Dora Diamant - Kafkas letzte Liebe - Kathi Diamant - E-Book

Dora Diamant - Kafkas letzte Liebe E-Book

Kathi Diamant

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Beschreibung

Nur elf Monate dauerte die vielleicht bedeutsamste Liebesgeschichte der jüngeren Zeit. Dora Diamant, die lange Zeit Unbekannte an Kafkas Seite, verfügte über eine seltene Weite des Geistes. Als Rebellin ihrer ostjüdisch-orthodoxen Umgebung – sie floh vor dem strengen Vater in die Verheissung des ›aufgeklärten‹ Westens – behielt sie und kultivierte immer den tiefen humanitären Geschmack einer religiösen Musikalität: Das Gefühl einer unverbrüchlichen Verantwortung und das Bestreben zur Identität von Heiligem und Alltäglichem. Als Zeugin zugleich auch für dieses ›Mandat‹ Kafkas aber auch im Eintreten für eine jiddische Kultur, die ihr als Quelle dieser tiefen humannen Integrität galt, geht Doras Leben und Bedeutung weit über die kurze Zeit des Zusammenlebens mit Kafka hinaus.'[Die] Grenzzone zwischen Tradition und Moderne betraten Franz Kafka und Dora Diamant gleichsam von entgegengesetzten Seiten, und fast zur selben Zeit. (…) Als er Dora Diamant kennenlernte, begriff er sofort, dass sie eine Art Koexistenz von östlicher und westlicher Lebensweise verkörperte, die auch er sich als Lösung durchaus vorstellen konnte, obgleich das weder in ihrem noch in seinem Lebensplan vorgesehen war: eine Komplizin also.' (Aus dem Vorwort von Reiner Stach)

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Impressum

Titel der 2003 bei Basic Books, New York, erschienenen Originalausgabe: „Kafka’s last love“ Copyright © 2003 by Kathi Diamant Umschlagfoto von Dora Diamant. © Sammlung Lask Umschlagfoto von Franz Kafka. © Archiv Klaus Wagenbach

Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 2014 onomato Verlag www.onomato.de

Lektorat, Korrektorat: Christian Consten-Vits Lektorat und Satzgestaltung: Hanna Koch weitere Mitwirkende: Leonie Karremann, Silke Kramer Joëlle Murray, Maren Poppe

ISBN 978-3-944891-18-7

Gefördert als Crowdfunding-Projekt bei Startnext.

Sinnesfreudig wie ein Tier (oder wie ein Kind). Woher bloß die Vermutung von Franz als Asket herkommt!?

Dora Diamant, Tagebuch

Ein Mensch allein kann nicht Franz „erklären“. Es müssen viele Menschen daran „arbeiten“.

Dora Diamant, Tagebuch

An alle Diamants dieser Welt

Editorische Vorbemerkung

Der Text entspricht der neuesten Rechtschreibung. Um jedoch den besonderen Charakter von Auszügen aus literarischen Texten, Briefen etc. zu bewahren, wurden Passagen aus den verfügbaren deutschsprachigen Quellen grundsätzlich in der jeweiligen Schreibung belassen.

Unterschiedliche Weisen der Anführung in diesem Buch dienen der Differenzierung zwischen wörtlicher Wiedergabe von Ausdrücken und deren bloß zusätzlich nuancierender Hervorhebung.

Folgt eine Reihe von Zitaten aus derselben Quelle, so wird nur ein Mal mittels Endnote auf diese verwiesen, und zwar nach dem letzten Zitat dieser Reihe.

Besonders dankt der Verlag Hans-Gerd Koch und Reiner Stach für die wissenschaftliche Begleitung der Arbeit an dieser Ausgabe.

