Doppelleben - Carola Stern - E-Book

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Carola Stern

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Beschreibung

Ein wichtiges und mutiges Buch »Wer bin ich?« - diese Frage steht am Anfang und Ende dieser ungewöhnlichen Autobiografie. Carola Stern erzählt die Geschichte ihres Lebens, von Verstrickungen und Konflikten, Angst und Glück, Gelungenem und Misslungenem – aufrichtig, lebendig, ohne zu beschönigen und ohne abzurechnen. Aufgewachsen in der »Welt der Ja-Sager« auf der Insel Usedom, heuert die einstige Jungmädelführerin Erika Assmus nach Kriegsende in einem Raketeninstitut der Russen im Harz als Bibliothekarin an. Doch wenige Monate später erhalten die deutschen Spezialisten, die schon an der »Wunderwaffe des Führers« mitgearbeitet hatten, den Marschbefehl in die UdSSR. »Eka« bleibt in der damaligen SBZ, träumt vom kleinen beschaulichen Glück und lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Doch dann taucht ein »Mr. Becker« vom amerikanischen Geheimdienst auf, und ihr Leben nimmt fortan einen ganz anderen Verlauf. Die Amerikaner versprechen, Ekas kranke Mutter medizinisch zu versorgen, Eka soll dafür in die SED eintreten. 1950 wird sie als hoffnungsvoller kommunistischer Nachwuchs auf die Parteihochschule geschickt. In einem Klima der Warnungen vor »Verschwörung« und »Verrat« lernt sie die kommunistischen Phrasen und Parolen, aber nicht den Glauben an die Partei, doch eines Tages wird sie denunziert. Sie flüchtet nach Westberlin, wo sie sich als Studentin bald einen Ruf als DDR-Expertin erwirbt. Unter dem Pseudonym Carola Stern beginnt sie zu schreiben und entgeht zwei Entführungsversuchen der Stasi. Sie wird Assistentin am Institut für Politische Wissenschaft, aber mit dem Leben in der freien Welt kommt sie nicht zurecht. Von einer tiefen Lebenskrise heimgesucht, erkennt sie, dass man lernen muss, mit der Angst zu leben. 1960 beginnt das dritte Leben der Carola Stern, ihre »besten Jahre«. Sie arbeitet für den Verlag Kiepenheuer & Witsch und wird dann Journalistin beim WDR. Mit den Heinemanns und Gollwitzers schließt sie Freundschaft, mit Gerd Ruge gründet sie amnesty international und mit Böll und Grass die Zeitschrift L 76. Als engagierte Publizistin trägt sie entscheidend zur Demokratiefähigkeit der Bundesrepublik bei.

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Seitenzahl: 424

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Carola Stern

Doppelleben

Eine Autobiographie

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Carola Stern

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoWer bin ich?Die InselweltMein Vater, der KreisausschußsekretärMeine Mutter, die FremdenheimbesitzerinEka, die JungmädelführerinÜberlebensstrategienTrittbrettfahrerRaketen für die PostDas Schloß und der »Club junger Idealisten«Die AnwerbungKakaolikör und KlassenfeindGenosse SchuloffizierIn der KaderschmiedeFritz, Gott und die ParteiDie FluchtFrontstadt und FreiheitVerloren in einer fremden WeltDer EskimoDie Geburt der Carola SternDie Suche nach dem Dritten WegEnglish LessonsCodewort »Blitz«Weg, weit wegMit der Angst lebenHeimat am RheinHalve HahnEin Herzensbruder der AutorenHilfe für VerfolgteGeschenktes LebenMeine besten JahreDer Journalist trägt ZivilMeine unerhörten KommentareAlice oder Das Unglück mit den MännernPershings oder Die Angst vor dem FreundSonstwohin oder Salvatores SeufzerPoesie und PolitikAbschied vom WDRUnruhiger RuhestandRahel, Fritzi und ichFreunde und WahlverwandteDie Wende und das WiedersehenDie Landschaft des AltersBerlin-SchlachtenseeDas Dorf am AchterwasserWer ich binBevor ich sterbePersonenregister
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In memoriam

 

Heinz Zöger

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»Ich halte es für die größte Pflicht eines Menschen, der überhaupt schreibt, daß er Materialien zu seiner Biographie liefere. Hat er keine geistigen Entdeckungen gemacht und keine fremde Länder erobert, so hat er doch gewiß auf mannigfache Weise geirrt und seine Irrtümer sind der Menschheit ebenso wichtig, wie des größten Mannes Wahrheiten.«

Friedrich Hebbel, Tagebücher, 5. Januar 1836

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Wer bin ich?

Wer bin ich? Eine, die fast so viele Namen wie Berufe hatte! Als Landarbeiterin auf dem Eichsfeld und Lehrerin im Märkischen lernten mich die Leute kennen, als Bibliothekarin eines Raketenforschungsinstituts im Südharz und Funktionärin in Potsdam und Kleinmachnow, als Studentin, Assistentin und Journalistin anschließend in West-Berlin. In Köln gehörte ich zu den Verlagslektoren, den Gründern einer Zeitschrift und verbrachte meine glücklichsten Berufsjahre im WDR. Geschrieben habe ich immer, aber erst als Rentnerin beschloß ich, Schriftstellerin zu werden.

In Ahlbeck, auf der schönen Insel Usedom, gab mir meine Mutter einen Blumennamen, weil mein Vater alles Grüne liebte. So kam ich als Erika Assmus auf die Welt. »Eka« rief mich Mutter. In der Schule hatten wir ein diebisches Vergnügen daran, uns mit Hilfe unserer Namen in andere Wesen zu verwandeln, und so erklärt sich, daß mich meine Freundinnen oft Akire Sumssa nannten und ich Feriengrüße einfach als Akire unterschrieb. Doch da wir fürchteten, Gewitzte könnten der Umkehrregel auf die Schliche kommen, und mich in irgendeinem Film der Geheimcode einer Dame tief beeindruckte, der nur aus einem Buchstaben bestand, meldete ich mich an Freundinnen-Haustüren künftig einfach nur mit »Hier ist E.«. Und so hält es auch die Fünfundsiebzigjährige, wenn sie die Schulfreundin in Heringsdorf anruft. Zugegeben, hübsch klingt das nicht. Doch nach sieben Jahrzehnten wechselt man nicht mehr Erkennungszeichen.

Im Berlin der fünfziger Jahre verschwand das Fräulein Assmus langsam von der Bildfläche. Als man mich bat, mir ein Pseudonym zuzulegen, entschied ich mich, damals auf die Dreißig zugehend, für Carola Stern. Eine Zeitlang existierten die beiden Damen friedlich nebeneinander. Doch mit der Zeit zog sich die eine zurück in einen kleinen Kreis von Verwandten und sehr alten Freunden. Erika Assmus kannte kaum noch einer. Carola Stern hingegen trieb es in das öffentliche Leben, in den Hörfunk, vor die Fernsehkamera.

Seitdem traf ich immer wieder Leute, die diesen Namen oder mich »irgendwie« zu kennen glaubten. Im Gasteiner Tal rief ein Tischnachbar erfreut: »Ach, die Frau Carola aus dem Stern!« Beschwichtigend streckte seine Frau die Hand herüber: »Nichts für ungut, Frau Carola! Mein Ludwig sieht nur selten fern! Doch ich hab’ Sie schon oft in diesem ulkigen Ratespiel beim ZDF gesehen!« Hartnäckig meinem Einspruch trotzend, hielt die Dame bis zum letzten Urlaubstag an dieser Überzeugung fest.

Fragte mich einer im Speisewagen zwischen Köln und Münster, wie es auf den Fidschi-Inseln sei, wußte ich gleich, der verwechselte mich mal wieder mit der Volksschauspielerin Trude Herr, die oft in die Südsee reiste. Kam mir einer lyrisch, deklamierte: »Zeit / rann weg / bachhell / flußdunkel«, und sprach bedeutungsvoll von Phäonien, Geckos und Kykladen, wußte ich: Jetzt bin ich wieder mal die Margarete Hannsmann, die Gedichte schreibt, in Stuttgart lebt und ungefähr die gleichen Pfunde wie wir beiden anderen auf die Waage bringt.

Man wird sich vorstellen können, wie gut mir jener Taxifahrer tat, der mich, fernsehend, richtig bei den ernsten Dingen einzuordnen wußte, von meinen Auftritten mit Achtung und Bewunderung sprach und zum Abschied fröhlich rief: »Auf Wiedersehen, Frau Krause-Brewer!«

So lebte ich vor mich hin und mußte wählen, ob ich, dabei häufig der Verwechslung unterliegend, Menschen »irgendwie« bekannt vorkommen oder lieber eine unbekannte Bürgerin sein wollte. Doch muß ich eingestehen, daß auch das mit Nachteilen verbunden war.

