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Kaum eine Wissenschaft hat so viel Einfluss auf unser Leben wie die Wirtschaftswissenschaft. Aber mit der Finanzkrise ist sie in eine Vertrauenskrise geraten. Es gibt vielfältige Kritik: Realitätsferne Modelle konnten die Krise nicht vorhersagen. Die mathematischen Gleichgewichtsmodelle orientierten sich zu sehr an der Physik, das Menschenbild der Ökonomen sei eindimensional. Viele Mainstream-Ökonomen blenden institutionelle, politische, historische und andere sozialwissenschaftliche Fragen aus. Studierende kritisieren zu viel Formelpaukerei, zu wenig kritisches Nachdenken. Manche Beschwerden sind tatsächlich berechtigt, aber die Wirtschaftswissenschaft ist im Wandel. Der Autor geht in Form von Essays den Vorwürfen nach, warum die Lehre sich ändern muss. Mit einem besonderen Blick auf die Wirtschaftsgeschichte stellt er neue Entwicklungen dar: unter anderem die Verhaltensökonomie, die experimentelle Ökonomie und die Wiederentdeckung der Institutionenökonomie. Konkret präsentiert er eine Vielzahl spannender und faszinierender Ergebnisse aus der Welt der Wirtschaftswissenschaft zu aktuellen Themen, wie etwa die zukünftige Rolle von Robotern in der Arbeitswelt.
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Seitenzahl: 459
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Philip Plickert
Die VWL auf Sinnsuche
Ein Buch für zweifelnde Studenten und kritische Professoren
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Philip Plickert
Die VWL auf Sinnsuche
Ein Buch für zweifelnde Studenten und kritische Professoren
Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Frankenallee 71–81
60327 Frankfurt am Main
Geschäftsführung: Oliver Rohloff
1. Auflage
Frankfurt am Main 2016
ISBN 978-3-95601-216-7
Copyright
Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Frankenallee 71–81
60327 Frankfurt am Main
Umschlag
Julia Desch, Frankfurt am Main
Satz
Wolfgang Barus, Frankfurt am Main
Titelbild
© inueng – Fotolia.com
E-Book-Herstellung
Zeilenwert GmbH 2017
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
1.Teil: Die Ökonomen in der Krise und im Wandel
Im Interview: Monika Schnitzer, Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik „Es geht darum, dass es den Menschen besser geht“
Im Interview: Detlef Fetchenhauer, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Universität zu Köln: „Den Ökonomen glaubt man nicht“
Gefangen in der Formelwelt
Wettlauf der Forscher
Die Tücken der Prognosen
Die Ökonomen und der Mindestlohn
Abschied von Mr. Spock
Wirtschaft als Experiment
Ein Schubs in die richtige Richtung?
Der Teufel steckt in der Empirie
Sind Ökonomen patriotisch?
Gesucht: Weibliche Top-Ökonomen
Die dunkle Seite der Wissenschaft
Ein Bindestrichfach
Ein Volk von Ökonomie-Analphabeten
2. Teil: Vom Wert der Vergangenheit
Die Renaissance der Wirtschaftsgeschichte
Alles Napoleon, oder was?
Vom Piraten zum Ehrenmann
Gute Professoren
Ökonomen gegen Hitler
Am Rande des Wirtschaftswunders
Der Planer tappt im Dunkeln
Die große Täuschung
Wunder dauern etwas länger
3.Teil: Die Finanzkrise – Doping mit billigem Geld
Geld, Gold, Greenspan
Notenbanker auf dem Gaspedal
Das „Wunder“ der Banker
Wie schön ist es, systemrelevant zu sein
Die Banken sind fett und gefährlich
Wir retten keine Banken mehr
4.Teil: Eurokrise und kein Ende
Eine Krise mit Ansage
Der Euro – eine Friedenswährung?
Vielfalt ist Trumpf
Die tiefen Wurzeln der Staatsschuldenkrisen
Bedauerlicherweise bankrott
Vereinigte Schulden von Europa?
Der Euro und die Zaubertaler
Was bedeutet europäische Integration?
Zombie-Gefahr
Alles hängt an der Formel
Wie das Eis an der Sonne?
Ist das 2-Prozent-Ziel der EZB noch zeitgemäß?
Keine Angst vor dem Deflationsgespenst
Die Zentralbank zielt daneben
Die Schrumpfgeld-Verschwörer
5.Teil: Mensch, Gesellschaft und Umwelt
Größer und fetter
Macht uns Geld nicht glücklich?
Angst essen Verstand auf
Das Märchen vom guten Strom
Neid bremst den Fortschritt
Die große Bevormundung
Wenn manche gleicher als gleich sind
Frauen und Kinder ertrinken zuerst
Die Verstaatlichung der Kinder
Frührente verkürzt das Leben
Frauen sind die besseren Diktatoren
Die Auserwählten
6.Teil: Neue Blicke auf die Politische Ökonomie
Wer regiert, ist egal
Der Bürger ist der bessere Kassenwart
Eine Stimme gegen den Superstaat
7.Teil: Arm und Reich in der Weltwirtschaft
Warum die Armen arm bleiben
Ressourcenreichtum kann ein Fluch sein
Mutter Afrikas zerstrittene Kinder
Die Kosten der Flüchtlingskrise
Die mühsame IT-Revolution
Ist es mit dem Wachstum vorbei?
Nehmen Roboter uns die Arbeit weg?
Bedrohte Meinungsfreiheit
Anmerkungen
Der Autor
Keine andere Sozialwissenschaft hat solche Macht über unser Leben wie die Volkswirtschaftslehre. Was Ökonomen erforschen und lehren, wozu sie raten und wovor sie warnen – all das hat großen Einfluss in Medien und Politik. Nicht zu unterschätzen ist auch der langfristige Einfluss ökonomischer Lehren. Im letzten Kapitel seiner „General Theory“ schrieb John Maynard Keynes vor achtzig Jahren: „Die Ideen von Ökonomen und politischen Philosophen, seien sie richtig oder falsch, sind mächtiger als üblicherweise angenommen (…) Praktiker, die von sich glauben, sie unterlägen keinerlei intellektuellen Einflüssen, sind gewöhnlich die Sklaven eines längst verstorbenen Ökonomen.“1
Dass sich Politiker sklavisch an Ökonomen-Lehren hielten, ist natürlich stark übertrieben. Oft genug pfeift die Politik auf das, was Wissenschaftler sagen. Politiker in Demokratien wollen Wahlen gewinnen. Viele Ökonomen beklagen sich, dass ihre Ratschläge zu wenig gehört würden.2 Doch ohne Zweifel hat ihr Wort Gewicht. Und das nicht nur im engeren Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, in Fragen der Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik, beim Umgang mit der Finanz–, Schulden- und Euro-Krise. Ökonomen äußern sich auch zur Bildungspolitik, zur Gesundheitspolitik, zu Energie-, Umwelt-, Klimafragen, selbst zu außenpolitischen Themen. Sie sind weit einflussreicher als Politologen oder Soziologen, von den Geisteswissenschaften ganz zu schweigen. Kritiker beklagen eine „Ökonomisierung“ (fast) aller Bereiche des Lebens, weil Ökonomen praktisch alle Fragen der menschlichen Gesellschaft mit ökonomischen Theorien analysieren.
Und zugleich gibt es ein großes Unbehagen an der VWL, auch innerhalb der Disziplin selbst. Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Bevölkerung nur wenig Vertrauen in die Ökonomen hat. „Den Ökonomen glaubt man nicht“, fasste der Kölner Wirtschaftspsychologe Detlef Fetchenhauer die Ergebnisse einer breiten Befragung zusammen, die er vor einigen Jahren, kurz nach dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise, gemacht hatte. (Siehe Interview auf S.46ff.) In dieser repräsentativen Umfrage sagten 80 Prozent der Deutschen, die Gesellschaft würde auch ohne Ökonomen ganz gut auskommen. Nur jeder Siebte hielt Ökonomen generell für glaubwürdig. Das waren zwar höhere Werte als für Politiker (und Astrologen), aber Ökonomen wird deutlich weniger geglaubt als etwa Psychotherapeuten oder Ärzten.3 Fetchenhauer schreibt dieses schlechte Image zum Teil der Erfahrung mit Konjunkturprognosen zu, die häufiger daneben lagen. Auf die Probleme der Konjunkturforscher und Makroökonomen werden wir unten noch mehrfach zu sprechen kommen.
Falsche Prognosen und Diagnosen gibt es auch in anderen Disziplinen. Wenn ein Arzt bei einem Patienten eine schwere Krankheit nicht richtig diagnostiziert, was durchaus nicht so selten vorkommt, wenden wir uns nicht generell von der Medizin ab. Niemand erwartet von Ärzten, dass sie den Ausbruch eines Krebserkrankung prognostizieren. Als Erdbebenforscher die verheerenden Tsunami 2004 in der Region Thailand oder 2011 in Japan oder das Beben von Haiti 2010 nicht rechtzeitig prognostizierten, hat man diese Disziplin nicht pauschal als wertlos abgetan. Wenn Ingenieure eine Brücke falsch konstruieren, so dass sie einstürzt, oder wenn der Hauptstadtflughafen BER so schlecht geplant ist, dass jahrelange Umbauten Milliarden Mehrkosten verursachen, dann ruft das Ärger oder Spott hervor, doch die Öffentlichkeit zweifelt nicht grundsätzlich an Ingenieuren oder Architekten. Fehler passieren, es gibt Versager und schwarze Schafe. Sie kratzen nicht fundamental am Image der betreffenden Wissenschaft oder Kunst.
Die Finanz- und Schuldenkrise, die im Sommer 2007 ausbrach und im Herbst 2008 beinahe zur Kernschmelze des Finanzsystems und dann in die größte Rezession seit achtzig Jahren führte, war indes eine Krise, die das Vertrauen in die Lehren der Ökonomen grundsätzlich erschüttert hat. Ökonomen sind keine Hellseher, aber dass praktisch keiner der bekannten Wirtschaftswissenschaftler vor dem drohenden Crash auch nur in Ansätzen gewarnt hat, wird in der Öffentlichkeit als Versagen wahrgenommen. Und selbst nach Ausbruch der Finanzkrise erkannten die meisten Ökonomen die zerstörerischen Ansteckungseffekte erst sehr spät.
