Die Verräterin - Das Imperium der Masken - Seth Dickinson - E-Book
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Die Verräterin - Das Imperium der Masken E-Book

Seth Dickinson

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Beschreibung

Seth Dickinson ist der provokativste und aufregendste Fantasy-Autor der letzten Jahre. Mit ›Die Verräterin‹ hat er den ersten Roman einer brisanten Fantasy-Trilogie vorgelegt, in der es um die großen Fragen nach Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstverwirklichung und Rache geht. Baru Kormoran ist eine junge und hochbegabte Frau, die miterleben muss, wie das Imperium der Masken ihre Heimat Taranoke erobert, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen: Der übermächtigen Handelsflotte hat die abgelegene Insel nichts entgegenzusetzen. Anstatt aufzubegehren, lässt Baru sich von den Imperialen anwerben und steigt rasch selbst zu einer Machtposition auf. Ihr Ziel: das Imperium von innen heraus zu zerstören. Von ihren neuen Herren in die Kolonie Aurdwynn versetzt, bekommt sie es alsbald mit einer ganzen Reihe rebellischer Herzogtümer zu tun. Im Kampf um Macht und Freiheit findet sie sich zwischen den Fronten wieder und muss sich fragen, wo sie steht – aufseiten der Rebellion oder des Imperiums. Baru fällt eine Entscheidung, deren Tragweite sie nicht einmal selbst zu ahnen vermag ... »Eine brandneue Fantasy-Serie, die das Potenzial hat, ein würdiger Nachfolger von George R. R. Martin's ›Game of Thrones‹ zu werden.« Adrian Lang

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Seth Dickinson

Die Verräterin - Das Imperium der Masken

Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]AbrechnungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Zwischenspiel: KryptarchenDie KriegsherrinKapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Zwischenspiel: WinterDie AutarchinKapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30SiegBriefeDanksagung

Für Gillian

Ein Versprechen

Dies ist die Wahrheit.

Was man daran erkennt,

dass sie wehtut.

Kapitel 1

Es war wieder Handelszeit. Baru war noch zu jung, um den Wind des Imperiums zu riechen.

Die Maskerade schickte ihre bevorzugten Truppen, um Taranoke zu erobern: Segeltuch, Farbstoffe, glasierte Keramik, Robbenleder und Öle, Papiergeld, das in ihrer falcresischen Sprache bedruckt war. Die kleine Baru, die im heißen schwarzen Sand Burgen baute, sah gerne zu, wenn die Kauffahrer im Hafen einliefen. Anhand der Schiffe und der sie umkreisenden Seevögel lernte sie zählen.

Fast zwanzig Jahre später sollte sie sich an jene Segel am Horizont erinnern, als sie die Feuerbringer-Fregatten im Farbenspiel des Nordlichts krängen sah. Doch im Alter von sieben Jahren maß das Mädchen Baru Kormoran ihnen keine Bedeutung bei. Sie interessierte sich vor allem für Arithmetik, für Vögel und für ihre Eltern, die ihr die Sterne zeigten.

Aber es waren auch ihre Eltern, die ihr beibrachten, Angst zu haben.

Im herbstlichen Abendrot gingen Barus Väter, bevor die Sterne herauskamen, mit ihr hinunter zum Strand, um Kelp zu sammeln und ihn zu Asche zu verbrennen, mit der sie dann Glas herstellen konnten, aus dem sich wiederum mit Vulkangestein glattgeschliffene Teleskoplinsen anfertigen ließen, welche für den neuen Handel bestimmt waren. Als sie den Strand erreichten, sah Baru die Handelsschiffe der Maskerade am Horizont, wie sie in großem Abstand Halas Riff umrundeten.

»Seht doch, Daas«, sagte Baru. »Die kommen zum Markt in Iriad.«

»Ich sehe sie.« Vater Salm beschirmte seine Augen mit der Hand und beobachtete mit blutleeren, zusammengepressten Lippen die Schiffe. Er hatte Schultern wie ein Berg, und dicke Muskeln spielten unter seiner Haut. »Geh deinen Eimer vollmachen.«

»Schaut mal.« Vater Solit, der scharfe Augen hatte, nahm die Hand seines Ehemanns und deutete auf See hinaus. »Da ist noch ein drittes Schiff. Jetzt segeln sie schon in Konvois.«

Baru lauschte, während sie so tat, als grübe sie nach Seetang.

»Piraten sind ein guter Vorwand für einen Konvoi«, sagte Salm. »Und der Konvoi ist ein guter Vorwand für Geleitschutz.« Er spuckte in die Brandung. »Ritzel hatte recht. Dieses Abkommen ist vergiftet.«

Baru, die die Spiegelbilder der beiden beobachtete, sah, wie Solit Salm bei der Schulter griff, die schwieligen Hände gegen die rohe Kraft seines Mannes drückte. Beide Männer trugen ihre Haare zu Zöpfen geflochten, wobei Solits für die Arbeit in der Schmiede kurzgebrannt waren, während die von Salm ihm bis auf die Hüfte fielen – zum Ruhme im Kreis des Tötens, gegen die Flachländer.

»Siehst du es denn?«, fragte Solit.

»Nein. Aber es ist dort draußen. Hinter dem Horizont.«

»Was ist da draußen, Daa?«, fragte Baru.

»Mach deinen Eimer voll, Baru«, grollte Salm.

Baru liebte ihre Mutter und ihre Väter von Herzen, aber sie liebte es noch ein kleines bisschen mehr, Dinge zu wissen, und seit kurzem hatte sie die Verschlagenheit für sich entdeckt. »Daa«, sagte sie, an Solit gewandt, der oft umgänglicher war, »gehen wir morgen nach Iriad auf den Markt und sehen uns die Schiffe an?«

»Mach deinen Eimer voll, Baru«, sagte Solit, und weil er Salms Worte wiederholte, anstatt nachzugeben, wusste sie, dass er sich Sorgen machte. Kurz darauf fügte er jedoch hinzu: »Schleif heute Abend dein Glas, dann haben wir genug zu verkaufen. Und dann kannst du nach Iriad mitkommen und dir die Schiffe ansehen.«

An jenem Abend schlug sie das von Hand abgeschriebene Wörterbuch ihrer Mutter auf, las bei Kerzenschein mit zusammengekniffenen Augen und ging die Buchstaben des urunokischen Alphabets durch, bis sie bei Konvoi – eine Gruppe oder eine Karawane von Schiffen, die sich zum gegenseitigen Schutz zusammenschließen, insbesondere unter dem Schutz eines Kriegsschiffs ankam.

Ein Kriegsschiff. Hm.

Es ist da draußen, hatte Vater Salm gesagt.

Vom Hof ihres Hauses aus Aschenbeton drangen das Kreischen von Stein auf Glas und die leisen, besorgten Stimmen ihrer Mutter und ihrer Väter – Jägerin, Grobschmied und Schildträger – zu ihr herein. Einmal mehr zerbrachen sie sich den Kopf über das Abkommen.

Auch dieses Wort schlug sie nach, in der Hoffnung, es zu verstehen, weil das Verstehen ihr Macht über die Dinge gab. Aber sie begriff nicht, wie ein Abkommen Gift sein konnte. Vielleicht würde sie es auf dem Markt von Iriad herausfinden.

Baru stellte das Wörterbuch ihrer Mutter zurück. Dann zögerte sie, die Finger immer noch am abgesteppten Einband. Mutter hatte ein neues Buch in ihrer Sammlung, das in fremdartiges Leder gebunden war. Laut sprach sie den Titel auf der ersten Seite aus, der in seltsamen, rechtwinkligen Blockbuchstaben gedruckt war, spröde und unnahbar: Eine Einführung ins Aphalonische, die Reichshandelssprache; dem Volke Taranokes zum einfachen Gebrauche bereitgestellt.

In der unteren Ecke prangte eine laufende Nummer, die fast größer war, als sie zählen konnte.

 

Wo das Meer zwischen den Basaltarmen der Bucht von Iriad wogte, unterhalb der Zuckerrohr-, Makadamia- und Kaffeefelder, die in der Vulkanerde wuchsen, präsentierte der Markt sich wie ein stolzer, goldener Jüngling.

Bereits länger, als Baru sich erinnern konnte, wie man sich erinnert, waren die Kais von Iriad voller Markstände, und auf der ganzen Welt gab es nichts Lauteres und Fröhlicheres. Dieses Jahr lagen mehr Schiffe im Hafen – nicht bloß taranokische Fischerboote und Feluken, nicht bloß die vertrauten Kauffahrer der Oriati aus dem Süden, sondern auch hohe Maskeraden-Handelsschiffe mit weißen Segeln. Mit ihrer Ankunft war der Markt über die Gehsteige gequollen und trieb nun auf schwankenden Koa- und Walnussholzflößen einher. Trommler spielten in der hellen Wärme.

Als Baru heute auf den Markt kam, entdeckte sie etwas Neues, das ihr Vergnügen bereitete: das Intrigieren. Sie würde herausfinden, was ihren Eltern Sorgen machte, den Knoten von Kriegsschiffen und Abkommen entwirren. Sie würde es in Ordnung bringen.

Ihre Familie fuhr mit dem Kanu. Baru saß im Bug, während Mutter Ritzel und Vater Salm paddelten und Vater Solit nervös über die Teleskoplinsen wachte. Der von See kommende Wind hob Schwärme von Bergenten und Gänsesägern empor, Trupps von Alawas mit struppigen Kragen, die ihre Zweitonrufe ausstießen, Fischerreiher und Sturmvögel und Fregattvögel, und viel weiter oben große Raubmöwen, die als nachtschwarze Keile am Himmel standen. Fest entschlossen versuchte Baru, sie zu zählen und dabei die verschiedenen Arten auseinanderzuhalten.