Zum Beispiel bei den Fernsehaufnahmen auf der kleinen Kölner Fähre. Für einen Film zu meinem 65. Geburtstag hatte sich die Redakteurin ausgedacht, mich in der Abenddämmerung den Uferweg am Rhein entlangradeln und dann links in die Fähreinfahrt einbiegen zu lassen. Vor mir auf dem Schiff das Fernsehteam. »Klappe! Kamera läuft!« Kaum war ich losgefahren, stürzten zwei ältere Herren auf mich zu und zerrten mich vom Rad: »Oma, verschwinde, oder stell’ dein Rad ab und guck zu! Hier wird ein Film über eine berühmte Frau gedreht, und da radelst du direkt ins Bild!« Nach weiteren Versuchen wechselnder Zuschauergruppen, eine zu erwartende Berühmtheit vor einer dazwischenradelnden Oma zu beschützen, gab der Produzent das Unternehmen auf: »Die Fährenszene wird gestrichen«, so geschah’s.

Eines Tages tauchte, nun nicht mehr die Jüngste, das Fräulein Assmus wieder auf. In seinem Aushang ließ das Standesamt Köln-Sülz die Leute wissen, ein Heinz Zöger wolle eine Erika Assmus freien. Das war insofern ungenau, als der künftige Ehemann, in Carola Stern verliebt, die Assmus gar nicht kannte. Die Bürokraten wollten das nicht gelten lassen und diktierten, daß ich künftig Erika Zöger sein sollte. Aber wer will denn mit Vierzig nochmals seinen Namen wechseln? »Carlchen, mach’ dir nichts daraus«, tröstete der Ehemann, und so kam seine Frau dazu, im zärtlichen Geplänkel auch noch wie ein Jüngelchen genannt zu werden.

Erika, auch Eka, Eri, E., Akire, Carlchen; Assmus, Stern und Zöger – wie möchte ich am Ende heißen? So, wie mich mein Mann rief: »Carola Stern, die Post ist da!«

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Die Inselwelt

»Der Mensch rechnet immer das, was ihm fehlt, dem Schicksal doppelt so hoch an, als das, was er wirklich besitzt.«

Gottfried Keller, Der grüne Heinrich

Mein Vater, der Kreisausschußsekretär

»Assmus«, ruft der Lehrer, und das Kind springt auf. »Vater?« – »Tot«, erwidere ich. Jedes Jahr, am ersten Schultag, schrieb der Lehrer die Personalien der Schüler in das Klassenbuch. Und jedes Jahr antwortete das Kind auf die Frage nach dem Vater mit einem lauten »tot«. Damals, in den Friedenszeiten zwischen beiden Kriegen, war es etwas Besonderes, ein vaterloses Kind zu sein, ein kleines Mädchen, dessen Vater starb, noch ehe es geboren worden war.

Ich hatte was zu sagen, was andere nicht zu sagen hatten. Ich unterschied mich, fühlte mich herausgehoben. Erwachsene strichen zärtlich über meine roten Haare. Erfuhr ich nicht mehr Sorge und mehr Liebe als andere Kinder? Und war das nicht alles diesem fremden toten Mann zu verdanken, der seinerseits etwas Besonderes, ein Bevorzugter sein mußte?

»Wen Gott liebt, den nimmt er früh zu sich« – im Kindergottesdienst erläuterte der Pastor die Abwandlung des Plutarch-Wortes. Das ging mich an; das war gemünzt auf Vater. Wer hat schon einen Götterliebling als Erzeuger? Unerklärlich blieb, warum Mutter der Gottesliebe nicht teilhaftig wurde. »Dich muß er weniger lieben.«

Es war etwas Besonderes, vaterlos zu sein. War es auch schmerzlich? Trauerte das Kind um seinen Vater? Schwerfällig versuche ich, die im Alter taub gewordenen Gefühle zu beleben. Doch nein, die Trauer, die mit mir geboren wurde, habe ich in meiner Kindheit nicht gespürt. Sie wuchs langsamer als Zähne, Haare, Verstand. Ohne selbst Trauer zu empfinden – um einen Menschen, den ich gar nicht kannte –, war ich doch umgeben von Trauer. Meine Mutter trug noch schwarze Kleider, als ich schon zur Schule ging. Sie war Ende Zwanzig, als mein Vater starb, und nur fünf Jahre seine Frau gewesen. Immer, wenn sie von ihm sprach, weinte sie. Ich war betroffen über ihre Tränen und wußte doch zugleich den Schmerz zu nutzen. Unter den Phantastereien des Kindes – Lügereien nannte sie die Mutter – fand das kleine Mädchen eine, die Mutter nicht bestrafen konnte: »Wo warst du nur so lange, Kind? Wo kommst du so spät her?« – »Ich war im Himmel.« – »So? Und was hast du da gemacht?« – »Papa besucht. Es geht ihm gut. Er läßt dich grüßen.«

Ein Schlafzimmer ohne Vater. Im Ehebett des Mannes liegt die Tochter, kriecht unter Mutters Decke, schmiegt sich an. Da liegen sie nun beide unter seinem Bild, flüstern miteinander, wärmen sich gegenseitig, schlafen ein im Arm der anderen. In den Schubladen der Waschkommode sind Haarnadeln, lange schwarze, mit denen man im Sommer Obst entkernt, liegen Strumpfbänder neben Ösen, Haarschleifen in Rot und Rosa, Samtreste, glatte und gewellte Lockenscheren, die man in der Gasflamme fürs Ondulieren wärmt. Hinter Glas in der Vitrine als Andenken der Rasierpinsel des Toten. In den Schränken keine Unterhosen, keine Herrensocken, Hosenträger, Schnurrbarthalter. Wie stärkt man Manschetten? Wie wird ein Schlips gebunden? Wie mag ein nackter Mann aussehen?

Seit meiner frühesten Kindheit kenne ich den Krankheitsverlauf, die Wortwechsel mit dem Arzt, weiß von den letzten Stunden meines Vaters. Die Stationen der Hochzeitsreise meiner Eltern kann ich im Schlaf benennen: Potsdam, das Neue Palais, Sanssouci, der Park, die Pfaueninsel, Nikolskoe. Oder soll ich erzählen, wie mein Vater seine spätere Frau in ein Konzert einlud? »Tief wie das Meer soll deine Liebe sein«, sang der Sänger. »Wie finden Sie das, Fräulein Schwandt?« – »Wunderschön, Herr Assmus.« Otto Assmus griff zärtlich nach der Hand von Ella Schwandt.

Vaterlose Kinder kennen ihre Väter durch die manischen, nicht enden wollenden Erzählungen der Mütter, und sie gedenken ihrer Väter als Verklärte, als Idole. Im Unterschied zu anderen Männern, die ich kannte, war mein Vater niemals scharf oder verletzend, er war einfühlsam, liebenswürdig und besaß viel Zartgefühl. Sein gerader Charakter kannte keine schiefen Wege, und bis zu seinem Tod blieb er sich selber treu.

Wär’s denn möglich, daß auch Otto Assmus mal seine Güte und sein Zartgefühl vergaß, aus der Haut fuhr, fluchte? Seine Tochter hörte nichts dergleichen. Auch die Onkel und die Tanten, und die Tanten ganz besonders, rühmten allesamt den Toten. Ja, selbst Fremde erinnerten sich seiner freundlich und mit Sympathie. Was für ein Glücksgefühl, die Tochter eines solchen Mannes zu sein. Was für eine Freude, selbst noch heute, im Alter. Es war zwar schwierig, doch es hat mir auch gutgetan, mit einem solchen Vaterbild zu leben.

Warum heiratet die junge Witwe nicht ein zweites Mal? Ein halbes Jahr nach Vaters Tod schrieb sie in ihr Tagebuch: »Reinste Liebe führte uns zusammen, und es ist gewiß, daß es so ein wunderbares, heiliges Gefühl ein zweites Mal in meinem Leben nicht geben kann.« Woher weiß sie das? Vorsichtige Fragen der heranwachsenden Tochter werden ebenso beantwortet: Dieses Glück ein zweites Mal noch zu erleben – unvorstellbar. Mit einem anderen Mann im Ehebett – undenkbar. Auch solle der Tochter die mütterliche Liebe ungeteilt erhalten bleiben. Und schließlich: Könnte man denn wissen, ob ein Mann es nicht vor allem auf das ererbte Fremdenheim abgesehen hätte?

