Dietlindes zauberhafter Dating-Sommer - Michael Burg - E-Book

Dietlindes zauberhafter Dating-Sommer E-Book

Michael Burg

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Beschreibung

84-jährige Witwe erkundet Online-Dating mit skurrilen Abenteuern. Humorvolle Romantasy über Liebe im Alter. Erleben Sie den zauberhaften Dating-Sommer mit Dietlinde, einer 84-jährigen Witwe, die sich nach dem Tod ihres Gatten in die Welt des Online-Datings stürzt. Ihr Abenteuer beginnt mit einem unheimlichen Stollen, führt über skurrile Begegnungen mit Ex-Höhlenforschern und Kamasutra-Experten bis hin zu einem durchgeknallten Wissenschaftler. Doch Dietlinde sehnt sich nicht nur nach Abenteuern, sondern auch nach einer dauerhaften Liebe. Wird sie ihr Herzblatt finden? Tauchen Sie ein in eine philosophisch-humoristische Romantasy, die Romantik, Humor, Mystery und Lebensweisheit vereint – ein Buch über die Verlockungen der Liebe im Alter und das Leben an und für sich.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage Dezember 2023

Copyright © 2023 by Ebozon Verlag

ein Unternehmen der CONDURIS UG (haftungsbeschränkt)

www.ebozon-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung:media designer 24

Coverfoto:Michael Burg,pixabay.com

Layout/Satz/Konvertierung: Ebozon Verlag

ISBN 978-3-95963-829-6 (PDF)

ISBN 978-3-95963-828-9 (ePUB)

ISBN der Printausgabe 978-3-95963-830-2

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors/Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Veröffentlichung, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Über das Buch

Erleben Sie den zauberhaften Dating-Sommer mit Dietlinde, einer 84-jährigen Witwe, die sich nach dem Tod ihres Gatten in die Welt des Online-Datings stürzt. Ihr Abenteuer beginnt mit einem unheimlichen Stollen, führt über skurrile Begegnungen mit Ex-Höhlenforschern und Kamasutra-Experten bis hin zu einem durchgeknallten Wissenschaftler. Doch Dietlinde sehnt sich nicht nur nach Abenteuern, sondern auch nach einer dauerhaften Liebe. Wird sie ihr Herzblatt finden? Tauchen Sie ein in eine philosophisch-humoristische Romantasy, die Romantik, Humor, Mystery und Lebensweisheit vereint – ein Buch über die Verlockungen der Liebe im Alter und das Leben an und für sich.

Über den Autor

Michael Burg, geboren im Jahr 1962 und ansässig im malerischen Hohenlimburg, hat eine vielseitige Lebensgeschichte, die seine literarische Reise inspirierte. Nach einer erfolgreichen Karriere als Buchhalter beschloss er im Jahr 2013, sich ganz der Welt der Kreativität zu widmen.

Seitdem entdeckt er die faszinierenden Möglichkeiten der Natur und die schier grenzenlosen Ausdrucksformen der Sprache. Die Schönheit und Komplexität der Natur sind für ihn eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration, die er in seinen Werken gekonnt einfängt.

Michael Burgs Debütroman, »Dietlindes zauberhafter Dating-Sommer«, erzählt eine Geschichte von Mut und Anmut und wurde von den bewundernswerten Ommas dieser Welt inspiriert. Tauchen Sie in die Welt seiner Worte ein und lassen Sie sich von seiner erfrischenden Erzählkunst verzaubern.

Micheal Burg

DIETLINDES

ZAUBERHAFTER

DATING-SOMMER

Roman

EbozonVerlag

Kapitel 1

»Ich werde mich bei einem Männersuchprogramm anmelden«, verkündete Dietlinde unvermittelt, weil sie ein erbärmlich mieses Blatt hatte und das Spiel ohnehin verlieren würde.

Ihrer Freundin Amalia fielen vor Schreck die Rommékarten aus der Hand. »Waaas machst du?«

»Ach, du weißt schon, das ist so ein Dating-Dingsbums-Programm, wo man neue Partner finden kann«, erklärte Dietlinde.

Plötzlich war das Kartenspielen unwichtig geworden. Eigentlich war es ohnehin unwichtig, denn es ging bei den wöchentlichen Treffen der beiden betagten Damen im Grunde um ein fröhliches Beisammensein in Dietlindes behaglichem Häuschen. Dabei erfreuten sie sich an gepflegten Gesprächen über gute alte Zeiten, gute neue Zeiten, Klatsch und latent philosophische Themen. Oft trafen sie sich bereits mittags, holten sich Currywurst Pommes an einer Bude um die Ecke und verzehrten diese Köstlichkeit in Dietlindes guter Stube. Anschließend gab es Kaffee und Nussecken, hernach Rotwein und Käseigel. Bei Letzterem waren sie soeben angelangt.

»Ein Dating-Dingsbums-Programm?« Amalias große dunkle Augen weiteten sich und wurden noch größer und dunkler. »Wo man sich auf dem Handy die Männer aussuchen kann wie Unterbuxen am Wühltisch?«

»Warum nicht?« Dietlinde setzte ihre leuchtend-bunte Vollrandbrille ab, um die Gläser mit einem Ärmel ihrer fliederfarbenen Strickjacke zu säubern, denn sie wollte sich mit klarem Blick am Erstaunen ihrer Freundin erbauen. »Ich habe neulich in meiner Fernsehzeitschrift gelesen, dass man damit alle elf Sekunden einen neuen Herrn an der Angel hat.«

»Herrschaftszeiten, das wären in einer Minute ja schon 5,45 potenzielle Liebhaber!«

»Ich hoffe, nicht nur potenzielle, sondern auch potente Liebhaber.«

»Dietlinde!«

»Töfte, oder?«

»Was willst du mit so vielen Kerlen? Und was würde dein Hubert dazu sagen?«

»Das weiß ich nicht. Aber er ist ja nun seit acht Monaten im Himmel. Und ich bin hier. Quicklebendig. Ich will noch einmal was erleben. Mit kernigen Männern und so. Der Hubert hatte es ja nicht so mit der Kernigkeit.«

Amalia trank ihr Glas Rotwein mit einem kräftigen Zug aus, um diese Überraschung zu verarbeiten. »Aber irgend so ein Hallodri aus dem Handy? Ist das nicht gefährlich? Und überhaupt: Du kennst dich doch gar nicht mit dem Internet-Gedöns aus.«

Dietlinde blickte sie triumphierend mit ihren klaren grauen Augen an. »Meine Enkelin Pia kommt morgen nach der Schule vorbei und wird mir helfen.«

Amalia rutschte aufgeregt auf dem abgewetzten Ohrensessel hin und her und angelte sich einen dicken Käsequader. »Dietlinde, du kommst auf drollige Ideen! Aber sei doch mal realistisch. Ich bin 82 und du bist 84. Wir haben uns zwar sehr gut gehalten, doch wie sehen wir aus? Sicher nicht wie Top-Models! Vieles hängt unmotiviert am Körper herum und ist labberig. Die Sache mit den elf Sekunden wird nicht funktionieren. Ich glaube kaum, dass es hier in der Umgebung Myriaden von sympathischen und funktionstüchtigen Vertretern der männlichen Spezies gibt, die sich für Ü80-Damen interessieren.«

»Also ich finde, ich bin noch ganz famos in Form«, entgegnete Dietlinde. »Ich weiß, dass es dir genügt, diesen Quiz-Onkel, den Herrn Pullowa, jeden Abend vor dem Bildschirm anzuhimmeln. Aber mein Fall wäre das nicht. Ich möchte noch einmal das echte Leben spüren. So richtig mit anfassen und zusammen was machen und so. Also eigentlich möchte ich mich selbst endlich mal spüren.« Ein Quäntlein Pathos fluktuierte in ihrer Stimme.

»Setz dich doch einfach auf ne Heftzwecke«, schlug Amalia vor.

»Ich dachte da schon an eine einfühlsamere Behandlung meiner Poebene«, erklärte Dietlinde.