Düsseldorf, im September 2013

Axel Grube und Christian Consten-Vits

Danksagung und Vorworte

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Liebe, Ermutigung und materielle Hilfe einer Vielzahl von Personen, allen voran meines Ehemanns Byron LaDue. Doras erste Biografie setzt sich zusammen aus Interviews, die ich mit Doras Familienangehörigen und Freunden und mit Experten für die geschichtlichen und politischen Bereiche, die ihr Leben betreffen, geführt habe und durch die ich Informationen aus erster Hand gewinnen konnte. Für ihre Teilnahme, ihre Erinnerungen und ihr Fachwissen danke ich zutiefst Leon Askin, Bernd-Rainer Barth, Zelig Besserglick, Majer Bogdanski, Niels Bokhove, Etty Diamant, Dorothy Emmett, John Erpenbeck, Ora Fein, Colette Faus, Miron Grindea, Michael Hamburger, Betty Kuttner, Dina Lask, Noga Maletz, Ottilie McCrea, Ilse Muenz, Ruth Pawel, Bracha Plotkin, Leonard Prager, Luise Rainer, Uziel Raviv, Dasha Rittenberg-Werdygier, Irene Runge, Carol Shaw und Anthony Wilson. Außerdem danke ich Eva Bloch Turner für ihre Hilfe und Unterstützung bei Übersetzungen.

Zu einem großen Teil verdanke ich dieses Buch Johanna (Hanny) Metzger-Lichtenstern und Kafkas Nichte, Marianne Steiner, zwei der engsten Freunde Doras und ihrer Tochter in London. Hannys Beitrag war, zusätzlich zu der Sammlung persönlicher Briefe und Papiere, in die sie mir Einblick gewährte, enorm. Sie übersetzte für mich Doras auf Jiddisch verfasste Artikel, ihre Briefe und Tagebücher und die Briefe von Robert Klopstock und Ester Hoffe ins Englische, die in dieser Ausgabe in ihrer Originalsprache, auf Deutsch, wiedergegeben sind. Marianne Steiner, die an Doras Bett stand, als sie starb, vertraute mir Doras letzte Worte an und unterstützte das Kafka Projekt bei der Suche nach Kafkas Notizbüchern und Briefen, die 1933 von der Gestapo beschlagnahmt wurden. Frau Steiner starb 2000 im Alter von 88 Jahren und Hanny starb 2012 im Alter von 95 Jahren. Ihre Erinnerungen werden mit großer Wertschätzung bewahrt werden.

In Deutschland habe ich sehr viel Hans-Gerd Koch, dem Leiter der Kafka-Forschungsstelle an der Bergischen Universität Wuppertal, zu verdanken. Er steuerte entscheidende Informationen bei und leistete die Beratung, die für ein solches Buch unverzichtbar ist. Der Kafka-Biograf Reiner Stach hat großzügig sein breites Wissen eingebracht, und zwar nicht nur durch sein Vorwort, sondern auch bei der Erarbeitung einer genauen und ansprechenden Übersetzung. Klaus Wagenbach bin ich sehr dankbar dafür, dass er mich an den Ergebnissen seiner in den 1950er-Jahren mit Max Brod betriebenen Nachforschungen nach Kafkas verloren gegangenen Briefen an Dora teilhaben ließ sowie an der Sammlung von Doras Papieren aus seinem Archiv. Die Kafka-Forscherin Maja Rehbein half mir, Doras Familie in Israel ausfindig zu machen, und Stefanie Groenke, die 1998 als Forschungs-Assistentin zum Kafka Projekt kam, widmete sich hunderte Stunden der Übersetzungsarbeit an Doras Papieren und deutschen Texten und unterstützte die Nachforschungen in den darauffolgenden Jahren. Auch Johanna Hoornweg, ebenfalls Assistentin beim Kafka Projekt, war eine große Hilfe. Ich danke auch Ruth Kessentini und der Familie Lask, den Nachkommen von Doras angeheirateten Verwandten in Berlin, dafür, dass sie mir ihre Familienaufzeichnungen zugänglich gemacht (und mich mit offenen Armen empfangen) und mir großzügigerweise die Fotografien der Sammlung Lask für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt haben.

Für Hilfe bei der Arbeit in Archiven danke ich Yoram Mayorek für Nachforschungen in Russland, Israel und Polen, Robert Adamek und Aneta Zapa vom Muzeum Miasta Pabianic, Tim Rogers, dem ehemaligen stellvertretenden Leiter des Bereichs Western Manuscripts der Bodleian Library an der Oxford University, Gisela Erler vom Landesarchiv Berlin und Michael Matzigkeit vom Theatermuseum Düsseldorf. Ich danke auch Seymour Barofsky, Bernhard Echte, Remigiusz Grzela und Heather Valencia für ihre Nachforschungen über Stencl. Für seine Anleitung bei Nachforschungen in Polen danke ich Zdzislaw Les, Jaroslaw Krajniewski und Jeffrey Cymbler. In Tschechien danke ich Judita Matyasova, für ihre Liebe zu Kafka, ihre außerordentlichen Fähigkeiten im Vertrieb und den Hinweis auf den onomato Verlag.

