maschine gemacht waren.

Diesen Ehrgeiz verdankte ich Schwester Mary, die mich mit ihrer Begeisterung fürs Handarbeiten ansteckte und mir eine Menge Dinge beibrachte. So konnte ich schon früh mit geschlossenen Augen den Unterschied zwischen einem Crêpe und einem Batist erkennen, zwischen einem Baumwolltwill und einem Gingan, einem Wolljersey und einem Woll-Leinen-Gemisch oder zwischen einem Samt und einem Veloursamt. Nicht nur das. Ich wusste auch, welcher Stoff sich am besten für welchen Verwendungszweck eignete.

Aber denken Sie jetzt nicht, dass wir viele feine Stoffe zu Gesicht bekommen hätten. Normalerweise stand uns bloß einfarbige Wolle und Baumwolle zur Verfügung, die von ausgemusterter Kleidung und alten Polsterbezügen stammte. Bloß ab und zu brachte ein Kurzwarenhändler ein paar Ballen bedruckter Baumwolle oder Wollstoff vorbei, für die er keine Verwendung mehr hatte. Vielleicht geschah es auch aus reinem Mitleid für uns bedauernswerte Waisen und für die armen Kinder, denen wir Kleider nähten.

Sie sehen mich ein wenig irritiert an. Entschuldigung, wenn ich etwas abgeschweift bin. Wir haben so fleißig genäht, weil die feinen Damen der London Needlework Society die Nonnen gebeten hatten, sie bei ihrer Wohltätigkeitsarbeit zu unterstützen und Kleidung für die Kinder in den Armenvierteln zu nähen. Was uns wiederum das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes zu sein. Außer unseren Nähkünsten hatten wir ja nichts, und nun konnten wir damit sogar anderen helfen.

Wenn wir solche Stoffballen erhielten, war es jedes Mal wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Die schönen Farben und der Duft nach frisch gewaschener und auf der Leine getrockneter Wäsche – bis heute kann ich mir nichts Schöneres vorstellen. Für uns selbst durften wir aus nicht verwendeten Stoffresten neue Kleider oder Röcke schneidern, falls wir gerade aus unseren alten Sachen herausgewachsen waren. Nora und ich suchten uns immer die mit den schönsten Blümchenmustern aus. Wir bekamen ja so gut wie nie frische Blumen zu sehen, und da waren diese Stoffe für uns ein Ersatz. Sie brachten gewissermaßen den Frühling in unser Leben.

»Nora? Sie kannten sich also schon damals?«

O ja, praktisch von Anfang an. Nora war bereits im Waisenhaus meine beste Freundin. Da wir im gleichen Alter waren, schliefen wir im selben Schlafsaal und fühlten uns wie Schwestern. Schworen einander sogar, uns niemals zu trennen. Nicht dass man uns rein äußerlich für Verwandte gehalten hätte. Nora war blond und mit vierzehn bereits eins siebenundsechzig groß. Sie hatte riesige Füße, über die sie ständig stolperte, und ein Lachen, dem sich keiner entziehen konnte, nicht einmal die Nonnen. Und dann erst ihre Riesenhände, die fast doppelt so groß wie meine waren. Trotzdem stand sie mir beim Nähen kaum nach. Wir waren zwei freche kleine Rangen und kamen vermutlich nur wegen unseres Fleißes und unseres Geschicks immer ungeschoren davon.

Unsere Freundschaft hielt auch, als wir älter wurden und uns unterschiedlich entwickelten. Während ich lange flach blieb wie ein Brett und keinerlei Körperbehaarung aufwies, bekam Nora früh einen Busen, und unter ihren Achseln und da unten sprossen Haare. Egal. Sobald wir uns unbeobachtet fühlten, probierten wir beide unseren Charme aus und machten dem Gärtnergehilfen und dem Bäckergesellen schöne Augen.

Eines Tages saßen wir über unserer Näharbeit, als eine elegante und sehr würdevolle Dame, die einen großen Hut mit Federn trug, samt einer Schar Begleiterinnen auftauchte. Man hätte meinen können, sie käme geradewegs aus dem Buckingham-Palast.

Plötzlich beugte sie sich über meinen Tisch und sagte: »Was für eine schöne Arbeit, mein Kind, wo hast du das denn gelernt?«

»Hier, von Schwester Mary, Madam«, antwortete ich. »Das ist ein Gänseblümchen. Möchten Sie sehen, wie man das macht?«

Ich stickte das Blümchen zu Ende, indem ich drei weitere Stiche um den kleinen Knoten in der Mitte setzte und schnell einen Stängel und ein Blatt stickte. Obwohl meine Finger vor Aufregung zitterten und ganz feucht waren, gelang mir alles recht gut.

Sie sah mir wortlos zu, bis ich fertig war. »Das ist sehr, sehr raffiniert, mein liebes Kind, und sehr hübsch. Mach so weiter«, sagte sie mit einer Stimme, die sich anhörte, als hätte sie ein Pfund Pflaumen im Mund. Wie die feinen Leute eben sprechen.

Außerdem duftete sie unwahrscheinlich gut. Nach einem ganzen Garten voller Rosen. So etwas hatte ich vorher nie an einem Menschen gerochen, und noch eine ganze Weile blieb dieser Geruch in meiner Nase.Später hörte ich, wie sie sich bei Schwester Mary nach Nora und mir erkundigte. Ob wir brave Mädchen seien und solche Dinge, doch wir haben sie schnell wieder vergessen.

Monate vergingen, dann kam mein Geburtstag. Im Januar 1911 wurde ich fünfzehn. An diesem Tag rief Schwester Beatrice, die Mutter Oberin, mich und Nora, die bloß ein paar Tage älter war als ich, in ihr Büro. Das passierte nur, wenn wir etwas ausgefressen und zum Beispiel zu oft »Herrgott« gesagt hatten oder wenn wir beim Gebet eingeschlafen waren. Sie können sich also vorstellen, in welch jämmerlicher Verfassung wir den langen Korridor mit dem roten Perserteppich entlanggingen und vor der Eichentür mit den Schnitzereien stehen blieben. Ich hatte solche Angst, dass ich fürchtete, gleich ohnmächtig zu werden, während Nora die ganze Zeit gegen Lachanfälle ankämpfte. Das tat sie immer, wenn sie schrecklich nervös war.