Als ich sechzehn, siebzehn war, kam mir erstmals der Gedanke: Wäre doch der Vater noch am Leben – da für mich, da auch für die Mutter! Ich las in seinen Büchern, die im eichenen Bücherschrank und in Kisten auf dem Boden lagen. Klassiker-Ausgaben, Cäsar Fleischlein, Ellen Key, Bismarcks Erinnerungen, Schopenhauer. Ich sortierte Ansichtskarten, die der Junggeselle in Italien und der Schweiz gesammelt hatte, trug die kleinen Zettel bei mir, auf die der Vater Verse von Goethe, Inschriften, Zeilen Michelangelos geschrieben hatte. Wie hatte der Vater eigentlich gelebt, bevor er Mutters Mann geworden war? Das Abitur in Abendkursen nachgeholt, das Leben Friedrichs des Großen ausgiebig studiert, während der Soldatenzeit Fernkurse in Mathematik gegeben und dann, nach der Militärzeit, als »Zwölfender« Kreisausschußsekretär auf dem Landratsamt in Swinemünde – was für ein Glück müßte es sein, mit ihm zu reden, auch allein, ohne Mutter. Hatte er sie nicht oft auf gemeinsamen Spaziergängen belehrt? Ich versuchte, seine Stelle einzunehmen, erzählte Mutter von Friederike Brion und von Lilli Schönemann und was Wissenschaftler von Goethes Liebesleben hielten. Manchmal, wenn ich in ein Buch vertieft war, sagte Mutter: »Kind, wie du den Mund herunterziehst! Wie dein Vater!« Auch die Verwandten sprachen von der Ähnlichkeit. Ich hatte seine Statur, seine Haare, die tiefen Falten zwischen Mund und Nase – ich entschied, Vaters Tochter, ganz wie er zu sein.

Die Elternrollen waren vertauscht: Gehorsam, Respekt verlangte hier allein die Mutter. Autorität und Willensstärke erschienen in weiblicher Gestalt. An den toten Vater banden sich Verständnis, Zärtlichkeit, Melancholie. Mit Mutters Schöpfung, die Idealgestalt des Vaters fest umschlungen, ging die Tochter nun gegen ihre Mutter an.

Von allen Schriftstellern, die versucht haben zu beschreiben, was ein vaterloser Mensch ersehnt und fühlt, kommt meinem eigenen Empfinden Kellers Der grüne Heinrich stets am nächsten. »Ich kann mich nicht enthalten, so sehr ich die Torheit einsehe, oft Luftschlösser zu bauen und zu berechnen, wie es mit mir gekommen wäre, wenn mein Vater gelebt hätte, und wie mir die Welt in ihrer Kraftfülle von frühester Jugend an zugänglich gewesen wäre«, läßt Gottfried Keller seinen Helden sagen. »Nach vielen Jahren hat meine Mutter wiederholt geträumt, der Vater sei plötzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne, Glück und Freude bringend, zurückgekehrt, und sie erzählte es jedesmal am Morgen, um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken, während ich, von einem heiligen Schauer durchweht, mir vorzustellen suchte, mit welchen Blicken mich der teure Mann ansehen und wie es unmittelbar werden würde, wenn er wirklich eines Tages so erschiene. Je dunkler die Ahnung ist, welche ich von seiner äußeren Erscheinung in mir trage, desto heller und klarer hat sich ein Bild seines inneren Wesens vor mir aufgebaut, und dies edle Bild ist für mich ein Teil des großen Unendlichen geworden, auf welches mich meine letzten Gedanken zurückführen und unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube.«

Wann zerrissen Wunsch und Illusion, auf der lebenslangen Suche nach der väterlichen Idealgestalt zu sein? – Als kindliches Anlehnungsbedürfnis zum ersten Mal als heiteres Ehezeremoniell erschien? Im Protest gegen den Ehemann, der in gutgemeinter Absicht aus seiner Frau etwas machen wollte, was der nicht gefiel? In der nachdenklichen Selbstbeobachtung einer weiblichen Selbständigkeit, deren herrische Züge matriarchalische Gelüste freilegten? – Mit dem Alter verblassen Götzentraum und Vatersehnsucht. Dem ins Leben mitgenommenen Kinderwunsch, in dieser fremden, kühlen Welt umsorgt, geliebt zu werden, gesellte sich der Mut zu, selbst zu lieben. Der Mut? Ja, Mut, denn die früheste, vitalste Erfahrung eines vaterlosen Kindes bleibt, daß die Liebe und der Tod eng zusammengehören, schmerzlich fest gebunden sind. Aus dieser Urerfahrung wächst die Angst, den Nächsten wieder zu verlieren. Im Schlaf und mitten in der Arbeit, selbst beim ausgelassenen Trubel packt uns diese Angst, er könnte tot sein, der, den wir so lieben wie den Vater.

Meine Mutter, die Fremdenheimbesitzerin

Obwohl sie nie eine Stellung annahm oder in eine Lehre ging und in die entsprechende Rubrik des Meldebogens »Hausfrau« schrieb, lebt sie in meiner Erinnerung als Berufstätige, als Fremdenheimbesitzerin. Zusammen mit ihrer Schwester hatte sie von meinen Großeltern in Ahlbeck auf der Insel Usedom ein großes Gästehaus am Strand geerbt und verwaltete es zwei Jahrzehnte lang.

Von klein auf hat sie mich zur Selbständigkeit erzogen und mich gelehrt, mit Menschen umzugehen; mit den Leuten aus dem Dorf und mit den Städtern, die als Gäste kamen. Auf Enttäuschungen war sie gefaßt, weil sie sich, privat und im Beruf, keine Illusionen machte. Doch mochte sie die Menschen und kam gut mit ihnen aus. Frauen und auch Männer schätzten ihren Rat; sie spürten die Anteilnahme und Hilfsbereitschaft meiner Mutter. Wie jede gute Wirtin bildete sie einen lebendigen Mittelpunkt.

An meinem Schreibtisch sitzend, sehe ich sie vor mir, wie sie Briefe an die Badegäste schreibt, ihre Bücher führt und mit den Steuerunterlagen sowie den Stundungswünschen auch der Nachbarin beschäftigt ist, und wünsche mir, den Menschen so wie diese Fremdenheimbesitzerin in Erinnerung zu bleiben: freundlich und vernünftig, tüchtig und verläßlich, Anteil nehmend, Rat erteilend, gütig und geschätzt.

Als ich, ihr einziges Kind, geboren wurde, war meine Mutter neunundzwanzig Jahre alt und seit zwölf Wochen Witwe. Fortan war ich ihr ein und alles, die Tochter des geliebten Mannes, die lebendige Erinnerung an ein kurzes Glück, ein Menschenkind zum Lieben und Verwöhnen. Sie war die liebevollste Mutter, die sich denken läßt. An ihrer Seite in dem früheren Ehebett wich die Angst vor dem Gewitter und der Sturmflut, vor Menschen und Gespenstern. Sie machte noch meine vielen Krankentage schön und setzte durch, mich auch im Krankenhaus zu pflegen. Später hörte sie mir zu, wenn ich Minna von Barnhelm deklamierte und ihr aus Hölderlins Hyperion vorlas. Dafür schrieb ich ihr zum Muttertag, daß sie meine beste Freundin sei. Bevor sie Weihnachten 1948 an einem Krebsleiden starb, trieb sie einen Hut und einen Mantel für die Tochter zur Beerdigung auf. Das war schwer in dieser Zeit.

Es ist so, wie die Psychologen sagen: Geborgenheit und Liebe in der Kindheit zu erfahren ist ein unschätzbares Gut im Leben. Mein Weltvertrauen und meine Kraft habe ich meiner Mutter zu verdanken.

Aber woher kommt der Zwiespalt der Gefühle, der Hader in der Erinnerung an sie? Liegt es daran, daß sich Mutters Liebe kaum offen in Zärtlichkeit ausdrückte? Umarmen, drücken, küssen, schmusen, zärtliches Gerede – so etwas tat man nicht. Es war nicht üblich in der Gegend, es lag nicht in der Zeit, und auch in der Familie war es unbekannt. Heute entbehre ich es doppelt: als kindliche Erfahrung und als eigene Fähigkeit. Wie gerne wäre ich zärtlicher zu meinem Mann gewesen.

Lag es an der frühen Witwenschaft, oder woher kam Mutters Prüderie? Ich erinnere mich an einen jungen Soldaten, der während des Krieges für ein paar Wochen bei uns einquartiert worden war und von dem ich eines Tages meinen ersten Kuß bekam – ein Erlebnis, das mich nachhaltig verstörte. Gewöhnt daran, in der Mutter eine Vertraute zu besitzen, der man alles sagen konnte, doch unsicher, wie sie das erste »Liebesabenteuer« aufnehmen würde, schrieb ich es beim Erzählen einer Freundin zu. Ein Kuß, ein flüchtiger, scheuer Kuß. Mutter sprach von »viel zu jung«, »die wird schon sehen«, Herumtreiberei, Unappetitlichkeiten. Es gab etwas, was wichtig, was erregend war und was ich mit meiner Mutter, die »davon« schon lange nichts mehr wissen wollte, nicht bereden konnte.