Mein Dank geht auch an Michael Steiner und den Kafka Estate für die Erlaubnis, die Briefe an Kafkas Familie aus der Bodleian Library abzudrucken, Yosl Bergner vom Jewish Chronicle Israel and Clive Sinclair vom Jewish Chronicle London für die Erlaubnis, Melech Rawitschs Geschichte seiner Begegnung mit Dora abzudrucken, Carol Shaw, die mir die Aufzeichnungen ihrer Mutter über die Yealand Manor School zur Verfügung stellte, und David Mazower, der Doras jiddische Artikel sammelte. Ich danke Michel de M’Uzan, Marthe Roberts Witwer, von dem ich Doras Tagebuch und die Korrespondenz erhielt.

Vorwort zur ersten Ausgabe

Ich war neunzehn, als ich zum erstenmal von Dora Diamant hörte. Es war im Frühjahr 1971 in einem Kurs für deutsche Literatur an der Universität Georgia. Wir arbeiteten an einer Übersetzung von Kafkas Erzählung Die Verwandlung, als der Dozent den Unterricht unterbrach und mich fragte: „Sind Sie verwandt mit Dora Diamant?“ Ich hatte damals, wie gesagt, noch nie von ihr gehört. „Sie war Kafkas letzte Geliebte“, erklärte er mir. „Sie waren sehr verliebt. Er starb in ihren Armen, und sie verbrannte einige seiner Arbeiten.“ Ich versprach ihm, es herauszufinden und ihn wissen zu lassen, ob ich mit ihr verwandt war.

Nach dem Kurs lief ich sofort zur Bibliothek. Aus Max Brods Biografie über Franz Kafka erfuhr ich, dass Dora neunzehn gewesen sein soll, als sie Kafka traf – genauso alt wie ich damals. Später sollte sich herausstellen, dass ihr Alter und auch einige andere Dinge nicht korrekt überliefert waren, aber damals war ich fasziniert von dem, was ich dort las: Dora war eine leidenschaftliche, lebendige und intelligente junge osteuropäische jüdische Frau gewesen, die einem der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zum glücklichsten Jahr seines Lebens verholfen hatte. Ich wollte mehr über sie erfahren, konnte aber nichts darüber finden, was nach Kafkas Tod aus ihr geworden war. Ich war scheinbar in eine Sackgasse gelangt.

1984 erschien dann eine Kafka-Biografie mit spannenden neuen Informationen über Dora, The Nightmare of Reason: A Life of Franz Kafka von Ernst Pawel. Das Buch beleuchtete die atemberaubende Geschichte von Doras Leben nach Kafkas Tod, angefangen von der Flucht vor der Gestapo aus Berlin nach Russland über die erneute Flucht vor Stalins Säuberungen bis hin zum Erleben der letzten Kriegsjahre in London unter massiver Bombardierung durch die Deutschen. Dora hatte nach Kafkas Tod einen idealistischen deutschen Kommunisten geheiratet, mit dem sie eine Tochter hatte, die laut Pawel noch in England lebte. Und die Frage, die mich nun schon seit Jahren beschäftigte – lebt Dora noch? – wurde auch endlich beantwortet. Sie starb am 15. August 1952, genau drei Monate bevor ich geboren wurde.

Inspiriert von Doras Abenteuerlust und von den merkwürdigen Zufällen, die uns verbanden, begab ich mich auf die Suche, um Doras Lebenslauf zu vervollständigen. Auf meiner ersten „Mission, Dora zu finden“, im Jahr 1985 reiste ich nach Prag, Wien und Jerusalem. Auf dieser Reise lernte ich mehr über mich selbst als über Dora, aber seitdem hat mich meine Recherche auf Doras Spuren an viele weitere Orte gebracht, nach Polen, Deutschland, Frankreich, England, zur Isle of Man und auch mehrere Male wieder nach Tschechien und Israel.