Das hat viel Ärger über die Ökonomen ausgelöst. Auch die britische Queen war „not amused“. Mit Hut und Kostüm besuchte ElisabethII. im November 2009 die London School of Economics (LSE). Ratlos stand sie vor einer Schautafel mit der Aufschrift „Managing the credit crunch“ mit vielen Kurven und Diagrammen. Die farbigen Linien zeigten steil nach unten. LSE-Professor Luis Garicano bemühte sich, der Monarchin zu erklären, wie der ökonomische Crash entstanden sei. Nach einiger Zeit sagte sie: „It’s awful. Why did nobody see it coming?”
Die Frage bringt die Ökonomen in Erklärungsnot. Im folgenden Jahr erhielt die Queen drei offene Briefe von Wissenschaftlern mit Erklärungen. Ich führe die Hauptargumente hier kurz auf, weil sie exemplarisch für unterschiedliche Erklär- und Kritikmuster sind. Der erste Brief an die Königin kam Ende Juli 2009 von Tim Besley und Peter Hennessy, die im Namen der British Academy schrieben.4 Viele hätten die Krise kommen sehen, behaupteten sie, doch keiner den Zeitpunkt und die Schwere des Einbruchs. Besley, ein LSE-Ökonom sowie Mitglied der Führung der britischen Notenbank, und Hennessy, ein bekannter Historiker, verwiesen auf Warnungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Die Banken selbst hätten unzählige Risikomanager, „einige der besten mathematischen Geister unseres Landes“, beschäftigt. „Aber sie haben oftmals den Blick für das größere Bild verloren.“
Vor allem hätten sie nicht gesehen, wie all die ökonomischen Ungleichgewichte in der Welt zusammenwirkten und das System gefährlich instabil geworden sei. Besley und Hennessy vertreten die These der „globalen Sparflut“ – also dass es vor allem die Kapitalüberschüsse der Chinesen und anderer Länder waren, die die Zinsen so niedrig drückten, dass die Amerikaner sich kräftig verschuldeten und am Häusermarkt eine Preisblase entstand. Die „Finanzzauberer“, schrieben Besley und Hennessy, wollten Warnungen nicht hören und vertrauten ihren neuen Instrumenten – „Wunschdenken und Hybris“. Politiker aller Couleur seien „vom Markt verzaubert“ gewesen; die Notenbanken hätten zu lange die Leitzinsen niedrig gelassen. „Das Versagen liegt darin, dass niemand erkannt hat, wie all das zusammen zu einer Serie von verknüpften Ungleichgewichten führte, über die keine Autorität mehr herrschen konnte“, kritisierten Besley und Hennessy, die als „demütigste und gehorsamste Diener Ihrer Majestät“ unterzeichneten.
Kurz darauf veröffentlichte eine zweite Gruppe einen Brief an die Königin. Zu den Unterzeichnern gehörten der frühere LSE-Direktor und linksliberale Soziologe Anthony Giddens sowie Umweltschützer, etwa der Geschäftsführer von Greenpeace.5 Ihrer Ansicht nach ist die Wirtschaftskrise nur Symptom einer viel größeren Systemkrise. Weit schlimmer als die ökonomischen seien die ökologischen Ungleichgewichte – zwischen dem wachsenden Energiehunger der Wirtschaft und den begrenzten Ressourcen der Welt. Die Krise sei der Weckruf, um sich vom Wachstumsparadigma zu verabschieden, schrieben sie.
Wieder einen konkret wirtschaftswissenschaftlichen Fokus hat ein dritter Brief, der wenige Tage später an die Königin ging, unterzeichnet von zehn britischen und australischen Ökonomen um Geoffrey Hodgson, Professor an der Universität von Hetfordshire.6 Sie stimmen Besley und Hennessy in der Analyse zu. Allerdings gehen sie weiter und formulieren eine vernichtende Kritik der modernen Ökonomik, die sie für übermäßig mathematisiert und formelgläubig halten. Ihre Kronzeugen sind dabei Nobelpreisträger wie Ronald Coase, Milton Friedman und Wassily Leontief. Schon diese hätten beklagt, dass die Wirtschaftswissenschaften praktisch zur angewandten Mathematik verkommen seien. Eine ganze Generation von Ökonomen sei zu Fachidioten ausgebildet worden. Durch die Fixierung auf mathematisch-formale Modelle gehe die nötige Gesamtsicht auf die Welt verloren. „Modelle und Techniken sind wichtig“, schrieben die Ökonomen um Hodgson. Aber angesichts der Komplexität der globalen Wirtschaft müsse in der Ausbildung von Ökonomen viel mehr Aufmerksamkeit auf institutionelle, historische und psychologische Faktoren gelegt werden.
Was die Queen über all das denkt und ob eine Gruppe von Briefeschreibern sie überzeugen konnte, ist nicht bekannt. Bekannt ist mir allerdings, dass es schon länger eine verbreitete Unzufriedenheit und Frustration mit dem Fach Volkswirtschaftslehre gibt. Das höre ich in Gesprächen mit früheren Kommilitonen, mit Journalistenkollegen, die VWL studiert haben, und von Studenten, die ich selbst unterrichtet habe Das Studium sei zu mathematisch, zu abstrakt, zu weit weg von realen wirtschaftlichen oder sozialen Problemen.
Schon im Jahr 2000, also lange vor der jüngsten Finanzkrise, ging eine Gruppe überwiegend linker Ökonomiestudenten an der Pariser Sorbonne auf die Barrikaden. Sie veröffentlichten einen Protest gegen die aus ihrer Sicht „autistische Wirtschaftswissenschaft“. Die akademischen Ökonomen hätten eine „imaginäre“ Modell- und Theoriewelt gebaut, die wenig mit der realen Welt zu tun habe, kritisierten sie in einem offenen Brief. Es gebe eine übertriebene Fokussierung auf die mathematische Formulierung von Problemen, die zum Selbstzweck werde. Die Wirtschaftswissenschaft habe sich in einem neoklassischen Dogmatismus eingemauert, es fehlten eine „pluralistische“ Forschung und der Austausch mit anderen Sozialwissenschaften. Der Protest der Sorbonne-Studenten hat damals weltweit Aufsehen erregt und führte zu einer Bewegung, die sich „post-autistische“ Wirtschaftswissenschaft nennt. Es ist nicht alles falsch, was die Protestler damals schrieben. Zum Teil wird ihre Kritik auch von bekannten Ökonomen geteilt, auch solchen, die man eigentlich zum „Mainstream“ zählen würde.
Aus diesem Mainstream hat kein einziger Ökonom den Absturz der Weltwirtschaft 2008/2009 vorhergesehen, weder das erschreckende Ausmaß noch die zerstörerische Dynamik. In den Jahren zuvor, den scheinbar guten Jahren, als die Kredit- und Häuserpreisblase in Amerika wuchs und sich die Finanzalchemisten mit Verbriefungen eine goldene Nase verdienten, waren kaum kritische Stimmen zu hören. Es gab zwar vereinzelt Warnungen, etwa von Robert Shiller, der die Entwicklung der Häuserpreise kritisch verfolgte und vor irrationalen Übertreibungen an den Finanzmärkten warnte. Shiller zählt zu denen, die sich auch verhaltensökonomischer Erkenntnisse bedienen. Auch ein paar Ökonomen, die aus Sicht der österreichischen Konjunkturtheorie argumentierten, haben die zu lockere Zentralbankpolitik und zu viel billiges Geld kritisiert, die zu einer Kreditblase und einem aufgeblähten Bausektor führten. Aber das waren Außenseiterstimmen. Der breite Mainstream der Ökonomen sah die Risiken nicht. Ende 2008, nach dem Bankencrash, wirkten die Wirtschaftswissenschaftler, die zuvor nie um einen klugen Ratschlag verlegen waren, zeitweise sprachlos.
Die Wirtschaftswissenschaft befindet sich seitdem in einer Vertrauenskrise, von der sie sich bis heute nicht ganz erholt hat. In der Öffentlichkeit sind Ökonomen ohnehin nie sonderlich beliebt gewesen. Es gibt eine Kluft zwischen dem Denken und den Wertvorstellungen vieler ökonomischer Laien und dem der Fachwissenschaftler, wie Fetchenhauers Umfragen zeigen. Die Unterstützung für die Arbeitsmarktreformen und Einschnitte der „Agenda 2010“ hat den hiesigen Ökonomen viel Feindschaft von der Linken eingebracht. Und dass die Mehrheit der Ökonomen von einem gesetzlichen Mindestlohn abriet, weil sie langfristige Beschäftigungsverluste erwartet, hat man ihnen auch übel genommen. Während viele Laien und Politiker schnell nach Eingriffen in den Markt und den Preismechanismus rufen, raten Ökonomen davon eher ab. Ökonomen gelten als kalt und „unsozial“. Es gibt ein verbreitetes Ressentiment gegen „die Professoren“, die sozialpolitischen Wünschen widersprechen.
Um solche Fragen geht es aber nicht in der aktuellen Vertrauenskrise. Sie rüttelt grundsätzlich am Anspruch der Volkswirtschaftslehre, Aussagen über ökonomische Zusammenhänge zu treffen und Empfehlungen für eine günstige Entwicklung geben zu können. Hochmut kommt stets vor dem Fall. Während der sogenannten „Great Moderation“ der Weltwirtschaft in den späten achtziger und den neunziger Jahren, als die Inflation gering war und das Wachstum recht robust mit nur geringen konjunkturellen Schwankungen, glaubten herausragende Vertreter des Ökonomen-Mainstreams, sie hätten die großen wirtschaftstheoretischen Fragen quasi endgültig geklärt. Der Nobelpreisträger Robert Lucas und auch der spätere Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Fed, Ben Bernanke, äußerten öffentlich voll Zuversicht, dass größere Wirtschaftskrisen ausgeschlossen werden könnten. Die Makroökonomie sei am Ziel angelangt. „Das zentrale Problem der Vermeidung von Depressionen ist gelöst“, sagte Lucas von der Universität Chicago 2003 in seiner Ansprache als Präsident der American Economic Association (AEA).7 Acht Jahre zuvor war er für seine Theorie der „rationalen Erwartungen“ mit dem Nobelpreis geehrt worden.