Amalia schenkte sich Rotwein nach und auch ein Schnäpsken aus der Ouzoflasche, die einträchtig mit der Weinkaraffe neben dem Käseigel auf dem wuchtigen Wohnzimmertisch logierte. »Aber überleg doch mal: Wenn sich überhaupt irgendwelche Typen melden, dann wohnen die sicher meistens ganz weit weg. Zum Beispiel in Timbuktu oder am Popocatépetl. Oder in Bad Lippspringe. Wie willst du dort hinkommen? Da ist dann nicht viel mit Anfassen und so. Und jemanden hier aus der Gegend lernst du besser beim Bingo in der Kirchengemeinde kennen.«

»Du weißt, ich war schon ewig nicht mehr der Kirche«, wandte Dietlinde ein. »Und die Pia meint, es gibt auch Suchprogramme für Männer aus den heimatlichen Gefilden. Vielleicht sogar direkt hier aus Wuppertal.«

»Mir wäre das zu stressig«, sagte Amalia. »Du musst die Treffen mit den Kerlen ja schließlich auch vorbereiten. Sachen einkaufen und so. Da habe ich es mit Herrn Pullowa vor dem Fernseher schon einfacher.«

Dietlinde kicherte. »Der Pullowa stellt zu viele Fragen. Außerdem – was muss ich für Sachen einkaufen? Kondome brauche ich schon mal nicht.«

»Na, aber ein paar laszive Miederwaren benötigst du auf jeden Fall. Sonst kommen die älteren Herren wohl kaum in Fahrt.«

Dietlinde tat entrüstet. »Also bitte! Mein lieber Herr Gesangsverein! Als ob meine anmutige Gestalt und meine inneren Werte nicht anregend genug wären! Zudem habe ich einen sehr schönen violetten und einen noch brauchbaren grünen Schlübber ohne Mottenlöcher; da brauche ich gar nix an neuen Miederwaren zu kaufen.«

»Aber was ist mit einem Ladyshaver?«, gab Amalia zu bedenken. »Oder einem edlen Duftwässerchen?«

»Papperlapapp! Edles Duftwässerken! Ich träufle mir ein paar Tropfen Ouzo hinters Ohr und dann riecht das lecker genug.« Dietlinde goss Amalia und sich selbst noch einen weiteren Schnaps ein.

»Schon gut«, sagte Amalia. »Mach, was du willst. Aber du musst mir nachher alles haarklein erzählen.«

Der scheppernde Klang von Dietlindes alter Standuhr untermalte das einträchtige Zuprosten der Freundinnen.

»Oh, schon sieben Uhr!«, rief Amalia. »Willst du das Spiel noch beenden? Wenn nicht, dann mache ich mich auf den Heimweg.«

»Zu Herrn Pullowa?«

»Du hast es erfasst.«

Besonders viel Sinn machte es nicht, die begonnene Rommépartie weiterzuführen, da Amalia ungefähr neunzig Prozent der Spiele gewann. Das war kein Wunder, denn sie besaß offenbar eine Gabe, die sie selbst als Hellsichtigkeit bezeichnete. Früher war sie sogar als »Spökenkiekerin« in einem esoterischen TV-Sender aufgetreten und hatte mit fantasievoll geschminktem Antlitz ehrfürchtigen Anrufern die Zukunft vorhergesagt. Und es war unübersehbar, dass sie faszinierenderweise oft darüber Bescheid wusste, welches Blatt Dietlinde auf der Hand hatte. Dietlinde hingegen gewann nur dann, wenn sie die auszugebenden Karten präparierte, während Amalia zwecks Entsorgung des konsumierten Kaffees und der genossenen Alkoholika das Klosett aufsuchte.

»Bevor du gehst, möchte ich dich bitten, mal kurz was für mich nachzuschauen«, bat Dietlinde, und dieser Wunsch hatte mit Amalias außergewöhnlichen Fähigkeiten zu tun.

»Soso, mal kurz etwas nachschauen«, brummelte Amalia. »Was ist es denn diesmal? Aha warte, ich sehe es schon: Du willst wissen, wie die Chancen stehen, mit deinem Männersuchprogramm jemanden kennenzulernen, der dir gefällt.«

»Das war nicht schwer zu erraten«, sagte Dietlinde. »Vielleicht kannst du sehen, was mich da erwartet.«

»Selbstverständlich kann ich das sehen!«, antwortete Amalia selbstbewusst und auch ein wenig angesäuselt. Sie mischte die Spielkarten kräftig durch und legte sie dann in Form eines Herzens, das Käseigel sowie Weinkaraffe und Ouzoflasche umschloss, auf dem Wohnzimmertisch aus. Ihre großen Augen weiteten sich erneut.

»Und?« Dietlinde stopfte vor Aufregung gleich drei Käsestücke in dem Mund.

»Eieiei«, orakelte Amalia. »Die Karo-Fünf liegt im 40-Grad Winkel zum Pik-Buben.«

»Waww bedeutet daww?«, nuschelte Dietlinde und würgte den trockenen Gouda hinunter. »Wird sich die Männerwelt um mich reißen? Werde ich ein paar echte Sahneschnittchen treffen? Oder eher ein paar Käseschnittchen?«

Amalia starrt zunehmend entsetzt auf die Karten. »Oh nein! Ich sehe Blut!«

»Blutwurstschnittchen? Amalia, du weißt doch, da bin ich fies für. Der Hubert, der mochte das ja gerne. Mit Remoulade und Senf. Aber das ist nicht so mein Ding. Also warum siehst du Blutwurstschnittchen?«

»Ich sehe Blut an deinen Händen!«, sprach Amalia mit unheilschwangerem Timbre in der Stimme. »Du stehst in einem fremden Schafzimmer und starrst voller Entsetzen auf deine blutverschmierten Finger.«

»Hömma, du erzählst Kappes!«, protestierte Dietlinde. »Ich bringe doch niemanden um!«

»Vielleicht schneidest du jemandem was ab«, mutmaßte Amalia. »Siehst du dort oben in dem zweiten Herzbogen? Pik-Bube, Herz-Dame, dazwischen die Kreuz-Sieben. Gar nicht gut. Möglicherweise ermordest du jemanden beim Liebesakt. Wie eine Spinne, die ihr Männchen nach der Begattung auffrisst.«

»Jetzt mach aber mal ‘n Punkt. Dir ist wohl zu viel Weingeist in die Synapsen gedampft. Mit Sado-Maso-Gedöns habe ich überhaupt nichts am Hut. Auf Verkloppen und Abmurksen stehe ich nicht.«

Amalia rollte mit den Augen. »Ich sehe wütende Quellnymphen, und sie rufen der Gottheit zu, sie möge ihren Zorn über die blutrünstige alte Vettel ergießen.«

»Gottheit? Blutrünstige alte Vettel? Schluss mit dem Kokolores!« Entschlossen schob Dietlinde das herzförmige Kartenbild zusammen. Ihre Freundin schien mit der Orakelei ein wenig aus der Übung zu sein. Schließlich war es ja auch schon fünf Jahre her, dass sie den Job bei Sternenglück-TV aufgegeben hatte.

Amalia schüttelte sich und atmete tief durch. Sie schnäuzte pfeifend in ein giftgrünes Taschentuch und sprach dann kleinlaut in ihrer gewohnten Tonlage: »Entschuldige bitte. Ich habe mich zu sehr hineingesteigert in deine ... Situation.«

»Ist mir aufgefallen«, sagte Dietlinde.

Amalia leerte ihr Weinglas und rülpste vollmundig.

»Uiuiui, pass auf, dass nicht noch Ektoplasma mit rauskommt«, sagte Dietlinde.

»Nimm das nicht auf die leichte Schulter«, warnte Amalia ein klitzekleines bisschen beleidigt. »Ich kann nix dafür, was die Karten gesagt haben. Jedenfalls würde ich an deiner Stelle nicht das Männersuchprogramm ausprobieren.«

Dietlinde hob die rechte Augenbraue. Sie hatte das früher lange geübt, und es sah wichtig und ehrwürdig aus. »Nun ja, ich danke dir für deine Warnung. Dennoch habe ich nicht die Absicht, mich in den Bockshornklee jagen zu lassen. Aber ich werde bei der Auswahl des infrage kommenden männlichen Personals umsichtig und vorsichtig sein.«

Amalia erhob sich. »Nun denn. Ich geh dann mal. Herr Pullowa wartet zu Hause auf mich.«

Dietlinde lächelte sie an. »Viel Spaß mit ihm. Geh hin in Frieden.«

»Gott sei Dank«, sagte Amalia, umarmte Dietlinde zum Abschied und rauschte von dannen.

Dietlinde begab sich ins Bad und betrachtete nachdenklich ihr Gesicht im Spiegel. Die freundlichen grauen Augen, die kleine rundliche Nase. Sie schüttelte den Kopf und brummte: »Ich und blutrünstig? Nie im Leben!«

Kapitel 2

SENIORomanzen 50+, so hieß das Datingportal, das sich Dietlinde nach reiflicher Überlegung ausgesucht hatte. Und sie blieb dabei, trotz Amalias unerquicklicher Prophezeiung beim gestrigen Rommé-Nachmittag.

Ihre fünfzehnjährige Enkelin Pia zog skeptisch die sommersprossenbesprenkelte Nase kraus. »Bist du sicher, Omma, dass das jetzt das Richtige ist?«

Auf ihrem Nachhauseweg von der Schule ging sie oft bei ihrer Großmutter vorbei, um einen Plausch zu halten und ihr bei dem »Gedöns der modernen Welt« behilflich zu sein. Zu diesem Gedöns zählte unter anderem der Umgang mit dem Handy. Erst seit kurzem hatte Dietlinde sich entschlossen, ihr klobiges Seniorenhandy in Rente zu schicken und sich ein modernes Smartphone zuzulegen. Pia hatte ihr die Neuerwerbung eingerichtet und gemeinsam hatten sie nach einer passenden Kontaktbörse für Dietlinde gesucht. Jetzt saßen Oma und Enkelin in der guten Stube und begutachteten die Werbung der Dating-App.