Doch der Hader hat nichts damit, sondern mit Mutters frühem Tod zu tun. Mitten in dem schmerzlichen Prozeß der Loslösung von ihr hat sie mich verlassen, ist einfach fortgegangen. Damals war ich Anfang Zwanzig und auf der Suche nach dem eigenen Ich. Da es schwer war, sich gegen meine Mutter zu behaupten, hatte ich mich früh nach einem Partner umgesehen, der mir dabei helfen sollte, und den toten Vater dazu auserkoren.

Was wußte sie denn eigentlich von unserer beider Lebensangst, von unserer Furcht, verletzt zu werden, von unserer Schwäche, der Empfindlichkeit? Sie konnte sich durchsetzen, wir nicht. Wir konnten träumend der Wirklichkeit entfliehen, sie nicht. Wir beide, der Vater und die Tochter, waren aus dem gleichen Fleisch und Blut, nicht sie und ich. Im Arm den toten Vater, so lief die Tochter gegen ihre Mutter an und suchte Selbstbehauptung.

Mutter entzog sich alledem durch ihren Tod. Sie hat mich nicht verstanden? Ach, das behaupten doch alle in der Pubertät von ihren Müttern. Wir waren zu verschieden und hätten uns auf Dauer trennen müssen? Einbildungen, Hirngespinste! Jede Anklage löst sich in nichts auf. Jeder Vorwurf setzt mich nur ins Unrecht. Sie hat mich geliebt, ich habe es ihr nicht genug gedankt, ich war nicht gut genug zu ihr. Ich bin wehrlos gegen meine Mutter. Ich komme nicht von ihr los.

Eka, die Jungmädelführerin

Wir hörten es in den Nachrichten um 13 Uhr. Ich rannte sofort los, um es Onkel Hans zu sagen. Auch Tante Meta, Bäcker Spintig und Frau Mauksch erfuhren es von mir: »Onkel Hans sin Führer is nu dran.« Damals war ich sieben.

Die neue Zeit begann mit einem Fackelzug zum Bismarckturm. Dann hißten Onkel Hans und seine Freunde die Hakenkreuzfahne auf dem Gemeindeamt und sagten, daß wir jetzt die Sieger seien. Wenig später war von einer Mordliste die Rede, angeblich bei Hausdurchsuchungen gefunden, mit der bewiesen werden könne, daß die Kommunisten alle alten Nazis aus dem Dorf ermorden wollten; Onkel Hans als sechsten. Wochenlang zitterte ich vor Angst, fürchtete jede Nacht ein kommunistisches Todeskommando vor der Tür. Kommunisten, davon war ich überzeugt, schreckten nicht davor zurück, auch Kinder umzubringen. Ich verwechselte Verfolger und Verfolgte.

Auch Sieger und Verlierer klar zu scheiden, fiel mir schwer. Während wir A und O auf unsere Tafeln malten, flüsterte Lehrer Christian Fräulein Illich zu: »Die Nazis sind doch grüne Jungs« – ein von mir aufgeschnapptes dunkles Wort, das deshalb großen Eindruck auf mich machte und mit dem ich Onkel Hans, dem Sieger, imponieren wollte. »Du bist ein grüner Junge.«

Noch ehe das Jahr zu Ende ging, waren alle sozialdemokratischen Lehrer vom Schuldienst suspendiert. Die aktivsten Kommunisten aus dem Dorf wie der Bierfahrer Krüger wurden abgeholt und kamen ins KZ.

Ich hatte nun nicht länger Angst, von kommunistischen Banden umgebracht zu werden, und durchlebte die normalen Tragödien siebenjähriger Mädchen. Unsere Lehrer waren pommersche Schulmeister mit Kneifer, Borstenhaar und blauen Leinenjacken. Schlegel drehte den Jungen mit Daumen und Zeigefinger das Backenfleisch so lange rum, bis sie laut schrien. Andere schickten uns – »Kopf zur Wand!« – in die Klassenzimmerecken. Friedrich hob bedächtig unsere Röckchen und schlug dann kräftig mit dem Weidenstöckchen auf die rosa Makohöschen.

Der Sitzenbleiber Tüter-Johann zerschlug mir meinen Lebensplan. Ich hatte mich mit fünf entschlossen, Tänzerin zu werden, und mit sieben, dies öffentlich bekannt zu machen, zuerst mal in der Klasse. »Mensch, dat jeiht ja jor nich!« – »Mensch, warum denn nich?« – »Na, Mensch, wegen dine krummen Been!« Der richtige Schock kam dann zu Hause, vor dem Spiegel. Ich möchte noch heute schluchzen.

»Rote Haare, Sommersprossen sind auch deutsche Volksgenossen!« neckten mich die Jungen. Ich beschloß deshalb, wenigstens die Sommersprossen loszuwerden. Im Reklameteil der Koralle sah man das geteilte Antlitz einer ondulierten Dame, links mit Sommersprossen, rechts ganz ohne. Das hatte die Creme »Schwanenweiß« bewirkt. Doch weigerte sich meine Mutter, dafür drei Mark herauszurücken. Auf den Rat von Mutter Dicksch entschloß ich mich, den Vollmond anzubeten, und ging um Mitternacht rückwärts aus dem Haus zum Strand, kniete nieder und murmelte den Zauberspruch. Doch ähnelte ich weiter der linken Hälfte der Koralle-Frau. »Laß man, min Kind«, tröstete Zirp Meißner, »dat is Möwenschiet.«

An den Rockzipfeln von Onkel Hans litt ich sehr darunter, wegen Schwächlichkeit und Krankheit nicht »zum Dienst« zu dürfen. Je länger ich ausgeschlossen blieb, um so mehr verklärte sich »der Dienst«. Glücklich ging ich zu meinem ersten Heimabend bei den Ahlbecker Jungmädeln. Wir saßen auf langen Bänken um einen großen Tisch und lernten das Lied vom Kleinen Trompeter, einem lustigen Hitlerjungen, von Rotfront hinterrücks erschossen und von denen, die ihn am liebsten hatten, still ins Grab gesenkt. Jedesmal beim Kehrreim übermannte mich die Rührung: »Leb wohl, du kleiner Trompeter, wir hatten dich alle so lieb ...« Kein Jungmädel ahnte, daß der Kleine Trompeter, eigentlich zum Sangesgut der KPD gehörend, ein Genosse war, Rotgardistenblut in seinen Adern hatte und ursprünglich von den Nazis hinterrücks erschossen worden war.

Schnell kam ich dahinter, daß ich dem Idealbild unseres Führers von deutschen Frauen und Mädchen nicht gerecht werden konnte. Dazu fehlte mir das Saubere, Schmucke, das Adrette. Dazu waren zu oft Essensreste auf meinem Uniformrock, dazu war zuviel Dreck unter meinen Nägeln. Auf Fahrt gehen – ja, aber Decken falten, Betten bauen, basteln, Kanon singen, häkeln, stricken, das war nicht mein Fall. Auch war ich zu sehr auf einen Solo-Ausdruckstanz mit zum Himmel hochgereckten Armen versessen, um an Volkstänzen wie »Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion« sonderlich Gefallen zu finden. Die Jungvolkjungen forderten meist auch andere Mädchen auf. Der Schlagball verwandelte sich in meiner linken Hand in eine schwere Kugel, die ich, das Wurfsystem bis heute nicht begreifend, zwölf Meter in die Gegend schmiß.

180 Punkte für die Silbernadel bei den Sportwettkämpfen habe ich nie erreicht. Ich war ein furchtsames, unordentliches, unsportliches, altmodisch angezogenes Mädchen, doch unübertroffen in der Kunst, Handicaps durch Talente wettzumachen. König Drosselbart als Stegreifspiel zu inszenieren, patriotische Gedichte aufzusagen, Heldensagen der Germanen zu erzählen, zur Erheiterung auch auf sächsisch – darin war ich eine Nummer. Vor allem aber übertraf ich andere Kinder durch meine bescheuerte Gläubigkeit, durch meine Seligkeit, anerkannt zu werden, dazuzugehören, mit dabeizusein.

1936, im Olympiajahr, waren fast alle, die ich kannte, für den Führer. Meine Mutter war dafür. Weil Schwager Hans und andere Arbeitslose nun »endlich von der Straße« kamen, überwand sie anfängliche Bedenken gegen »den Proletarier« Hitler, trat der Frauenschaft und mir zuliebe auch dem Reichskolonialbund bei. Opa Schwandt hatte nämlich als Matrose auf der Elisabeth sowie irgendeinem Kanonenboot auf Samoa und in Deutsch-Südwestafrika die schwarzweißrote Flagge hochgezogen und seiner Enkeltochter so zu ihrem neuen, zweiten Lebensziel verholfen: Farmerin in Deutsch-Südwestafrika. Klar, daß uns Hitler die Kolonien zurückholen würde.