Doch die Steuerbarkeit des Systems erwies sich als Illusion. Als sich die enormen weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte und Vermögenspreisblasen entluden, brach nicht nur das globale Finanzsystem zusammen. Es gab eine Wirtschaftskrise, deren Verlauf zumindest am Anfang starke Ähnlichkeiten mit der Großen Depression hatte. Der Irrtum so angesehener Wissenschaftler wie Lucas und Bernanke ist symptomatisch für die Selbstüberschätzung vieler Ökonomen. Ihre makroökonomischen Modelle suggerieren, dass sie die großen, makroökonomischen Zusammenhänge der Volkswirtschaften und ihre weltweite Verflechtung recht präzise erfassen und letztlich damit auch beherrschbar machen. Die Ökonomie fühlt sich als Naturwissenschaft, wie die Physik, welche die Bewegung von Körpern präzise voraussagen kann. Dem liegt aber eine „Anmaßung von Wissen“ (Friedrich August von Hayek) zugrunde, ein zu simples Bild der Realität. Die Interaktionen von Wirtschaftssubjekten entwickeln sich eben nicht mechanisch und kontrolliert, sondern in gewissen Situationen chaotisch. Wirtschaft entsteht aus dem komplexen sozialen Miteinander von Milliarden Menschen. Viele Modelle sind aber so reduziert, dass sie nur noch winzige Ausschnitte und Aspekte isoliert behandeln.
In diesen hochabstrakten Gleichgewichtsmodellen werden entscheidende Faktoren ausgeblendet, die das menschliche Verhalten prägen. Der plötzliche Vertrauensverlust, ausgelöst durch die Finanzkrise, war in keinem Modell vorgesehen. Erst in jüngerer Zeit bemüht sich die Verhaltensökonomik zu verstehen, welche Verhaltensweisen und Motive (zum Beispiel das Herdenverhalten) die Marktakteure antreiben. Wir werden auf die bohrende Kritik am einst vorherrschenden Modellbild des Homo oeconomicus zu sprechen kommen, der kühl analysiert und stets rational seinen Nutzen maximiert. Zu Fragen ist, ob die imaginäre Figur als Modellbild grundsätzlich verfehlt ist. Einzelne Ökonomen bezweifeln grundsätzlich, dass Finanzmärkte, auf denen Hunderte Milliarden an „high powered money“ auf der Suche nach Rendite vagabundieren, zu einem stabilen Gleichgewicht tendieren. Sie unterstellen, bestärkt durch die extremen Ausschläge während der Krise, dass „die Märkte“ grundsätzlich instabil seien. Sehr viel mehr Regulierung der Finanzmärkte und der Banken inklusive des Schattenbankensektors brauche es, fordern sie. In ihrer Sicht war die Krise überwiegend ein Marktversagen.
Zugleich soll in diesem Buch auch der Anteil des Staatsversagens als Ursache dieser Finanzkrise nicht unterschlagen werden. Die Krise ging zu einem erheblichen Teil auf falsch gesetzte Rahmenbedingungen, falsche Regulierung und falsche Anreize zurück. Ausgangspunkt war der amerikanische Häusermarkt. Über viele Jahre war es die erklärte Förderpolitik in den Vereinigten Staaten, dass praktisch jeder Amerikaner und auch Geringverdiener ohne Sicherheiten (sogar „Ninjas“ – No income, no job) sich ein Eigenheim kaufen sollten, finanziert auf Kredit. Im Zusammenspiel mit der sehr lockeren Zentralbankpolitik, die Geld praktisch zum Nulltarif vergab, bildete sich eine „Subprime“-Kredit- und Immobilienmarktblase, die dann mit großem Krachen platzte. Und es waren die impliziten Staatsgarantien für „systemrelevante“ Banken, die diese zu übermäßig großem Risikoappetit verleiteten (Moral Hazard). In den Jahren, in denen es gut ging, profitierten die Banken von enormen Gewinnen. Als alles den Bach runterging, wurden sie mit Steuergeld vor der Pleite gerettet – ihre Gläubiger kamen überwiegend ungeschoren davon.
Es war wohl auch der Nervosität durch die Krise geschuldet, dass die Ökonomen in Deutschland im Frühjahr 2009 in einen erbitterten öffentlichen Streit über Methoden und Ausrichtung ihres Faches verfielen. Anlass war die Abwicklung und Umwidmung traditionsreicher Lehrstühle für Wirtschaftspolitik an der Universität Köln und anderswo. Eine Reihe vorwiegend älterer Professoren erhob den Vorwurf, viele der vermeintlich modernen, angelsächsisch orientierten Ökonomen hätten sich aus der realen Welt zurückgezogen und in theoretischen Verästelungen und Modellwelten verloren. Die andere Seite tat diesen Methodenstreit als „typisch deutsch“ ab und konterte, man dürfe sich internationalen Standards einer modernen Ökonomie nicht verweigern.8
Aber auch in Amerika gibt es seit der Krise eine ähnliche Kontroverse über die „moderne Makroökonomik“. Die Zeitschrift „The Economist“ zeigte 2009 auf ihrem Titelbild ein braun eingebundenes Lehrbuch „Modern Economic Theory“, das wie Schokoladeneis in der Sonne schmilzt. Besonders scharf attackierte Paul Krugman, der Nobelpreisträger und linksliberale Kolumnist, die Mainstream-Makroökonomen: Sie seien einer Mathematik-Manie verfallen. Ihre Modelle krankten an verfehlten Annahmen, so dass der Großteil der Makroökonomik der vergangenen dreißig Jahre „spektakulär nutzlos“ oder gar schädlich gewesen sei. „Wir brauchen eine ganz neue Art, Ökonomie zu lehren“, forderte Krugman. Er fügte aber hinzu: „Ich weiß auch noch nicht genau, wie das gehen soll.“
Man mag Krugmans Pauschalurteil über die Makroökonomik für überzogen halten. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise die Forschung vor fundamentale Fragen stellt: Wann und wie entstehen gefährliche Blasen? Sind die Erwartungen der Finanzmarktakteure systematisch rational oder zuweilen auch irrational? Welche Rolle spielen asymmetrische Informationen für den plötzlichen Ausfall von Finanzmärkten? Welche Verantwortung trifft die Banker, die Boni-Systeme, die Regulierer, die Notenbanken und die Regierungen? Was war Markt–, was war Staatsversagen?
Noch über Jahrzehnte werden die Ökonomen damit beschäftigt sein, aus den Scherben der Krise ein stimmiges Puzzlebild der Ursachen und Wirkungen zusammenzusetzen. Hier tut sich ein weites Feld für Nachwuchsforscher auf. Eigentlich sollten junge Leute in Scharen an die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten stürmen. Das Interesse hält sich aber zumindest in Deutschland in Grenzen. Die Zahl der VWL- Studienanfänger ist nicht besonders hoch. Im Wintersemester 2007/2008, kurz bevor die Krise in voller Härte ausbrach, sank die Zahl der Erstsemester erstmals unter 3000 – ein Drittel weniger als in den Jahren zuvor. Die Gesamtzahl der VWL-Studenten fiel mit 20.600 auf den niedrigsten Stand seit den frühen neunziger Jahren. Seitdem hat sie nur wenig zugelegt, zuletzt auf 23.700, so die jüngsten verfügbaren Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Dagegen wächst die Betriebswirtschaftslehre kräftig. Vor einem Jahrzehnt studierten gut 150.000 junge Männer und Frauen BWL, inzwischen sind es mehr als 230.000. Es gibt inzwischen zehnmal so viele BWL- wie VWL-Studienanfänger – in den frühen 2000er Jahren war das Verhältnis erst sieben zu eins. Auch in Österreich und der Schweiz ist der Andrang zur VWL mäßig.
All die aufreibenden und aufregenden Jahren der Krise, die hitzige Debatten über die ökonomischen Ursachen und die richtigen Therapien haben offenbar kein brennendes Interesse unter jungen Leuten für ein VWL-Studium ausgelöst. Anders als in den Jahren 1968ff., als der Linksdrift in der Studentenschaft und die hitzigen ideologisch-politischen Debatten an den Universitäten zu einer Massenbewegung zur Politologie und Soziologie führten, bleibt der Zulauf zur VWL heute schwach. Es gab und gibt keinen Krisen-Boom. Zwar erschienen auf dem Buchmarkt einige neue und auch grundsätzliche Werke, etwa die Kapitalismuskritik des Franzosen Thomas Piketty; sie wurden an Universitäten wie in den Medien eifrig diskutiert. Doch der Zulauf von Studenten an die Ökonomiefakultäten blieb seltsamerweise gering. Die stärkere Attraktion der BWL kann man teils mit den Aussichten auf dem Arbeitsmarkt erklären, wo BWLer gefragt sind. Nur wenige Stellenangebote richten sich ausdrücklich an Volkswirte – meist von Forschungsinstitutionen, Banken oder Ministerien. Volkswirte finden aber auch in vielen Unternehmen attraktive Stellen. Es muss also andere Gründe geben, weshalb sich nur relativ wenige Studenten für VWL begeistern.