»Baru Kormoran«, sagte Mutter Ritzel lächelnd. Für Baru war sie eine Brandungswoge im Sturm, ein Blitzschlag, so bedächtig und machtvoll wie das Sonnenlicht. Ihre dunklen Augen und die Zähne in ihrem Lächeln waren das, was Baru sich ausmalte, wenn sie von Panthern las. Die Bewegung ihrer Paddel war so sicher und geschmeidig wie die der Wellen darunter. »Das war ein guter Name.«

Baru, gewärmt und geliebt und begierig darauf, die anderen mit ihren Vogelzählkünsten zu beeindrucken, umarmte den Oberschenkel ihrer Mutter.

Sie suchten sich einen Kai, an dem sie ihre Teleskope ausladen konnten, und das Wogen des Markts hüllte sie ein. Baru bewegte sich zwischen Knien und Knöcheln hindurch und blieb, weil das geschäftige Treiben sie ablenkte, hinter ihren Eltern zurück. Taranoke war seit jeher ein Handelshafen, ein sicherer Inselhalt für die Dromonen der Oriati und die Kanus der Inselbewohner, weshalb Baru von klein auf ein wenig darüber wusste, wie der Handel funktionierte: Schiedsgerichte, Wechselkurse, Einfuhr und Ausfuhr. Wir verkaufen Zuckerrohr und Honig und Kaffee und Zitrusfrüchte, sagte Mutter Ritzel, und wir kaufen Stoffe, Segeltuch, Geldsorten, die andere Händler wollen – Baru, hör zu!

In letzter Zeit hörte sie immer zu. Etwas Zerbrechliches lag in der Luft, der Geruch eines aufziehenden Gewitters, und es machte ihr Angst, dass sie den Grund dafür nicht verstand.

Auf dem Markt roch es nach gekochter Ananas und frischem Ingwer, nach rotem Eisensalz und Anis. Inmitten der Trommeln und der Rufe der Tänzer und Zuschauer auf Urunokisch und Oriati und in der neuen Handelssprache Aphalonisch war das Klingen harter Münzen und Riffperlen zu hören, die von Hand zu Hand gingen.

»Soliiiit«, rief Baru. »Ich möchte …!«

»Ich weiß.« Solit, der bei der Arbeit war, erübrigte ein Lächeln für sie. Er war früher Schmied gewesen und brachte allem, was er gemacht hatte – Baru eingeschlossen –, Großherzigkeit entgegen. »Geh dich umsehen.«

Ausgezeichnet. Jetzt würde sie herausfinden, was das Wort Abkommen wirklich bedeutete.

Sie fand den Stand eines Fernhändlers, der im Weiß der Maskerade gestrichen war. Den Mann hinter den hoch aufgeschichteten Tuchbahnen – die man aus Schafen webte, bei denen es sich wohl um große, dumme Tiere handelte, die hauptsächlich aus Haaren bestanden – hätte man aus der Entfernung für einen Taranoker halten können, doch aus der Nähe verrieten ihn seine Lidfalten und seine flache Nase. Das war der erste Eindruck, den Baru von den Leuten aus Falcrest erhielt: sture Kinnpartien, flache Nasen, tief in den Höhlen liegende Augen mit Lidfalten, die Haut blassbraun oder kupfer- oder haferfarben. Zu jener Zeit kamen sie ihr gar nicht so anders vor.

Der Mann sah gelangweilt aus, weshalb Baru keine Hemmungen hatte, auf seinen Stand zu klettern. Er hatte Wachposten, zwei Frauen mit rasierten Köpfen und Seglerhosen, die allerdings damit beschäftigt waren, die Sprachbarriere zu einem jungen taranokischen Fischer zu überwinden.

»Hallo, mein Liebes«, sagte der Mann hinter dem Stand. Er schob einen Stapel Warenmuster beiseite, um Platz für sie zu machen. Baru fiel sein hervorragendes Urunokisch auf. Wahrscheinlich war er ein sehr gewissenhafter Händler, oder er hatte eine Begabung für Sprachen – und auch dafür, sich in fremden Kulturen zurechtzufinden, denn Händler verstanden oft nicht, was auf Taranoke als freundlich empfunden wurde. »Brauchen deine Eltern Stoffe für kaltes Wetter?«

»Warum sind die kahl?«, fragte Baru und deutete auf die Wachposten. Durch eine Geste oder durch ihre Zungenfertigkeit hatten sie den Fischer zum Erröten gebracht.

»Auf Schiffen gibt es Läuse«, sagte der Händler, während er müde auf den Markt hinaussah. Er hatte dichte Brauen, wie Festungen, die über seine Augen wachten. »Sie leben in den Haaren. Und ich glaube nicht, dass deine Eltern Stoff brauchen, bei dem Klima hier. Was habe ich mir nur dabei gedacht, hier Tuch verkaufen zu wollen? Wenn ich zurückkomme, muss ich ins Armenhaus.«

»O nein«, versicherte ihm Baru. »Wir werden schon etwas mit deinem Tuch anfangen, da bin ich mir sicher, und außerdem können wir es Händlern verkaufen, die nach Norden unterwegs sind, und dabei Gewinn machen. Benutzt du Papiergeld?«

»Ich bevorzuge Münzen und Edelsteine, aber wenn ich kaufe, zahle ich mit Papiergeld.«

Zu seiner linken hatte er einen Stapel Schafsleder-Palimpseste – Dokumente, von denen man die Tinte abkratzen und sie wiederverwenden konnte. »Sind das deine Zahlen?«

»Das sind sie, und sie sind ganz sicher zu wichtig, um sie dir zu zeigen.« Gereizt blies der Tuchhändler eine summende Fliege weg. »Benutzen deine Eltern denn Papiergeld?«

Baru fing die Fliege und zerquetschte sie. »Anfangs hat es niemand benutzt. Aber jetzt, wo eure Schiffe so oft kommen, brauchen es alle, weil man damit so vieles kaufen kann.« Dann fragte sie nach etwas, das sie bereits wusste, weil es einem Vorteile brachte, nicht zu zeigen, wie schlau man war: »Kommst du von der Maskerade?«

»Ich komme aus dem Imperium der Masken, ja, oder auch aus der Reichsrepublik. Es gehört sich nicht, das abzukürzen.« Der Mann betrachtete seine Wachen mit einem väterlichen Stirnrunzeln, als meinte er, sie beaufsichtigen zu müssen. »Ja, das ist meine Heimat. Allerdings habe ich Falcrest seit einigen Jahren nicht gesehen.«

»Werdet ihr uns erobern?«

Er sah sie lange an, die Augen nachdenklich zusammengekniffen. »Wir erobern nicht. Eroberungen sind ein blutiges Geschäft und ziehen außerdem Seuchen nach sich. Wir sind als Freunde hier.«

»Dann ist es seltsam, dass ihr Waren für Münzen und Edelsteine verkauft, aber selbst nur mit Papier bezahlt«, sagte Baru. Obwohl sie das nicht unbedingt wollte, änderte sich ihre Art zu sprechen, und für einen Moment klangen ihre Worte wie die ihrer Mutter. »Wenn ich meine Zahlen nämlich richtig verstehe, bedeutet das, dass ihr uns all die Dinge wegnehmt, die wir benutzen, um mit anderen zu handeln, und uns Papier gebt, mit dem wir nur mit euch handeln können.«

Der Tuchhändler musterte sie mit einem Mal sehr aufmerksam.

»Meine Eltern haben Angst«, fügte Baru hinzu. Sie war peinlich berührt von seinem Blick.

Er beugte sich vor, und mit einem Mal erkannte sie seinen Gesichtsausdruck wieder, weil sie ihn schon früher auf Märkten bei Händlern gesehen hatte. Es war ein Ausdruck von Habgier. »Sind deine Eltern hier?«

»Ich komme gut allein zurecht«, sagte sie. »Hier kennt jeder jeden. Ich kann mich nicht verlaufen. Aber falls du ein Teleskop kaufen möchtest …«

»Ich verzehre mich nach einem Teleskop«, sagte er. Vielleicht dachte er, dass sie noch nie etwas von Sarkasmus gehört hätte. »Wo sind sie?«

»Dort oben.« Sie deutete mit ausgestrecktem Finger. »Meine Mutter ist die Jägerin Ritzel, und meine Väter sind Solit der Grobschmied und Salm der Schildträger.«

Mit einem Mal schürzte er die Lippen, als beunruhigte ihn der Gedanke an Väter. Vielleicht gab es in Falcrest keine Väter. »Und du?«

»Ich heiße Baru«, sagte sie, da man auf Taranoke bereitwillig seinen Namen verriet. »Baru Kormoran, weil ich erst zu weinen aufgehört habe, als ein Kormoran kam.«

»Du bist ein sehr kluges Mädchen, Baru«, bemerkte der Händler. »Ich sage dir eine glänzende Zukunft voraus. Komm mich mal wieder besuchen. Frag nach Kunrad Hufner.«

Als er später vorbeikam, um sich mit ihren Eltern zu unterhalten, konnte er den Blick anscheinend erst nicht von ihren Vätern abwenden und dann nicht von ihrer Mutter. Dabei schürzte er die Lippen, als hätte er sich an seinem eigenen Rotz verschluckt. Trotzdem kaufte er zwei Teleskope und ein paar Spiegel, und selbst der misstrauische Salm war zufrieden.

 

Der letzte Maskeradenkonvoi der Handelszeit umrundete Halas Riff und ging draußen vor dem Hafen von Iriad vor Anker, und zwar in Begleitung einer schlanken Fregatte mit roten Segeln – das Kriegsschiff, dessen Eintreffen Vater Salm vorhergesagt hatte. Blaffende Seeleute rannten auf Deck umher. Ein Kind mit einem Fernglas konnte auf den Vulkan klettern und ihnen den ganzen Tag lang bei ihrem Treiben zusehen, wenn es sträflich neugierig und noch dazu eine so schlechte Tochter war, dass es sich nicht um seine Arbeit kümmerte. Baru hatte ein Fernglas, und sie war genau diese Sorte Tochter.