Unser Pastor war dafür. Am 1. Mai schritt er im Ornat und mit Gebetbuch die breite Treppe der neu erbauten Thingstätte zum Gottesdienst herab. Als deutsche Truppen in Österreich einmarschierten, riefen die Glocken zum Dankgottesdienst in unsere Kirche. »Großer Gott, wir loben dich« sang die Ahlbecker Gemeinde.

Viele Ausländer waren dafür – so jedenfalls sah es für mich auf den Bildern von der Olympiade aus. Unsere Badegäste waren dafür oder behaupteten es zumindest. Sie bauten Burgen und steckten Hakenkreuzfähnchen in den Sand.

Die Geschäfte an der Seestraße florierten. Nur hinter den Fenstern des Konfektionsgeschäfts gegenüber der Molkerei hingen gelblich-graue Leinentücher. Herr Mührberg, der Besitzer, war mit seiner Familie nach Palästina ausgewandert. Rosemarie Mührberg, die Klassenkameradin, holte ich morgens auf dem Schulweg ab. Bis zu ihrem letzten Tag im Dorf? Nein. Und davor auch nicht mehr. Wenig später, am Morgen nach der Schreckensnacht, standen wir schaulustig vor der angezündeten Swinemünder Synagoge, zwischen den umgeworfenen Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof. Empfanden wir Mitleid, Scham, Entsetzen? Nichts von alledem.

1936 kam ich auf die Swinemünder Oberschule. Unsere Lehrer haben uns politisch weder angefeuert noch ernüchtert. Dafür hatten sie zuviel mit sich selbst zu tun. Unsere Klassenlehrerin, die Studienrätin Fischer (Religion, Geschichte, Deutsch), und ihre Freundin, Fräulein Hoffmann (Biologie, Physik, Chemie), Damen um die Fünfzig, mühten sich, gute Christinnen zu bleiben und ihre Existenz nicht zu gefährden. Später erzählte mir das neunzigjährige Fräulein Fischer, wie es ihr in der Nazizeit ergangen war.

Am schwersten fiel unserer Klassenlehrerin der Geschichtsunterricht, eines ihrer Hauptfächer schon im Kaiserreich und in der ersten Republik. Germanen zu verherrlichen, Juden zu diffamieren und die Deutschen als Herrenvolk zu feiern, fiel der gläubigen Christin schwer. Als die Direktorin ihr erklärte, daß sie ihren Bibelkreis für Mädchen aufgeben müsse, weinte Fräulein Fischer. Manchmal dachte sie daran, einfach aufzuhören, aber dann machte sie doch weiter. Fräulein Fischer hatte Angst.

Wir wußten damals nichts von dieser Angst. Meine Vorbehalte gegen sie, und zwar hauptsächlich während des Deutschunterrichts, hatten auch nichts mit ihrer mangelnden nationalsozialistischen Gesinnung zu tun (»Na gut, die Fischer ist religiös«), sondern mit ihrer Weigerung, mit mir gemeinsam von der Erde in den Dichterhimmel abzuheben. Ich deklamierte innig den Kerkermonolog des Gretchen, Annemarie Fischer verwies auf die Folgen von Liebesabenteuern ohne Gottes Segen. Ich hauchte Hölderlin »Dir ist, Liebes, nicht einer zuviel gefallen«, Fräulein Fischer kam mit Wilhelm Raabe: »Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen«. Ich hielt das für den empörenden Versuch, unsere Gefühle niedermachen zu wollen. Außer Deutsch hat mich in der Schule kaum etwas interessiert.

Mittags radelte ich schnell nach Hause in mein eigentliches Leben. Meine Mutter war Frauenschaftsleiterin im Dorf geworden und ich mit meinen zwölf Jahren Führerin der Ahlbecker Jungmädel. Das hob mein Selbstbewußtsein. Nun fühlte ich, die Fahrschülerin vom Dorf, mich meinen Mitschülerinnen, Tennis spielenden Töchtern von Marineoffizieren, Rechtsanwälten und Ärzten aus der Garnisons- und Kreisstadt zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen.

Traurig lächelnd erinnere ich mich, wie sich die verhinderte Tänzerin als Backfisch wieder Bretter suchte, um das Glück des Auftritts zu erleben, und sei es auch in einer Farce. Hundert Mädchen auf dem Sportplatz angetreten. »Achtung! Stillgestanden!« schrie Gertraude Peterleuss. Dann kam ich. »Jungmädelgruppenführerin, ich melde dir, hundert Jungmädel angetreten!« – »Danke! Rührt euch!« murmelte ich lässig. Dann setzte ich mich an die Spitze der Kolonne und zog mit ihr, Hitlerlieder singend, durch das Dorf.

Meine eigentlichen Auftritte hatte ich in Räumen; in Klassenzimmern bei der Verleihung von Halstuch und Knoten an die Kleinen, im Gemeindesaal bei der feierlichen Überführung der Vierzehnjährigen in den BDM. Anfangs sagte ich Gedichte auf, mit vierzehn hielt ich in Anlehnung oder auch mit Abschrift von Schirach, Goethe, Miegel, Baumann, Fichte selber Reden. Kindlichpastoral rief ich Worte in den Saal wie heilig Vaterland und deutsche Erde, ewig, edel, Treue und der Toten Tatenruhm, das geloben wir, o Deutschland – bis Frau Koenen, bei der ich Nachhilfe in Englisch hatte, Tränen kamen. »Frau Assmus, Ihre Tochter spricht zu schön.« Den Führer zu sehen oder im Radio zu hören, ernüchterte mich eher. Vor seinem Ölgemälde quaste es sich leichter. Ich erhob mich und andere. Ich produzierte mich.

Konnte ich so reden, weil ich nichts wußte? Wir wußten mehr, als wir zugeben mochten. Aus der nahen Kaserne kam der Freund der Freundin und erzählte von dem jüdischen Adoptivvater, der ins KZ gekommen sei. Ob wir nicht ein Gesuch an den Führer richten könnten? Bierfahrer Krüger war noch immer nicht aus dem KZ zurück. In Berlin kannten wir den jüdischen Hausmeister im Haus von Onkel Karl und Tante Liesbeth, der nur deshalb noch nicht abgeholt worden war, weil seine Frau keine Jüdin war. Eines Tages, während des Krieges, wurden die beiden alten Leute doch noch ins KZ gebracht. Wenn wir die Opfer kannten, empfanden wir mit ihnen Mitleid. Doch das blieb folgenlos. Zwei-, dreimal versuchte ich, mit einem älteren Menschen über die Konzentrationslager zu sprechen. Niemand bestritt, niemand verteidigte – Achselzucken, Schweigen oder »Der Führer weiß das nicht«. Eine unbewältigte Gegenwart ging unserer unbewältigten Vergangenheit voraus.

O nein, wir waren keine mit allem einverstandenen Jubel-Deutschen. Auch wir, die Nazis, hatten unsere Vorbehalte und fragten manchmal sorgenvoll nach Anstand und nach Sitte. Es gab da so Gerüchte, daß der Ley soff und die Frau des Ministers eine Tingeltangel-Tänzerin gewesen sei. Und betrog nicht Goebbels seine Magda? Nach dem Abzug junger SS-Leute, die vor dem Überfall auf Dänemark und Norwegen bei uns einquartiert worden waren, fanden wir in den Zimmern zurückgelassene Flugblätter, unterschrieben vom Reichsführer SS, mit denen die jungen Männer aufgefordert wurden, angesichts des deutschen Schicksalskampfes auch ohne Trauschein Kinder für das Deutsche Reich zu zeugen. Das ging zu weit, befanden wir. Während täglich Tausende umkamen, führten meine Klassenkameradinnen und ich Moraldispute, ob man bis zur Ehe »rein bleiben« müsse.

Ich war ein Durchschnittsmädchen, nicht besser und nicht schlechter als so viele. Im Elfenbeinturm mit Hölderlin-Gedichten – andächtig, überschwenglich, ganz Gefühl. Und außerhalb des Turms: Kopf zur Seite drehen, Augen verschließen, tumbe Gläubigkeit. Diese Herzenskälte gegenüber Menschen mit dem Judenstern, Kriegsgefangenen, sogenannten Fremdarbeitern!

Im Herbst 1944/45 zogen lange Flüchtlingstrecks von Ostpreußen und Hinterpommern über unsere Insel weg nach Westen. Im März hörten wir zum ersten Mal Geschützlärm von der nahen Front. Russische Truppen bildeten einen Kessel, in dem auch unsere Insel lag. Meine Mutter ging nun wöchentlich zweimal in den Wald, um bei dem verkrüppelten Ortsgruppenleiter zusammen mit anderen Frauen schießen zu lernen. Am 20. April schöpfte sie noch einmal Hoffnung. Im Rundfunk sprach Goebbels: »Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch!« – »Kind«, sagte meine Mutter, »glaubst du etwa, der Mann belügt uns? Jetzt, in dieser Stunde! Zu Führers Geburtstag! Nein, nein, jetzt kommen die Wunderwaffen!« Aber es kamen die Russen.