Nachdem wir angeklopft hatten und eingetreten waren, forderte Schwester Beatrice uns auf, auf den ledernen Stühlen Platz zu nehmen. Die waren so hoch, dass meine Füße nicht mal bis zum Boden reichten, und ich musste mich zusammenreißen, nicht damit zu baumeln. Das machte nämlich die Nonnen fuchsteufelswild.

Als Erstes sprach sie mich an. »Miss Romano? Heute ist doch Ihr Geburtstag, stimmt’s?«

Dass sie mich auf einmal mit Miss und Sie ansprach, brachte mich völlig aus dem Konzept, und ich stammelte ziemlich einfältig »Ja, Mutter Oberin«. Mehr nicht.

»Dann möge Gott Sie segnen, mein Kind. Ich wünsche Ihnen, dass Sie noch viele dieser Tage erleben dürfen«, fügte sie mit dem Anflug eines Lächelns hinzu.

»Danke«, sagte ich und bemühte mich, Noras bebende Schultern nicht zu beachten.

»Miss Featherstone?«, wandte Schwester Beatrice sich anschließend an Nora, die kurz davor war, vor Lachen loszuplatzen, und deshalb bloß wortlos mit gesenktem Kopf nickte. »Sie beide sind doch enge Freundinnen, und mir kommen sehr viele erfreuliche Dinge über Sie beide zu Ohren, vor allem was Ihre Fertigkeiten mit Nadel und Faden betrifft. In diesem Zusammenhang habe ich aufregende Neuigkeiten für Sie.«

Dann erzählte sie uns, die feine Dame, die uns vor vielen Monaten besucht hatte, sei eine Herzogin gewesen und die Vorsitzende der Needlework Society, die sich einen Eindruck von unserer Hilfe für ihre Organisation verschaffen wollte. Und dann sagte sie noch irgendwas von der königlichen Familie, was ich mir aber in der Aufregung nicht merkte. Weil Noras und meine Arbeiten sie offenbar besonders beeindruckt hatten, sollte nun ihre Wirtschafterin vorbeikommen und uns in Augenschein nehmen. Und falls wir ihr gefielen, sagte die Mutter Oberin, würden wir vielleicht im Haushalt der feinen Dame angestellt.

Bei einer Herzogin! Sie können sich bestimmt vorstellen, wie aufgeregt wir waren. Gleichzeitig hatten wir jedoch mächtig Angst, denn wir wussten ja nicht, was uns erwartete. Natürlich ging prompt die Fantasie mit uns durch. Bald würden wir in einem wunderschönen Haus mit großem Garten wohnen und für wichtige Leute Kleider schneidern. Und den Mann fürs Leben finden. Nora träumte davon, sich in den Chauffeur zu verlieben, wohingegen ich meine Ziele höher steckte: Ein Soldat der Kavallerie in roter Uniform sollte es mindestens sein oder ein Gentleman aus der Stadt mit einer Melone. Jedenfalls würden wir irgendwann heiraten, in unseren eigenen Häusern direkt nebeneinander wohnen und in unseren kleinen Gärten Blumen und Gemüse anpflanzen. Auch ein ganzer Stall voller Kinder gehörte in unsere Tagträume. So würden wir glücklich leben bis ans Ende unserer Tage.

Eine Pause, dann ein Räuspern.

Entschuldigen Sie, Kindchen: Stört es Sie, wenn ich eine Zigarette rauche?

»Nein, nein. Verschnaufen Sie ruhig ein wenig.«

Lieber nicht. Ich zünde mir nur eine an, und wir machen gleich weiter, bevor ich den Faden verliere.

Ein Zigarettenpäckchen wird aufgerissen, ein Feuerzeug klickt. Man hört jemanden einen langen Zug nehmen und den Rauch mit einem Seufzer ausstoßen. Dann ein letztes Räuspern.

Nie werde ich den Tag vergessen, als die Wirtschafterin zu Besuch kam. Wir durften baden und unsere schönsten bunten Baumwollkleider anziehen. Schwester Mary half uns, das Haar zu einem Knoten zusammenzustecken und ein weißes Spitzenhäubchen darin zu befestigen, wie es in vornehmen Haushalten üblich war.

Um Punkt elf mussten wir im Büro der Oberin erscheinen. Sie musterte uns von oben bis unten und hielt uns einen Vortrag, wie wir uns zu benehmen hätten. Wir sollten die Besucherin anschauen, sobald sie das Wort an uns richtete, sie aber nicht anstarren. Nur sprechen, wenn wir dazu aufgefordert würden, und präzise, jedoch nicht zu ausufernd antworten.

Nora fixierte sie besonders eindringlich: »Und ab-so-lutkein Gekicher.« Sie betonte jede Silbe einzeln, um sicherzugehen, dass wir es begriffen. »Ihr Verhalten am heutigen Morgen entscheidet über Ihre Zukunft, meine Damen. Werfen Sie diese Gelegenheit nicht unbedacht weg.«

Danach schärfte sie uns ein, dass wir unsere Arbeit stets sorgfältig verrichten müssten und niemals klagen oder Widerworte geben dürften. Sonst stünden wir im Handumdrehen auf der Straße. Eine Rückkehr ins Waisenhaus sei ausgeschlossen, warnte sie uns, das würde die Hausordnung verbieten. Meine hochfliegenden Träume schmolzen wie Schnee in der Sonne, und selbst Nora verging das Lachen.

Die Hauswirtschafterin war ziemlich massig, breit wie hoch und hatte wachsame Augen, die einen förmlich durchbohrten. Sie redete mit uns, als müsste sie ein Regiment in die Schlacht führen, und wollte mehr von unseren Arbeiten sehen, da wir womöglich für die »nobelsten Leute im Land« nähen würden.

»Die nobelsten Leute im Land?«, flüsterte Nora auf dem Korridor, als wir unsere Näharbeiten aus dem Handarbeitssaal holten. »Was zum Teufel bedeutet das?«

»Keine Ahnung.« Mein Hirn war vernebelt vor Angst, und ich war so durcheinander, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Zurück in Schwester Beatrices Büro, mussten wir unsere Arbeiten auf dem Tisch ausbreiten. Die Fragen prasselten nur so auf uns nieder: Wie der Stoff heiße, welche Nadeln wir dafür verwendet hätten und welchen Faden. Wieso ausgerechnet diese Stiche und wie zufrieden wir mit dem Ergebnis seien. Wir antworteten, so gut es ging: deutlich, aber in gebotener Kürze und ganz den Instruktionen der Oberin entsprechend.