»Sie haben Soldaten an Bord«, sagte Baru zu ihren Eltern, ganz aufgeregt, dass sie etwas so Bedeutsames herausgefunden hatte. Jetzt konnte sie an den geheimen Beratungen im Hof teilnehmen und auch von vergifteten Abkommen flüstern. »Mit Rüstungen und Speeren!«

Doch Vater Salm schnallte sich nicht seinen Schild um, um gegen sie zu kämpfen. Mutter Ritzel nahm Baru nicht beiseite und erklärte ihr die Taxonomie von Feldwebeln und Offizieren und welche Waffengattungen die Maskerade verwendete. Vater Solit gab ihr keine Ananas zu essen und fragte sie nicht nach den Einzelheiten. Stattdessen arbeiteten ihre Eltern im Hof und brummten etwas von Abkommen und Botschaften. »Wenn sie die erst mal gebaut haben«, sagte Salm immer wieder, »dann verschwinden sie nie wieder.« Worauf Solit mit ausdrucksloser, Sich-streiten-ohne-zu-streiten-Stimme erwiderte: »Sie bauen sie, ob wir unterschreiben oder nicht. Wir müssen Bedingungen aushandeln.«

Baru, die sich vernachlässigt fühlte und deshalb keine Lust hatte, sich um ihre Aufgaben und Zahlen zu kümmern, fiel ihnen lieber weiter auf die Nerven. »Solit«, sagte sie, während er ihre Kelpernte in einen Beutel stopfte, um sie zum Brennofen zu bringen, »wann kannst du wieder mit dem Schmieden anfangen?«

Als Baru klein gewesen war, hatte er wunderschöne und gefährliche Gegenstände aus den Erzen hergestellt, die man aus der Erde und aus den heißen Quellen holte. »Wenn die Handelszeit vorbei ist, Baru«, sagte er.

»Und wird Mutter über den Berg ins Flachland gehen und den Ebertöterspeer benutzen, den du für sie gemacht hast?«

»Sicher wird sie das.«

Baru blickte zufrieden zu ihrer Mutter, deren lange Beine und breite Schultern besser für die Jagd geeignet waren als zur Teleskopherstellung, und dann zu ihrem anderen Vater, der ebenso wild trommeln wie kämpfen konnte. »Und wenn die Soldaten kommen, wird Vater Salm dann den Menschentöterspeer verwenden, den du für ihn gemacht hast?«

»Du bist ja von oben bis unten dreckig, Kind«, sagte Solit. »Geh zu Lea Perlentaucher nach Hause und hol dir ein Stück Bimsstein. Und nimm ein wenig Papiergeld mit und kauf Olivenöl bei ihr.«

 

Baru las ausgiebig über Abkommen und Währung und Schlichtung, und wenn sie nicht mehr konnte oder nichts mehr verstand, löcherte sie Ritzel oder saß da und dachte nach. Ganz offensichtlich war etwas falschgelaufen: Ihre Eltern waren letztes Jahr glücklicher gewesen als dieses.

Diese Entwicklung musste man umkehren. Aber wie?

Auf dem Markt von Iriad saß der Händler Kunrad Hufner an seinem Stand, bewacht von den beiden Frauen, die einen zufriedenen Möwenblick zur Schau trugen. Der Markt war, grau und abweisend, auf einen stürmischen Tag zum Ende der Handelszeit gefallen. Bald würden die kreisenden Passatwinde der Aschensee den niederfahrenden Stürmen weichen. Aber die Bucht von Iriad schützte den Markt vor dem schlimmsten Wellengang, und die Trommler trommelten nach wie vor. Baru ging geradewegs zum Stand des Wollhändlers.

Hufner sprach gerade mit einem Taranoki-Flachländer, der offenbar den ganzen Weg über den Berg gekommen war, und weil man Baru beigebracht hatte, nicht mit Flachländern zu sprechen, ging sie stattdessen zu Hufners Wachposten. Die kahlen Frauen blickten auf sie herab, widmeten ihr erst nur flüchtige Aufmerksamkeit, wirkten dann gereizt und bedachten sie schließlich, als sie immer noch nicht ging, mit einem kleinen Lächeln – zumindest eine der beiden. Die andere Frau sah ihre Gefährtin hilfesuchend an, was Baru verriet, dass die beiden anscheinend Soldatinnen waren und welche von ihnen das Kommando hatte.

Ihr Lesen und ihr Nachdenken waren nicht vergebens gewesen.

»Hallo, Kleines«, sagte die Befehlshabende. Ihre Haut hatte die Farbe guter Erde, ihre Lippen waren breit, und sie hatte leuchtend blaue Augen, wie eine Urwaldkrähe. Ihr Uronokisch war ebenso hervorragend wie das von Kunrad Hufner.

»Ihr seid die ganze Handelszeit über hier gewesen«, sagte Baru. »Ihr fahrt nie mit den Handelsschiffen weg.«

»Wir kehren mit dem letzten Konvoi nach Hause zurück.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Baru. Die andere Frau straffte sich ein wenig. »Ich glaube nicht, dass ihr Kunrad Hufners Leibwachen seid oder auch nur Händler, denn wenn ihr es wärt, dann hättet ihr inzwischen festgestellt, dass man auf dem Markt von Iriad keine Wachen braucht, und er hätte euch losgeschickt, damit ihr nach anderen Gelegenheiten Ausschau haltet, um Geld zu verdienen.«

Die steife Frau sagte etwas auf Aphalonisch, der Sprache der Falcresier, und Baru erkannte aus ihrer Wörterbuchlektüre die Wörter für Einheimische und Stehlen. Aber die Frau mit den blauen Augen kniete sich nur hin. »Er hat gesagt, dass du ein sehr schlaues Mädchen bist.«

»Ihr seid Soldatinnen, nicht wahr?«, fragte Baru. »Von diesem Schiff. Dem Kriegsschiff, das die ganze Handelszeit über geblieben ist und außer Sichtweite vor Anker liegt, während die Handelsschiffe kommen und gehen und dabei eure Berichte abliefern. Das ist auch offensichtlich. Händler hätten die Sprache einer kleinen Insel nicht so gut gelernt wie ihr, also seid ihr Spione. Und jetzt, wo die Passatwinde zum Erliegen kommen, ist euer Schiff in den Hafen eingefahren, um hierzubleiben.«

Die Frau mit den blauen Augen nahm sie bei der Schulter. »Ich weiß, was es bedeutet, fremde Segel im Hafen zu sehen, kleine Lerche. Ich heiße Shir, und ich komme aus Aurdwynn. Als ich noch klein war, hat die Maskerade in Bundtberg vor Anker gelegen, unserer großen Stadt. Aber letztlich hat alles ein gutes Ende genommen, und meine Tante konnte sogar den abscheulichen Herzog töten. Hier hast du ein Geldstück. Geh eine Mango kaufen und bring sie mir, dann schneide ich dir etwas davon ab.«

Baru behielt die Münze.

Am Abend ließ die Fregatte mit den roten Segeln, die im Hafen lag, Boote zu Wasser. Geführt von Offizieren in salzfleckigem Leder und mit Stahlmasken kamen sie an Land. Durch ihr Fernglas beobachtete Baru, wie die Ältesten von Iriad die Soldaten der Maskerade in ihr neues Gebäude geleiteten: eine weiße Botschaft aus Aschenbeton.

Später kam Baru zu dem Schluss, dass das wohl der Moment gewesen war, in dem das Abkommen unterzeichnet wurde: Der Schluss eines Bundes zum beiderseitigen Wohl der Völker von Taranoke und der Reichsrepublik von Falcrest.

Bei Sonnenuntergang hissten sie ihr Banner: zwei geöffnete Augen in einer Maske, von zwei Händen umfasst. Und am nächsten Morgen begannen sie, Tuffstein zu schneiden, um daraus die Schule zu errichten.

 

Die Sturmzeit senkte sich über Taranoke, und alles fiel in sich zusammen.

Baru verließ sich seit jeher darauf, dass ihre Mutter es liebte, Dinge zu verstehen und ihr dieses Wissen zu vermitteln. Aber Ritzel entfernte sich zunehmend von ihr und wurde launisch, und was sie liebte, wurde von einem schrecklichen, brütenden Zorn überschattet, so dass Baru sich selbst einen Reim auf die Geschehnisse machen musste.

So erklärte sie es einigen der anderen Kinder, denen von Lea Perlentaucher und Haea Aschkok, unter denen Lao, ihre Cousine zweiten Grades, die Älteste war – jetzt schon ein storchbeiniges Geschöpf, das seine langen Gliedmaßen zwischen die salzigen Felsen seines geheimen Schlupflochs am Meer zwängen musste …

»Die Flachländer sind wütend auf uns«, erklärte Baru also, »wegen des Abkommens. Sie sagen, es ginge darum, dass Taranoke für sich steht, und wir hätten es verraten, indem wir der Maskerade erlaubt haben, eine Botschaft zu errichten. Aber wir wissen es besser.« (Bei diesen Worten murmelten immer alle zustimmend, weil sie von klein auf gelernt hatten, wie eifersüchtig die Schlammleute von den östlichen Ebenen Taranokes waren.) »Sie glauben, dass wir uns einen fremden Verbündeten gekauft haben, mit dem wir ihnen drohen können. Sie glauben, dass wir ein Monopol auf den neuen Handel wollen.«

Und die weiteren Ereignisse gaben ihr recht. Zu Beginn der Regenzeit quetschten alle Kinder aus der Gegend von Halaes Riff sich in die salzige Burg am Meer, damit Baru ihnen erklären konnte, was es mit den Feuern auf sich hatte. »Die Flachländer haben einen Kriegstrupp geschickt«, sagte sie und sonnte sich in der Macht, mit der sie die anderen nach Luft schnappen und sich vorbeugen lassen konnte, aber vor allem in der Macht, Lao dazu zu bringen, dass sie die Arme um die Knie schlang und Baru entsetzt und bewundernd anstarrte. »Sie sind über den Berg gekommen und haben einen Teil unseres Zuckerrohrs und unseres Kaffees verbrannt. Das war eine Botschaft, versteht ihr? Also sind die Familien der Hafenseite in Iriad zusammengekommen, um sich zu beraten, und haben einen eigenen Kriegstrupp losgeschickt. Kämpen, die ihre Schilde nach Osten tragen und sich der Herausforderung stellen.«

»Was werden sie tun?«, fragte Lao zu Barus höchster Zufriedenheit.