Meiner Vermutung nach liegt die mangelnde Attraktivität auch am Aufbau und der Lehre des Ökonomiestudiums: An vielen Universitäten werden die Erstsemester schon in den ersten Wochen mit übermäßig abstrakten Modellen unter rigiden Annahmen konfrontiert, deren Bezug zur Realität sich ihnen kaum erschließt. Mancherorts wird das VWL-Studium kaum mit einer Debatte der konkreten wirtschaftlichen Entwicklungen und mit politischen Kontroversen verknüpft. Wirtschaft findet in Modellwelten, im luftleeren Raum statt, abgehoben von den Institutionen und Geschichten, die zum echten Verständnis wichtig wären. „Viele Studenten klagen, ihr Studium sei zu sehr auf mathematisch-formale Methodenlehre ausgerichtet“, sagt Achim Wambach, neuer Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim, der dort vor allem zu Regulierungsfragen forscht. Man müsse in der Vorlesung nicht immer den mathematischen Einstieg wählen, gibt er zu. „Im Wettbewerbsrecht zum Beispiel könnte man zunächst fragen, warum Kartelle noch vor hundert Jahren erlaubt waren und als positiv galten. Darauf kann dann die mikroökonomische Kartelltheorie aufbauen.“
Eine Studenteninitiative, das „Netzwerk Plurale Ökonomik“, hat im Frühjahr 2016 eine vergleichende Studie über die Inhalte von fast 350 Bachelor-Studiengängen in zwölf Ländern veröffentlicht.9 Ihr Ergebnis: Die Studenten würden viel zu wenig zum Nachdenken über das eigene Fach angeregt, in Deutschland besonders wenig. Mehr als 20 Prozent der Kurse im Bachelor-Studium hierzulande sind BWL, Management und Jura gewidmet. In 18 Prozent der Kurse pauken die Studenten mathematische und statistische Methoden. Die Kernfächer Mikro- und Makroökonomie kommen zusammen auf 21 Prozent. Nur verschwindend gering ist dagegen der Anteil von „reflexiven“ Fächern wie Geschichte des ökonomischen Denkens (Dogmengeschichte), Wissenschaftstheorie, Wirtschaftsgeschichte oder auch Wirtschaftsethik. Sie machen weniger als 2 Prozent des Curriculums aus, viel weniger als im Durchschnitt der anderen untersuchten Länder (fast 6 Prozent). „Die VWL-Studierenden lernen kaum, wie die Wirtschaftswissenschaft wurde, was sie ist. Wie sollen sie dann beurteilen können, ob sie gut ist, wie sie ist?“, kritisiert Gustav Theile, ein Student aus Tübingen, der sich im „Netzwerk“ engagiert, das mit ähnlichen Initiativen in anderen Ländern zusammenarbeitet.
Beim VWL-Studium gehe es „nicht ums Nachdenken, sondern darum, eine vorgegebene Meinung rechnerisch zu reproduzieren“, kritisiert Theile. Es sei höchste Zeit, dass die Studenten im Wirtschaftsstudium wieder über Wirtschaft und Wissenschaft nachzudenken lernten, statt eine Rechenaufgabe nach der anderen zu lösen. Das Netzwerk kritisiert auch, dass die VWL-Studenten zu wenig in Kontakt mit angrenzenden Sozialwissenschaften kämen. Weniger als einer von zehn Kursen könne dort belegt werden. „Forschung ist nicht nur, große Datensätze mit vielen Zahlen durch den statistischen Reißwolf zu jagen“, sagt Theile. „Forschung heißt auch: Menschen beobachten, interviewen, Diskurse analysieren.“
Vertreter der etablierten Mainstream-Ökonomie haben die Kritik entschieden zurückgewiesen. Schon die Unterscheidung, welche Fächer „reflexiv“ und welche „nicht reflexiv“ seien, findet Rüdiger Bachmann völlig verfehlt. Wirtschaftsgeschichte oder Ideengeschichte seien nicht per se reflexiver, betont er. „Man kann auch Wirtschaftsgeschichte anspruchslos, unreflektiert lehren, und Dogmengeschichte kann reines Faktengepauke sein – so wie man auch Mikro und Makro ‚für Kühe‘ unterrichten kann, als stupides Formelpauken“, sagt Bachmann, der Nachwuchsbeauftragter des Vereins für Socialpolitik (VfS) ist, der Organisation der deutschsprachigen Ökonomen. Seine Wortwahl „VWL für Kühe“ klingt ziemlich hart. Kühe sind bekannt dafür, dass sie vorgesetztes Futter schlucken und wiederkäuen. So sollte das VWL-Studium nicht ablaufen.
Man müsse generell über die Lehre sprechen, gibt Bachmann zu. „Da gibt es Defizite, das will ich gar nicht bestreiten.“ Eigentlich sollten alle VWL-Kurse reflexiv sein, findet Monika Schnitzer, die amtierende Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik, in dem etwa 3000 akademische Volkswirte aus dem deutschsprachigen Raum Mitglied sind (ein Interview mit Monika Schnitzer findet sich auf Seite 39ff.). Reflexion als Nachdenken und Besinnung sei wichtig für jede Lehrveranstaltung. „Wenn wir Methoden vorstellen, dann müssen wir auch gleich die Grenzen dieser Methoden problematisieren“, sagt die Ökonomin von der Universität München. Stelle ein Dozent das Modell des Homo oeconomicus vor, solle er gleich die Annahmen und Grenzen dieses Modells hinterfragen. Schnitzer findet, die VWL sei auf einem guten Weg, sie sei weniger theoretisch-abgehoben und stärker empirisch geworden, arbeite also mehr mit Daten aus der realen Welt. Und die Methoden seien stark verfeinert. Man versuche mehr zu hinterfragen, was bloße Korrelation und was Kausalität seien.
Auf ihrer Magdeburger Jahresversammlung des VfS im Herbst 2009, in der tiefsten Wirtschaftskrise, haben die deutschen Ökonomen einen Konsens betont, dass ihre Arbeit empirisch und realitätsnah sein sollte. Studenten zu begeistern wird nur einer anschaulichen Volkswirtschaftslehre gelingen, die nicht allein auf mathematisch-formale Brillanz abzielt, sondern das Denken in Zusammenhängen, Anreizen und Ordnungen anregt und gleichzeitig einen starken Bezug zu aktuellen Entwicklungen der Wirtschaft und zu wirtschaftspolitischen Fragen hat. Mit einer einfacheren Sprache mag es auch gelingen, das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen, so die Hoffnung.
Einige Kritiker wird das aber nicht zufriedenstellen. Sie fordern ein grundsätzlich neues Paradigma in der Wirtschaftswissenschaft. Das alte, marktwirtschaftliche Paradigma sei durch die Krise widerlegt, sagen sie. Ohne Zweifel waren der Beinahe-Zusammenbruch der Finanzmärkte und die folgende große Rezession der Weltwirtschaft ein tiefer Einschnitt, der die Grundfesten der Wirtschaftswissenschaft erschütterte – doch er hat sie nur durchgerüttelt, nicht zerbrochen. Manche Kritiker finden das schier zum Verzweifeln, Philip Mirowski etwa, Theoriehistoriker an der University of Notre Dame in Indiana, der mehrere anregende, aber auch umstrittene Bücher über die Entwicklung des ökonomischen Denkens geschrieben hat. Er beklagt in seinem neuesten Werk „Untote leben länger“, wie der „Neoliberalismus“ den Crash der Finanzmärkte überlebt habe und seitdem sogar noch stärker geworden sei.10 Die Bankenrettung mit Steuergeld sieht Mirowski als „neoliberale“ Politik. Er findet es paradox, dass Vertreter des Neoliberalismus, den er mit Marktradikalismus gleichsetzt, im Zuge der Krise den Kurs der Anti-Krisen-Politik vorgeben hätten.
Ob die Bankenrettung auf Steuerzahlerkosten wirklich „neoliberale“ Politik war, darf man bezweifeln. Vertreter der neo- oder ordoliberalen Schulen gehörten zu den Kritikern der Rettungsaktionen, weil diese elementare marktwirtschaftliche Prinzipien verletzen. Im Laufe der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der folgenden Schuldenkrise haben sich aber viele europäische Regierungen an „neoliberalen“ Rezepten orientieren müssen – etwa mit den Sparprogrammen zur Sanierung der hochdefizitären, hochverschuldeten Haushalte, mit dem Abbau von Bürokratie und der Verschlankung der staatlichen Verwaltung sowie mit den Strukturreformen zur Liberalisierung von Arbeitsmärkten und geschlossenen, privilegierten Branchen und Berufsgruppen, um mehr Wettbewerb anzuregen und die Produktivität zu steigern. Die linken Kritiker, die als Folge der Krise eine große wirtschafts- und finanzpolitische Wende und ein neues ökonomisches Paradigma nach dem Versagen des „Marktradikalismus“ erhofft hatten, wurden enttäuscht.
Um diese Entwicklungen einordnen zu können, hilft ein Rückblick. Die Geschichte der dreißiger Jahre, als die Weltwirtschaftskrise zur großen Abkehr von der Marktwirtschaft (in der täglichen Politik und im Denken der Ökonomen) führte, hat sich nicht wiederholt. In der Nachkriegszeit bildete sich ein keynesianischer Konsens, den allerdings die Krise der siebziger Jahre, die Stagflation nach dem Ölpreisschock, hinwegfegte. Zweimal hatten tiefe Krisen wirtschaftswissenschaftliche Wenden befördert. Dieses Mal scheint ein solcher Paradigmenwechsel auszubleiben.