Ich hatte gerade mit einem Patchwork angefangen – ein Dutzend Sechsecke war fertig –, und als ich der gestrengen Besucherin das Muster zeigte, das ich mit bunten Farben auf einem Bogen Papier aufgemalt hatte, meinte sie: »Das Kind hat durchaus eine künstlerische Ader.«

»Allerdings«, bestätigte Schwester Beatrice. »Miss Romano ist eine unserer besten Näherinnen.« Mein Gesicht wurde ganz rot und heiß vor Stolz.

Als die Wirtschafterin sich hinsetzte, ächzte der Stuhl unter der Last ihres Gewichts. Die Mutter Oberin schenkte Tee ein, natürlich nicht für uns. Wir standen einfach da und warteten, während die beiden wie feine Damen Tee tranken. Mein Herz hämmerte so heftig, als wäre ich gerade die Treppe bis ins vierte Stockwerk hinaufgerannt. Unsere künftige Vorgesetzte verputzte vier Kekse und hielt uns nebenbei einen Vortrag über das Betragen, das man von uns in einem so vornehmen Haushalt erwartete: keine Widerworte, kein Zuspätkommen, egal aus welchem Grund, keine Bitten um Nachschlag beim Essen, keine Zigaretten, keine Männergeschichten, stets adrette, ordentliche Kleidung, saubere Hände und sauberes Gesicht, sorgfältig zum Knoten frisiertes Haar, keine losen Strähnen.

Als sie innehielt, herrschte einen Moment lang Stille im Raum. Gerade als ich »Wir sind brave, ordentliche Mädchen« sagen wollte, stellte sie ihre Tasse mit einem Klirren auf dem Tisch ab und wandte sich Schwester Beatrice zu.

»Ich glaube, diese zwei werden sich gut machen. Unser Kutscher kommt übermorgen vorbei und holt sie ab«, sagte sie.

Meine Güte, die Fahrt war so aufregend. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir nur selten das Waisenhaus verlassen hatten. Noch nie waren wir in einer Kutsche gefahren, geschweige denn aus dem East End herausgekommen. Jetzt bekamen wir Stielaugen, als wir das quirlige Leben draußen betrachteten. All die Leute, die einkaufen gingen oder ihre Wäsche aufhängten, überall spielende Kinder. In einer Fabrik war gerade Schichtende, und wir gerieten mitten in einen Schwarm von Männern auf Fahrrädern. Wie riesige Insekten sahen sie aus, und es waren so viele, dass wir sie nicht zählen konnten. Sobald sie unsere staunenden Gesichter bemerkten, winkten sie uns zu und stürzten dabei um ein Haar von ihren Rädern. Es war ein komisches Gefühl, nicht länger unsichtbar zu sein, sondern plötzlich wahrgenommen zu werden.

Ein Glück, dass es so viel zu sehen gab, denn beim Abschied vom Castle hatten wir geheult wie die Schlosshunde. Schon seltsam, dass man sich viele Jahre inbrünstig wünscht, endlich rauszukommen, und wenn es endlich so weit ist, nur einen Gedanken kennt: möglichst schnell wieder zurück. Von diesem Ort kann ich das allerdings nicht behaupten. Es ist ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, noch mal herzukommen, das kann ich Ihnen versichern.

»Umso mehr weiß ich zu schätzen, dass Sie sich bereiterklärt haben, mit mir zu sprechen.«

Ach, nicht der Rede wert, Schätzchen. Ist ein netter kleiner Ausflug, hat Nora gemeint. Also, wo war ich stehen geblieben?

»Sie waren sehr traurig, als Sie das Waisenhaus verließen.«

Ach ja, genau. Die Nonnen waren immer sehr nett. Ich glaube, das sagte ich bereits. Bitte verzeihen Sie mir, dass mich mein Gedächtnis ab und zu im Stich lässt. Gezeigt haben sie es allerdings selten, dass sie uns gernhaben, eigentlich erst in letzter Minute. Schwester Mary und Schwester Beatrice haben uns umarmt und jeder von uns ein Päckchen in die Hand gedrückt. Zwar hätte ich beinahe unter all dem schwarzen Stoff keine Luft mehr bekommen, aber danach musste ich wenigstens nicht länger weinen. Wir winkten den anderen Kindern zu, die sich die Nasen an den Fenstern platt drückten, und stiegen mit Laienschwester Emily, die uns als Anstandsdame begleitete, in die Kutsche.

Nach einer Weile ließen wir die schmutzigen Gassen des East End hinter uns und fuhren breite, saubere Alleen mit Bürgersteigen und schönen Häusern links und rechts entlang.

»Ich wusste ja gar nicht, dass wir aufs Land fahren«, flüsterte Nora mir ins Ohr und zeigte aus dem Fenster. Tatsächlich waren da Rasenflächen, Sträucher und Bäume, so weit das Auge reichte. Und dazwischen Leute auf Pferden und überall Beete mit Blumen in den schillerndsten Farben, noch strahlender und noch schöner als die gemusterten Baumwollstoffe, die wir so liebten.

»Das ist der Hyde Park, ihr Dummchen«, erklärte Emily. »Hier kommen die feinen Damen und Herren hin, um Spaziergänge zu machen oder auszureiten.«

Tja, da blieb uns erst mal die Spucke weg. Allein die Vorstellung, in einem so prachtvollen Park herumlaufen zu dürfen … Kurz darauf fuhr die Kutsche an einer endlos langen, hohen Mauer vorbei, wurde langsamer und passierte ein Tor mit Wachposten auf beiden Seiten. Dann rollte sie um ein Gebäude herum, das so groß war, dass ich mich nach vorn beugen musste, um das Dach zu sehen. Schließlich hielt der Kutscher an.

Wir waren da.

Die Stimme verstummt. Die Kassette läuft bis zum Ende weiter, bevor sich der Rekorder mit einem lauten Klicken abschaltet.

Kapitel 2

London, 2008

»Große Panik, mein Liebling. Die Leute von Cosy Homes kommen nächste Woche vorbei und sagen, ich muss vorher im Dachgeschoss ausräumen. Eigentlich wollte Peter mir helfen … Du weißt schon: der ein Stück die Straße hinunter wohnt und dessen Idee all das war. Jetzt hat er Probleme mit dem Rücken, kann nicht kommen, und ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.«

Meine Mutter Eleanor war dreiundsiebzig, und da ihr Gedächtnis sie häufig im Stich ließ, regte sie sich schnell auf. Außerdem machte Telefonieren sie grundsätzlich nervös.