»Mit ihnen reden, wenn es geht«, erwiderte Baru und schützte Beiläufigkeit vor, indem sie einen Stein zwischen ihren Händen hin- und herwarf. »Kämpfen, wenn nicht.«

»Wie kämpfen sie?«

Wie außerordentlich befriedigend für die Tochter des Schildträgers Salm und der Jägerin Ritzel, der größten Kämpen der Hafenseite. »Kriege werden in einem Trommlerkreis von Kämpen ausgetragen. Die Trommeln werden geschlagen, und die Kämpen bewerfen sich abwechselnd mit Speeren und stoßen einander mit ihren Schilden, bis der Verlierer aufgibt oder stirbt.« Baru knallte ihren Wurfstein auf den Fels unter ihren Füßen, was die anderen Kinder zusammenzucken ließ. »Und dann gehen die Flachländer zum Schmollen nach Hause, und wir verkaufen ihnen zu Wahnsinnspreisen Stoffe.«

Aber so kam es nicht. Als der Kriegstrupp über den Berg geschickt wurde, um die Flachländer herauszufordern, wurde er von den Garnisonstruppen der Maskerade begleitet. In dem Abkommen war von gegenseitigem Beistand die Rede.

An diesem Punkt verlor Baru den Überblick über die Ereignisse, weil Mutter Ritzel und Vater Salm den Trupp ebenfalls begleiteten – den Kriegstrupp, der mit Schilden und Mannspeeren und Obsidianmessern als pfauenbunter Zug die Bergflanke emporstieg, mitten darunter Salms Zöpfe als Ruhmeszeichen und Ritzels auf ihren braunen Rücken geschnallter Speer. Und hinter ihnen kamen mit wehenden Bannern die maskierten, in Reihen gehenden Soldaten der Maskerade und verwandelten die Straße mit ihren Stiefeln zu Schlamm.

Der letzte Krieg zwischen der Hafenseite und den Flachländern war lange her. Um Iriad herum gab es alte Fehden, Frauen, die keinen Mann aus dem Flachland wollten, und Männer, die einer Frau aus dem Flachland niemals ihren Samen für ein Kind geschenkt hätten. Aber während der fetten Jahre war es leicht gewesen, nicht an diesen Hass zu denken.

Baru und Vater Solit blieben zu Hause. Die Glasmacher verbrannten keinen Kelp mehr, also gab es auch keine Spiegel mehr zu schleifen. Ohne die Händler der Maskerade im Hafen war das Papiergeld wertlos, aber andererseits war es das auch wieder nicht, weil alle es haben wollten, sobald die Passatwinde wieder wehten, und nun um jeden Fetzen davon feilschten.

Der Wollhändler Kunrad Hufner kam persönlich vorbei, um Baru zum Besuch der neuen Schule einzuladen, einer großen, von Tuffsteinwänden gesäumten Anlage oberhalb der Bucht. »Ach«, sagte Vater Solit mit unfreundlicher Stimme, »ich weiß nicht. Was könnt ihr ihr schon beibringen, was sie nicht bei uns lernen kann.«

»Etwas über die Länder um die Aschensee«, erwiderte Hufner und lächelte Baru verschwörerisch zu. »Neue Arten von Arithmetik und Algebra. Astronomie – wir haben ein hervorragendes Teleskop, hergestellt von den Stakhieczi des fernen Nordens. Wissenschaft und ihre einzelnen Disziplinen. Wir können ihr auch beibringen« – noch immer hielt sein Lächeln –, »welche Arten von Sünden und gesellschaftlichem Versagen es gibt. Die Reichsrepublik ist fest entschlossen, allen, denen wir begegnen, zu helfen.«

»Nein«, sagte Solit und ergriff sie bei der Schulter. »Eure Hilfe ist ein Angelhaken.«

»Du musst es natürlich am besten wissen«, sagte Hufner, obwohl der Ausdruck der Gier nicht aus seinen Augen gewichen war.

Aber ohne Salm und Ritzel war Vater Solit einsam und niedergeschlagen, und Baru wollte unbedingt die Erlaubnis, diese wunderbare Schule zu besuchen, die möglicherweise voller Antworten auf Fragen steckte, die sie überhaupt erst im Ansatz stellen konnte – was ist die Welt?, wer lenkt sie? und derlei mehr. Ob es nun daran lag, dass sie Solit wütend machte oder traurig oder dass ihm klarwurde, dass er sie ohnehin nicht mehr unter Kontrolle halten konnte, jedenfalls traf sie mit ihrem Flehen ins Schwarze. (Später stellte sie sich diese Frage noch oft und kam zu dem Schluss, dass es nichts von alledem gewesen war. Er hatte die Flammen am Horizont gesehen und seine Tochter in Sicherheit bringen wollen.)

Sie besuchte die Schule, wo sie ihre eigene Uniform und ihr eigenes Bett im überfüllten Schlafsaal bekam, und dort lernte sie bereits in ihren ersten Stunden zum Thema der wissenschaftlichen Gesellschaft und des Inkrastizismus die Begriffe Sodomit und Tribade und Sozialverbrechen und ererbte Volksgesundheit und sogar das Mantra des Herrschens: Ordnung ist Unordnung vorzuziehen. Sie musste Reime und Syllogismen auswendig lernen, die Vorbehalte der revolutionären Philosophie, und sie lasen aus einer Kinderversion des falcresischen Handbuchs der Manumission.

Sie wissen so viel, dachte Baru. Ich muss all das lernen. Ich muss jeden Stern und jede Sünde benennen können, die Geheimnisse des Verfassens von Abkommen und des Veränderns der Welt ergründen. Dann kann ich nach Hause zurückkehren und weiß, wie man Solit wieder glücklich macht.

Sie lernte auch eine Menge andere Dinge: Astronomie und gesellschaftliche Vererbung und Geographie. Sie fertigte eine Karte der Aschensee mit ihren jahreszeitabhängigen Passatwinden an, die die Schiffe in einem großen, im Uhrzeigersinn (noch ein neues Wort) verlaufenden Kreis leicht vor sich hertrugen, angefangen im östlich gelegenen Falcrest, im Süden dicht an Taranoke und Oriati Mbo vorbei und weiter zu Ländern mit vielen verschiedenen Namen, bis hin zu Aurdwynn im Norden und dann wieder nach Falcrest.

So viele Länder. Unten Oriati Mbo, gelehrt und zänkisch, ein Flickenteppich von Bundesstaaten. Oben das kalte Aurdwynn, wo man statt einer Sturmzeit den Winter hatte, kein vernünftiges Obst und stattdessen Wölfe.

Und Falcrest. Dort gab es sicher unzählige Geheimnisse zu erfahren.

»Du könntest es durchaus nach Falcrest schaffen, Baru Kormoran!« Der Gesellschaftshygieniker Dilin, ein sanftmütiger Mann mit der Hautfarbe eines Weißfischs, richtete seinen Füllfederhalter auf sie. »Am Ende der Ausbildung legt jedes vielversprechende Kind eine Prüfung für den Staatsdienst ab. Das Reich gibt allen eine Chance. Anhand inkrastischer Leitlinien werden wir deine gesellschaftliche Funktion bestimmen. Vielleicht wirst du Übersetzerin, Gelehrte, vielleicht sogar eine Technokratin in einem fernen Land.«

»Lebt der Kaiser in Falcrest?«, fragte Lao, ihre Cousine zweiten Grades. Nachts flüsterten sie einander Gerüchte über den schweigenden Kaiser und den Gesichtslosen Thron, auf dem er saß, zu.

Dilin lächelte ausdruckslos. »Allerdings. Wer kann den Vorbehalt des Hierarchen aufsagen?«

Baru konnte es.

Die Prüfung für den Staatsdienst wurde zu Barus Leitstern. Sie stellte sich vor, dass man von ihr verlangen würde, die Geheimnisse der Macht aufzuzählen. Und Vater Solit wieder zum Lächeln zu bringen.

Doch an ebendiesem Tag brachte Dilin ihnen den Beweis für die streng beschränkte Vererbung bei. »Ein männlicher Vater«, sagte er, während er die Klasse genau im Blick behielt, als rechnete er damit, dass ein wilder Eber aus ihr hervorbräche. »Eine weibliche Mutter. Nicht weniger. Nicht mehr.«

Die Schüler glaubten ihm nicht. Cousine Lao fing an zu weinen. Baru versuchte, diesen idiotischen Beweis zu widerlegen und schrie sich zum ersten Mal mit jemandem an. Sie war die Tochter einer Jägerin und eines Grobschmieds und eines Schildträgers, und jetzt wollten sie ihr erzählen, dass sie das nicht wäre?

Sie musste Mutter Ritzel danach fragen.

Doch Ritzel kam allein nach Hause.