Mehrere unserer Lehrer nahmen sich das Leben. Männer aus dem Dorf wurden abgeholt, einige starben in Lagern. Wir wurden enteignet. Auf meinem einstigen Schulweg, links umrahmt von Dünen und der See, rechts von Kiefern und Wacholderbüschen, steht jetzt ein hoher Zaun. Hinter den letzten Häusern unseres Dorfes beginnt Polen mit seiner Grenzstadt Swinoujscie.

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Überlebensstrategien

»Man hat keinen Begriff von den Spitzenleistungen der Schlauheit und des psychologischen Scharfsinns, deren der Mensch fähig ist, wenn er in die Enge getrieben wird.«

Czesław Miłósz, Verführtes Denken

Trittbrettfahrer

Der Gedanke an Mitschuld kam uns nicht. Meine Mutter glaubte bis zuletzt, daß der Führer vieles von dem, was geschah, gar nicht wußte. Der Untergang von Reich, Volk und Führer, von Tugenden und Werten, die mir etwas bedeutet hatten, verwirrte mich und ließ mich zweifeln. Daneben aber regte sich der kühle, rechnerische Verstand der Ahlbecker Fischerfrauen in mir. Die Firma Nazideutschland war bankrott. Ihr Gründer hatte Selbstmord begangen und uns inmitten eines Scherbenhaufens zurückgelassen. So hatten wir nicht gewettet! Das war nicht die Geschäftsgrundlage gewesen! Enttäuschung schlug um in Zynismus, Hoffnungslosigkeit, ja, Gleichgültigkeit. Ich fühlte mich betrogen.

Politik? Fortan ging es nicht mehr um Politik. Nur das Nächstliegende war jetzt noch wichtig. Überleben. Etwas zu essen finden. Eine Bleibe.

Wir waren daran gewöhnt, im Gleichschritt zu marschieren, in Reih und Glied und auf geraden Straßen. Nun, im Frühjahr 1945, auf der Flucht, schlugen wir uns aus Angst vor Panzern und Gefechten querfeldein, ziellos Richtung Westen, ausgeliefert dem Zufall, Überraschungen, Veränderungen, Vorläufigem und einer uns fremden Anarchie. Über Nacht mußten wir die Kunst des Improvisierens lernen, um kleinen oder größeren Katastrophen zu entgehen.

Die meiste Zeit waren wir zu dritt: meine Mutter, ich und Hans, der vierzehnjährige Vetter. Wir zogen durch halb Deutschland, über Rostock, Wismar, Göttingen, dann wieder Richtung Norden nach Nienburg an der Weser, von dort nach Thüringen und erneut ostwärts, nach Berlin.

Unser erster Versuch, auf die Insel heimzukehren, scheiterte an den gesprengten Brücken. Lange Strecken überwanden wir zu Fuß. Ein mit Flüchtlingen überfüllter amerikanischer Armeelastwagen transportierte uns über die Elbe, ein sowjetischer brachte mich von Thüringen nach Berlin. Wir besetzten Bremserhäuschen, warteten stundenlang in überfüllten Personenzügen stehend auf die Weiterfahrt, lagerten in offenen Güterzügen, die von marodierenden Haufen überfallen wurden, oder banden uns gegenseitig an den Türklinken kleiner Eisenbahnabteile fest: Trittbrettfahrer, denen der Zugwind um die Ohren sauste. Die erste Nachkriegs-Silvesternacht verbrachte ich in einem Viehtransporter zwischen Prenzlau und Berlin. »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei! Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai« sangen die Menschen, als das neue Jahr begann.

Zuweilen fragen mich Menschen, die diese Zeit erlebten, ob es mir gelungen sei, den Vergewaltigungen zu entgehen. Dann antworte ich stolz, nicht ich sei vor den Russen davongelaufen, sondern umgekehrt: Diese, meiner ansichtig geworden, hätten vor mir Reißaus genommen! Man stelle sich vor: der Greifswalder Wartesaal mitten in der Nacht. Vollgestellt mit Gepäckstücken, auf denen Menschen dösend den nächsten Zug erwarten. »Frau komm! Frau komm!« rief es plötzlich an der Tür. Hatte ich mir die Strategie schon vorher ausgedacht? Jedenfalls verwandelte sich das angsterfüllte Mädchen, das einst Lessings Fräulein von Barnhelm gespielt hatte, sekundenschnell in eine Grimassen schneidende, die Fäuste ballende und die Arme hocherhebende Furie, aus deren weit aufgerissenem Mund Laute quollen, die denen eines zornigen Orang-Utans glichen – ein Anblick, der die Gefürchteten zu ängstlichen Knaben werden ließ, die, die Beine in die Hand nehmend, verschwanden. Ich war die Deutsche, die Russen gewaltlos in die Flucht geschlagen hat.

Ich erinnere mich nicht, je wieder soviel Energie, Überlebenswillen und Neugier auf ein neues Leben aufgebracht zu haben wie in jenen ersten beiden Nachkriegsjahren. Auch nicht soviel List und Lust zu täuschen, Hartnäckigkeit und Phantasie, Ausdauer und Berechnung. Unser Leben bestand hauptsächlich in der tagausfüllenden Beschaffung von Brot und Salz, von Teetabletten, Mehl und Kartoffeln und von dem Kampf gegen Kopfläuse. Wie zu einer Nadel und zu einem Faden kommen, zu Schnürsenkeln und einem Gummiband?

Wir taten das, was damals üblich war: Wir klauten. Lebensmittelkarten aus einem verlassenen Gemeindeamt, eine graue Soldatendecke von einem kanadischen Jeep, Obst aus Bauerngärten. Wir schnorrten, Haus für Haus ablaufend! »Hätten Sie wohl einen Mittagsrest für uns?«, »Könnten wir in Ihrer Scheune übernachten?« Wir arbeiteten als Reinigungskräfte in Alliierten-Unterkünften, als Hauspersonal bei russischen Familien und auf deutschen Höfen nur für die Verpflegung und vierzig Pfennige pro Tag. Wir tauschten! Für ein Päckchen geschenkten russischen Tabak gab es eine D-Zug-Zuschlagkarte.

Wenn alles nichts mehr nutzte, sagte Mutter, ich müsse wieder einmal meine Kunst ausüben. Dann ließ ich in ländlichen Gegenden durch Vetter Hans verbreiten, trotz meiner Jugend schon eine berühmte Handleserin zu sein. Zwar hatte ich von der Bedeutung, die den Linien auf der Innenfläche unserer Hände zugeschrieben wird, keine Ahnung, doch kannte ich die allgemein gehaltenen Prophezeiungen der Kartenlegerinnen, allenthalben sehr gesuchte und verehrte Damen, die viel Geld verdienten. Sie sagten bevorstehende Veränderungen, unerwartete Bekanntschaften, eine »lange Reise über einen kurzen Weg« und derlei mehr voraus. Meine Weissagungen klangen ähnlich. Meinte ich Bestätigung auf den Gesichtern zu erkennen, machte ich weiter, wie ich begonnen hatte, Kopfschütteln und Zweifel in den Augen ließen mich auf anderes kommen.

Und jetzt der Höhepunkt! Bedenklichkeit nun meinerseits: »Darf ich ganz offen sein?« – »Gewiß! Gewiß!« – »Wirklich ganz, ganz offen?« – »Nur zu! Nur zu!« – »Nun dann! Sie haben einen großen Fehler, der Ihnen im Leben noch oft zu schaffen machen wird!« – »So? Was soll das denn sein?« – »Sie sind zu gut!« Das war der Clou! Endlich ein Mensch, der die reine Wahrheit, wie sie in der Hand geschrieben stand, erkannte und sie auszusprechen wagte. Eine Wahrheit, für die auch die raffgierigste Bauersfrau mit Griebenschmalz, Butter oder Speck bezahlte.