»Beruhige dich, Mum«, flüsterte ich in den Hörer und wünschte, sie würde mich nicht dauernd bei der Arbeit anrufen.

Es war ungewöhnlich still im Büro, wie immer in dieser deprimierenden Phase unmittelbar nach Weihnachten, wenn alle trübselig an ihren Schreibtischen herumhingen und ungeheuer beschäftigt taten, während sie in Wahrheit fieberhaft nach einem neuen Job suchten.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Wer oder was ist Cosy Homes?«

»Diese Wärmedämmungsfirma. Für Senioren gibt es Sondertarife, stell dir das mal vor. Mit einer anständigen Isolierung ließen sich meine Heizkosten um ein Viertel reduzieren, behaupten die, und du weißt ja selbst, wie teuer Heizöl geworden ist. Da konnte ich schlecht Nein sagen, oder? Aber das habe ich dir ja bestimmt schon erzählt.«

Ich durchforstete mein Gedächtnis. Durchaus möglich, dass ich es schlicht vergessen hatte. Die Stimmung im Büro war auf dem Nullpunkt, und die Gerüchteküche brodelte. Nächste Woche würde nämlich die gesamte Mannschaft von irgendeinem blasierten, hoffnungslos überbezahlten Unternehmensberater in die Mangel genommen werden. Dass da keine Freude aufkam, versteht sich, denn der Geschäftsleitung ging es um nichts anderes als Rationalisierung, sprich Stellenabbau.

Eigentlich war es gar nicht meine Absicht gewesen, Wurzeln zu schlagen. Vielmehr sollte dieser Posten eher eine Interimslösung sein, um genug Geld auf die Seite zu legen. Mein großer Traum war es nämlich, mich irgendwann mit einer Firma für Interior Design selbstständig zu machen. Aber die Zahlen auf meinem Gehaltsscheck und der alljährliche Bonus machten das testosteronlastige, erfolgsorientierte Arbeitsklima, die völlig überzogenen Erwartungen und die geradezu lächerlich knappen Deadlines jeden Monat aufs Neue erträglich. Die finanzielle Seite war einfach zu verlockend, um den Job sausen zu lassen. Vor allem jetzt, wo ich als frischgebackener Single mit einer erdrückend hohen Hypothek am Hals dasaß.

»Schon gut, Mum.« Geistesabwesend scrollte ich mich durch die Headhunter-Homepage auf meinem Bildschirm. »Ich wollte dich am Wochenende sowieso besuchen. Die Sache ist bestimmt innerhalb von ein paar Stunden erledigt.«

Ihr erleichterter Seufzer drang durch die Leitung. »Ach, würdest du das für mich tun, mein Schatz? Das wäre eine Riesenhilfe.«

Wie üblich fand mein Mini den Weg zum Rowan Cottage, wo ich die ersten achtzehn Jahre meines Lebens verbracht hatte, praktisch im Alleingang. Meine Eltern waren Mitte der Sechziger hergezogen, gleich nach ihrer Heirat, als man meinem Vater eine Professur an der neu gegründeten Universität von Eastchester angeboten hatte. Er war damals bereits über fünfzig und am University College in London Mums Doktorvater gewesen. Trotz des großen Altersunterschieds von zwanzig Jahren führten die beiden eine sehr liebevolle Ehe, die mit meiner Geburt fünf Jahre später gekrönt wurde.

Als ich drei war, kam mein Dad zusammen mit seinem Vater im dichten Nebel auf der A 12 ums Leben. Offenbar verlor er die Kontrolle über den Wagen. Ich erinnere mich sogar noch an die beiden hochgewachsenen Polizisten, die in jener Horrornacht vor der Tür standen, und an die Beamtin, die meine Mutter stützte, als sie zusammenbrach. Danach nahm sie mich an der Hand und brachte mich in Schlafanzug, Hausschuhen und mit meinem Teddy unterm Arm zu den Nachbarn, damit sie sich um mich kümmerten.

Da mein Großvater viele Jahre Detective bei der Polizei von Eastchester und mein Vater ein angesehenes Mitglied der Universität gewesen war, wurde groß über den Unfall berichtet, dessen genaue Umstände niemals ans Licht kamen. Als ich mit siebzehn den Führerschein machte, fragte ich meine Mutter, ob noch andere Verkehrsteilnehmer in den Unfall verwickelt gewesen seien, die vielleicht Fahrerflucht begingen.

»Das werden wir wohl leider nicht mehr erfahren, mein Liebling. Nicht nach so langer Zeit«, sagte sie betrübt, und ich merkte, dass sie über dieses Thema eigentlich nicht mehr sprechen wollte.

Dank der Lebensversicherung meines Vaters konnte sie wenigstens das Haus behalten und hielt das Andenken an ihn hoch, indem sie in sämtlichen Zimmern Fotos von ihm aufstellte und ständig von ihm sprach. Er sah genauso aus, wie man sich damals einen Wissenschaftler vorstellte: Brille mit goldfarbenem Gestell, ausgebeultes olivgrünes Cordsakko mit Lederflecken an den Ellbogen und häufig über ein Buch oder ein Fachmagazin gebeugt. Meine Mutter jedoch hatte sich als Erstes in seine Augen verliebt. Die seien so leuchtend kornblumenblau gewesen, dass sie jedes Mal, wenn er sie anschaute, das Gefühl gehabt habe, ein magischer Strahl würde sich auf sie richten, erzählte sie immer wieder.

Auf den Fotos sieht man ihn, wie er gerade seine Pfeife anzündet oder Kricket mit der Familie spielt, wie er in seinem Auto sitzt und Scottie, unseren kleinen Hund, auf dem Schoß hält. So als sei die Zeit stehen geblieben. Und immer liegt ein Lächeln auf seinen Zügen, obwohl er laut meiner Mutter bisweilen sehr aufbrausend und dominant sein konnte. Charakterzüge, die er allem Anschein nach an mich vererbte. Genau wie den schlanken Körperbau, das blonde Haar, die blauen Augen und den hellen Teint. Nicht vermacht hat er mir leider seinen überragenden Verstand. Auch vom Temperament her bin ich eher meiner Mutter nachgeschlagen – einer Tagträumerin, die den Kopf immer in den Wolken hat und sich schnell von den eigentlichen Zielen ablenken lässt.