Sie kam aus dem Krieg nach Hause, dieser blutgetränkten Katastrophe bei Jupora, bei der die Seesoldaten der Maskerade die Kämpen der Flachländer totgeschossen und ihren ganzen Kriegstrupp abgeschlachtet hatten. Während sie Vater Solits bebendes Gesicht in den Händen barg, berichtete sie krächzend von ihrer persönlichen Katastrophe: »Salm ist auf dem Marsch zurück verschwunden. Bei den fremden Soldaten gab es ein paar, die ihn gehasst haben. Ich glaube, sie haben ihn geholt.«

»Warum?« Solits Stimme klang wie versiegelt, eiskalt, verzweifelt bemüht, etwas drinnen oder draußen zu halten. »Was haben sie an ihm zu hassen gefunden?«

»Dich. Keiner dieser Männer hat Ehegatten. Sie hassen Ehegatten.« Sie senkte den Kopf. »Er ist fort, Solit. Ich habe gesucht … ich habe lange gesucht …«

Es lag an ihrem Unterricht in Wissenschaftlichkeit und Inkrastizismus, dass die einzige Frage, die Baru in diesem Moment einfiel, lautete: »War Salm mein echter Vater? Oder war er ein Sodomit?«

Und es lag an dieser Frage, dass Vater Solit aufschrie und Mutter Ritzel von der Schule erzählte. Daran lag es, dass Mutter Ritzel rasend vor Wut Baru schlug und sie aus dem Hof warf, so dass sie schluchzend zurück zu den weißen Wänden und dem Maskenbanner lief.

Natürlich kam ihre Mutter ihr hinterher, um sich zu entschuldigen, und sie weinten und waren wieder eine Familie oder zumindest ein trauernder Teil einer Familie. Aber das Leid war geschehen, und die Schule schien sogar über noch mehr Wissen zu verfügen als Mutter Ritzel, die Baru nun nichts mehr beibrachte – sie flüsterte nur noch mit Solit über Feuer und Speere und Widerstand.

»Bleib auf der Schule«, sagte Solit. »Dort bist du am sichersten. Dieser Hufner« – er blähte angewidert die Nasenflügel – »wird nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.«

Ich muss herausfinden, warum das mit Salm passiert ist, dachte Baru. Ich muss es verstehen, damit ich verhindern kann, dass es jemals wieder passiert. Ich werde nicht weinen. Ich werde es verstehen.

Das war Baru Kormorans erste Lektion in Ursache und Wirkung. Aber es war genau genommen nicht das Wichtigste, was sie je von ihrer Mutter gelernt hatte.

Das war früher gewesen, lange vor der Schule und vor dem Verschwinden des tapferen Vaters Salm. Als sie das Kriegsschiff mit den roten Segeln im Hafen von Iriad beobachteten, fragte Baru: »Mutter, warum kommen sie her und schließen Abkommen? Warum fahren wir nicht zu ihnen? Warum sind sie so mächtig?«

»Ich weiß es nicht, Kind«, sagte Mutter Ritzel.

Seit Baru sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie diese Worte aus dem Mund ihrer Mutter gehört hatte.

Kapitel 2

Sie verlor ihren Vater Salm, und dadurch verlor sie beinahe auch ihre Mutter.

»Du darfst das, was sie dir beibringen, nicht glauben«, zischte Mutter Ritzel ihr ins Ohr. (Sie lächelten beide die Betreuerinnen an, die Baru zu Besuch ins Haus ihrer Familie brachten, das ihr nun seltsam verwahrlost vorkam.) »Du darfst nicht vergessen, was sie Salm angetan haben, und du darfst ihnen keine Zugeständnisse machen. Die Familien halten einen geheimen Rat. Wir werden einen Weg finden, sie ins Meer zurückzutreiben.«

»Sie werden nie wieder weggehen«, flüsterte Baru flehend. »Ihr könnt sie nicht bekämpfen, Mutter. Ihr begreift nicht, wie gewaltig sie sind. Bitte, mach irgendwie deinen Frieden mit ihnen – bitte stirb nicht wie Salm …«

»Er ist nicht tot«, knurrte Ritzel. »Dein Vater lebt.«

Baru sah ihre Mutter an, Ritzels vor Müdigkeit rote Augen, ihre vor Zorn angespannten Schultern, und fragte sich, was mit der Frau geschehen war, die ein Blitzschlag, eine Sturmwolke, ein Panther gewesen war. Nun sah Ritzel am ehesten wie eine Wunde aus.

Und im Rückblick musste Ritzel wohl die Enttäuschung in Barus Augen gesehen haben. »Er lebt«, wiederholte sie und wandte sich ab.

Der Streit zwischen ihnen wuchs wie ein Korallenriff.

Als Baru zehn wurde, bekam sie bereits öfter Besuch von dem Tuchhändler Kunrad Hufner als von ihrer Mutter oder ihrem Vater. Er hatte immer Rat für sie. Zieh dich so an, aber nie so. Mach dir sie oder ihn zum Freund – aber ihn nicht. Seine Ratschläge gefielen ihr besser als die von Ritzel, weil sie voller Dinge waren, die es zu erreichen galt, und nicht voller Dinge, die man für immer meiden musste.

Die Ausbilder vom Wohltätigkeitsdienst der Schule kamen aus vielen fremden Ländern. In der Garnison der Maskerade gab es mehr und seltsamere Leute, als Baru sie je auf dem Markt in Iriad gesehen hatte. »Wenn sie Lehrer sein können, dann kann ich doch auch Lehrerin werden, oder?«, fragte Baru. »Ich kann in ein anderes Land gehen und kleine Mädchen davon abhalten, zu ungebührlich früher Stunde zu lesen?«

»Im Imperium der Masken kann man sein, was man will!« Kunrad Hufner, der in den Jahren auf der Insel fett geworden war, zog sie liebevoll am Ohr. »Mann und Frau, Arm und Reich, Stakhieczi oder Oriati oder Maia oder geborener Falcresier – in unserer Reichsrepublik kannst du werden, was du möchtest, wenn du in deinen Taten diszipliniert und im Denken schlüssig genug bist. Darum ist es ein Imperium der Masken, Liebes. Wenn du eine Maske trägst, kommt es auf deine Schläue an.«

»Du trägst keine Maske«, sagte Baru, während sie ihn aufmerksam musterte und überlegte, ob er wohl Laschen hinter den Ohren hatte, mit denen sein Gesicht an den Haaren befestigt war.

Hufner lachte über ihre Worte oder ihren Blick. In seiner Liebe für ihre besonders scharfsinnigen Einfälle glich er Ritzel oder Solit. Aber in einer anderen Hinsicht war er wie der verschollene Salm, in seinem Gefallen an ihrer Unverschämtheit, an ihrer Bereitschaft, eine Frage zu stellen oder sich etwas zu nehmen. »Die Maske ist für den Dienst bestimmt. Der Soldat trägt auf Patrouille eine Maske. Die Mathematikerin trägt eine Maske, wenn sie ihre Beweisführung verteidigt. Im Parlament sind alle maskiert, weil sie nur Gefäße für den Willen der Republik sind. Und auf dem Gesichtslosen Thron sitzt der auf ewig maskierte Kaiser.«

Er lenkte ab. Das war ganz und gar nicht hinzunehmen. »Wann trägst du eine Maske? Wie dienst du?«

»Auf Taranoke ist es zu heiß für Masken. Aber ich bin hier, um Tuch zu verkaufen und gelegentlich wohltätige Zwecke zu unterstützen.« Er rieb Baru mit den Fingerknöcheln über die kurzgeschorenen Haare. Fett hatte seine Wangen ausgepolstert und hing ihm schwer vom Kiefer, aber wenn Baru an fette Männer dachte, kamen ihr vor allem glückliche alte Geschichtenerzähler in Iriad in den Sinn, die gerne alt waren und dick vor Lebensfreude. Kunrad Hufner machte nicht diesen Eindruck. Er trug sein Gewicht wie ein vorausschauender Mann seinen Notproviant.

»Was, wenn du eine Maske tragen könntest?«, fragte er. »Was würdest du wollen, Baru?«

Baru war es bis zu dem Tag, an dem die Fregatte mit den roten Segeln im Hafen von Iriad vor Anker gegangen war, nicht in den Sinn gekommen, irgendetwas zu wollen außer Sternen und Buchstaben. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, das Unmögliche zu wollen, bis sie Vater Salm verloren hatte, erst an jene grauenhafte Doktrin und dann an den Tod.

Vielleicht konnte man den Tod von Vätern verbieten.

Vielleicht konnte man Doktrinen umschreiben.

»Ich möchte mächtig sein«, sagte sie.

Kunrad Hufner sah liebevoll auf sie herab. »Du solltest dich sehr sorgfältig auf deine Prüfung vorbereiten«, sagte er. »Sehr sorgfältig.«

 

Bis zur Prüfung für den Staatsdienst waren es noch acht Jahre. Baru arbeitete sich wund dafür.

Falcrest, flüsterte sie nachts bei sich. Empirismus. Inkrastizismus. Die Akademien von Falcrest. Das Parlament und das Metadem und das Morgenministerium und all ihre Geheimnisse. Wenn ich doch nur nach Falcrest dürfte …

Es gab so viel zu meistern, dort an jener entfernten Achse, um die sich das Imperium der Masken und die ganze Welt drehte. Geheimnisse, von der ihre Mutter nie auch nur geträumt hatte.

Doch mit Salms Verschwinden war der Schrecken noch nicht vorbei.

Vor den Mauern der Maskeradenschule raste eine Seuche durch Taranoke. Eine Quarantäne wurde verhängt, die Tore geschlossen. Die taranokischen Kinder, die keine Möglichkeit hatten, Nachrichten von ihren Verwandten zu erhalten, warteten tapfer ihre Impfungen ab (eine Idee der Maskerade, eine Art schwache Krankheit auf einem Tupfer oder einer Nadel). Aber die Quarantäne wurde einfach nicht aufgehoben, nicht in der Handelszeit und auch nicht in der darauffolgenden Sturmzeit.