Wie wissenschaftliche Umbrüche und „Revolutionen“ entstehen, hat der große Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn analysiert.11 Obwohl von Karl Popper beeinflusst, hielt er dessen „Falsifikationismus“ für eine zu naive, unhistorische Vorstellung von Wissenschaft. Laut Popper ist der ideale Wissenschaftler ein heroischer Kämpfer gegen Irrtümer, stets gewillt, seine eigenen Theorien und Hypothesen zu falsifizieren, also durch empirische Gegenbeweise zu widerlegen. Die Falsifikation dient in dieser Sicht dem Fortschritt der Wissenschaft.12 Tatsächlich aber sind herrschende (sozial-)wissenschaftliche Paradigmen erstaunlich zäh, wenn sich nicht gelöste Probleme auftun, wie Kuhn dargestellt hat. Die ungelösten Probleme nannte er „Anomalien“. Wissenschaftler bemühen sich um ergänzende Ad-hoc-Erklärungen, um diese zu erklären. Nur wenn der Druck zu vieler und gravierender, unerklärlicher Anomalien übergroß werde, bewege sich die Wissenschaft von Stadium der „normal science“ zur „revolutionary science“ und versuche völlig neue Ansätze. Dann kann es sein, dass die Krise in die Zerstörung des alten Paradigmas mündet, das durch ein neues ersetzt wird, welches eine konsistentere Theorie zur Erklärung der strittigen Fragen liefert. Diesen scharfen Bruch mit der Tradition nannte Kuhn „wissenschaftliche Revolution“ (bzw. „Paradigmenwechsel“). Das neue Paradigma entthront die überkommenen Weltbilder und Denkgewohnheiten, es ermöglicht einen neuen Start und eine bessere Erklärung der beobachteten Phänomene der Welt. Beispiele sind die Kopernikanische Wende in der Astronomie, die Newtonsche Revolution in der Physik oder die von Einsteins Relativitätstheorie ausgelöste Revolution der Quantenphysik.
Aber sind solche Revolutionen in der Wirtschaftswissenschaft zu beobachten? Warum sind bestehende Denkmuster so widerstandsfähig, auch im Angesicht einer Krise? Einen anderen, noch differenzierteren epistemologischen Ansatz hat der Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos vorgelegt. Auch er glaubte nicht an die Annahme eines wissenschaftlichen Fortschritts durch eine permanente Verwerfung falsifizierter Theorien. Vielmehr stehe der Forscher vor der Aufgabe, aus verschiedenen konkurrierenden, potentiell falschen Theorien und Hypothesen die brauchbarste auszuwählen. Ganze Bündel sich gegenseitig stützender Theorien nannte Lakatos Forschungsprogramme (scientific research programmes), die jeweils aus einem Kern (hard core) und einem Schutzgürtel (protective belt) aus Hilfsannahmen und Hilfshypothesen bestünden. Bei Bedarf, wenn hartnäckige Probleme und nicht lösbare Fragen die Substanz des Forschungsprogramms gefährden, tendierten die Wissenschaftler dazu, den flexiblen Schutzgürtel neu zu justieren, um Angriffe abzuwehren, so Lakatos.13 Wissenschaftssoziologisch ist es auch völlig verständlich, dass Forscher – auch Ökonomen – versuchen, das bestehende Paradigma zu retten. Sie haben einen Großteil ihres Forscherlebens in das Erlernen und Weiterentwickeln der herrschenden Theorien investiert und damit ihr Humankapital – ihre wissenschaftliche Reputation – aufgebaut. Würden sie die Theorien aufgeben, wäre damit auch ihr Humankapital entwertet.
Besonders die keynesianische Wende in den dreißiger Jahren wurde als „Revolution“ im Sinne Kuhns verstanden – die Abkehr von der alten Lehre vom sich stets selbst räumenden Markt. Um die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert hatte der französische Theoretiker Jean-Baptiste Say den Satz geprägt, dass sich das Angebot die Nachfrage selbst schaffe. Die Große Depression interpretierte Keynes als Ausdruck eines anhaltenden Nachfragemangels. Statt der unsichtbaren Hand des Marktes vertrauten die keynesianischen Ökonomen mehr der sichtbaren Hand des Staates und der Politik. Diese sollte mit gezielten Maßnahmen (Staatsausgaben, Steuerpolitik) die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stärken, die Arbeitslosigkeit bekämpfen und für Vollbeschäftigung sorgen.
Weniger bekannt ist die zeitgleiche Entstehung des Neoliberalismus – ebenfalls eine Abkehr vom historischen Liberalismus – in den frühen dreißiger Jahren, die ebenfalls eine Reaktion und Neuorientierung angesichts der Herausforderungen der Zwischenkriegszeit war. Ganz im Sinne Lakatos’ suchten die Neoliberalen, die sich 1938 auf dem „Colloque Walter Lippmann“ in Paris trafen, einen Weg zur Rettung ihres (liberalen) Forschungsprogramms.14 Sie justierten den „Schutzgürtel“ neu, indem sie nun eine Rahmenordnung für die Marktwirtschaft forderten, damit der Wettbewerb funktioniere. Zuvor hatten starke Kartelltendenzen den Wettbewerb praktisch außer Kraft gesetzt, so dass der Preismechanismus beschädigt war. Im Kern hielten die Neoliberalen aber daran fest, dass freie Preise ein besserer Allokationsmechanismus seien als die lenkende Hand des Staates, den sie von Interessengruppen gesteuert sahen.15
Zwar verloren die Neoliberalen die Schlacht gegen die Keynesianer, deren Empfehlung einer Nachfragepolitik mittels „deficit spendings“ in den Nachkriegsjahrzehnten akademisch dominant wurde. Hohes Wirtschaftswachstum und annähernde Vollbeschäftigung in den westlichen Volkswirtschaften schienen die Überlegenheit einer solchen gesamtwirtschaftlichen Steuerung zu demonstrieren. Dank sprudelnder Steuereinnahmen konnte der Staat Sozialleistungen und Wohlfahrtsprogramme ausbauen; wo das Geld nicht reichte, wurden Schulden aufgenommen. Doch als der Ölpreisschock die westlichen Volkswirtschaften in den frühen siebziger Jahren traf und kreditfinanzierte Konjunkturprogramme und lockere Geldpolitik nicht mehr Wachstum, sondern nur Inflation brachten, da schlug die Stunde der neoliberalen Gegenwende. Die Neoliberalen forderten einen Rückbau des Staates, den Abbau der Defizite und die Bekämpfung der Inflation durch eine restriktive Geldpolitik.16
Die wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftspolitische Revolution der siebziger und achtziger Jahre bestand in der Abkehr von der Nachfragepolitik und Hinwendung zur Angebotspolitik. Diese will bessere Rahmenbedingungen schaffen, etwa durch Steuerreformen und Abbau von Regulierung, damit Unternehmen wieder investieren. Mehr Markt und mehr Wettbewerb sollten die Produktivität verbessern und das Wachstum wieder anregen. Die politischen Exekutoren dieser von Ökonomen angeregten Wende waren in den angelsächsischen Ländern Margaret Thatcher und Ronald Reagan; in Deutschland gab es höchstens eine halbe Wende unter der Kohl-Regierung. Mit einiger Verspätung hat die Schröder-Regierung durch die 2003 beschlossene Agenda-Politik Arbeitsmarktreformen auf den Weg gebracht, die in Teilen den neoliberalen Empfehlungen entsprachen.
Hätte die Finanzkrise von 2007/2008 und die folgende Weltwirtschaftskrise das Zeug gehabt, eine neue Revolution des ökonomischen Denkens auszulösen? Die Zweifel sind groß. „Mit stinknormaler Wirtschaftstheorie konnte man vieles vor der Krise vorhersehen und jetzt erklären, was geschehen ist“, meint etwa Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Was wäre diese „stinknormale“ Standardtheorie? Wichtige Stichworte sind die „Too big to fail“-Problematik der „systemrelevanten“ Großbanken. Weil diese eine implizite Staatsgarantie genossen – also wussten, dass im Fall des Scheiterns ein von den Steuerzahlern gespanntes Rettungsnetz bereitsteht –, gingen sie übermäßig hohe Risiken ein.
Ökonomen sprechen von „Moral Hazard“, moralischem Risiko, wenn falsche Anreize zu einem unerwünschten Verhalten führen. Mit geliehenem Geld und irrwitzig hohen Kredithebeln gingen die Banker gewagte Spekulationen ein, bis die Bank mit einem Schlag über dem Abgrund hing und vom Staat wegen ihrer angeblichen Systemrelevanz gerettet wurde. Hellwig hatte Jahr vor der Krise als Vorsitzender der Monopolkommission auf die problematischen Anreizstrukturen im Finanzsystem durch Großbanken hingewiesen. In einem Gutachten argumentierte er mit der historischen Erfahrung der Großbanken in den zwanziger Jahren und frühen dreißiger Jahren, auch damals gab es Moral Hazard. Das Gutachten ist ein schöner Beleg dafür, dass historische Kenntnisse und Analysen wertvoll für das Verständnis aktueller Probleme sein können.
Folgt man dieser Analyse, dann war es nicht Marktversagen, sondern Staatsversagen, nämlich die implizite Staatsgarantie für die Banken, die so tief in den Finanzschlamassel führte. Hellwig ist heute einer der schärfsten Kritiker der aus seiner Sicht völlig unzureichenden Regulierungsantwort auf die Krise. Nötig wären viel höhere Eigenkapitalpuffer. Statt der risikogewichteten Eigenkapitalquoten fordert er eine allgemeine Verschuldungsobergrenze durch eine „Leverage Ratio“. Die neuen Basel-III-Vorgaben findet er viel zu lasch, verwässert durch die Interventionen von Lobbyisten der Finanzbranche. Es habe sich zu wenig substantiell geändert gegenüber der Vorkrisen-Regulierung. Sein mit Anat Admati geschriebenes, viel diskutiertes Buch trägt den Titel „The Bankers’ New Clothes“.17 In seinen Augen sind die Banker (wie einst der Kaiser) immer noch nackt, nur wagt es niemand zu sagen. Nur wenn Banken ausreichend eigenes Kapital als Haftungspuffer gegen Verluste vorhalten und primär auf eigene Rechnung spekulieren, ist sichergestellt, dass sie einer volkswirtschaftlich nützlichen Funktion nachkommen, keine Gefahr darstellen und im Fall des Scheiterns nicht die Steuerzahler einspringen müssen.