1996 gründete ich das Kafka Projekt an der Universität San Diego mit einem internationalen Beratungskomitee, bestehend aus Kafka-Experten und -Forschern, mit dem Ziel, die verlorenen Schriften Kafkas, die 1933 von der Gestapo in Doras Wohnung beschlagnahmt worden waren, ausfindig zu machen. Die vorliegende Biografie wurde letztlich erst durch den Fund von Dokumenten und Fotos während einer viermonatigen Recherchereise für das Kafka Projekt zu deutschen Archiven in Berlin im Jahr 1998 sowie durch die Entdeckung von Doras Tagebuch 2000 in Paris ermöglicht.

Doras Sichtweise eröffnete mir einen Weg, Franz Kafka, den wohl am häufigsten missverstandenen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts, begreifen und schätzen zu lernen. Im Gegenzug leiteten mich Kafkas Worte und Aphorismen bei meiner Suche nach Dora, gaben mir Mut, Humor, Einsicht und Kraft, die ich brauchte, um ihre Geschichte nachzuvollziehen und aufzuschreiben. Zu Beginn folgte ich einzig und allein meiner Intuition, dem Gefühl, es wäre im Sinne Doras, diese Geschichte zu erzählen. Dann, als ich ihre Briefe, ihre veröffentlichten jiddischen Texte, ihre unveröffentlichten Notizen über Kafka und die aufschlussreichen Dokumente über sie selbst aus den Gestapo- und Komintern-Akten fand, ergriff Dora selbst das Wort und wurde meine bedeutendste Mitarbeiterin und Vertraute bei der Arbeit an diesem Buch, mit ihrem durch ihre Worte und Handlungen vermittelten Wesen und ihrem Vermächtnis: der großzügig ausströmenden Liebe und Unterstützung durch ihre Freunde, Familie und diejenigen, die, wie mich, ihr unzerstörbarer Geist unaufhörlich berührt.

Auf die erste aller Fragen konnte ich, trotz aller gelüfteten Geheimnisse in und um Doras Leben, ironischerweise noch keine Antwort finden. Ihre Familie in Israel hat mich und meine Familie herzlich aufgenommen in die „Mischpoke“, doch ich weiß immer noch nicht, ob Dora und ich nun verwandt sind oder nicht. Ich bezweifle jedoch nicht, dass zwischen uns eine Verbindung besteht. Dora hat meine Sicht auf die Welt verändert, und ihr Leben hat mich inspiriert, mein eigenes zu verändern. Bevor Dora sich 1948 erstmals über Kafka interviewen ließ, gab sie eine Erklärung ab, die ich gerne in eigener Sache hier wiederholen möchte: „Ich bin nicht objektiv und kann es auch nicht sein. […] Dabei sind meist nicht die Tatsachen ausschlaggebend, es ist vielmehr eine reine Frage der Atmosphäre. Was ich erzähle, hat eine innere Wahrheit, und dazu gehört auch [Subjektivität].“ 1

Kathi Diamant, San Diego, Kalifornien, Dezember 2002

Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe

Die deutsche Ausgabe von Kafkas letzte Liebe ist schon lange überfällig. Erstmals erschien das Buch in den USA und Großbritannien. Die Rechte für eine deutsche Ausgabe wurden im Jahr 2000 vom Ullstein Verlag gekauft, doch während in den folgenden Jahren Übersetzungen ins Spanische, Französische, Chinesische, Russische und ins Portugiesische erschienen, blieb eine deutsche Fassung aufgrund von Übernahmen und eines Gerichtsverfahrens vorerst aus. Die Übertragung ins Deutsche wurde jedoch mit Spannung erwartet, und für weitere Übersetzungen ist sie sicherlich auch am wichtigsten, wurde doch das ausführlich zitierte Quellenmaterial ursprünglich meist in deutscher Sprache verfasst, darunter natürlich die Schriften Kafkas sowie Doras Briefe und Tagebücher, aber auch die Korrespondenz ihrer Freunde und Familie, Archivdokumente und Hintergrundmaterialien, deren Feinheiten und tiefere Bedeutungen bei der Übertragung ins Englische leider oftmals schwanden oder sogar verloren gingen. Während diese Gefahr nun wiederum bei der Übersetzung des englischen Textes ins Deutsche besteht, erscheinen Primärquellen jetzt in der Regel in ihrer Originalfassung, was, vor allem angesichts der Originalität von Kafkas Sprache, sicherlich wünschenswert ist.