Als Gerüchte über die Toten in der Schule durchsickerten, hielt das Schluchzen der hinterbliebenen Schüler Baru vom Schlafen ab. Manchmal trafen die Gerüchte nicht zu. Meistens schon.

In einsamen Nächten im Schlafsaal, wenn um sie her alle trauerten, dachte Baru mit kalter Wut: Zumindest wisst ihr Bescheid. Es ist besser, eine Leiche zu Gesicht zu bekommen und zu wissen, wie ein geliebter Angehöriger gestorben ist – besser, als wenn man seinen Vater in der Nacht verliert wie ein verlegtes Spielzeug, wie ein Schiff, dessen Ankertau gerissen ist.

Dann wurde das Ausmaß des Todes draußen vor den Mauern deutlich – die Leichenpyramiden, die auf dem schwarzen Stein brannten, die nässenden Wunden und der Laugengestank aus den Quarantäneschuppen. Auch das brachte Baru nicht zum Weinen, obwohl sie so gerne geweint hätte.

»Warum geschieht das?« Wütend und verzweifelt stellte sie Kunrad Hufner bei einem seiner Besuche zur Rede. »Was hat das zu bedeuten?« Und als sein Gesicht einen sanften Ausdruck annahm, einen Ausdruck des Einflüsterns und Beschwichtigens, schrie sie, bevor er seine Lüge aussprechen konnte: »Ihr habt das mitgebracht!«

Und er sah sie mit offenem Blick an, sein schwerer Schädelknochen wie ein Bollwerk über den Augen, das Gesichtsfleisch darunter üppig, und in diesen Augen erahnte sie ein ganzes Imperium, einen Mechanismus der Herrschaft, der sich aus der Arbeit vieler Millionen Hände selbst errichtete. Gnadenlos, nicht aus Grausamkeit oder Hass, sondern weil er zu gewaltig und zu fest auf seine Bestimmung ausgerichtet war, um sich für die kleinen Tragödien zu interessieren, die seine Ausbreitung mit sich brachte. Sie erkannte das nicht bloß an seinen Augen und an der gleichgültigen Art, auf die er sie ansah, sondern an den Erinnerungen, die er damit weckte – mit einem Mal verstand sie vieles, was er zuvor gesagt und getan hatte. Und sie wusste, dass Hufner ihr diesen Einblick gestattet hatte, als Warnung, als Versprechen.

»Die Flut kommt«, sagte er. »Das Meer hat dieses kleine Becken erreicht. Es wird Turbulenzen geben und Verwirrung und Verderben. Das passiert, wenn etwas Kleines Teil von etwas Gewaltigem wird. Aber …« Später sollte sie sich noch oft an diesem Moment festhalten, weil sie das Gefühl hatte, dass er ihr etwas Wahres und Erwachsenes und Machtvolles dargeboten hatte, anstatt sie mit einer Lüge abzuschirmen. »Wenn die Vereinigung abgeschlossen ist, kannst du in einem Meer schwimmen.«

Die Lehrer und Seeleute der Maskerade kamen und gingen nach Belieben. Sie waren immun. Aus der Schar neuer Gesichter, die sie sah, darunter eine schlaksige, schwarzhäutige Kadettin, die kaum zwei Jahre älter als Baru sein mochte, aber ein Schwert tragen durfte, folgerte sie, dass eine zweite Maskeradenfregatte eingetroffen war. Baru schämte sich zu sehr für ihren Akzent, um sie auf Aphalonisch zu begrüßen und zu fragen, wie ein Oriati-Mädchen es so kurz nach dem großen Flottenkrieg zwischen den beiden Mächten zur Offizierin im Dienste der Maskerade gebracht hatte.

Kinder verschwanden von der Schule, wurden zurück nach draußen auf die Insel geschickt, ins Seuchengebiet. »Sie haben sich unhygienisch verhalten«, erklärten die Lehrer. Sozialkrankheiten, flüsterten die Schüler. Man hat ihn dabei entdeckt, wie er das Väterspiel spielte …

Als die Pubertät einsetzte, beobachteten die Lehrer sie mit unbarmherzigem Blick und warteten darauf, dass sich unhygienisches Verhalten zeigte. Baru erkannte nun, warum Kunrad Hufner ihr Ratschläge dazu gegeben hatte, mit wem sie sich anfreunden sollte. Einige der Schüler halfen bei der Überwachung.

Als Baru dreizehn wurde, kam ihre Freundin und Cousine zweiten Grades Lao, die zwei Jahre älter war als sie und zutiefst unglücklich, händeringend zu ihr. »Lao«, flüsterte Baru in der zweifelhaften Zurückgezogenheit ihres abgehängten Betts. »Was ist denn?«

»Mein Sondertutor«, sagte Lao mit gesenktem Blick, »ist ein …« Sie verfiel vom Aphalonischen ins Uronokische ihrer Kindheit. »Ein Perverser.«

Laos Sondertutor war der Gesellschaftshygieniker Dilin aus Falcrest – sanft, bevormundend, mit exotisch blasser Haut. Er hielt Sitzungen mit aufsässigen oder heimwehkranken Schülern ab. Baru war vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass Dilin ihr nicht bei der Prüfung für den Staatsdienst helfen konnte. »Was hat er gemacht?«, zischte sie. »Lao, sieh mich an …«

»Er glaubt, dass ich sozial krank wäre.« Lao hielt sich beschämt die Augen zu, eine Geste, die sie von ihren Lehren gelernt hatten. »Er hält mich für eine Tribade.«

»Oh«, sagte Baru.

Später sollte sie sich für die Berechnung, die sie in diesem Moment anstellte, verabscheuen: Was wird es mich kosten, mit ihr in Verbindung gebracht zu werden, wenn sie wirklich eine ist? Denn die Wissenschaft der ererbten Volksgesundheit, die man ihnen beigebracht hatte, ließ keinen Zweifel daran, wie abscheulich es war, wenn eine Frau bei einer Frau lag, und welche Strafe die Tribade erwartete. Die Reichsrepublik war aus einer Revolte gegen eine verkommene Aristokratie geboren worden, die, so hatte Dilin erklärt, durch Jahrhunderte der unhygienischen Paarung an Leib und Geist verdorben gewesen war. So hatte Falcrest den Wert einer gesunden Lebensführung und sorgfältig geplanter Vererbung erfahren. Die Krankheiten des Tribadismus und der Sodomie müssen aus Leib und Blutlinie ausgemerzt werden …

Doch sie und Lao waren beide Taranoker, Kinder taranokischer Familien, und die Treue zu ihnen kam vor der Maskerade und ihren Doktrinen.

»Was hat er vor?«, fragte Baru.

Lao zog die Knie an die Brust und sah zwischen den Vorhängen um das Bett hindurch. »Es gibt eine Behandlung. Sie wird mit den Händen vorgenommen. Als er sie das letzte Mal vorgeschlagen hat, habe ich ihm erzählt, dass ich meine Tage hätte.«

Baru nickte. »Aber du hast jede Woche einen Termin bei ihm.«

Laos Gesicht zog sich ins Halbdunkel zurück. »Ich glaube nicht, dass wir etwas dagegen machen können«, sagte sie. »Nicht mal du, obwohl du ihre Lieblingsschülerin bist. Vielleicht ist es so am besten – man muss es angeblich in jungen Jahren heilen, bevor es in die Erbzellen übergeht …«

»Nein. Nein!« Baru nahm sie bei den Händen. »Lao, ich weiß genau, mit wem wir reden müssen. Ich kann das in Ordnung bringen.«

Lao drückte ihr dankbar die Hand. »Ich überstehe das schon. Du hast so viel zu verlieren.«

Aber Baru plante, trunken vor Aufregung, bereits die nächsten Schritte. Später sollte sie sich nicht nur für die Berechnung hassen, die sie angestellt hatte, sondern sich auch an Folgendes erinnern: Dies war das erste Mal, dass ich Macht ausgeübt habe. Mein erster Verrat.

 

Aber sie irrte sich. Sie wusste nicht genau, mit wem sie reden musste. Kunrad Hufner war ihr ganz und gar keine Hilfe.

»Hör mal, Baru«, sagte er leise, als fürchtete er, dass jemand sie in dem leeren Tuffsteinhof in der Ecke der Schulanlage belauschen könnte. »Junge Frauen legen verschiedenste Hysterien und Neurosen an den Tag. Es ist eine wissenschaftliche Tatsache, eine unausweichliche Konsequenz der Erbfolgen, die die Geschlechter geformt haben, dass der junge Mann zu Zorn, Gewalt und Promiskuität neigt, während die junge Dame zu Hysterie, Perversion und geistigen Störungen neigt. Wenn du eine mächtige Frau werden willst – und es gibt im Imperium mächtige Frauen, und zwar sehr viele –, dann musst du eine starke Frau sein, ist das klar?«

Sie wich einen Schritt zurück, wobei ihre viel zu weit aufgerissenen Augen und ihr Mund verrieten, wie bestürzt sie war. Es war das erste Mal, dass er anscheinend wütend auf sie war. »Nein«, sagte sie mit einer naiven Direktheit, die sie später bereuen würde. »Das ist nicht wahr! Und außerdem ist Lao diejenige mit dem Problem, und – und warum geht es überhaupt um Lao? Es ist dieser Tutor Dilin, der sie anfassen will!«

»Still!«, fauchte Kunrad Hufner. »Dilin erstattet dem Rektor Bericht zur gesellschaftlichen Hygiene, und diese Berichte gehen auf Dauer in die Akten ein. Begreifst du, was es für deine Zukunft bedeutet, wenn du ihn dir zum Feind machst?«

Ein oder zwei Jahre zuvor hätte sie geschrien: Das ist mir egal!, aber inzwischen wusste sie, dass so etwas hysterisch klang, und trotz ihres Widerwillens konzentrierte sie sich darauf, praktisch zu denken. »Wenn du etwas unternimmst«, sagte sie, »dann mache ich ihn mir nicht zum Feind, oder? Lass Lao einfach aus der Schule werfen. Es gefällt ihr hier sowieso kein bisschen. Der Rektor kann ja feststellen, dass sie zum Dienst ungeeignet ist.«

Aus mittlerer Entfernung war das Geräusch eines zerspringenden Tellers in der Küche zu hören, und ein Mann rief wütend etwas auf Aphalonisch. Kunrad Hufner legte die Finger aneinander, eine Geste, die er immer dann machte, wenn er etwas erklärte, das er für kompliziert hielt. »Männer wie Dilin widmen ihr Leben der Aufgabe, euch voranzubringen. Du wirst sie respektieren. Du wirst dich ihnen fügen, selbst dann, wenn etwas, das sie tun, dir unangenehm erscheint. Wenn Dilin meint, dass deine Freundin unhygienische Neigungen zeigt, dann wird er sie kurieren.« Seine Augen lagen dunkel unter seinen vorspringenden Brauen. »Kind, glaub mir: Die Alternativen wären sehr viel schmerzvoller für sie.«

Er erklärt es mir, dachte Baru, was bedeutet, dass er glaubt, mich überzeugen zu können, was bedeutet, dass er mich nicht aufgegeben hat. Aber wenn ich jetzt nicht lockerlasse …

Die Sache ist es nicht wert, ihn als Förderer zu verlieren.