Dies ist ein strikt marktwirtschaftlicher Gedanke: Wer im günstigen Fall Gewinne einstreicht, muss im Verlustfall auch für Schäden haften. So betonte der Gründervater der ordoliberalen Freiburger Schule Walter Eucken das essentielle Haftungsprinzip: „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“, schrieb er.18 Sein Freund Wilhelm Röpke beklagte schon vor mehr als achtzig Jahren, dass wirtschaftliche Verluste immer häufiger sozialisiert werden. Wenn man es pointiert ausdrückt, hat die Krise einen partiellen, asymmetrischen Bankensozialismus offenbart, in dem scheiternde Banken von der Allgemeinheit aufgefangen wurden, nachdem diese zuvor ihren Topmanagern irrwitzig hohe Boni gezahlt hatten. Im weiteren Verlauf werde ich diese Problematik in mehreren kurzen Essays wieder aufgreifen (siehe Seiten 131ff.). Es ist fraglich, ob der Nexus zwischen Bankenrisiken und Staatsrisiken heute wirklich durchtrennt worden ist.
Eine falsche Regulierung hat zur Entwicklung eines „Kasino-Kapitalismus“ geführt, wie es der damalige Ifo-Chef Hans-Werner Sinn in seinem gleichnamigen Buch beklagte.19 Man muss kritisieren, dass die Neoliberalen, die seit den siebziger Jahren auf dem Vormarsch waren, in ihrem Drang nach Deregulierung versäumt haben, eine funktionierende Haftungs- und Insolvenzordnung für den Finanzsektor sowie auch für Staaten zu entwerfen und zu etablieren. Denn mit der Übernahme der Rettungskosten und den allgemeinen Schäden durch die Finanzkrise sind zahlreiche Staaten schon so hoch verschuldet, dass sie eigentlich nahe vor einer Insolvenz stehen. Nur durch ultraniedrige Zinsniveaus können sie sich über Wasser halten, sonst wären sie schon von den Schulden erdrückt worden.
Zur Jahreswende 2008/2009, als die Welt in die Rezession fiel, schien es kurzzeitig so, als ob eine keynesianische Finanzpolitik eine Renaissance erlebe. Paul Krugman, kurz zuvor für seine Handelstheorien mit dem Nobelpreis geehrt, sprach von einem „Keynesian moment“. Auf der AEA-Jahrestagung im Januar 2009 in San Francisco war überall der laute Ruf nach einer expansiven, kreditfinanzierten Fiskalpolitik zu hören. Selbst Martin Feldstein, der frühere Reagan-Berater, stimmte in den Chor ein – „obwohl es mir nicht leicht fällt“, wie der konservative Ökonom bekannte. Rund um den Globus legten Regierungen Konjunkturprogramme auf. Die amerikanische Regierung unter Obama schnürte ein Paket im Volumen von fast 800 Milliarden Euro, gut ein Drittel davon war für Steuersenkungen reserviert, zwei Drittel sollten in den Bau oder die Renovierung von Straßen, Brücken oder Schulen und Amtsgebäuden fließen. In Deutschland gab es ebenfalls ein (proportional kleineres) Konjunkturpaket. Hinzu kam noch die berüchtigte Abwrackprämie für Altautos, die den Absatz von Neuwägen anheizen sollte. Wie gut oder effizient all diese Programme gewirkt haben, ist in der Wissenschaft umstritten. Die meisten Ökonomen gestehen zu, dass die expansive Fiskalpolitik in der akuten Phase des konjunkturellen Absturzes notwendig war und den Fall gebremst hat; doch wie stark sie wirkten, ist unklar.
All das hängt am sogenannten fiskalischen Multiplikator, den man für die kreditfinanzierten Staatsausgaben unterstellt. Wie viel gesamtwirtschaftliche Leistung regt ein vom Staat in den Kreislauf gepumpter zusätzlicher Dollar an? Obamas ökonomische Chefberater Christina Romer und Jared Bernstein schätzten, dass der Multiplikator bei 1,5 liege. Konservative Kritiker, wie Robert Barro oder der Deutsche Volker Wieland, errechneten viel geringere Multiplikatoren von deutlich unter eins. Das hieße, dass die Wirkung zusätzlicher Staatsausgaben geringer wäre als der Einsatz – der Schuldenberg wächst mehr als die Wirtschaft. Später warf sich der keynesianische IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard in die Schlacht und postulierte, der Währungsfonds habe den Multiplikator unterschätzt, etwa als er die rezessionsverschärfende Wirkung von Staatsausgabenkürzungen in Griechenland prognostiziert habe (siehe Seiten 164ff.).
Angesichts der seit 2009 sprunghaft steigenden Staatsschuldenberge – in der Eurozone wuchs die Schuldenquote von 60 Prozent auf über 90 Prozent des BIP – verlagerte sich der ökonomische Mainstream-Diskurs recht schnell wieder weg vom Ruf nach Staatsausgaben unter Inkaufnahme sehr hoher Defizite hin zur Konsolidierungsfrage. Eine wichtige Rolle spielten dabei die von den Harvard-Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart publizierten Studien zu historischen Schuldenkrisen, die auf einem reichen empirischen Material beruhen. Sie postulierten, dass bei sehr hohen Schuldenquoten – dabei nannten sie einen Schwellenwert von etwa 90 Prozent des BIP – das Wachstum belastet werde und ein Ausweg aus der Schuldenfalle schwierig werde, so Rogoff und Reinhart in der Studie „Growth in a Time of Debt“.20
Dass sich viele Staaten dieser Schuldenmarke näherten oder schon darüber lagen, wurde als Alarmzeichen gewertet. Der Druck zum Konsolidieren wuchs. Später fand ein Doktorand von der University of Massachusetts in einer Excel-Tabelle der beiden Star-Ökonomen einen Rechenfehler, dessen Korrektur die Klarheit der Ergebnisse relativierte. Einige Länderwerte in einer Spalte, etwa für Neuseeland in den vierziger Jahren, waren versehentlich nicht gewertet worden. Der postulierte Schwellenwert von 90 Prozent erscheint nun weniger signifikant. Dennoch bleiben die meisten Ökonomen dabei, dass sehr hohe Staatschuldenberge eine dauerhafte Wachstumsbelastung sind, weil sie den Wirtschaftssubjekten signalisieren, dass die Steuern hoch sein werden, um die öffentlichen Schulden bedienen zu können. Das schreckt Investoren ab und mindert allgemein die Anreize für Wachstum.
Der von Krugman erhoffte „Keynesianische Moment“ in der Wirtschaftswissenschaft und Politik hat sich als nur kurzlebig erwiesen. Ein Paradigmenwechsel mit einer dauerhaften „Deficit spending“-Politik erschien zu gefährlich, weil der Druck der Verhältnisse, der Schuldenberge und die drohende Gefahr einer Abwendung der Gläubiger zu groß war. Im Krisenjahr 2012 erlebte die Eurozone, dass sich plötzlich die Anleger von einigen hochverschuldeten Krisenstaaten massenhaft abwandten und deren Risikoprämien sprunghaft stieg. Gleichzeitig wurde der Ruf lauter, dass die Euro-Mitgliedsstaaten eine gegenseitige fiskalische Stützung durch gemeinsame Schuldenhaftung oder durch gemeinsame Anleihen einführen sollte. Die Debatten über die Probleme der Euro-Währungsunion werden in einigen Beiträgen beleuchtet (siehe Seiten 143ff.).
Obwohl es keinen Paradigmenwechsel wie in den dreißiger oder siebziger Jahren gab, hat sich seit 2008 in vielen wichtigen Details einiges im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs verändert. In der Makroökonomie gab es keine Revolution, aber eine Evolution, wie Rüdiger Bachmann unterstreicht. Die DSGE-Modelle (Dynamisch-stochastische Allgemeine Gleichgewichtsmodelle) sind weiterhin dominierend. Aber die tonangebenden Wissenschaftler haben zugegeben, dass es ein Versäumnis war, dass diese Modelle zuvor keinen Finanzsektor enthielten. Nun wird versucht, den Finanzsektor und den Immobiliensektor als neue Module einzufügen. Die Bedeutung von Geldpolitik und Kredit für die makroökonomischen Konjunkturzyklen wird aber wohl noch immer stark unterschätzt. Auf die Kritik, dass die Makroökonomie sich zu sehr auf das fragwürdige Bild eines repräsentativen Agenten mit rationalen Erwartungen stützt, wird vereinzelt durch die Einbeziehung verhaltensökonomischer Erkenntnisse reagiert, die in der Mikroökonomie große Debatten ausgelöst haben – doch bleibt das schwierig. Was weiterhin kaum gelingt, ist die Einbeziehung von politsicher Macht. Hier würde weiterhelfen, sich stärker der Public Choice-Theorie zu öffnen.
Die Enttäuschung mancher Kritiker, dass trotz Krise eine „Revolution“ ausblieb, ist immer wieder im Herbst zum Zeitpunkt der Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises zu vernehmen. Der Ökonomie-Nobelpreis steht in ihrer Sicht schon länger unter Ideologieverdacht. Es würden nur Vertreter des „neoliberalen Paradigmas“ geehrt, lautet der Vorwurf von der Linken. Ohnehin sei der Nobelpreis für Ökonomen kein echter Nobelpreis, weil er nicht von Alfred Nobel selbst, sondern von der Schwedischen Reichsbank gestiftet und erstmals 1969 von der Schwedischen Akademie der Wissenschaften verliehen wurde. – Das stimmt.
Was nicht stimmt, ist der Vorwurf einer einseitigen Ausrichtung. In den ersten Jahren wählte das Preiskomitee alles andere als strikt marktwirtschaftliche Ökonomen aus. Die ersten Preise gingen an Ragnar Frisch und Jan Tinbergen, beide Sozialisten, die für ihre ökonometrischen Makromodelle geehrt wurden. Weitere Nobelpreise gingen an die Keynesianer Paul Samuelson und John Hicks. In den frühen siebziger Jahren war die Vorliebe für planwirtschaftliche Ansätze bei den Nobelpreisen für Wassily Leontief, den sowjetischen Statistiker Leonid Kantorowitsch sowie den Niederländer Tjalling C. Koopmans klar sichtbar. Ihnen allen ging es um Methoden zur staatlichen Steuerung wirtschaftlicher Prozesse und der zentralen Allokation von Ressourcen.