Des Weiteren ist dieser Ausgabe zum ersten Mal das ursprüngliche Tagebuch von Dora Diamant beigefügt, welches sie, schon schwer krank, ein Jahr vor ihrem Tod zu schreiben begann. Es waren ihre ersten Aufzeichnungen über Kafka, sicherlich auch im Hinblick auf ihren möglichen Tod begonnen, „um einmal das zu sagen, was in Zusammenhang mit Kafka zu sagen nötig ist. Alles. Ohne Rückhalt“. So beschrieb Dora ihr Vorhaben in einem Brief an Marthe Robert, Kafkas Biografin und Übersetzerin ins Französische, mit der sie in den letzten Jahren in engem Kontakt stand. In einem früheren Brief hieß es: „Will mal sehen wie ich jetzt ,Franz Kafka‘ aufschreiben kann. Armer Junge!“

Auf dem roten Kartoneinband des Tagebuchs hatte Dora die Anweisung „Max Brod zu übergeben“ vermerkt, ihre Tochter gab das Tagebuch nach Doras Tod jedoch Marthe Robert, die in einer Pariser Zeitschrift darüber berichtete.

Ausschnitte aus dem Tagebuch werden schon im Buch zitiert, im Anhang dieser Ausgabe kann der Leser nun aber den ganzen Text nachlesen und sich selbst ein Bild davon machen. Dora Diamant ist es nicht leichtgefallen, ihre Sicht auf Kafka zu formulieren, auch angesichts der damals schon existierenden Fülle an Interpretationen zu Kafkas Person.

Zusätzlich zum Tagebuch erscheinen hier Fragmente eines zweiten Tagebuchs, von ihr „Hospital-Tagebuch“ genannt, sowie die „Chronologischen Initialien“ und „Kurze Notizen für Eintragung“. Die Tagebücher und Notizen wurden damals von ihrer Tochter und wahrscheinlich auch von Marthe Robert transkribiert und teilweise neu geordnet. Diese Abschriften waren Teil eines Pakets mit ausgewählten Materialien, das mir Klaus Wagenbach für mein Dora-Diamant-Archiv im Oktober 2002 übergab. Die Materialen von Klaus Wagenbach umfassen mehr als sechzig Seiten an Briefentwürfen sowie eine Neuordnung des ersten Tagebuchs mit zusätzlichen Texten und anderen, ursprünglich auch handschriftlichen Dokumenten. Einige dieser Dokumente zeigen auf drastische Weise Doras Armut und den Mangel an Schreibpapier nach dem Krieg. So sind wichtige Bemerkungen teilweise auf Schmierpapier, Kontoauszügen oder der Rückseite von Einkaufszetteln notiert. Ich hoffe, dass auch diese Notizen einmal veröffentlicht werden können, vielleicht zusammen mit den siebzig Briefen Doras an Max Brod aus den Jahren 1925 bis 1952, die aufgrund des Gerichtsverfahrens um das Brod-Archiv in Israel noch nicht öffentlich zugänglich sind.

Zu guter Letzt möchte ich noch Axel Grube, Hanna Koch und dem ganzen Team von onomato dafür danken, dass sie sich entschieden haben, Kafkas letzte Liebe zu veröffentlichen und sich der Aufgabe anzunehmen, den Wortlaut von Passagen aus ursprünglich deutschsprachigen Quellen wiederherzustellen, und für ihre Liebe und Hingabe an die Schriften und die Welt Franz Kafkas.

Kathi Diamant, San Diego, CA 3. Juni 2013

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Fußnoten

1 - J. P. Hodin: Erinnerungen an Franz Kafka, Der Monat, Juni 1949, S. 90 f.

Vorwort von Reiner Stach

›Das Genie und seine Muse‹ ist ein Topos der neueren europäischen Kulturgeschichte, und einer der ideologisch hartnäckigsten: Selbst noch im 20. Jahrhundert, als der Geniebegriff längst obsolet geworden war und an die Stelle von Musen profanere Figuren wie ›Süße Mädel‹, Groupies oder zum Diktat eilende Ehefrauen getreten waren, blieb die Vorstellung wirksam, es sei eine ehrenvolle Aufgabe der Frau, den männlichen Geist zu entzünden und für sinnlichen Brennstoff zu sorgen. Bei Karl Kraus, dem Unbestechlichen, ist das wörtlich so nachzulesen. Und noch immer fällt es manchem schwer, sich von diesem Wunschbild zu verabschieden, obwohl es auf nichts anderes hinausläuft als auf die Verklärung einer sekundären, abhängigen Existenzweise.