»Ich bin mir sowas von sicher«, sagte Dietlinde und klatschte begeistert in die Hände. »Dieses Männersuchprogramm sieht super aus. Kuck dir das doch an! Lauter fesche Kerle.«

»Das sind Beispielfotos auf der Startseite. Außerdem kann man heutzutage Bilder bearbeiten. Sich schöner machen, als man ist, verstehst du?«

»Klar versteh ich das. Bin ja nicht von vorgestern. Aber ich finde, man sollte stets an das Gute im Menschen glauben, mein Karottili.« Dietlinde hatte die Angewohnheit, ihre Mitmenschen manchmal mit recht sonderbaren Kosenamen zu beehren, und bei ihrer Enkelin war das eine Anspielung auf ihr wuscheliges rotes Haar.

»Aber Omma, willze das wirklich machen? SENIORomanzen 50+! Du bist schon 84.«

»Na und? Das ist doch kein Alter. Und überhaupt, wir müssen jetzt mal langsam zu Potte kommen. Von RINDER hast du mir ja abgeraten.«

Pia schüttelte seufzend den Kopf. »Das ist eher etwas für jüngere Menschen.«

»Na, deswegen nehmen wir jetzt die SENIORomanzen. Also los, melde mich da an! Dann gibt‘s auch anschließend eine Nussecke.«

»Ich bin doch kein Hund, den man mit einem Leckerli besticht«, brummelte Pia, doch ihre Finger flogen bereits über das Display, und sie schloss für ihre Großmutter ein Premium-Abo für drei Monate ab.

»Das isses mir wert«, bekräftigte Dietlinde, als Pia den Zahlungsvorgang auslöste.

»Gut, dann wollen wir mal dein Profil anlegen«, sagte Pia. »Möchtest du nur Freundschaft oder mit alles, Omma?«

»Mit alles, Karottili! Darüber hatten wir doch schon gesprochen.«

»Au weia!«, entfuhr es Pia.

»Werd nich frech! Die Omma hat auch Bedürfnisse. Seit der Hubert nich mehr is, bin ich ein bisschen am Vertrocknen zugange. Ich würde gerne mal wieder so richtig ...«

»Schon gut, Omma. Bitte keine weiteren Details. Ich bastle für dich ein ganz fantastisches Profil.«

»So ist‘s recht«, sagte Dietlinde.

»Ich brauch noch ein Foto von dir«, sagte Pia.

»Kommt sofort«, erwiderte Dietlinde und verschwand im Schlafzimmer, wo sie ein kleines Bild aus der Nachttischschublade zutage förderte. Stolz kam sie zurück und hielt es ihrer Enkelin unter die Nase. »Na, wie sehe ich aus?«

»Omma! Das Foto ist mindestens sechzig Jahre alt! Da sind Kaffeeflecken drauf. Und du stehst stocksteif im Gesundheitsbadeanzug am Bodensee.«

»Schau nur, meine wundervollen langen kastanienbraunen Haare!«

»Das ist ein Schwarzweiß-Foto, Omma. Da kommt das Kastanienbraun nicht sonderlich zur Geltung.«

»Aber man sieht, wie der linde Sommerwind fröhlich mit meiner stattlichen Mähne spielt. Das wirkt attraktiv, oder nicht?«

»Du hast jetzt einen Dutt. Das Bild sollte halbwegs aktuell sein.«

»Trotzdem – meine Figur ist noch so rank und schlank wie damals.«

»Das stimmt zwar, doch du trägst nun eine Brille, hast einige Falten mehr und viel größere Ohren als früher.«

»Karottili, du hast ein loses Mundwerk.«

»Wir machen ein neues Foto von dir«, stellte Pia resolut fest. Sie zückte ihr Handy. »Mach mal ein freundliches Gesicht.«

»Ich mache immer ein freundliches Gesicht.«

»Dann mach mal eins mit Lächeln und so.«

»Hömma, fotografierst du mich getz gerade mit dem Dingen?«

»Na klar, Omma.«

Dietlinde erhob sich vom Küchenstuhl. »So geht das nicht! Ich muss mich erst zurecht machen. Ich geh dann mal ins Bad.«

»Dann puhl dabei bitte gleich den dicken Popel aus der Nase. Der sieht nicht ganz so werbewirksam aus.«

»Nicht ganz so werbewirksam?« Grummelnd trollte sich Dietlinde ins Badezimmer.

Zwanzig Minuten später kam sie wieder zum Vorschein.

»Ich dachte, du wolltest zu Potte kommen«, sagte Pia vorwurfsvoll. »Ich kann nicht den ganzen Nachmittag bei dir bleiben.«

Dietlinde warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Bist du verabredet?« Irgendwie konnte sie es sich nicht vorstellen, dass die kleine, dürre Pia plötzlich einen Freund hatte. Denn ihre Enkelin war trotz des oft latent flapsigen Mundwerks eher zurückhaltend, fast schüchtern. Sie sah in ihrer alten, viel zu weiten Jeansjacke nicht besonders flott aus. Aber ihr liebenswerter und hilfsbereiter Charakter glich das locker aus. Und auch Pias wunderschöne, grün leuchtende Augen waren ein echter Hingucker. Dietlinde war mächtig stolz auf ihre Enkelin.

»Nein, ich bin nicht verabredet«, sagte Pia, und es klang ein wenig betrübt. »Aber ich bekomme Ärger zuhause, wenn ich so lange bei dir bin. Ich soll mich verstärkt um bessere Schulnoten kümmern.«

»Nun gut, dann wollen wir uns beeilen. Na, wie sehe ich aus?« Dietlinde drehte sich wie eine Ballerina in der Küche.

»Total überschminkt«, antwortete Pia.

Dietlinde verzog enttäuscht das Gesicht. »Meinst du, ich hab zu viel Eierleiner genommen?«

»Du hast von allem zu viel genommen, Omma. Dein Gesicht sieht aus wie ein GR GR.«

»GR GR?«

»Grelles Graffiti. Aber is jetzt egal, Omma. Setz dich hin. Ich mache das Foto und werde es anschließend bearbeiten.«

»Prima Idee. Schöner machen, wie du vorhin gesagt hast.«

»Jep«, sagte Pia.

»Jupp?«, fragte Dietlinde irritiert. »Das war doch der Schwippschwager vom Hubert. Was hat der denn ...?«

In diesem Moment tippte Pia auf das Smartphone. »Schon fertig.« Sie fügte das Foto in Dietlindes Profil ein.

»Boah, das hast du gut hingekriegt«, kommentierte Dietlinde. »Mit Huberts ollem Fotoapparat sahen die Bilder nie so töfte aus. Ich bin ja umwerfend hübsch.«

»Tja, ich hab dich ein bisschen getunt. Echt fett.«

»Fett?« Dietlinde machte ein empörtes Gesicht.

»Nein, ich meine natürlich nicht schwabbelig. Weiß nicht, wie man das in Omma-Sprache sagt. Famos?«

»Famos trifft es ziemlich gut. Aber hömma, müssen wir da getz mein richtiges Alter eintragen?«

»Habe ich schon gemacht. Beim Foto kann man ja vielleicht ein bisschen künstlerische Freiheit walten lassen. Aber wenn die Angaben zur Person nicht stimmen, dann wird es kompliziert, wenn es tatsächlich jemals zu einem Date kommen sollte.«

»Zweifelst du etwa daran, Karottili?«

Pia verdrehte ihre algengrünen Augen. »Ach Omma, ich habe ein komisches Gefühl bei der ganzen Sache.«

»Schon gut, du hast mir ja vorhin schon lang und breit einen Vortrag darüber gehalten, dass Dating-Apps nicht immer das Grüne vom Ei sind. Merk dir: Du bist nicht schuld, wenn nix dabei rauskommt. Ich bin jedenfalls sehr gespannt. Basta.«

»Ich will doch nur, dass dir nichts passiert«, sagte Pia.

»Es wäre sehr blöd, wenn nichts passiert«, erwiderte Dietlinde. »Bitte trag als Eigenschaft noch ein, dass ich abenteuerlustig bin. Ich möchte mich schließlich nicht mit irgendwelchen Schlafmützen treffen.«

»Ganz wie du willst, Omma.«

»Und wollen wir jetzt endlich zusammen kucken, welche Herren im Angebot sind?«

Pias Blick fiel auf Dietlindes alte Standuhr. »Sorry Omma, du kommst jetzt sicher ohne mich klar. Du kannst ja inzwischen schon selbst einige Sachen am Smartphone machen. Aber bitte sei vorsichtig. Du solltest vielleicht erst mal ein bisschen stöbern. Musst nicht gleich den Erstbesten daten. Okay?«

Anstelle einer Antwort tippte Dietlinde aufgeregt auf das Display. »Schau mal! Du lieber Herr Gesangsverein! Da hat sich schon jemand bei mir gemeldet.«

»Das gibt‘s doch nicht!«, staunte Pia.