Den ersten Preis für einen „Neoliberalen“, der unplanbare, evolutionäre Marktprozesse hervorhob, gab es 1974, als Friedrich August von Hayek für seine Beiträge zur Konjunkturtheorie ausgezeichnet wurde. Ironischerweise musste er sich den Preis mit dem schwedischen Sozialisten Gunnar Myrdal teilen, dessen ökonomische Ansichten kaum gegensätzlicher hätten sein können. Das empfand Hayek als „fast ein schlechter Witz“.21 1976 erhielt Milton Friedman den Preis. Erst in den achtziger und neunziger Jahren gab es gehäuft Nobelpreise für dezidiert marktwirtschaftliche, staatsskeptische Ökonomen wie George Stigler, James Buchanan, Ronald Coase, Gary Becker und Vernon Smith. Aber auch Ökonomen, die Marktversagen untersucht haben, wie Joseph Stiglitz, der zur Rolle asymmetrischer Informationen und den daraus resultierenden Problemen für das Funktionieren von Märkten geforscht hat, wurden mit dem begehrten Preis geehrt. Von einer einseitigen Vergabepolitik kann also keine Rede sein.
Einen kurios geteilten Nobelpreis gab es abermals 2013. Drei Forscher erhielten die Auszeichnung, die diametral entgegengesetzte Ansichten über das Verhalten von (Finanz-)Märkten vertreten. Eugene Fama von der Universität Chicago ist als Vater der Effizienzmarkttheorie berühmt, aber auch berüchtigt. Dass er fünf Jahre nach Ausbruch der großen Finanzkrise den Nobelpreis erhalten würde, hätte kaum jemand erwartet. Mit ihm wurde Robert Shiller von der Yale-University ausgezeichnet, in Fragen des effizienten Finanzmarktes sein Antipode. Der Dritte im Nobelpreis-Bunde war der Chicago-Ökonom Lars Peter Hansen, der statistisch-ökonometrisches Rüstzeug zur Erforschung der Finanzmärkte und Makroökonomie entwickelt hat.
Fama und Shiller gemeinsam zu ehren bezeichneten manche Beobachter als schizophrene Entscheidung. Famas Effizienzmarkthypothese wurde nicht selten verkürzt auf den Satz „Der Markt hat immer recht“. So simpel hatte Fama die Dinge nicht gesehen. Was er aus umfangreichen empirischen Finanzmarktdaten seit den sechziger Jahren herausgearbeitet hatte, war die folgende These: Kurzfristig sind Aktienkursbewegungen kaum vorhersagbar, es gebe nur zufallsbedingte Abweichungen, einen „random walk“ um die von den Fundamentaldaten bestimmten Kursniveaus herum. Der Fundamentalwert spiegelt für jede Aktie die Summe der abdiskontierten künftigen Dividenden wider. Für einen einzelnen Anleger ist es kaum möglich, systematisch besser abzuschneiden als der Markt. Der Markt verarbeite neue Informationen über die wirtschaftlichen Aussichten von Unternehmen blitzschnell und passe die Kurse entsprechend an. Dauerhaft zu hohe oder zu niedrige Kurse hielt Fama für nicht möglich.22
Shiller hingegen findet, der Markt neige zu irrationalen Übertreibungen und zu Blasenbildung. Schon früh zweifelte er Famas Behauptungen an. Zunächst betonte Shiller vor allem die hohe Volatilität der Kurse. Das starke Schwanken spreche dagegen, dass die Kurse stets auf einer fundamentalen Analyse aller verfügbaren Informationen beruhten. Vielmehr seien auch Marktstimmungen und Emotionen der Anleger wichtig. Es gibt ansteckenden Optimismus oder Pessimismus unter Anlegern, ein Herdenverhalten, das Kurse längere Zeit in eine Richtung treibt, obwohl dies mit neuen Fundamentaldaten nicht erklärt werden kann. Mitte der 2000er-Jahre gehörte Shiller zu den wenigen Ökonomen, die vor einer Übertreibung der Preise am amerikanischen Häusermarkt warnten. Auch die „New Economy“-Aktienmarktblase, die 2000 platzte, hatte Shiller frühzeitig erkannt.
Angelehnt an die keynesianische Analyse der „Animal Spirits“, die Anleger antreiben, haben Shiller und George Akerlof über psychologische Mechanismen geforscht, die auf Finanzmärkten zu Verzerrungen und Verwerfungen führen können. Anleger neigen (wie Menschen allgemein, das haben ökonomische Experimente gezeigt) nicht selten zu Überoptimismus, zu Überschwang und Gier und zu einer Fehlwahrnehmung von Risiken und Wahrscheinlichkeiten bei Spekulationen. Läuft der Markt einige Zeit sehr gut, dann nimmt die Gier überhand. Wie Shiller und Akerlof in ihrem Buch „Animal Spirits“ schreiben, können diese Phänomene ganze Konjunkturzyklen und Boom-Bust-Muster erklären.23 Dass die neoklassische Markttheorie, die so stark auf Gleichgewicht und den repräsentativen „rationalen“ Akteur fixiert ist, diese Gefahren ignoriert habe, hält ihr Shiller als schweres Versäumnis vor. Fama bleibt dabei: „Es gibt keine Blasen.“
Die Krise des vergangenen Jahrzehnts hat die Zweifel an der (neo-)klassischen Gleichgewichtsökonomie und ihren Grundlagen, speziell am Modellbild des Homo oeconomicus, verstärkt. Neue Antworten und Einsichten über das Verhalten von Menschen unter Unsicherheit versprechen vor allem die verhaltenswissenschaftlichen Experimente, die Ökonomen machen. Der Ansatz der „Behavioral Economics“ wurde schon mit dem Nobelpreis geadelt. 2002 erhielt diesen der israelisch-amerikanische Psychologe und Verhaltensökonom Daniel Kahneman gemeinsam mit dem Experimental- und Verhaltensökonomen Vernon Smith. Kahneman und Amos Tversky hatten mit der „Prospect Theory“ eine Alternative zur Erwartungsnutzentheorie vorgelegt. Sie wirft einen neuen Blick darauf, wie wir Entscheidungen zwischen unsicheren Optionen treffen. Statt wie perfekte Rechenmaschinen, die den erwarteten Nutzen der Alternativen mit großen oder kleinen Wahrscheinlichkeiten multiplizieren und gegeneinander abwägen, funktionieren reale Menschen anders. Wir benutzen sogenannte Heuristiken, also mentale Daumenregeln, um komplexe Entscheidungssituation zu vereinfachen. Dabei zeigt sich, dass wir mit sehr kleinen oder sehr großen Wahrscheinlichkeiten zuweilen schlecht umgehen können. Es gibt kognitive Verzerrungen. Außerdem haben Menschen eine ausgeprägte Verlustaversion. Gewinne und Verluste werden nicht symmetrisch bewertet. Weiter unten werden einige Erkenntnisse der Verhaltensökonomie kritisch diskutiert (siehe Seiten 67ff.).
Die Hinwendung zu psychologischen Argumenten, welche die Experimentalökonomie seit etwa vierzig Jahren begonnen hat, stellt in gewisser Hinsicht eine „Wiedervereinigung“ dar. Denn am Anfang der modernen Ökonomie stand mit Adam Smith ein Wissenschaftler, der nicht nur Ökonom, sondern auch Moralphilosoph und ein genauer Beobachter der Menschen war. Smith war damit auch (Sozial-)Psychologe. Er sah einerseits, dass die Menschen eigennützig handeln, betonte aber auch die Fähigkeit zu Mitleid und Empathie mit anderen Menschen. Den letzteren Aspekt betont auch die moderne Verhaltensökonomie, die über soziale Präferenzen, Ungleichheitsaversion und Kooperation forscht.
Mit Sicherheit erlauben die Experimente von Wirtschaftswissenschaftlern und Psychologen einen bereichernden Blick auf den Menschen und seine Entscheidungsmechanismen. Unser Verständnis ist heute tiefer als zuvor. Daraus resultiert ein gängiger Vorwurf, dass zu viele Ökonomen weiterhin einem „unrealistischen“ Leitbild des Homo oeconomicus anhingen. Dagegen gibt es zwei Gegenargumente. Der Vorwurf gehe aus mehreren Gründen ins Leere, sagen die Verteidiger: Erstens stimme es gar nicht, dass die Ökonomen den Homo oeconomicus jemals als „realistisches“ Bild vom Menschen betrachtet hätten. Es war stets eine Vereinfachung, eine Simplifikation zum Zwecke der Modellbildung, deren Limitationen man sich bewusst gewesen sei. Kritisch möchte man aber einwenden, dass manche Ökonomen im Laufe der Zeit scheinbar vergessen haben, dass dieses Modellbild auf unrealistischen Annahmen beruhte. Mit der Zeit hatte man den Homo oeconomicus, der die eleganten mathematischen Theoriegebäude bevölkerte, für den richtigen Menschen gehalten. Abweichungen wurden eher ausgeblendet.
Als zweite Verteidigung ist zu hören, dass die Ökonomie doch über das Stadium längst hinaus sei, den Homo oeconomicus als alleinige Referenz zu sehen. Wer heute noch eine theoretische Verengung und Fixierung auf den Homo oeconomicus kritisiere, der habe sich schon lange nicht mehr mit dem Fach beschäftigt, sagt etwa Monika Schnitzer, die für den Verein für Socialpolitik spricht. Die Verhaltensökonomie sei integraler Bestandteil der modernen Ökonomie. Auch der Verhaltensökonom Joachim Weimann, Vorsitzender der Gesellschaft für experimentelle Wirtschaftsforschung, der selbst Versuche mit vielen tausend Menschen im Labor gemacht hat, betont die Pluralität der Methoden in der Ökonomie.