Vermutlich war sie nach Vaters Tod häufig knapp bei Kasse. Doch obwohl sie mir keine teuren Sachen kaufen konnte, war ich glücklich, fühlte mich geliebt und litt nicht übermäßig darunter, dass ich ohne Vater aufwachsen musste. Mum ging nie wieder eine feste Beziehung ein, zumindest keine, von der ich wusste. Warum sie sich nicht mal an eine Partnervermittlung wende, fragte ich sie irgendwann, als ich ins Teenageralter kam.

Sie winkte nur ab. »Unsinn. Weshalb sollte ich einen neuen Mann an meiner Seite wollen? Schließlich habe ich alles, was ich brauche – ich bin gesund, habe mein Haus, meine Freunde und das Singen. Und dich, meine Süße. In meinem Alter werde ich ganz bestimmt nicht mehr auf Männerfang gehen.«

Ich verließ die A 12 und bog auf eine kleine, wenig befahrene Nebenstraße, die sich durch die Landschaft schlängelte. Nach der Hektik der Großstadt mit ihren hässlichen Schnellstraßen war die Fahrt durch das idyllische, ländliche Nordessex immer wieder ein wahrer Genuss. Um diese Jahreszeit stand Regenwasser in den tiefen Furchen der abgeernteten Felder und funkelte silbern zwischen dem schmutzigen Braun des Bodens. Ausladende Ulmen und Eichen erhoben sich wie schwarze Skelette vor dem scheinbar endlosen Himmel, und abends versammelten sich in den Ästen schwarze Krähen, deren heiseres Krächzen die Stille durchbrach.

Ich fuhr durch Dörfer, deren Kirchen mit ihren kompakten, wuchtigen Türmen im Mittelalter von reichen Bürgern errichtet worden waren, die ihren Wohlstand dem florierenden Wollhandel verdankten und die sich mit dem Bau des Gotteshauses ihren Platz im Paradies erkaufen wollten. Inzwischen waren die Dörfer wieder attraktiv für die Reichen geworden, nicht zuletzt dank der exzellenten Zugverbindung in die Londoner City. Bei vielen von ihnen handelte es sich um aalglatte Karrieretypen, die täglich aufs Neue dem Gott des Jahresbonus huldigten und die Attribute ihrer sozialen Stellung wie den nagelneuen Aga-Herd in der Küche, den Whirlpool im Garten und den Sportwagen in der Doppelgarage demonstrativ zur Schau stellten.

Auch in meinem Heimatort gab es diese hoffnungslos überteuerten Traumhäuser, die stadtmüden Yuppies gehörten. Eingebettet zwischen sanft geschwungenen Hügeln, schmiegte sich ein gutes Dutzend in eine Senke, an deren äußerem Rand Rowan Cottage stand: ein Gebäude mit Ziegeldach und Gaubenfenstern. Früher wurden dort Landarbeiter untergebracht, jetzt war es das schäbigste Haus weit und breit. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen fügte es sich harmonisch in die Landschaft ein und wirkte, als stünde es bereits seit Anbeginn der Zeit hier.

Als junges Mädchen habe ich die Einöde gehasst und geflucht, weil um neun Uhr abends der letzte Bus in die Stadt ging. Meine Mutter hingegen hat immer gern hier gelebt. Und obwohl sie so früh Witwe wurde, dachte sie nie über eine eigene berufliche Karriere im großen Stil nach. Stattdessen nahm sie einen Job als Schulsekretärin an, um ausreichend Zeit für mich zu haben. Immerhin wechselte sie ein paar Jahre später an die Fachhochschule, wo sie Vorlesungen hielt.

Wenn sie mich nicht selbst von der Schule abholen konnte, erledigte das meine Großmutter. Granny Jean, die Mutter meines Vaters, war eine resolute Frau mit Prinzipien, die die Times von der ersten bis zur letzten Seite las, in Rekordzeit das Kreuzworträtsel löste und stets Notizbuch und Stift parat hatte. Manchmal auch eine Nadel, um schnell ein Loch zu stopfen oder einen Saum wieder zu befestigen.

Ich genoss die Stunden in ihrem Haus, obwohl sie eine strikte Fernsehgegnerin war und kein TV-Gerät besaß. Dafür verwöhnte sie mich mit Schokoladenkeksen zum Tee und las mir aus Kinderbuchklassikern vor wie Der Wind in den Weiden, Kiplings Geschichten für den allerliebsten Liebling und Alice im Wunderland. Letzteres war mein absoluter Favorit. Natürlich begriff ich damals Carrolls surrealen Humor noch nicht wirklich, aber ich liebte die Illustrationen, vor allem die von Alice mit Haarreif, weißer Schürze, Puffärmelbluse und blauen Strümpfen. Wie gern hätte ich selbst solche Strümpfe gehabt!

Später brachte Granny mir Nähen bei: Stickstiche und die wichtigsten Grundlagen für das Schneidern von Kleidern. An einem Wochenende, als ich etwa zwölf war und modisch unbedingt auf dem neuesten Stand sein wollte, nähten wir einen Minirock aus Lurex für mich. Allein bei der Erinnerung daran würde ich vor Scham am liebsten im Boden versinken, doch in den Achtzigern war so etwas angesagt. Wenngleich ich diesen Rock heiß und innig liebte, brachte ich nie den Mut auf, ihn zu tragen. Aber die Nachmittage mit meiner Großmutter prägten mich und haben später zweifellos zu meinem Entschluss beigetragen, am Fashion College in London zu studieren.

Nach Grannys Tod gab es nur noch meine Mutter und mich: Mum und Caroline gegen den Rest der Welt gewissermaßen. Zwischen uns entwickelte sich eine sehr enge, beinahe hermetische Beziehung, die bei mir zu einem übermäßig ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein und der ständigen Angst geführt hat, sie eines Tages im Stich lassen zu müssen.

Ihr Job war ziemlich anstrengend, denn sie musste sich nicht bloß mit aufmüpfigen Studenten herumschlagen, sondern zudem mit missgünstigen, miteinander rivalisierenden Kollegen. Manchmal frage ich mich, ob dieser Stress in Verbindung mit den Problemen einer alleinerziehenden Mutter und ihrer anhaltenden Trauer um ihren Ehemann nicht zu jener Schädigung ihres Gehirns führte, die in späteren Jahren eine heimtückische Demenz zur Folge hatte.