»Da siehste mal, was ich für eine Wirkung auf Männer habe.«

Pia schüttelte ungläubig den roten Wuschelkopf. »Da ist das Profil kaum zwei Minuten freigeschaltet ...«

Dietlinde rückte ihre große bunte Brille zurecht. »Georg heißt der. Und zünftig sieht er aus!«

»85 ist der schon«, wandte Pia ein.

»Gerade richtig«, sagte Dietlinde aufgeregt. »Er bezeichnet sich als knackig. Und als vollfruchtig. Und als auch sonst gut in Schuss. Mehr kann man doch nicht verlangen, oder?«

»Ach Omma ...«

»Und wie nett er schreibt! Hallo Dietlinde! Schickes Foto. Lust auf ein romantisches Picknick? Morgen um 16:00 Uhr. Hier sind die GPS-Daten ... Äh, Karottili, was sind GPS-Daten?«

Pia seufzte tief. »Also gut. Dann lass uns mal schauen, wo der Treffpunkt ist.«

»Du bist ein liebes Kind«, sagte Dietlinde. »Willze ein Bömsken oder eine Nussecke?«

»Nee, danke. Du weißt doch, dass ich auf meine Figur achte.«

»Man kampf auch übbertreiben«, nuschelte Dietlinde, während sie sich selbst eine Nussecke in den Mund stopfte.

Derweil hatte Pia den Treffpunkt ausfindig gemacht. »Omma, vielleicht solltest du dem Herrn besser nicht zusagen. Das sieht nicht sooo romantisch aus.«

Kapitel 3

Hiersollte der Treffpunkt sein? Dietlinde parkte den alten Opel am Randstreifen der Hauptstraße und bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Eigentlich hätte sie dort jetzt freudige Erwartung spüren sollen. Schmetterlinge oder so.

Georg hatte etwas von einem romantischen Picknick geschrieben. Nach Romantik sah das hier nicht aus: Eine hohe graue Felswand, in die eine dicke Stahltür eingelassen war. Auf der anderen Straßenseite floss träge die Wupper dahin.

Ein weiser Spruch, den ein antiker griechischer Philanthrop namens Herakles oder Herpes mal vom Stapel gelassen hatte, lautete: »Panther-Reh:Alles fließt«. Dietlinde hatte in ihrer Fernsehzeitschrift darüber gelesen. Hauptsache, ihr erstes Date floss nicht sofort den Bach runter.

Dietlinde fühlte sich unwohl. Vielleicht hätte sie auf den Rat ihrer Enkelin hören und vorsichtiger sein sollen. Hätte, hätte ...

Dietlinde nahm ein Bömsken aus dem Handschuhfach und schob es schmatzend in den Mund. LKWs donnerten vorbei. Missmutig beäugte Dietlinde ihre Armbanduhr. Georg war bereits zehn Minuten überfällig. Dietlinde stieg aus dem Wagen und sah sich um, doch ihr mutmaßlicher Verehrer war nirgends in Sicht. Leichter Sommerregen setzte ein.

»Mein lieber Herr Gesangsverein!«, moserte Dietlinde. »Das fängt ja gut an.« Sie wollte sich gerade wieder in den Opel zurückziehen, da brauste ein saftig-gelber Porsche 911 heran und hielt auf sie zu. Erschrocken sprang Dietlinde zu Seite, und das Sportgefährt kam wenige Meter von ihr entfernt zum Stehen, wobei eine Kieselsteinfontäne effektvoll aufspritzte. Beschwingt kletterte eine Gestalt im knallroten Overall heraus. Sie setzte sich einen Helm mit LED-Lampe auf den Kopf, schnappte einen überdimensionalen Rucksack vom Beifahrersitz und schnallte ihn sich auf den Rücken.

Tatsächlich, es war Georg.Mit raschen Schritten kam er näher.85, knackig, vollfruchtig und auch sonst gut in Schuss. Immerhin stimmte das Profilbild. Unter seinem Helm wallte dichtes grauschwarzes Haar bis auf seine Schultern herab, ja, es kräuselte sich sogar üppig aus Nase und Ohren heraus. Dietlinde fand das unsagbar männlich. Sie liebte Haare. Und natürlich war sie neugierig, wasvollfruchtigbedeuten mochte.

Georg war die Verspätung offenbar nicht besonders peinlich. Stattdessen kramte er einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die schwere Stahltür. »Hereinspaziert.«

»In dieses Loch?«, fragte Dietlinde irritiert. »Willst du mich nicht erst mal begrüßen?«

Georg lachte. »Das machen wir später. Hier draußen ist es ungemütlich. Komm mit. Lass dich überraschen.« Mit diesen Worten stapfte er ins Dunkel.

»Aber ...« Dietlinde zögerte einen Moment, doch dann folgte sie ihm. Schließlich hatte sie in ihrem Profil angegeben, dass sie abenteuerlustig war. Da konnte sie jetzt nicht kneifen. Der Lichtkegel von Georgs Helmlampe tanzte einsam durch einen langen, düsteren Gang, der offenbar tief in den Berg hineinführte. Es tropfte von der Decke. Dietlinde erschauerte in ihrer dünnen fliederfarbenen Strickjacke. »Ganz schön schuppich hier drin.«

Georg blieb stehen und dreht sich zu ihr um. »Ist ja auch ein Stollen. Darin wird’s nicht wärmer.«

»Und matschig isses auch. Meine Füße sind schon ganz nass.«

»Ich hatte dir geschrieben, dass du Stiefel oder feste Schuhe anziehen solltest«, brummte Georg. »Und ich erwähnte ebenfalls, dass ein Geleucht angemessen wäre.« Er marschierte unverdrossen forsch voran.

»Das wäre wohl besser gewesen«, murmelte Dietlinde. Ihre leichten pink-beigefarbenen Halbschuhe waren jedenfalls nicht optimal für diesen Ausflug geeignet. Und die Sache mit demGeleuchthatte sie wohl glatt übersehen.

»Ja, ja, das Innere eines Berges ist kein Laufsteg«, dozierte Georg.

»Hab mich extra schick gemacht für dich«, sagte Dietlinde. »Das hätte ich mir sparen können.« Sie rutschte auf dem schlüpfrigen Untergrund aus und konnte in letzter Sekunde einen Sturz abfangen, indem sie sich an einem Felsvorsprung festkrallte.

Wieder wandte sich Georg zu ihr um. »Hoppala. Pass ein bisschen auf! Nicht, dass du dich langlegst.«

»Sapperlot, das war knapp!«, keuchte Dietlinde.

»Wäre schade um dein süßes Knubbelnäschen gewesen.«

»Na, du bist ja ein besonders empfindsamer Charmeur.«

»Ja, das bin ich«, beteuerte Georg, und offenbar meinte er es ernst.

Schweigend drangen sie immer tiefer in die finstere unterirdische Felsenwelt vor. Flau-blümerantes Unbehagen durchflitterte Dietlindes Geist und Magen. Das schien ein unheimliches Date zu werden. Hoffentlich war Georg kein Psycho, der mit ihr irgendwelche irren Spielchen trieb. Doch für eine Flucht ans Tageslicht war es zu spät. Ohne Lampe würde sie den Weg zum Ausgang nicht mehr finden. Sie konnte nur versuchen, mit Georg und seiner Helmlampe Schritt zu halten, und hoffen, dass er ehrenhafte Absichten hegte.

Und eigentlich sieht er ja auch viel zu gut aus, beruhigte sie sich selbst.Er kann ganz einfach kein fieser Typ sein.Überhaupt – sie sollte sich besser darauf konzentrieren, nicht noch einmal auszurutschen.

Der Weg wurde breiter und mündete in einen hohen Raum, von dem mehrere Gänge abzweigten.

»Sind wir bald da?«, schnaufte Dietlinde.

»Du hast es erfasst! Wir haben unser Reiseziel erreicht.« Georg setzte den schweren Rucksack ab.

»Hier soll unser Picknick stattfinden?«, fragte Dietlinde ungläubig.

»Genau«, bestätigte Georg. »Ist das nicht ein lauschiges Plätzchen?« Er ließ den Strahl seiner Helmlampe auf ein atemberaubend glitzerndes blütenweißes Objekt gleiten. Eine filigrane Sinterfahne hatte sich an dem schwarzen Gestein gebildet. Sie sah aus wie ein Engelsflügel, der sie an diesem unwirtlichen Ort beschützte.