Wenn mein Mann mal wieder verärgert über meinen Geiz war, foppte er mich später oft, drehte schmerzhaft meine Hand herum und murmelte: »Sie sind zu gut, Frau Stern! Das wird Ihnen noch zu schaffen machen!«

Raketen für die Post

Es war der 21. Juli 1969 gegen drei Uhr früh. Wir saßen vor dem Fernseher, das heißt ich lag mit einer Gallenkolik auf der Couch. »Was bildest du dir ein!« erregte sich mein Mann und sprach von Größenwahn. Ich erklärte, mit dem Geschehen auf dem Fernsehschirm zu tun zu haben, wenn auch weitläufig, versteht sich. Während mein Mann noch mit mir schimpfte, öffnete sich die Landefähre, und in einem unförmigen Schutzanzug mit einem riesigen Versorgungstornister auf dem Buckel betrat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond. Hüpfend sprach er seinen berühmten Satz: »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für die Menschheit!«

Angesichts dieses historischen Augenblicks beendeten wir unseren Streit. Ich gab zu, daß das Thema »Die Mondlandung und ich« ein Produkt meiner überhitzten Phantasie gewesen sei. Gutmütig gewährte mir mein Mann einen wenngleich »nicht nennenswerten« Anteil am Sputnik, jenem ersten sowjetischen Erdsatelliten, 1957 von Kasachstan ins All geschossen, sowie auch an der Erdumrundung Juri Gagarins 1961. Dann fuhren wir meiner Galle wegen ins Krankenhaus.

Als der junge Forscher Wernher von Braun, der nicht nur den Nazis, sondern später auch den Amerikanern diente, in den dreißiger Jahren am westlichsten Zipfel meiner Heimatinsel Usedom, in Peenemünde, ein geheimnisumwittertes Unternehmen aufbaute, arbeitete dort mein Onkel Hans als Schlossermeister. Wortlos, nur durch kaum merkliches Kopfnicken bestätigte er, daß man in Peenemünde an jenen Wunderwaffen arbeite, auf deren kriegsverändernden Einsatz meine Mutter noch im April 1945 hoffte. Immerhin, sie und ich, wir waren mit den Peenemündern über Onkels Schlosserwerkstatt sozusagen verwandt. Von den vielen Zwangsarbeitern, die dort unter KZ-artigen Bedingungen arbeiten mußten, wußten wir nichts oder wollten wir nichts wissen.

Eines Tages sahen wir eine dieser »Vergeltungswaffen«, wie Goebbels sie frohlockend nannte, eine V2 mit ihrem langen Schweif, über die Ostsee fliegen. Doch bald darauf, eines Nachts, zerstörte ein britischer Luftangriff einen Großteil Peenemündes. Einige Monate vor Kriegsende verlagerte man die Versuchsanstalt in den Südharz, hauptsächlich nach Nordhausen und Bleicherode. Wie es im Potsdamer Abkommen festgeschrieben worden war, überließen die Amerikaner im Sommer 1945 das von ihnen besetzte Thüringen der sowjetischen Besatzungsmacht. So kamen die Russen nach Bleicherode.

Ich arbeitete damals als Landarbeiterin, nicht weit davon entfernt, in Rüdigershagen. Eines Tages eilte das Gerücht durchs Dorf, in Bleicherode, in der Region bekannt durch seinen traditionellen Kalibergbau und schöne alte Fachwerkhäuser, hätten die Russen einen Betrieb gegründet, in dem Arbeit finden könne, wer etwas von V-Waffen verstünde. Ich dachte mir, fahr einfach mal hin, kostet ja nichts, sich zu erkundigen.

In der Personalabteilung erfuhr ich, es würden Abiturientinnen als technische Rechnerinnen gebraucht.

»Aber was soll man denn berechnen?«

»Flugbahnen.«

»Dann stimmt es also, daß man hier wieder V-Waffen entwirft?«

»Raketen für den Frieden!«

»Wozu denn im Frieden Raketen?«

Nun geriet der Mann ins Schwärmen. Er erzählte, wie wichtig es jetzt sei, Flugkörper zu entwickeln, die auch landen könnten, um sie zunächst zur Postbeförderung über den Atlantik zu benutzen.

»Aha, zunächst zur Postbeförderung ... und dann?«

»Na, dann fliegen wir alle eines Tages mit den Dingern nach Amerika!«

Wer möchte für 350 Mark Gehalt und freien Mittagstisch daran nicht beteiligt sein? Beschwören will ich nicht, geglaubt zu haben, was mir da erzählt wurde. Aber ich wollte es gern glauben. So habe ich als Verwalterin der Fachbibliothek aus unmittelbarer Nähe miterlebt, wie sowjetische Spezialisten in Bleicherode, Nordhausen und anderen Orten mit Hilfe von Technikern und Wissenschaftlern, die bereits in Peenemünde tätig gewesen waren, Forschung und Produktion jener A4-Rakete wieder in Gang setzten, die zur Vorläuferin der sowjetischen S2, S8, S11 werden sollte.

Als Tarnnamen für das neu gegründete Unternehmen, das Institut für Raketenbau und -entwicklung, hatten die Sowjets die Bezeichnung Institut RABE gewählt und seine Zentrale in einem Gebäude aus der Gründerzeit, der ehemaligen Königlich-Preußischen Berginspektion, eingerichtet. Dort, wo einst für kurze Zeit auch Wernher von Brauns Arbeitsplatz gewesen war, befanden sich jetzt die Büros der wichtigsten sowjetischen Offiziere sowie der deutschen Direktoren. Dort saß auch ich mit meiner Bibliothek.

Niemandem blieb verborgen, daß sich der Spezialistenstab ungewöhnlich schnell vermehrte. Woher kamen diese Leute plötzlich? Die Russen hatten sie abgeholt! Die einen samt Familie und Habe auf geheimen Wegen aus Eschwege und Witzenhausen, Orten in der amerikanischen Besatzungszone. Dorthin waren sie in einer von den Amerikanern initiierten Eilaktion im Juni 1945, dem Rat Wernher von Brauns folgend, geflüchtet und warteten nun vergeblich auf den Flug in die USA. Als ihnen Werber aus Bleicherode gute Gehälter, Wohnungen und reichlich Lebensmittel versprachen, entschlossen sie sich, »der anderen Seite« zu dienen. Selbst einstige SS-Offiziere wurden von den Sowjets zur Mitarbeit eingeladen. Wer als Peenemünder Raketenspezialist galt und zunächst in Buchenwald und anderen einstigen KZs inhaftiert worden war, wurde dort wieder abgeholt, um nach Bleicherode gebracht zu werden. Hier wurden die Herren in requirierte Wohnungen und Häuser eingewiesen und mit Pajok-Paketen, Weißbrot, Milch und Butter wieder aufgepäppelt.

Wie konnten sich Kommunisten mit SS-Führern, den Todfeinden von gestern, zusammentun, fragte ich mich. Überhaupt widersprach fast alles, was ich an meinem neuen Arbeitsplatz erlebte, meinen Vorstellungen von Kommunisten. Auf der Jungmädel-Führerinnenschule war mir eingetrichtert worden, im Kommunismus werde Leistung überhaupt nicht anerkannt; Gleichmacherei, das sei es, was die Kommunisten wollten. In Bleicherode erfuhr ich genau das Gegenteil: extreme Hierarchie. Arbeiter hatten wenig zu erwarten, ihr Essen war das schlechteste. Eine »Diktatur des Proletariats« fand hier nicht statt. Auch hielt niemand politische Reden. So etwas wie Schulungsabende gab es nicht, und eine Betriebsgruppe der KPD war offenbar verboten worden. Die Russen interessierten sich ausschließlich dafür, wie die Deutschen ihre Arbeit machten.

Während von manchen kleinen Angestellten noch dummes Nazizeug dahergeschwätzt wurde, entwickelte sich unter den deutschen Wissenschaftlern eine Art Tauroggen-Geist. »Nur im Bunde mit den Russen haben wir eine Zukunft«, bemerkten sie, »nur die Russen brauchen uns.« Das stimmte. Den Beweis sollten sie bald liefern.

Für den Abend des 21. Oktober 1946 lud General Gaidukow die wichtigsten deutschen Mitarbeiter zu einem Fest in das sowjetische Offizierskasino, die Bleicheroder Waldgaststätte Japan, ein, bekannt für ihren schönen Ausblick auf die Stadt und die Höhenzüge des Harz. Etwa zweihundert Gäste, Deutsche und Sowjets, nahmen an einer hufeisenförmig aufgestellten, reich gedeckten Tafel Platz. Der Wodka floß in Strömen, nur die Gastgeber tranken heimlich Wasser, und die Gäste amüsierten sich bis in die tiefe Nacht. Erst gegen halb drei Uhr früh wurden die leicht angetrunkenen Herren von bereitgestellten Autos an ihren Haustüren abgesetzt.