Ein Strahlen ging über Mums Züge, als sie mich nach kurzem Zögern erkannte.

»Caroline, mein Schatz, wie schön, dass du kommst.«

Sie streckte mir ihren mageren Arm entgegen. Früher war sie groß und schlank gewesen mit dichten, dunklen Locken und ausgeprägten Wangenknochen, doch inzwischen schien sie immer weiter zu schrumpfen. Ihr Haar war nahezu weiß und ihr Teint fahlgrau – sie welkte förmlich dahin.

»Nur herein, herein. Ich mache uns Kaffee.«

Sie betrat die in Orange und Braun, den Lieblingsfarben der Achtzigerjahre, gehaltene Küche mit den Pinienholzschränken. Seit meinem Auszug hatte sich praktisch nichts im Haus verändert, und vermutlich rührte meine Leidenschaft für Innenarchitektur sogar vom Desinteresse meiner Mutter an dieser Materie her. Sie hielt die Einrichtung eines Hauses seit jeher für zu nebensächlich, um sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Welche Rolle spielte es schon, wie ramponiert die Möbel waren, solange sie ihren Zweck erfüllten und man sich damit wohlfühlte?

Es gab eine Zeit, da war mir dieses mangelnde Stilgefühl so peinlich, dass ich keine Freundinnen zu uns einlud. Im Laufe der Zeit lernte ich jedoch zu akzeptieren, dass Mum es so mochte und vermutlich niemals etwas ändern würde an diesem Durcheinander von Farben und Mustern: Die Sofaüberwürfe bissen sich mit den Kissen, echte Perser lagen direkt neben Teppichen im psychedelischem Design der Sixties, was inzwischen schon wieder als retrocooler Chic betrachtet wurde. Bücher stapelten sich unsortiert in billigen Holzregalen, die sich unter der Last der Buchstaben bogen. Einige Möbelstücke hingegen, etwa die Lehnsessel von Peter Knoll und der G-Plan-Couchtisch, waren so altmodisch, dass sie mittlerweile als angesagt galten.

Die Schlafzimmer befanden sich unter dem Dach, hatten beide ein Gaubenfenster, und die Schrägen waren zu begehbaren Schränken umfunktioniert worden. Auch wenn ein Erwachsener den Kopf einziehen musste, boten sie eine Menge Stauraum und beherbergten lauter Dinge, die sich in langen Jahren so angesammelt hatten.

Jetzt mussten wir alles ausräumen, damit die Handwerker ihre Arbeit tun konnten. Eigentlich hatte ich vorgehabt, bei dieser Gelegenheit mit meiner Mutter eine Bestandsaufnahme zu veranstalten: auszusortieren, was sie behalten wollte, und alles andere wegzugeben. Aber das würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen, wie ich sehr schnell feststellte, und so trugen wir am Ende einfach alles zusammen, was aus den Schränken quoll, und stapelten es in einer Abstellkammer. Später, wenn die Leute von Cosy Homes fertig waren und es wieder ans Einräumen ging, konnten wir uns ja vielleicht mit Sortieren beschäftigen.

Schon bald hatten wir einen riesigen Haufen beisammen: Kartons voller Bücher und Unterlagen, Koffer mit Kleidern, die zu gut zum Wegwerfen und zu altmodisch zum Tragen waren, Teppichbodenreste, Reisegepäck, alte Tapetenrollen und mehrere Paar lederner Schlittschuhe, die wir für den Fall aufbewahrt hatten, dass der Teich wieder einmal zufrieren würde. Es war ziemlich anstrengend, die schweren Kisten unter den Schrägen hervorzuzerren, und nach zwei Stunden waren meine Hände staubig und meine Haare voller Spinnweben.

»Wo kommt bloß das ganze Zeug her?« Meine Mutter warf mir einen strengen Blick zu. »Das sind nicht alles meine Sachen, denn einiges gehört dir. Wie die Spielsachen und Kinderbücher, die ich nicht wegwerfen durfte. Würdest du endlich in einem richtigen Haus wohnen, könntest du sie bei dir einlagern.«

Bislang hatte ich ihr verschwiegen, dass die Chance, jemals in einem »richtigen Haus« zu wohnen und so etwas wie Kinderbücher und Spielsachen zu brauchen, ziemlich klein geworden war. Kurz vor Weihnachten gelangten mein Freund Russell und ich zu dem Schluss, dass unsere Beziehung nach über fünf Jahren keine Perspektive mehr bot. Mittlerweile ist er bereits ausgezogen. Natürlich war ich im ersten Moment traurig, empfand aber zugleich eine große Erleichterung, dass wir uns endlich zu diesem Schritt durchgerungen hatten.

Jetzt fühlte ich mich bereit, mein neues Leben als Single zu genießen – zumindest behauptete ich das. Nur im hintersten Winkel meines Herzens gestand ich mir ein, dass es seit jeher mein sehnlichster Wunsch war, den Traummann zu finden. Zudem erinnerte mich meine biologische Uhr, die immer lauter tickte, daran, dass mir mit achtunddreißig nicht mehr allzu viel Zeit blieb.

»Außerdem bewahre ich Grannys Sachen für dich auf«, fuhr Mum fort.

»Die Bücher, die Uhr und die Esszimmerstühle habe ich doch längst geholt. Was gibt es sonst noch?«

»Den Quilt.« Meine Mutter sah sich suchend um. »Er muss in einem dieser Koffer liegen.«

»Ach ja, diese Patchworkdecke, die immer auf ihrem Gästebett lag.«

»Ich frage mich, wo er abgeblieben ist.« Verwirrt musterte meine Mutter die wahllos aufgehäuften Sachen.

»Lass uns erst mal weitermachen. Wir sind so gut wie fertig.«

Ich bückte mich und kroch in den hintersten Winkel des Wandschranks, wo ich einen alten braunen Lederkoffer entdeckte. Mühsam wuchtete ich ihn heraus und wischte die Staubschicht ab. Auf dem Deckel kamen drei Buchstaben zum Vorschein.

»Wer ist A.M.M., Mum?«

Sie runzelte die Stirn. »Das muss dein Großvater gewesen sein. Arthur Meredith Meadows. Ich frage mich, was …« Sie wollte die Schlösser öffnen, die jedoch völlig verrostet waren.