»Boah, das ist ein entzückendes Dingen!«, staunte Dietlinde.

»Genau wie du«, erwiderte Georg.

»Na, da ist dir doch noch ein Kompliment geglückt«, sagte Dietlinde.

»Herzlich willkommen in meinem Stollen.« Georg umarmte sie stürmisch und rustikal.

»DeinStollen?«, japste Dietlinde. Er roch nach ungezähmtem Mann, ein bisschen streng, aber vielleicht war das ja die angekündigte Vollfruchtigkeit.

»Naja, ich war jahrelang Chef des Vereins, der diesen Stollen betreut. Und ich bin heute immer noch Ehrenvorsitzender.«

»Hast du einen Maulwurf-Orden bekommen?«, fragte Dietlinde.

Georg lachte. »Nein, sowas gibt‘s natürlich nicht, aber ich habe bei der Erforschung des Stollens und einiger umliegender Höhlen viele Verdienste erworben«, sagte er stolz.

»Dann ist es also eine Ehre, mit dir ein Date zu haben«, stellte Dietlinde fest.

»So isses«, sagte Georg selbstzufrieden und zerrte eine dicke Picknickdecke aus dem Rucksack, die er auf der feuchten Erde ausbreitete. Nicht weit entfernt ergoss sich ein Wasserstrahl von der Decke des Stollens in einen kleinen Bach, der munter an ihnen vorbei plätscherte und nach wenigen Metern irgendwo in den Felsen verschwand.

»Sehr gemütlich«, befand Dietlinde sarkastisch.

»So isses«, sagte Georg wieder.

»Wo kommt denn das Wasser her?«, fragte Dietlinde.

»Von oben«, sagte Georg.

»Das sehe ich. Von wo oben?«

»Das erforschen wir noch.« Georg wühlte in seinem Rucksack und kramte zwei Plastikbecher und einen Pappkarton mit Rotwein hervor. Schließlich fand er noch ein kleines Baguette und platzierte die Leckereien auf der Decke. »Na, was sagst du dazu?«, fragte er großspurig. »Eine tolle Überraschung, oder?«

»Das ist ... opulent«, sagte Dietlinde.

»So isses«, sagte Georg. »Setz dich.«

Ächzend nahm Dietlinde auf der Decke Platz, nicht ohne vorher die durchweichten Halbschuhe auszuziehen. Schließlich wusste sie, was sich gehört. Georg setzte sich zu ihr, goss Rotwein in die Plastikbecher, brach das Baguette in der Mitte durch und reichte ihr eine Hälfte.

»Danke«, murmelte Dietlinde und knabberte am Brot, das im Mund immer mehr wurde. Sie spülte mit Wein nach.

Georg nahm ebenfalls einen großen Schluck und grunzte zufrieden. »Lecker, so ein französisches Picknick, was?«

»So isses«, imitierte ihn Dietlinde.

»Undduhast ja sogar für den Käse gesorgt«, gluckste Georg und zeigte auf ihre Füße in den rosafarbenen Söckchen.

Dietlinde schnappte empört nach Luft. »Also wirklich! Meine zarten Füße verströmen allenfalls ein blumig-duftiges Aroma.«

Georg bekam einen Lachanfall und dabei entfuhr ihm ein kurzer, aber umso herzhafter Furz.

»Boah, das gibt’s doch nicht!« Dietlinde hielt sich pikiert die Nase zu.

»Was denn, was denn? Das istmeinblumig-duftiges Aroma.«

»Ich sollte das Date an dieser Stelle beenden«, sagte Dietlinde.

»Ich hab’s nicht unromantisch gemeint. Ist halt passiert. Sorry.«

Dietlinde überlegte, ob sie die ganze Sache abbrechen und ans Tageslicht flüchten sollte. Aber einerseits wäre sie dabei auf Georg und seine Helmlampe angewiesen. Und andererseits ... Trotz seiner Grobheiten übte der Mann eine unerklärliche Anziehung auf sie aus. Zwar waren es keine Schmetterlinge im Bauch, doch immer, wenn sie Georg anschaute, flutete eigentümliches Kribbeln ihren Körper. Vielleicht waren es ganz kleine Schmetterlinge. Motten. Winzige Liebesmotten. Motetten.

»Na ja, ich bin nicht nachtragend«, murmelte Dietlinde. »Aber Gase sind kein sehr anregendes Gesprächsthema.«

»Stimmt, daraus kann schnell eine furztrockene Unterhaltung werden. Doch das Thema ist spannender, als du denkst. Ich kann dir etwas über den Bombardierkäfer erzählen. Er hat eine gigantische Explosionskammer am Hinterleib und stößt mit einem Knall extrem heiße und ätzende Gase aus, um seine Feinde zu vertreiben. Knorke, oder?«

»Nee.«

»Also gut. Etwas anderes. Ich erzähle dir die Geschichte dieses Stollens.«

»Soso.«

»Hier drin sollte mal ein geheimes Kraftwerk gebaut werden.«

»Aha.« Dietlinde machte sich nichts aus Kraftwerken in ungemütlichen Unterwelten.

»Daraus ist aber nichts geworden«, fuhr Georg fort. »Die geologische Beschaffenheit des ...«

Dietlinde gähnte.

Georg biss latent missvergnügt in seine Baguettehälfte. »Also wenn‘s dich nicht interessiert ...«, nuschelte er mit vollem Mund.

»Nun ja, du verfügst offenbar über detailliertes Wissen in vielen Bereichen, doch ich würde gern etwas überdicherfahren«, sagte Dietlinde.

Georg erhob sich abrupt von der Decke. »Also ich bin Georg Pirinja ...«

»Aha. Komischer Nachname.«

»... und ich muss mal pullern.«

»Jetzt? Du kannst doch nicht ...«

»Doch, ich kann. Das Geräusch des Wasserfalls von der Decke regt meine Blase an. Ich verschwinde mal eben um die Ecke. Rühr dich inzwischen nicht vom Fleck!«

»Wie sollte ich das denn tun?«, rief Dietlinde empört. »Du kannst mich nicht in der stockfinsteren Stockfinsternis einfach sitzen lassen! Das ist ja unerhört!«

»Das ist alternativlos«, sagte Georg. »Mach einfach deine Handy-Taschenlampe an.« Er stapfte eiligen Schrittes in die Dunkelheit.

»He!«, rief Dietlinde ihm nach. »Was für eineHandy-Taschenlampe?« Sie wollte hinterherlaufen, doch ihre Knochen waren steif geworden auf dem kalten Untergrund. Ächzend kam sie auf die Beine. Aber inzwischen umgab sie undurchdringliche Schwärze. Georg war mit seinem Helmlicht hinter einer Biegung verschwunden.

Was, wenn er niemals wiederkäme? Wenn er sie hier zurückließe?

Dietlinde versuchte, die aufkeimende Panik zu verdrängen. Sie dachte an den hübschen Engelsflügel aus Stein. Ganz sicher konnte ihr in seiner Nähe nichts Abscheuliches geschehen. Ganz sicher würde Georg gleich mit einer flapsigen Bemerkung zurückkommen. Ganz sicher ... war sie nicht.

Warum dauerte das so lange?

»Georg!«, schrie sie in die Dunkelheit. »Lass mich hier nicht allein!«

Keine Antwort.

Was meinte Georg nur mitHandy-Taschenlampe? Ach, wenn sie sich mit dem neumodischen Zeugs, was es heutzutage alles gab, bloß besser auskennen würde! Dietlinde ging in die Hocke und tastete nach den Gegenständen, die auf der Picknickdecke lagen. Vielleicht hatte Georg irgendwo eine Taschenlampe für sie hingelegt. Vielleicht hatte sie das nur nicht mitbekommen. Konnte doch sein ...

Aber sie wusste genau, dass es nicht so war.

Plötzlich berührten ihre Hände etwas Komisches – doch es war nur der Pappkarton mit Rotwein. Ohne Licht fühlte sich alles ganz anders an. Dietlinde genehmigte sich einen kräftigen Schluck aus dem Karton.

»Mein lieber Herr Gesangsverein!«, grummelte sie. »Was bin ich für eine naive Hornochsin!« Ihrem Gedärm entfleuchte ihr selbst etwas, was sie vorhin bei Georg als nicht sehr anregendes Gesprächsthema gescholten hatte. Manchmal spielte in Stresssituationen ihr nervöser Magen verrückt. Doch selbstverständlich achtete sie im Gegensatz zu Georg darauf, derlei Entladungen möglichst in sanftem Tempo und geräuschlos in die Umwelt zu entlassen. Vielleicht waren Frauen in dieser Hinsicht einfach talentierter und geschickter als Männer. Doch womöglich entpuppte sich Georg ohnehin als ein verrückter Schurke, der sie nun einfach hier vergammeln ließ.