„Die siebziger und achtziger Jahre waren die Hochzeit der harten ökonomischen Theorie“, erinnert sich Weimann. Da wurden den Studenten die mathematischen Gleichgewichtsmodelle eingepaukt, bis sie „zu den Ohren wieder rauskamen“. Die Standardannahme der Modelle war der perfekt rational kalkulierende ökonomische Agent. Aber heute nicht mehr, sagt Weimann. Die Prospect Theory und andere Konzepte begrenzter Rationalität hätten die Front aufgebrochen. „Seitdem gibt es eine unglaublich plurale, dynamische Entwicklung“, findet er. Man habe heute einen größeren Werkzeugkasten als je zuvor und könne auswählen, welche Methode zu welcher Frage passe.
Allerdings findet Weimann: „Das wird noch zu wenig wahrgenommen in der Öffentlichkeit“, sagt er. Schuld daran seien Medien, die ein zu oberflächliches und verkürztes Bild der Wirtschaftswissenschaften zeichneten. Und die Studenten, zumindest im Bachelor-Studium, bekommen in den Vorlesungen vom Methodenpluralismus wenig mit, muss er auch zugeben. „Bei der Lehre gibt es Defizite“, sagt er. Wahr ist nämlich, dass viele Professoren, auch die mittleren Jahrgänge, die heute in den Hörsälen dozieren, noch von einem sterilen Methodenmonismus ausgehen. Ich möchte keineswegs dafür plädieren, den Homo oeconomicus als Standardmodell aufzugeben. Man würde damit das Kind (angesichts der Kritik) mit dem Bade ausschütten. Außerdem fehlt es der Verhaltensökonomie bis heute an einer geschlossenen, umfassenden Theorie des menschlichen Verhaltens. Je nach Situation und Kontext und je nach Experimentdesign kann man höchst unterschiedliche, teils auch widersprüchliche Effekte erzeugen und beobachten.
Die vielfältigen Abweichungen und Anomalien des menschlichen ökonomischen Verhaltens vom Homo-Oeconomicus-Modell kann man erst dann verstehen und einordnen, wenn man die Basisaussagen dieses Modells verinnerlicht hat. „Man kann die Verhaltensökonomie erst verstehen, wenn man das Rationalmodell gefressen hat, das ist die Voraussetzung und gibt Orientierung“, sagt Weimann. Zudem wäre es kaum noch möglich, eine konsistente Wirtschaftspolitik zu machen, wenn man die Annahme aufgibt, dass Menschen in systematischer Weise auf Anreize reagieren. Aber sie reagieren eben nicht immer so darauf, wie das der seltsame Homo oeconomicus nach der Theorie tut. Somit muss man vom einfachen Modellbild zu einem komplexeren Bild der Wirklichkeit kommen.
Zu diesem komplexeren Bild gehört aber noch mehr. Die interdisziplinäre Kooperation mit den Psychologen hat den Ökonomen gut getan. Sie müssten sich aber auch stärker anderen angrenzenden Wissenschaftsdisziplinen öffnen und in einen Austausch mit diesen treten. Die jahrzehntelange Fixierung der Ökonomie auf mathematische Formalisierung hat bei vielen dazu geführt, dass die Sprechfähigkeit verloren gegangen ist. Es herrschte „Sprachlosigkeit“, nicht nur angesichts der Krise. Verbale Kommunikation wurde durch mathematische Formeln ersetzt. Das hat zwar zu mehr (Schein-)Präzision geführt, aber der Dialog mit anderen Sozialwissenschaften wurde behindert. Gegenseitiges Misstrauen und Abwehrhaltungen sind ohnehin stark. Aus den „linken“ Sozialwissenschaften kam holzschnittartige Kritik an der „neoliberalen“ Wirtschaftswissenschaft. Umgekehrt hielten sich Ökonomen den anderen Sozialwissenschaften für weit überlegen.
Wie fruchtbar interdisziplinäre Ansätze sein können, zeigt nicht nur die Verhaltensökonomik, sondern auch die Programme „Law and Economics“, die an die alte ordoliberale Idee der „Interdependenz“ der Ordnungen – hier der Rechts- und der Wirtschaftsordnung – erinnern. An englischen Top-Universitäten wie Oxford und an wenigen deutschen Hochschulen werden „Philosophy, Politics and Economics“-Studiengänge angeboten, die ein breites geistes- und sozialwissenschaftliches Feld abdecken. Sie erinnern daran, dass die Ökonomie einst aus der Philosophie entstand.
Ein Großteil der modernen forschenden Ökonomen hat das jedoch vergessen und verdrängt. Wirtschafts- und Theoriegeschichte sind in den Lehrplänen weitgehend marginalisiert worden. Auf die Frage, warum VWL-Studenten an den deutschen Universitäten heute fast nichts über die Entwicklung ihres Faches erfahren, sagt die VfS-Vorsitzende Schnitzer: „Wenn Sie einen Medizinstudenten ausbilden, dann lehren Sie auch nur die neuesten Methoden, so dass er später einen Bypass legen kann. Sie fangen nicht mit der Medizingeschichte und dem Aderlass an. Das mag zwar spannend sein, ist aber nicht mehr relevant für die moderne Medizin.“ Diese Antwort offenbart eine irrtümliche Vorstellung über das Wesen der Volkswirtschaftslehre. Sie ist geprägt von einer „Whig History of Economics“: Demnach wird die Disziplin stetig besser, sie bewegt sich in immer höheren Erkenntnissphären und hat mehr Erklärungskompetenz erreicht. Sie ist in einem mehr oder weniger linearen Aufstieg. Nach dieser Auffassung von (Wissenschafts-)Geschichte sind die neuen Ideen immer besser als die alten.
Doch stimmt das wirklich? In der Medizin kann man wohl sagen, dass bestimmte alte Therapien und Behandlungsmethoden völlig widerlegt sind. Niemand will heute mehr einen Aderlass. In den Naturwissenschaften, die mittels Experimenten ihre Hypothesen testen, gibt es einen klaren Fortschritt durch Verifizierung oder Falsifizierung. Ältere Irrtümer werden überwunden. In den Sozialwissenschaften kann man aber nicht so einfach Experimente durchführen und daraus exakte Schlüsse ziehen. Zudem sind die Sozialwissenschaften viel stärker auch von politischen Vorlieben der Wissenschaftler geprägt als die Naturwissenschaften.
Gab es Irrtümer nur in der Vergangenheit, nicht auch heute? Werden Irrtümer rasch überwunden, oder gibt es auch länger andauernde Phasen des Irrtums? Der Grazer Ökonom und Theoriegeschichtler Heinz Kurz betont, dass der „Markt für ökonomische Ideen“ nicht als perfekter Selektionsmechanismus funktioniert, der schlechte Ideen zuverlässig aussortiert und Irrwege zügig korrigiert.24 Vielmehr gibt es auf diesem Markt Modetrends und Herdenverhalten, verstärkt durch positive Rückkopplungen im Wissenschaftsbetrieb (gegenseitige Bestätigung und Belobigung, Berufungspraxis auf Lehrstühle, Vergabe von Forschungsgeldern, Preise). Aus diesem Herdenverhalten kann schließlich – wie auch auf den Finanzmärkten – Blasenbildung resultieren. Und die Wissenschaftssoziologie zeigt, dass es nicht nur der hermeneutische Wert einer Idee oder Theorie sein muss, sondern auch andere Faktoren bei ihrer Ausbreitung eine Rolle spielen – nämlich politisch-materielle Interessen und Ideologien.
Eine der größten Blase war der Marxismus, der im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gewaltige Anziehungskraft auf Wissenschaftler und Intellektuelle ausübte. Zeitweise infizierte diese intellektuelle Mode ganze Studenten- und Wissenschaftlergenerationen. Erst nach dem Scheitern der marxistisch-sozialistisch inspirierten Staats- und Wirtschaftsexperimente kam er aus der Mode und ist heute marginalisiert. Kaum ein Ökonom glaubt heute noch an die Mehrwerttheorie oder die Verelendungstheorie. Als eine neuere Blase kritisiert Kurz die neoklassische Ökonomie, vor allem die auf der Idee des „rationalen“ Agenten aufbauende Makro- und Finanzmarktökonomie, vertreten durch Robert Lucas und Eugene Fama. Vor allem Lucas wirft er arrogantes Abwerten konkurrierender, früher weit verbreiteter Erklärungsansätze vor.
Die Idee, dass es einen zuverlässigen Fortschritt in der Wirtschaftswissenschaft gibt, kann übermütig und unvorsichtig machen. Sie führt zur Gefahr der Wissensanmaßung, warnt Kurz. In den Jahren vor der Finanzkrise glaubten maßgebliche Ökonomen wie Lucas, der makroökonomische Erkenntnisstand sei so hoch, dass wirklich große, erschütternde Wirtschaftskrisen nunmehr unmöglich seien. Sie hatten sich getäuscht. Der IWF gab selbst in seinem Evaluierungsbericht zur Tätigkeit in den Jahren 2004 bis 2007 zu, dass man sich dem „Gruppendenken“ hingegeben habe, dass eine große Finanzkrise unwahrscheinlich sei. Dies habe das Erkennen von Risiken verhindert.
In der Krise griff die Politik mit den Konjunkturprogrammen plötzlich auf ältere keynesianische Rezepte zurück. Wie aber können Studenten beurteilen, ob und wann keynesianische Fiskalpolitik angemessen ist, wenn sie nie von den Debatten der dreißiger Jahre gehört haben oder die Debatten der siebziger Jahre nicht kennen, als man vom Keynesianismus wieder abkam? Spätestens 2008/2009 bedauerten einige Ökonomen und Studenten, dass sie theoriegeschichtlich ziemlich blank waren. Und nicht nur die keynesianische, auch die hayekianische Konjunkturtheorie erlebte in der Krise eine gewisse Renaissance. Nach Hayeks Vorstellung werden schwere Krisen durch eine vorangegangene Phase zu geringer Zinsen vorbereitet, die zu einer Blasenbildung in bestimmten Sektoren führt.