Rotarmisten weckten sie drei Stunden später unsanft aus dem ersten Schlaf und überbrachten den schlaftrunkenen Zechern so etwas wie einen Marschbefehl. »Da der Betrieb, in dem Sie arbeiten, in die UdSSR verlagert wird«, lasen die Verdutzten, »haben Sie sich mit Ihrer gesamten Familie zur Abreise in die UdSSR bereitzuhalten (...). Sie werden zunächst für die Dauer von fünf Jahren verpflichtet und haben mit einer Fahrtdauer von drei bis vier Wochen zu rechnen.«

»... mit Ihrer Familie«? Aber nicht alle Familien der Betroffenen wohnten auch in Bleicherode. Also wurden umgehend Armeelastwagen ausgesandt, um Frauen und Kinder sowie Möbel und Hausrat abzuholen. Unverheiratete, die in der Stadt zur Untermiete wohnten, erfuhren, sie stünden vor der Wahl, die Möbel ihrer Vermieter mitzunehmen oder in der UdSSR leere Zimmer zu beziehen. Verheiratete, die eine Freundin hatten, konnten sich entscheiden, ob sie mit dieser oder der Ehefrau oder auch mit beiden Damen auf die weite Reise gehen wollten. Angebote von Freiwilligen, mitgenommen zu werden, wurden wohlwollend geprüft.

Den ganzen 22. Oktober über wurden Schränke, Koffer, Kisten auf Lastwagen geladen, Schuhe von der Schusterei, Wäsche von der Reinigung geholt. Doch galt für alle, die nun reisen mußten: kein Schritt, kein Tritt mehr ohne Aufsicht.

Auf dem Bahnhof Bleicherode-Stadt stand ein langer Zug mit Personen- und Güterwagen bereit. Der deutsche Generaldirektor mußte zwar sein Gut aufgeben, das seine sowjetischen Arbeitgeber ihm großzügig überlassen hatten, und auch das Reitpferd seiner Frau zurücklassen, doch durfte er zwei Milchkühe mit gen Osten nehmen.

Als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, begann am 23. Oktober die lange Reise. Die meisten der Bleicheroder Fachleute landeten mit ihren Familien auf der weithin unbekannten Insel Gorodomlia im Seliger See bei Ostraschkow und kehrten erst im Laufe der fünfziger Jahre zurück.

In Bleicherode sprach sich bald herum, daß auch aus anderen Betrieben der Sowjetischen Besatzungszone Spezialisten für Waffentechnik, Chemiker, Physiker und andere Wissenschaftler zur gleichen Zeit und gleichsam über Nacht abgeholt und in die Sowjetunion gebracht worden waren. Vor ihrer Rückkehr mußten sie sich verpflichten, über ihren Aufenthalt, ihre Tätigkeit und ihre sowjetischen Arbeitskollegen Stillschweigen zu bewahren.

Nach der Abreise der Spezialisten begann die Abwicklung des Bleicheroder Unternehmens. Viele der damit beauftragten Deutschen schleppten alles, was nicht niet- und nagelfest war, zum eigenen Gebrauch oder zum Verkauf nach Hause; dann erhielten alle Mitarbeiter die Kündigung.

Ich arbeitete nun als Hausgehilfin in der Familie meiner Vermieterin. Abends gab ich mich dem überzeitlich Schönen hin: Ich las Goethe, Mörike und Hölderlin. Der Historiker Martin Broszat nannte dies später die »Verinnerlichungskultur der Nachkriegsjahre«, ein Rückzug ins Private, der die Erinnerung an Unzerstörbares beschwören sollte.

Fünfzig Jahre später machten mein Mann und ich Ferien in der Schorfheide, und zwar im einstigen Gästehaus der DDR-Regierung am Großen Döllnsee. Neben uns an den Frühstückstischen saßen andere alte Ehepaare, Stammgäste des Hauses. »Das sind Herrschaften«, flüsterte die Kellnerin, »die als Wissenschaftler nach dem Krieg in Rußland tätig waren ...«

Das Schloß und der »Club junger Idealisten«

»Rauschende Wälder / blühende Felder / verträumte Bäche / sanfte Täler / verlockend die Höh’n / das ist der Fläming, so bunt und so schön.« So besingt ein unbekannter Heimatdichter den südwestlich von Berlin gelegenen niedrig-sanften Höhenzug im Märkischen. Auf seinem höchsten Punkt, da, wo die Erdbeeren eine Woche später reifen als ringsumher, liegt die Ortschaft Wiesenburg, die »Perle des Flämings« nennen sie die Bewohner.

Der Schloßteich, auch der Schloßhof mit dem Brunnenhäuschen und den hohen Kastanien waren meiner Erinnerung längst entschwunden, als ich den Ort nach fünfzig Jahren wiedersah. Aber wie ich 1947 nach Wiesenburg gekommen bin, weiß ich noch genau.

In Bleicherode weiterhin als Hausgehilfin tätig, beauftragte mich eines Tages meine Wirtin, einen hölzernen, grau angestrichenen Elefanten an ihre Patentochter zu verschicken, und wies mich an, die Hohlräume des Geschenkpakets mit alten Zeitungen auszustopfen. In einem dieser Blätter zeigten Lehrer und Schüler eines Pädagogischen Instituts in Wiesenburg den allzu frühen Tod einer Absolventin an. Noch am gleichen Abend bewarb ich mich schriftlich um den frei gewordenen Platz. Lehrer wurden gebraucht, das wußte ich, denn im Winter 1945/46 waren alle, die der NSDAP angehört hatten, sowie auch frühere Offiziere aus dem Schuldienst in der Sowjetischen Besatzungszone entlassen und durch unzulänglich ausgebildete Neulehrer ersetzt worden. In Wiesenburg hingegen schien eine gründlichere Ausbildung, vornehmlich im Fach Geschichte, zu erfolgen. Lehrerin zu werden, bedeutete Sicherheit, so meinte ich, und ein Gehalt, mit dem sich leben ließ.

Da eine Antwort ausblieb, entschied ich mich nach einigen Wochen, zu Onkel Karl und Tante Liesbeth nach West-Berlin zu ziehen und dort mit Hilfe einiger Flaschen Schnaps mein Glück zu suchen. Ohne Schnaps, so hatte der Onkel mitgeteilt, sei an eine Zuzugsgenehmigung nicht zu denken; Tausende bemühten sich vergeblich um dieses Stück Papier. Ich hingegen füllte nach meiner Ankunft die erforderlichen Formulare aus und überreichte sie, dem Rat des Onkels folgend, zusammen mit der aus Thüringen mitgebrachten und dezent verpackten Nordhäuser Originalabfüllung dem zuständigen Herrn im Rathaus Tempelhof. Kaum merklich mit dem Kopf nickend und ohne weitere Fragen erteilte er die begehrte Genehmigung.

Nachdem mein Kindheitstraum, Tänzerin zu werden, gescheitert war und auch an eine Farm in Afrika nicht mehr zu denken war, hatte ich beschlossen, Literatur- und Theaterkritikerin zu werden, und sah mich nun um nach einem Volontariat. Zunächst freudig-erwartungsvoll, allerdings bald ernüchtert, ja geradezu deprimiert, wanderte ich von einer Zeitungsredaktion zur nächsten, gleichgültig, welcher politischen Richtung das Blatt zuzuordnen war, gleichgültig auch, in welchem der vier Sektoren es erschien. Nach zahlreichen Absagen endlich eine Hoffnung: Die Dame vom Tagesspiegel wollte sich ein Urteil über meine journalistische Begabung bilden! Noch am gleichen Abend verfaßte ich eine Filmkritik, die, durch einen Zufall zwischen allerlei Papieren erhalten, mir noch heute die Schamesröte ins Gesicht treibt. »Ungeeignet«, entschied die Dame und schlug einen schnellen Wechsel des Berufsziels vor. Also wechselte ich in einen Stenographie- und Schreibmaschinenlehrgang. Berufsziel: Sekretärin.

Eines Tages übergab mir der Onkel einen aus Bleicherode nachgesandten Brief, in dem Direktor Arthur Krause – reichlich spät – zu einem Vorstellungsgespräch nach Wiesenburg, in das Pädagogische Institut, einlud.

Vorzimmerdame in West-Berlin oder Lehrerin in der Sowjetischen Besatzungszone? Da wir in naiver Zuversicht an eine baldige Wiedervereinigung glaubten – »so kann es ja nicht weitergehen« –, erschien es uns von zweitrangiger Bedeutung, ob wir in West- oder Ostdeutschland lebten, und, bestärkt von der Verwandtschaft, entschied ich, Wiesenburg samt Institut zumindest in Augenschein zu nehmen.

In welch eine friedvoll-ländliche Idylle kam ich da! Bis zum Bahnhof erstreckte sich der Wald, hinter dem inmitten einer großzügigen Parkanlage mit künstlich angelegten Teichen, Zypressen, Zedern, Ginkgo-Bäumen und Rhododendronbüschen der Südflügel des alten Schlosses lag. Hinter dem Schloßportal endete die Idylle allerdings. Einheimische, deutsche Soldaten und danach Rotarmisten hatten das Wiesenburger Herrschaftshaus in den letzten Kriegstagen ausgeplündert. Glanz und Reichtum der einstigen adeligen Besitzer waren in alle Winde zerstreut.