»Wieso legst du nicht eine kleine Pause ein? Ich versuche später, ihn aufzubekommen. Geh nach unten, und mach uns einen Tee. Die letzten Kisten schaffe ich allein.«

Nachdem sämtliche Wandschränke ausgeräumt waren, schleppte ich den alten Koffer nach unten ins Wohnzimmer. Mithilfe eines Schraubenziehers sowie unter Anwendung roher Gewalt gelang es mir, die Schlösser aufzubrechen, dann klappte ich den Deckel auf und blickte auf einen Stapel Stoff unter einem vergilbten Bettlaken mit gelben Streifen.

»Das ist bloß alte Bettwäsche«, rief ich meiner Mutter zu. »Soll ich sie in die Altkleidersammlung geben?«

Mum kam aus der Küche und schaute in den Koffer. Ihre Züge erhellten sich. »Das ist er. Der Quilt, von dem wir gesprochen haben«, sagte sie erfreut und stellte rasch das Teetablett ab.

Sie hatte recht. Unter dem Laken kam wirklich der Quilt zum Vorschein. Ich nahm ihn heraus und breitete ihn auf dem Esstisch aus, sodass seine leuchtenden Farben und herrlichen Muster durch das hereinfallende Licht beschienen wurden. An einigen Stellen war er ein wenig ausgebleicht, andere Teile hingegen funkelten wie Diamanten. Unterschiedliche Stoffe, einfarbig und gemustert, schimmernder Satin, üppiger Samt und schlichte Baumwolle waren so geschickt angeordnet, dass sie ein raffiniertes Kunstwerk bildeten: Fächermuster aus zusammengesetzten Dreiecken; Halbkreise, die an Wellen erinnerten; helle und dunkle Quadrate, die eine scheinbar in die Unendlichkeit führende, dreidimensionale Treppe ergaben.

Das Mittelstück bestand aus einem elegant gestickten Salomons- beziehungsweise Endlosknoten und war von länglichen Sechsecken und einer Borte aus so fein gearbeiteten Applikationen umgeben, dass man die einzelnen Stiche kaum erkennen konnte. Zugleich hatte das Dessin jedoch etwas Willkürliches mit seinem Variantenreichtum an Farben und Mustern, und es schien durchaus möglich, dass mehrere Menschen über einen langen Zeitraum hinweg daran gearbeitet hatten.

»Hat Granny den gemacht?«

»Ich glaube nicht.« Mum schenkte den Tee ein. »Sie nähte zwar gern, aber ich habe sie nie bei Stick- oder Patchworkarbeiten gesehen.«

»Wieso war der Quilt so lange verschwunden?«

»Ich weiß es nicht genau. Du wolltest ihn nicht auf deinem Bett haben. Er sei dir zu altmodisch, meintest du damals.«

»Kann ich ihn jetzt mitnehmen?«

»Natürlich, meine Süße. Granny hat immer ausdrücklich gewünscht, dass du ihn bekommst.«

Als ich ihn zusammenfalten und in den Koffer zurücklegen wollte, stach mir etwas auf der Rückseite ins Auge. In eine Ecke des gestreiften Unterstoffes waren zwei Zeilen mit Kreuzstich eingestickt. Obwohl sich die Nähte bereits aufzulösen begannen, ließen sich die Worte noch gut entziffern.

Hab diesen Quilt gestickt mit all meiner Liebe, voller Stolz, mit Hingabe und Herz.

Du bist fort, nur ich muss bleiben, doch durch ihn bist du bei mir, das lindert den Schmerz.

Ich las meiner Mutter die Worte vor. »Das ist ein Gedicht. Hat Granny es Grandpa gewidmet? Oder war es für Dad?«

»Warte mal … Gerade fällt mir etwas ein.« Mum massierte sich die Schläfe. »Ich glaube, Jean hat irgendwann einmal erzählt …«

Ich wartete und bemühte mich, Geduld mit den Aussetzern meiner Mutter zu haben.

»Es hatte etwas mit einem Krankenhaus zu tun.«

»Dem Eastchester General?«

»Nein, mit dem anderen. Könnte sein, dass sie dort jemanden kennengelernt hat. Ach, das ist alles so schrecklich lange her.« Sie stieß einen erschöpften Seufzer aus. »Damals war dein Vater noch ein Kind. Sie hatte eine Art Zusammenbruch, die Ärmste.«

»Granny? Von einem Nervenzusammenbruch weiß ich ja gar nichts. Und sie musste in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden?«

»Nicht lange. Nur für eine Weile … bis es ihr wieder besser ging. Es war ganz in der Nähe …«

»Und dort lernte sie jemanden kennen, der mit dem Quilt zu tun hatte?«, hakte ich nach und erkannte sogleich an ihrem abwesenden Blick, dass ich keine Antwort erhalten würde.

Seufzend machte ich mich deshalb an die Arbeit, putzte die Küche, sortierte den Inhalt des Kühlschranks, trug den Müll hinaus und strich ihr ein Sandwich fürs Abendessen. Die üblichen Dinge, die ich immer erledigte, wenn ich sie besuchte.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, schlief sie. Ich breitete eine Decke über ihr aus und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Es brach mir das Herz, sie so verletzlich und hinfällig zu sehen, und ich fragte mich bange, wie lange es noch dauern mochte, bis sie sich endgültig nicht länger selbst versorgen konnte.

Zurück in meiner Londoner Wohnung, legte ich den Quilt auf das Gästebett, suchte beide Seiten nach weiteren Hinweisen ab und las mehrere Male die gefühlvollen Zeilen. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sich dahinter ein Geheimnis verbarg, und von diesem Augenblick an war ich besessen von dem Wunsch, es zu entschlüsseln. Eines stand für mich bereits jetzt fest: Die Verse waren definitiv zu gefühlvoll für eine Frau wie meine resolute, nüchterne Großmutter.

Kapitel 3

Kassette 1, Seite 2

Der Tee war wirklich wunderbar, genau das Richtige. Vielen Dank, Schätzchen. Also, wo war ich stehen geblieben?

»Sie und Nora traten ihre erste Anstellung an und waren gerade in dem herrschaftlichen Haus angekommen.«

Gütiger Himmel, ja. Was für ein Tag! Natürlich waren wir vollkommen verängstigt. Nora, Emily und ich wurden durch den Dienstboteneingang nach drinnen und eine Treppe nach unten geschickt. Bestimmt eine geschlagene Stunde standen wir in einem kalten, dunklen Korridor, bis endlich ein Hausmädchen auftauchte und uns in unser Quartier brachte.