Ach, was für ein Unsinn! Irgendwie war Georg doch so … inspirierend. Hoffentlich war ihm nichts Grässliches passiert! Möglicherweise gab es hier Killer-Fledermäuse. Höhlenbären. Saurier?

Dietlinde schüttelte sich, um die abwegigen Fantasien zu vertreiben.

Aber …

Hatte Amalia mit ihrer blutig-düsteren Prophezeiung doch recht gehabt? Manchmal neigte sie zu überbordender Dramatik, und Dietlinde hatte die seltsame Weissagung bisher erfolgreich verdrängt. Angst war ein schimmeliger Ratgeber und kein Grund, alle Pläne über Bord zu werfen. Doch nun mäanderten fiese Zweifel durch die Dunkelheit. Was, wenn Amalias Orakelspruch ein Senfkörnchen Wahrheit enthielt? Würde Dietlinde ihren Leichtsinn mit dem Leben bezahlen? Lauerte hier in der Finsternis der Unterwelt etwas abgrundtief Fürchterliches?

Worauf hatte sie sich nur eingelassen?

Kapitel 4

Nach der Schule hing Pia in einem kleinen Café ab. Allein, denn sie hatte nicht viele Freundinnen. Genau genommen nur eine, die soeben mit ihren Eltern nach La Réunion umgezogen war. Ungünstig für spontane persönliche Treffen. Und Pia konnte heute auch nicht die Omma besuchen, denn die hatte ja ihr erstes Date. Pias Nackenhaare stellten sich vor Schaudern auf, als sie daran dachte, in welch unwirtlicher Gegend sich der Treffpunkt den GPS-Daten zufolge befand. Hätte sie der Omma eindringlicher davon abraten sollen?

»Was trinkst du da?« Eine violetthaarige junge Frau im hellgrünen Minikleid setzte sich zu Pia an den Tisch.

»Ingwertee«, sagte Pia.

Die Violetthaarige lachte heiser. »Was die hier alles für ein Zeug haben.«

»Ist lecker«, sagte Pia. »Und gesund.«

»Du bist wohl so eine, die auch gern Schmuuusis mag.«

»Du meinst Smoothies? Klar, die sind doch gesund.«

»Gesund wäre es, wenn du dir jemanden zum Schmusen suchst«, sagte die Violetthaarige.

»Was geht dich das an?«, fragte Pia.

Die Violetthaarige zündete sich eine Zigarette an. »Mehr, als du denkst.«

»Rauchen is nich hier drinne!«, rief die Kellnerin vom Tresen.

Die Violetthaarige deutete mit dem Zeigefinger auf den eigenen, reizvoll verhüllten Oberkörper. »Hier drinneis alles erlaubt.«

»Is aber ungesund«, reklamierte die Kellnerin.

»Sagt wer?«, fragte die Violetthaarige.

»Experten«, gab die kluge Kellnerin zurück.

»Und was sagen die Expertinnen?«, mischte sich Pia ein. »Oder gar die Expert-außen?«

»Sind wir nicht alle höchstselbst unsere eigenen Expertisen?«, sinnierte die Violetthaarige.

Pia nickte. »Die man auf keinen Fall vor die Säue werfen sollte.«

Die Kellnerin rief nach ihrem Chef.

Pia legt ein paar Münzen auf den Tisch. »Ich geh dann mal.«

Kapitel 5

»Georg, kommst du wohl her! Sofort!! Bitte!!!«

Verzweifelte Heiserkeit zerknitterte Dietlindes Rufe. Die Finsternis war beklemmend, unheimlich, schäbbich. Selbst das Plätschern des Wassers von der Decke klang gespenstisch.

Wo blieb der Halunke nur? So lange konnte doch kein Mensch pinkeln! Hatte er sich vom Acker gemacht? Das wäre eine ungalante Art, das Date zu beenden.

Ich muss etwas unternehmen, dachte Dietlinde. Ich werde völlig bekloppt hier, verloren im Bauch der Erde.

Behutsam tappte sie in ihren Socken voran in die Richtung, von der sie meinte, dass Georg dort verschwunden war. Doch schon nach zwei zaghaften Schritten blieb sie wie angewurzelt stehen. Das war komplett irrsinnig! Wenn sie im Dunkeln weiterlief, würde sie sich Werweißwas brechen oder noch etwas ganz anderes. Oder sie würde mit dem Kopp vor irgendeine Felswand rennen. Pia pflegte manchmal zu sagen: »Omma, du willst immer mit dem Kopp durch die Wand.« Jetzt wollte Omma es besser nicht darauf ankommen lassen. Sie stand mit durchweichten Socken im lehmigen Matsch. Nein, das war kein ersprießliches Date! Ihre Lage war im wahrsten Sinne des Wortes zappenduster.

»Wenn ich wenigstens rauchen würde, dann hätte ich jetzt ein Feuerzeug dabei«, dachte sie sehnsüchtig. Ihr Hubert hatte viel geraucht. Was würde er sagen, wenn er sie jetzt von Wolke 7 aus sähe? Wahrscheinlich würde er sagen: »Jetzt hast du die Buxe der Pandora geöffnet und die Köttel sind am Dampfen.« Das war sein Lieblingsspruch gewesen. Dietlinde seufzte.

Da fiel ihr plötzlich siedend heiß etwas ein. Vielleicht hatte Georg recht. Vielleicht gab es irgendwo am Handy einen Knopf, mit dem man Licht machen konnte. Die erwähnte Handy-Taschenlampe. Und überhaupt – ein bisschen Licht verbreitete das Ding ja ohnehin. Irre, was diese Geräte alles konnten. Wie blöd, dass sie nicht darauf gekommen war!

Aber das Handy war in ihrer Handtasche.

Die auf der Picknickdecke lag.

Von der sie sich gerade zwei Schritte entfernt hatte.

Vorsichtig drehte sich Dietlinde um. War das jetzt wirklich die richtige Richtung? Sie machte einen kleinen Schritt, ging langsam in die Hocke, fühlte mit den Händen auf den Boden, um die Decke zu ertasten. Doch sie spürte nur feuchtes Gestein.

Wo war jetzt die verflixte Decke? So weit konnte sie doch nicht weg sein!

»Ich krieg hier noch die Pimpernellen!«, knurrte Dietlinde, und eine Mischung aus Wut und Angst ließ Tränen in ihre Augen treten. Auf allen vieren kroch sie über den Boden, schleifte mit einem Knie durch eine schlammige Pfütze. Damit war ihre schicke apricot-rot-gestreifte Sommerhose nun auch ruiniert.

Keine Spur von der Picknickdecke. Keine Spur von der Handtasche.

»Hat der Bauer kalte Schuhe, steht er in der Tiefkühltruhe«, schoss es Dietlinde durch den Kopf. Auch so ein Spruch, den ihr seliger Hubert gern gesagt hatte. Und der ihr jetzt überhaupt nicht weiterhalf. Schließlich hatte sie keine kalten Schuhe, sondern nasse Füße und ein nasses Knie. Aber Hubert hatte immer irgendwie eine Lösung gefunden. Auch wenn diese Lösung oft langweilig und bräsig gewesen war. An seiner Seite hatte sie sich sicher gefühlt. Aber sie wollte ja unbedingt mal etwas anderes als langweilige Sicherheit. Oder doch nicht? So einen wie Hubert würde sie jedenfalls nie wieder finden. Dietlinde schniefte verwirrt vor sich hin.

Was für eine Malaise! Bestimmt war Georg schon über zehn Minuten weg. Würde er sich jemals wieder blicken lassen? Würde sie selbst das Tageslicht jemals wieder erblicken? Amalias unheilvolle Prognose marodierte wieder durch ihren Kopf.

»Georg, du treulose Tomate!«, schrie sie erbost in die Schwärze. »Beweg sofort deinen Hintern hierher!«

Da hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie wandte den Kopf. Hätte sie sich nicht bereits auf den Knien befunden, dann wäre sie nun vor Erleichterung darauf gesunken. Ein kleines helles Licht lugte hinter einem Felsen hervor, kam rasch näher. Georgs Helmlampe.

»Mannometer!«, entfuhr es Dietlinde heilfroh. Sie wischte sich eilig die Tränen aus dem Gesicht.

Inzwischen war Georg mit flinken Schritten wieder an ihrem Lagerplatz angekommen. »Du siehst derangiert aus«, bemerkte er. »Und warum kriechst du hier auf dem Boden herum?«

Schnaubend kam Dietlinde auf die Beine. »Wo warst du so lange? Was hast du gemacht?«

»Ich war pullern. Hab ich doch gesagt. Ich muss doch wohl keine Einzelheiten beschreiben, oder?«

»Natürlich nicht. Aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Es ist fies, im Dunkeln allein zu sein.«

»Du brauchtest doch nicht im Dunkeln zu sitzen«, sagte Georg. »An jedem Handy gibt’s ne Taschenlampe.«

»Tja«, erwiderte Dietlinde.