»Na schön«, sagte sie. »Vergiss, dass ich gefragt habe.«

Kunrad Hufner lächelte erleichtert und zufrieden.

 

»Hat es geklappt?«, flüsterte Lao, während sie den Boden vor den Quarantänesiegeln fegten.

Baru begegnete ihrem Blick und lächelte ein halbes Lächeln, ein Krähenlächeln, ein Lügenlächeln. »Ich befasse mich noch mit den verschiedenen Möglichkeiten«, sagte sie.

Als sie später als Erwachsene an diese Zeit zurückdachte, konnte sie nicht abstreiten, dass sie darüber nachgedacht hatte, Lao aufzugeben. Sie im Namen des eigenen Fortkommens zu opfern.

Wenn sie es nach Falcrest schaffte, wenn sie die Mechanismen der Macht erlernte, konnte sie mit Sicherheit mehr Menschen retten als ein einziges taranokisches Mädchen. Ganz egal, wie klug und tapfer Lao war, ganz egal, wie sehr sie ihr am Herzen lag.

Aber Baru hatte einen anderen Plan.

 

»He«, sagte Baru so kehlig, wie sie konnte. Sie war dreizehn, hoch aufgeschossen und unbeholfen, und eingeschüchtert von ihrem Gegenüber.

»Selber he«, sagte die schlaksige Oriati-Kadettin. Jeden zweiten Tag brachte sie dem Rektor ein Paket ins Büro und verließ anschließend die Schule durch diesen Korridor auf der Rückseite, und hier hatte Baru gewartet, um sie abzufangen.

Baru fuhr sich mit der Hand durch die läusefreien Stoppeln. »Du bist doch Offizierin, oder?«

»Mit den Pflichten einer Offizierin.« Die Kadettin straffte die Schultern und wollte sich an Baru vorbei zur Tür nach draußen schieben. Sie sprach Aphalonisch mit einem eigenwilligen Akzent. Vielleicht war sie in einer Schule der Maskerade aufgewachsen, genau wie Baru. »Wegtreten, Schülerin.«

»Warte.« Baru ergriff sie beim Ellbogen. »Ich brauche deine Hilfe.«

Sie starrten einander fast Nase an Nase an, und Baru versuchte, auf den Zehen das Gleichgewicht zu halten, um so groß zu sein wie die andere. Die junge Frau hatte sehr braune Augen, sehr dunkle Haut, eine kluge Stirn, und in ihrem Arm arbeiteten die Muskeln.

»Du bist ein seltsames Ding«, sagte die Kadettin gedehnt und machte sich dabei den locker-herablassenden Ton von Maskerade-Offizieren zu eigen, die mit Taranokern sprachen. »Pass auf, was du mit deinen Händen anstellst.«

»Das ist ja mein Problem«, brummte Baru und schob sich dichter an sie heran. Sie setzte darauf, dass ihre Unverschämtheit sie eher interessant als abschreckend wirken ließ. »Hände. Wenn du weißt, was ich meine.«

Sie hatte nachgedacht und ein bisschen etwas über die Reichsmarine gelesen, eine Flotte, die von ihren Soldaten verlangte, auf Masten zu steigen und mit Seilen und Takelage zu arbeiten, eine Flotte, die sich ihrer weiblichen Kapitäne und Admiräle rühmte, die überall als fähig galten und respektiert wurden. Eine Flotte, die angesichts des Umstands, dass sie größtenteils männliche Besatzungen für Monate am Stück auf winzigen Schiffen zusammenpferchte, Probleme dieser Art kennen musste.

Die Kadettin löste sich ruckartig von ihr, machte einen raschen Schritt nach hinten und wandte sich von Baru ab. Baru holte nervös Atem und bereitete sich auf einen Schlag oder eine Zurechtweisung vor.

»Mein Name ist Aminata«, sagte die junge Frau. Mit einem schuldbewussten Blick, der Baru so vertraut war, dass sie ein Kichern unterdrücken musste, sah sie zum anderen Ende des Flurs. »Ich komme aus Oriati Mbo. Meine Familie hat auf Taranoke Handel betrieben, und wenn du irgendjemandem sagst, dass ich mit dir gesprochen habe, schlitze ich dich auf, verstanden?«

Baru hob das Kinn. »Nicht, wenn ich dich zuerst aufschlitze.«

Aminata musterte sie mit einem leichten Lächeln. Baru musste an einen Königsfischer denken, der einen bunten Frosch begutachtete. »Hier drin können wir nicht reden«, sagte sie. »Ich könnte in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, wenn ich dich aus der Quarantäne lasse.«

»Darum habe ich dich nicht gebeten.«

»Allerdings hast du das nicht«, erwiderte Aminata und hob einen kleinen Schlüssel aus Messing. »Und jetzt komm. Ich sage dir, wie du dein Hände-Problem lösen kannst.«

 

Sie folgte Aminata über den Fußweg hinter der Schule zum Rande eines Vorsprungs, von dem aus man eine Aussicht auf den Hafen von Iriad hatte. Ihr schwindelte von der frischen Salzluft und ihrem Ungehorsam, vom dumpfen Donner am Horizont, von der verschwörerischen Vorsicht im Blick des älteren Mädchens. »Es spielt keine Rolle, ob uns jemand sieht«, sagte Aminata. »Es gibt Millionen von euch kleinen Inselratten, und solange du nicht in der Schule bist, wird man dich einfach für ein Waisenkind halten, das einen Auftrag sucht.«

»Ein Waisenkind?« Baru runzelte die Stirn. Taranokes zuverlässiges Netzwerk von Müttern und Vätern, Tanten und Onkeln hatte seit jeher dafür gesorgt, dass Kinder nur selten allein blieben.

Aminata räusperte sich und spuckte über die Kante. Unter ihnen grollte und donnerte die See. »Die Pest hat ihnen schwer zugesetzt.«

»Oh«, sagte Baru und dachte dabei: Ja, natürlich, das wusste ich doch. Die Insel ihrer Kindheit war dahin. In einem Meer von Eiter und Verzweiflung hatte es sie dahingerafft, während Baru hinter weißen Mauern Unterricht bekommen hatte.

Es war die Sturmzeit. Im Hafen nisteten zwei Kriegsschiffe der Maskerade mit eingerollten Segeln.

»Komm schon.« Aminata setzte sich mit baumelnden Beinen auf den Vorsprung und tätschelte den Fels neben sich. »Erzähl mir von deinem Problem.«

»Ich habe eine Freundin …«

»Du musst nicht so tun, als wäre es eine Freundin.«

»Ich habe eine Freundin«, wiederholte Baru, obwohl Aminata schnaubte, »die unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Von einem Mann.«

»Und hat er schon etwas mit deiner Freundin gemacht?«

»Noch nicht.« Baru setzte sich neben sie, fasziniert von ihrer roten Uniform. Offiziere der Maskerade trugen feinste Wollwämser, die Wind und Wetter trotzten. Aminata, die die Hitze nicht gut vertrug, hatte ihr Wams salopp offengelassen, was ihr ein ziemlich verwegenes Aussehen verlieh. »Noch nicht. Aber er hat es versucht.«

»Es gibt da eine Regel.« Aminata sah mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont, das Blinzeln eines alten Seefahrers, das auf einem so jungen Gesicht seltsam anmutete. »Keine falschen Anschuldigungen. Du darfst es nicht tun, weil ihr gevögelt habt, und jetzt gibt er damit an. Männer reden sich gerne ein, dass falsche Anschuldigungen die Waffen der Frau sind, weißt du. Bei so was schließen sie die Reihen. Selbst gute Männer.«

Baru hatte über all das noch nie nachgedacht, und sie sagte das Erstbeste, was ihr einfiel. »Angeben? Womit sollte er da angeben?«

Aminata stützte sich nach hinten auf die Hände. »Ich weiß nicht, wie es auf Taranoke ist, aber in der Maskerade spielt man nach den Regeln von Falcrest. Und die Regeln von Falcrest besagen, dass der Mann angeben darf und die Frau den Mund halten muss.«

Das ist ungerecht war der Einwand eines Kindes, gemahnte sich Baru. »In Ordnung«, sagte sie. »Ich verstehe die Regeln.«