Wir nahmen Abschied von Emily und schleppten unser Gepäck tausend Stufen hinauf in unser Zimmer, das wir mit zwei anderen Mädchen teilten. Da die Betten in der Nähe des Ofens bereits belegt waren, mussten wir wohl oder übel mit den beiden am Fenster vorliebnehmen. Der Raum wirkte nicht gerade wohnlich, und die Betten waren schmal und hart, aber das störte uns nicht weiter. Die Schlafräume im Waisenhaus waren auch nicht komfortabler gewesen. Während wir darauf warteten, dass jemand kam und uns Anweisungen erteilte, machten wir die Päckchen auf, die Schwester Beatrice uns gegeben hatte. Es waren mit braunem Zucker bestreute Haferkekse, die wir sofort verputzten. Sie schmeckten so sehr nach unserem alten Zuhause, dass mir gleich wieder Tränen in die Augen stiegen.

Irgendwann erschien ein Dienstmädchen, um uns abzuholen. Wir sollten uns beeilen, sagte sie, da Mrs. Hardy nicht gern wartete. Damit meinte sie, wie sich herausstellte, die dicke Wirtschafterin, die wir von ihrem Besuch im Waisenhaus kannten. Sie saß in ihrem kleinen Büro unter der Treppe, in dem außer ihr kaum noch Platz war.

»Aha, da seid ihr ja, ihr zwei. Wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt? Kommt her, und holt eure Uniformen ab. Los«, sagte sie im Kommandoton. Ich machte den Mund auf, um zu antworten, aber Nora stieß mich in die Rippen und legte den Finger auf die Lippen. Damit erinnerte sie mich rechtzeitig an unsere Instruktionen, zu denen auch gehörte, keine Widerworte zu geben. Da die Nonnen immer ganz leise gesprochen hatten, jagte uns die Kasernenhofstimme von Mrs. Hardy zunächst gewaltige Angst ein, bis wir merkten, dass sie mit all ihren Untergebenen so umsprang.

Wir gewöhnten uns ziemlich schnell ein und fanden unsere neue Umgebung gar nicht so übel. Zwar behandelte man uns weniger freundlich als im Waisenhaus, doch wir waren ja inzwischen auch keine Kinder mehr, sondern zum Arbeiten hier. Unsere Dienstkleidung bestand aus einem schlichten hellblauen Kleid mit schwarzen Strümpfen und schwarzen Schuhen, die nagelneu waren. Ein Luxus für uns, zumal wir aus unseren eigenen ziemlich herausgewachsen waren.

Es wimmelte nur so von Dienstboten in diesem Haus. Mehrere Hundert waren es allein für die alltäglichen Arbeiten, die Butler, Kammerdiener und Zofen für die Herrschaften nicht mitgerechnet. Jedem wurde eine bestimmte Aufgabe zugeteilt. So mussten die beiden Mädchen, mit denen wir das Zimmer teilten, Morgen für Morgen in aller Herrgottsfrühe die Kamine anzünden. Sie standen auf, wenn wir noch schliefen, und gingen entsprechen früh zu Bett. Deshalb hatten wir so gut wie keinen Kontakt zu ihnen.

Nora und ich verbrachten unsere Tage im Nähzimmer, wo wir alles flicken und ausbessern mussten, was im Haushalt so anfiel. Außerdem hielten wir die Kleider der Dienstboten in Ordnung. Wir waren zu dritt. Abgesehen von uns beiden gab es bloß noch unsere Vorgesetzte, die Chefnäherin sozusagen.

Entsprechend winzig war das Nähzimmer. In dem kleinen, weiß gestrichenen Raum mit den hohen, breiten Fenstern standen ein Schrank, drei Schneidertische und drei Holzstühle, sonst nichts. Nicht einmal einen Kamin hatten wir, weil der Ruß die Wäsche beschmutzt hätte. Unsere einzige Wärmequelle waren Rohre mit heißem Wasser, auf die wir manchmal während der Arbeit die Füße legten, ohne dass es jedoch sonderlich half. Vor allem nicht bei wirklich bitterer Kälte. Damit nur ja nichts dreckig wurde, mussten wir überdies jeden Tag den Fußboden fegen und anschließend nass wischen.

Miss Garthwaite, die bei uns das Sagen hatte, war die hässlichste Frau, die man sich denken kann. Zwar kam sie mir weniger unförmig vor als Mrs. Hardy, dafür hatte sie ein Schwabbelkinn und zahllose Warzen auf Augenlidern und Händen. Es lief uns jedes Mal eiskalt den Rücken runter, wenn sie uns anfasste. Dann entschuldigten wir uns, rannten in den Waschraum und schrubbten uns die Hände.

Ihrer Art zu reden nach zu urteilen, schien sie aus gutem Hause zu stammen, und so rätselten wir natürlich, wieso sie in einer Nähstube gelandet war. Wir spekulierten sogar, ob ihre Eltern sie hierhergesteckt hatten, weil sie trotz ihres Geldes keinen Mann gefunden hatten, der hässlich genug war, um sie zu heiraten.

Anfangs behandelte sie uns wie Putzlumpen, aber sobald sie unser Geschick im Umgang mit Nadel und Faden erkannte, wurde sie zunehmend freundlicher. Was uns allerdings nicht daran hinderte, uns über sie lustig zu machen. Nora schlug etwa vor, im nächsten Tümpel nach einer Kröte zu suchen, die Miss Garthwaite von ihren hässlichen Warzen befreite.

»Endlich. Mein Prinz ist gekommen. Wann wollen wir Hochzeit feiern?«, rief Nora verzückt und küsste einen Socken oder ein Nadelkissen.

Woraufhin ich mit tiefer Unkenstimme antworten musste: »Ich kann dich vielleicht von deiner Krankheit befreien, doch heiraten werde ich dich bestimmt nicht.«

Nora und ich schütteten uns dabei aus vor Lachen. Wir beide gegen den Rest der Welt, so kam es uns vor.

Im Speiseraum für die Dienstboten erhielten wir drei Mahlzeiten am Tag und eine Tasse Kakao vor dem Schlafengehen. Das Essen war gut, besser als im Waisenhaus, und abends durften diejenigen, die keinen Küchendienst hatten oder servieren mussten, am Kamin sitzen, rauchen und schwatzen. Hier erfuhren wir endlich auch Genaueres über unsere Herrschaften.