»War dein Akku leer? Herrjeh, du bist ja voll am Zittern zugange!« Georg nahm sie in seine starken Arme und knuddelte sie kräftig.

Obwohl Dietlinde es eigentlich nicht wollte, verflog ihre Wut, und sie schmiegte sich an den warmen, herb duftenden Körper. Georg streichelte sie unbeholfen.

»Ach was«, sagte Dietlinde leise. »Bin gar nicht am Zittern.«

»Soso«, brummte Georg. Seine Stimme war tief und männlich und vibrierte durch ihren Körper. Das war so beruhigend, friedlich, märchenhaft ... famos. Die Liebes-Motetten meldeten sich wieder.

»Mir ist nur etwas kalt«, murmelte Dietlinde.

»Na, dann mach dir mal ein paar warme Gedanken«, sagte Georg lachend und ließ sie los. Er schenkte sich noch einen Becher Rotwein ein und leerte ihn in einem Zug.

»Ich mache mir in der Tat so meine Gedanken«, sagte Dietlinde.

»Ist doch bisher ein sehr gelungenes Date, oder?«, fragte Georg.

»Findest du?«

»Ja, finde ich.«

»Hm. Was findest du anmir, Georg?«

»Also ...«

»Also?«

»Dein süßes Knubbelnäschen ...«

»Das erwähntest du schon.«

Georg blickte hilfesuchend zu der filigranen schneeweißen Tropfsteinformation im schwarzen Fels. »Du siehst ein bisschen aus wie ein Engel«, sagte er unerwartet galant.

»Ach nee«, sagte Dietlinde, teils ungläubig, teils verlegen.

»So isses«, bekräftigte Georg.

Dietlinde blickte tief in seine freundlichen hellbraunen Augen, sog seinen wilden Duft mit einer Mischung aus urtümlichen Verlangen und flatterndem Misstrauen ein.

»Ich werde aus dir nicht schlau, Georg? Manchmal bist du ziemlich grob und dann wieder überraschend nett. Weshalb suchst du eine Frau?«

»Es ist wegen dem Loch«, sagte Georg.

»Was für einLoch? Marodiert unser Gespräch gerade wieder in plumpe Gefilde?«

»Eigentlich wollte ich das Loch jetzt noch gar nicht erwähnen. Schließlich bin ich ein sehr einfühlsamer Mann. Das wäre vielleicht eher was für unser drittes Date oder so.«

Dietlinde entledigte sich ihrer klatschnassen Socken und wrang sie aus. »Ist vielleicht besser so. Hömma, ich bin eventuell durchaus für diverse körperliche Freuden zu haben. Aber du solltest dich bei diesem Thema einfach etwas ritterlicher artikulieren und nicht ...«

»Ich meine ein Loch in der Decke des Stollens«, erklärte Georg.

»Oh.«

»Du könntest mir bei dieser Sache behilflich sein.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Also gut, ich zeige es dir jetzt schon. Zieh deine Schuhe an, wir müssen noch ein Stück laufen.«

»Eine grandiose Idee«, stöhnte Dietlinde. Sie friemelte ihre Füße in die restfeuchten Socken und in die durchweichten Halbschuhe. Dann gönnte sie sich einen weiteren anständigen Schluck direkt aus dem Pappkarton.

Georg nahm das Behältnis aus ihren Händen und schüttelte es. »Gar nicht mehr so viel drin. Du kannst was vertragen. Das gefällt mir.« Er folgte ihrem Beispiel und genehmigte sich ebenfalls noch vom Rotwein. Danach stopfte er die Decke, die Plastikbecher und den sehr erleichterten Karton zurück in seinen Rucksack.

»Das war ein wahrhaft formidables Picknick«, sagte Dietlinde.

Georg grinste zufrieden. »Ich bin ein perfekter Kavalier.« Seiner Brust entrang sich ein Geräusch, das dem Röhren eines Hirsches ähnelte.

»Mahlzeit«, sagte Dietlinde, doch sie dachte eher an Brunftzeit, und weil ihr so etwas in den Sinn kam, durchzuckte sie die Vermutung, dass sie möglicherweise bereits etwas angesäuselt war. Sie musste sich zusammenreißen. Schließlich war es alles andere als ungefährlich hier in den Tiefen der Erde. Vor allem war es entschieden zu düster. Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche und nachdem sie eine Weile daran herumgefummelt hatte, schaffte sie es mit Georgs Hilfe, die erwähnte Taschenlampen-Funktion zu aktivieren.

»Nächstes Mal bringst du dir ein vernünftiges Geleucht mit«, kommentierte Georg.

Ob es ein nächstes Mal geben würde, da war sich Dietlinde nicht so sicher. »Wenn ich gewusst hätte, dass wir in den Berg gehen, dann hätte ich sicher Helm und Lampe mitgebracht«, gab sie zurück. »Darauf kannze aber einen lassen.«

Letzteres nahm Georg wohl etwas zu wörtlich, denn seiner Hose entfleuchte erneut ein subtiler, aber eindeutiger Ton.

»Musikalisch hat unser Treffen noch Luft nach oben«, sagte Dietlinde.

»Hauptsache, es hat Luft«, erwiderte Georg.

»Gase«, präzisierte Dietlinde.

»Quergase«, sagte Georg. »Wissenschaftlich gesehen sind Quergase ...«

»Ich will‘s nicht wissen!«, rief Dietlinde dazwischen. »Du wolltest mir was zeigen. Die Sache mit dem Loch. Ich hoffe, es ist etwas Interessantes, Spannendes oder Schönes. Ich hoffe, es ist etwas, das sich einem romantischen Date würdig erweist.«

»So isses«, antwortete Georg. »Folge mir!«

Er stapfte voran, und sie verließen den hohen Raum.

»Tschüss, ihr Engelsflügel!«, sagte Dietlinde zu dem weißen Tropfsteingebilde.

Der Weingeist stromerte durch ihr Gehirn. Sie musste aufpassen, dass sie nicht erneut ausrutschte. Der Gang, dem sie nun folgten, war schmucklos und niedrig. Oft musste sie sich bücken, und ein ums andere Mal hätte sie sich fast den Kopf gestoßen. Sie hoffte inständig, dass sie ihr Ziel schnell erreichen würden, was immer es auch war.

»Mein lieber Herr Gesangsverein«, jammerte sie. »Ich will nicht nerven, aber ist es noch weit? Ich bin wahrhaftig nicht für eine unterirdische Wandertour ausgestattet.«

»Wir sind da«, beruhigte sie Georg und deutete auf eine Leiter, die vor ihnen an einer Felswand stand. Oberhalb der Leiter gähnte eine sehr schmale, ovale Öffnung in der Stollendecke.

»Äh, das ist das Loch?«, fragte Dietlinde.

»So isses«, sagte Georg.

»Viel kann man ja nicht erkennen«, stellte Dietlinde fest.

»Ich möchte mit dir da rein.« Georg sah sie vielsagend an.

Dietlinde schwieg entgeistert.

»Muss nicht heute sein«, setzte Georg hinzu. »Wie schon gesagt, ich hatte die Befahrung erst für unser nächstes oder übernächstes Date geplant.«

»Dasoll ich durch?«, rief Dietlinde. »Das ist doch viel zu klein und viel zu eng!«

»Du bist doch rank und schlank«, erwiderte Georg. »Deshalb bist du mir sofort beiSENIORomanzenaufgefallen.«

»Sehr schmeichelhaft. Du suchst dir Frauen aus, die durch ein kleines Dreckloch passen könnten. Glaubst du, dass du selbst nicht steckenbleibst?«

»Ach, du weißt nicht, durch wie viele Engstellen ich in meinem Leben schon gekrochen bin.«

»Du meinst das wirklich ernst, oder?«

»So isses.«

»Aber was befindet sich hinter diesem Loch?«

»Das weiß ich nicht. Wie ich dir erzählt habe, wurde dieser Stollen künstlich angelegt, um ein unterirdisches Kraftwerk zu bauen. Dabei hat man verschiedene natürliche Höhlen angeschnitten, die noch längst nicht alle erforscht sind. Bei dieser Öffnung handelt es sich um eine davon. Bisher habe ich nur einige Meter erkundet. Man sollte sich nicht allein auf neues Terrain wagen.«

»Warum gehst du nicht einfach mit deinen Kumpels vom Stollenverein rein?«, fragte Dietlinde.

»Nun ja, der Verein leidet wie viele Vereine unter Mitgliederschwund«, erwiderte Georg nachdenklich. »Und die wenigen verbliebenen Mitglieder haben gerade mal Zeit, um den Stollen zu sichern. Neue Forschungsarbeiten sind derzeit nicht drin. Viele Menschen leiden heutzutage unter Terminkalender-Verstopfung.«

Dietlinde nickte. »Da sagst du was. Meine Tochter ist auch so eine.«

»Hat sie Verstopfung?«

»Sie hat einen überquellenden Terminkalender. Kaum Zeit für ihr eigenes Kind.«

»Oh, du hast Enkel?«

Stolz blitzte in Dietlindes Augen auf. »Ein Mädchen. 15 Jahre alt. Pia.«

»Enkel sind was Besonderes«, sagte Georg. »Ich hab auch einen. Der ist schon 17. Ein wilder Racker. Hat ein schickes Mopped.«

»Das ist schön«, sagte Dietlinde.