»Also, du tust Folgendes«, sagte Aminata nicht ohne eine gewisse Zufriedenheit, »du holst deine Freundinnen und wartest, bis er schläft, alles klar? Dann knebelt ihr ihn und fesselt ihn mit Händen und Füßen ans Bettgestell, und dann prügelt ihr mit Strümpfen mit Seifenstücken darin auf seinen Bauch und seine Beine ein. Wenn er es noch mal macht, prügelt ihr auf seinen Schwanz ein, bis er kaum noch pissen kann. Und wenn er sich beschwert, wissen alle, was er getan hat. So sind die Regeln bei der Flotte. Sie sind nirgends niedergeschrieben, aber sie sind wahr.«

Baru, die politische Feinheiten erwartet hatte, machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. »Wir sind nicht bei der Flotte«, sagte sie, »und wir haben keine Strümpfe, und außerdem können wir nachts nicht in sein Zimmer.«

»Ach so.« Aminata kniff erneut die Augen zusammen. Sie riss eine Hibiskusblume aus und pflückte methodisch die Blätter ab. »Ein Lehrer.«

Baru zuckte mit den Schultern. »Schon möglich.«

»Dann hat er also einen Vorwand, um deine Freundin zu betatschen. Er wird von weiter oben geschützt. Das ist schwierig.«

»Es muss einen Weg geben, dem ein Ende zu setzen«, sagte Baru, den Blick hinunter zum Hafen gerichtet, wo früher der Markt von Iriad gewesen war. Die Maskerade hatte die Promenaden und Gehsteige abgerissen und stattdessen eine Werft errichtet, die das Gerippe eines neuen Schiffs umfing. Truppen wurden auf den matschigen Dorfstraßen gedrillt. »Was macht man in der Flotte, wenn einem ein Offizier nachstellt?«

»Früher konnte man da nichts machen.« Aminata pflückte das letzte Hibiskusblatt ab und warf den Stängel weg. »Aber inzwischen gibt es genug Frauen – Frauen und Männer, die mit ihnen zusammen gedient haben – im Offizierskorps, damit ein leises Wort ins richtige Ohr genügt. All das geschieht inoffiziell. Aber es geschieht.«

»Also kannst du für sie zu deinen Offizierinnen gehen, die der Sache dann ein Ende setzen!«

Aminata schürzte die Lippen und zuckte mit den Schultern, und Baru fiel ein, dass sie trotz ihrer Uniform und ihrer beeindruckenden Erscheinung nur eine Kadettin war und wahrscheinlich nicht älter als sechzehn. »Ich weiß es nicht. Es könnte ein Risiko sein, die Flotte gegen den Wohltätigkeitsdienst auszuspielen, nur wegen eines kleinen Inselmädchens. Was habe ich davon?«

Baru spürte, wie sie unwillkürlich die Lippen verzog und das Kinn vorschob, und machte sich nicht die Mühe, ihren angewiderten Gesichtsausdruck zu verbergen. »Nichts, schätze ich«, sagte sie. »Du hast mich nicht mal nach meinem Namen gefragt, von daher wird dich das wohl nicht interessieren.«

Eine Weile saßen sie in eisigem Schweigen auf der Kante. Der Wind frischte auf.

»Du solltest zurückkehren«, sagte Aminata. »Und ich auch, bevor der Wachoffizier bemerkt, dass ich überfällig bin.«

»Du musst mich wieder reinlassen«, sagte Baru steif.

Aminata zuckte mit den Schultern. »Muss ich nicht. Die Türen sind nur von innen verschlossen.«

»Ach so.« Baru stand auf und kletterte den Hang hoch. Schmollend wünschte sie sich den Ebertöterspeer ihrer Mutter herbei, oder einfach nur ihre Mutter, die harsche Worte für Aminata gefunden hätte und eine noch harschere Behandlung für den Hygieniker Dilin.

Vielleicht hatte sie recht gehabt. Vielleicht war der einzige Weg, so einer Sache ein Ende zu setzen, tatsächlich der Speer …

»Und, wie lautet er?«, rief Aminata. Der Wind kam inzwischen in heftigen Böen.

»Wie lautet wer?«

Aminata machte eine kleine Raus-mit-der-Sprache-Handbewegung und lächelte ein wenig, was in Baru eine verwirrende Mischung aus Wut und Wohlbehagen hervorrief.

»Baru Kormoran«, sagte Baru. »Und der Name des Problems lautet Dilin.«

 

Im Laufe der nächsten Woche, mitten in der Nacht, kam ihre Cousine zweiten Grades Lao im Dunkeln zu ihr und küsste sie auf die Stirn. »Danke«, flüsterte sie. »Du bist das einzige Gute, was mir geblieben ist, Baru. Danke.«

Sie waren gerade in einem Atelier – wo man ihnen beibrachte, Füchse zu malen, obwohl sie noch nie welche gesehen hatten –, als die Nachricht eintraf, dass Dilin die Schule verlassen und eine Stelle in Falcrest antreten würde, sobald die Passatwinde wieder einsetzten. Eine Kapitänin der Maskerade kam persönlich vorbei, um ihm zu gratulieren. Baru verspürte Stolz und eine kranke Erleichterung und Sorge, weil sie selbst überhaupt nichts getan hatte. Aminata hatte an ihrer Stelle gehandelt.

Ohne ihre Fürsprecher war sie machtlos. War Macht etwas Echtes, wenn man sie von jemand anders bekam?

»He«, sagte Aminata, als sie das nächste Mal auf dem Flur an Baru vorbeikam.

»Selber he.« Baru grinste und wurde vom aufsichthabenden Lehrer für ihren mangelnden Respekt einer Offizierin des Imperiums gegenüber getadelt.

Später im selben Jahr wurde angekündigt, dass es einen Schwertkampfkurs geben würde, mit dem die Schüler auf ihren möglichen Staatsdienst vorbereitet werden sollten. Aminata ging als Assistentin des Lehrers die Reihen ab, blaffte den Schülern ins Gesicht und griff ihnen an die Ellbogen, um ihre Haltung zu korrigieren. Bei Baru war sie nicht nachsichtiger, aber sie lächelte.

Sie wurden Freundinnen. Sie flüsterten miteinander, tratschten, spekulierten. Genau wie Baru war auch Aminata von außen in den Dienst des Reiches getreten – sie war die Tochter eines der Oriati-Bünde im Süden, die sich davor fürchteten, einen zweiten Krieg gegen die Maskerade zu verlieren. Zusammen ersannen sie kleine Aufsässigkeiten, klauten Nahrungsmittel oder verschworen sich gegen Lehrer und Offiziere. Von all diesen rebellischen Akten gefiel Baru das Chiffrierspiel am besten – Aminata wusste ein wenig über Verschlüsselungen, die zur See benutzt wurden, und Baru verwendete dieses Wissen zusammen mit ihren Formeln, um einen eigenen Schlüssel für sie beide zu entwickeln. Möglicherweise hatte sie sich dabei zu hohe Ziele gesetzt, und in jedem Fall war das Ergebnis zu umständlich (in einem Fall verlangte es die Kenntnis von drei Sprachen und komplexer Trigonometrie), aber unter ausgedehnter und erbitterter Streiterei in der Lehrerspeisekammer gelang es ihnen schließlich, die Ecken und Kanten abzuschleifen und etwas Brauchbares daraus zu machen.

Baru gewöhnte es sich auch an, unter Umgehung der Quarantäne nach draußen zu schlüpfen, manchmal mit Aminata, manchmal alleine mit dem Schlüssel, den Aminata ihr gegeben hatte, um ihre Mutter und ihren Vater zu besuchen und ihnen zu versichern, dass sie sie nicht verloren hatten.

Falls Kunrad Hufner davon wusste, zeigte er kein Missfallen. Aber als Dilin Taranoke verließ, besuchte er Baru und sagte brüsk: »Wir werden einen ebenso sorgfältigen Ersatz finden müssen.«

Er sah sie mit wachsamem Blick an, und sie glaubte, dass er wusste, was zur Rettung von Lao geschehen war. Aber sie konnte nicht erkennen, ob er erfreut oder wütend war oder ob er abwartete, was sie als Nächstes tun würde.

Immer mehr ihrer Mitschüler verließen die Schule. Ihr selbst wurden nach und nach außerordentliche Pflichten zugewiesen, Rätsel und Aufgaben, Fragen zu Geld und Buchhaltung, Geometrie und Rechenarten. Die Lehrer begannen das Wort Hochbegabte zu murmeln, und hinter ihren flüchtigen Blicken sah sie Kunrad Hufners Augen.

 

Sie meisterte Zahlen und Beweisführungen, Demographie und Statistik. Mit Literatur, Geschichte, Geographie und Aphalonisch, die an und für sich eigentlich alle interessant waren, sie aber in der Praxis langweilten, hatte sie Mühe. All die gefallenen Reiche: die Überreste der uralten und ruhmreichen Tu Maia im Westen, die überall ihr Blut und ihre Buchstaben hinterlassen hatten, und die Stakhieczi-Steinmetze, die nun im Norden dahinsiechten, aber vielleicht eines Tages zurückkehren würden. Sie verkörperten die Methoden von dazumal, die Verlierer der Geschichte. Falcrest hatte sie übertrumpft. Selbst die Oriati, Kunsthandwerker und Händler, die im Süden einen Flickenteppich streitender Bundesstaaten bildeten – tja, Aminata vermisste ihr Zuhause anscheinend nicht besonders, und ihre Kampfkraft hatte nicht ausgereicht, um den Flottenkrieg zu gewinnen, was hatten sie also zu bieten?

In Sachen gesellschaftliche Hygiene und Inkrastizismus, der Fortschritts- und Vererbungslehre der Maskerade, war es jedenfalls leicht, eine gute, wenn auch nicht aufsehenerregende Leistung zu erbringen. Und im Schwertkampf war sie ganz hervorragend und sogar besser als die meisten Jungen, die nun, mit inzwischen siebzehn, im Schnitt größer und stärker als die Mädchen waren.