»So isses«, sagte Georg, ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. Dietlinde spürte, wie die Motetten erneut durch ihren Körper flatterten. Diesmal war es noch intensiver. Eine erste tiefe Verbundenheit erblühte ...

So lange, bis Georg eine langgezogene Flatulenz gebar.

Dietlinde ließ die Hand los.

»Oh, das war wohl unpassend«, bemerkte Georg.

»So isses«, sagte Dietlinde.

»Weißt du, die sitzen manchmal quer.«

»Wer?«

»Die Quergase natürlich. Und dann müssen die raus, weil sie sonst das Chi durcheinanderbringen. Hat mir mein Enkel erklärt. Der mit dem Mopped.«

»Aha. Woher weiß er über das Chi Bescheid?«, fragte Dietlinde. »Will er Chi-rurg werden?« Sie musste leise kichern. Der Alkohol entfachte kreative Buchstaben-Kaskaden.

»Er will mal Windkraft-Techniker werden«, sagte Georg.

»Verstehe. Windkraft. Quergase. Ihr seid windschnittige Typen, du und dein Enkel.«

Georg lachte. »Knackig, vollfruchtig und auch sonst gut in Schuss. Genau wie ich geschrieben habe.«

»Untervollfruchtighatte ich mir etwas anderes vorgestellt«, sagte Dietlinde.

»Und was?«, fragte Georg.

»Erbauliche Kussfertigkeiten zum Beispiel.«

»Oho.«

»Vorhin hätte ich dich fast geküsst«, gestand Dietlinde. »Weil ich ein bisschen angeschickert bin. Weil ich es schön finde, das mit unseren Enkeln. Und weil es doch ein kleines bisschen romantisch ist mit dir hier im Dunkeln.«

»Na, wir können uns jetzt gern noch küssen«, sagte Georg, und sein Gesicht näherte sich dem ihren.

»Nee, Georg, das funktioniert jetzt irgendwie nicht mehr«, entschied Dietlinde. »Deine Quergase, sie verströmen einen Duft, der den Zauber des Moments zerbröselt.«

»Schade. Aber dennoch – du hast das wenigstens schön gesagt. War sogar irgendwie poetisch. Aus uns wird noch was.«

»Immerhin bist du optimistisch«, sagte Dietlinde und musste wieder kichern.

»Und was ist jetzt mit dem Loch?«, fragte Georg. »Kommst du mit?«

»Ich weiß nicht ...«

»Wir werden Räume entdecken, die vor uns noch niemand betreten hat.«

»Das ist sicher gefährlich. Und ich weiß nicht, ob ich das kann, ob ich überhaupt dort durchpasse.«

»Du siehst topfit aus, Dietlinde. Und ich passe auf dich auf.«

Dietlinde zögerte. »Ehrlich gesagt, bin ich etwas durcheinander.«

»Überleg es dir in Ruhe«, sagte Georg. »Selbstverständlich werde ich dir anständige Ausrüstung besorgen. Overall, Helm, Lampen. Es wird großartig werden, glaub mir. Wenn wir viel Neuland finden, können wir gemeinsam sogar die Vermessungsarbeiten machen.«

»Ich denke darüber nach«, sagte Dietlinde. »Aber jetzt bring mich bitte zum Ausgang. Mir ist kalt, und mir ist es auf Dauer fies mit meinen nassen Füßen.«

»Nun gut«, seufzte Georg.

Zwanzig Minuten später stand sie wieder draußen vor der Stahltür. Der Nieselregen hatte aufgehört.

»Tja«, sagte Georg.

»Tja«, sagte Dietlinde.

»Da sind wir wieder«, sagte Georg. »Und?«

»Und was?«

»Hast du inzwischen zu Ende nachgedacht? Wegen dem Loch?«

»Puh. Ich bin noch am Überlegen zugange. Können wir uns nicht einfach vorher normal zum Kaffee treffen? Zum besseren Kennenlernen?«

»Ach, das passt schon mit uns«, sagte Georg. »Aber wenn du willst, können wir natürlich vorher noch ein langweiliges Kaffeetrinken einschieben.«

Dietlinde beobachtete fasziniert, wie er eine Strähne seines dichten, grauschwarzen Haars aus dem Gesicht strich. Mit seiner unzähmbaren Männlichkeit würde kein Kaffeetrinken jemals langweilig sein. Sie lachte verlegen.

»Das Loch läuft uns nicht weg«, sagte sie.

»Wenn du meinst«, sagte Georg. »Ich melde mich bei dir.«

Er drückte sie kraftvoll zum Abschied an sich, und in diesem Moment hätte Dietlinde beinahe gerufen: »Ja! Ja, ich komme überall hin mit dir, in jedes Dreckloch, völlig egal!« Aber sie hielt sich zurück, und dann war dieser flatterhafte Motetten-Augenblick vorbei.

Sehnsüchtig schaute sie Georg nach, als er in seinem gelben Porsche davonbrauste. Ihr war schwindlig vom Rotwein. Sie entschloss sich, mit Schwebebahn und Linienbus den Heimweg anzutreten und den Opel am nächsten Tag wieder abzuholen.

Kapitel 6

»Dr. Wetterling kommt heute etwas später«, verkündete die Klassensprecherin Alessia-Samira Kaugummi kauend, nachdem sie vom Lehrerzimmer zurückgekehrt war, um sich zu erkundigen, wo denn der allseits unbeliebte Geschichtslehrer abgeblieben war. »Er hat Pfefferminztee auf sein cremefarbenes Beinkleid gegossen und will den unschönen Anblick zunächst restaurieren, bevor er sich bei uns die Ehre gibt.«

Gelächter und eine Woge der Erleichterung brandete durch den Klassenraum der 10b des Otto-Julius-Bierbaum-Gymnasiums. Vielleicht wurde es ja nichts mit dem Test, den Dr. Wetterling für heute angedroht hatte.

Nur Pia saß mit unglücklichem Gesicht an ihrem Platz und malte nervös wilde Kringel. Nicht, dass sie sich sonderlich für Geschichte oder Herrn Dr. Wetterling interessiert hätte. Doch sie befürchtete, dass die Wartezeit bis zum Eintreffen des gereinigten Lehrkörpers zu einer gewissen Langeweile und somit zu Mobbing-Gelüsten der DNG führen würde.

Die DNG war die berüchtigteDoppelnamen-Gang, vier junge Damen, die als Sinn des Schulbesuches weniger den Erwerb von Wissen als die Schikane schwächerer Mitschüler*innen betrachteten. Und unglücklicherweise war Pia mit ihren fünfzehn Jahren die Jüngste in der Klasse und Mobbing-Opfer Nummer eins. Besorgt schaute sie in die Richtung, wo sich die vier Mitglieder der DNG auf dem Tisch von Alessia-Samira niedergelassen hatten und herzhaft lästerten.

Alessia-Samira war die Anführerin der Bande und zugleich mit achtzehn Jahren die Älteste in der Klasse. Sie hatte langes tiefschwarzes Haar und eine atemberaubende Figur, die sie immer wieder modisch bestens in Szene zu setzen verstand. Heute trug sie ein enges, in mehreren Blautönen schillerndes Patchwork-Neckholder-Minikleid mit separaten Ärmeln. Um ihre Mundwinkel bildete sich oft eine kleine, spöttische Falte, was nicht sehr verwunderlich war bei den hämischen Bemerkungen, die sie gern und zahlreich verteilte.

Die anderen Grazien des Lästerclubs waren Leonie-Victoria, Chiara-Fabienne und Xenia-Aurora. Sie bemühten sich emsig, den Gemeinheiten ihrer Anführerin nachzueifern.

»Am besten beachte ich sie gar nicht«, dachte Pia und goss sich aus ihrer Thermoskanne den heißgeliebten Ingwertee in eine mit Herzchen verzierte Tasse. Doch bevor sie auch nur einen Schluck davon genießen konnte, baute sich Alessia-Samira vor ihrem Tisch auf. Die drei DNG-Untertaninnen umringten ihre Chefin grinsend in Erwartung eines unterhaltsamen Spektakels.

»Was haben wir denn da?«, höhnte Alessia-Samira. »Vernünftige Menschen erfrischen sich mit einem Bier bei diesem fantastischen Sommerwetter. Aber Freaks wie Dr. Wetterling und unsere abgemagerte Sommersprossenkuh trinken Gesundheitstee. Igitt!«