Dieses Beharren hängt zusammen mit der Art und Weise, wie wir auf Prominente schauen. Wer sich beispielsweise für Leben und Werk eines einflussreichen Schriftstellers interessiert, wird dazu tendieren, auf diesen Menschen einen Lichtkegel der Erkenntnis zu richten, der an den Rändern immer schwächer wird. Personen also, die dem Dichter nahekamen, interessieren ihn von vornherein mehr als Personen, die scheinbar nur beiläufig das Umfeld kreuzten. Und alle Personen interessieren ihn in Bezug auf den Dichter, während ihr Leben davor und danach oft nur noch lexikalisch registriert wird. So entsteht die naive Vorstellung eines Planetensystems, in dessen Mitte die kreative Persönlichkeit thront, umgeben von mehr oder minder treuen, mehr oder minder bedeutsamen Trabanten.

Gestützt wird diese Vorstellung häufig durch eine biografisch unbefriedigende, nämlich asymmetrische Quellenlage. Tagebücher und Briefe des Berühmten wurden aufbewahrt und publiziert, während die Notate aus seiner Umgebung oft nur fragmentarisch erhalten blieben. Goethe ist ein paradigmatischer Fall: Seine Briefe an Charlotte von Stein waren bereits eine Generation nach seinem Tod der Öffentlichkeit zugänglich, die Gegenbriefe sind verschwunden. Und im 20. Jahrhundert ist es Kafka, der das Dilemma in seiner wohl reinsten Form verkörpert.

Felice, Milena, Dora: Wir kennen diese Namen. Es sind die Vornamen von ›Geliebten‹, von Frauen also, zu denen Kafka in einer bedeutsamen erotischen Beziehung stand und von denen wir wissen, dass sie seine schriftstellerische Arbeit beeinflussten und ihn zu bewegenden Briefen veranlassten. ›Briefe an Dora‹ allerdings besitzen wir nicht, sie gingen ein Jahrzehnt nach seinem Tod verloren, als die Gestapo Doras Wohnung durchsuchte. Hingegen gibt es ein riesiges Bündel von Briefen an Felice, heute eine der bedeutsamsten biografischen Quellen, sowie die in ihrer Intensität unvergleichlichen Briefe an Milena. Von den Antworten der drei Frauen ist uns nichts als ein paar Zeilen geblieben, den weitaus größten Teil hat Kafka selbst vernichtet, höflichkeitshalber.

Die Nachnamen dieser Frauen werden viel seltener erwähnt, dem ungeschriebenen Gesetz folgend, dass der alleingestellte Vorname Intimität signalisiert. Schon auf dem Buchcover also beginnt, in Form unschuldiger Rollenprosa, eine Art Parteinahme. Doch genügend Beispiele belegen, dass diese Konvention ziemlich flexibel ist. Jean-Paul Sartre, ›Briefe an Simone‹, würden wir als ziemlich unpassenden Titel empfinden, während Kafkas Briefe an Milena beinahe wie der Titel eines literarischen Werks anmutet, ebenso auratisch wie unveränderlich. Er gibt unterschwellig zu verstehen, dass die sprachliche Produktivität des Autors hier ganz im Vordergrund steht und dass ›Milena‹ lediglich den Anlass bot. Sie ist die Adressatin, und sie bleibt es.

Solche Titel konnten sich auch deshalb einbürgern, weil man über Kafkas Frauen nichts wusste. Das verführte dazu, sie als bloße Projektionsflächen zu sehen – eine optische Täuschung, der in krassester Form Elias Canetti aufgesessen ist, dessen biografische Studie Der andere Prozeß die Figur Felice Bauers tatsächlich ohne Gesicht zeigt. Im Fall Milena Jesenskás waren es vor allem sprachliche Barrieren, die es dem westlichen Publikum schwer machten, hinter der Adressatin eine Frau mit eigenem Schicksal wahrzunehmen. Und von Dora Diamant hatte man überhaupt keine Vorstellung, außer dass sie für den schwerkranken Kafka ein ganz außergewöhnliches Glück gewesen sein muss.

Erst gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts kam sowohl in der Forschung als auch beim Publikum spürbare Frustration darüber auf, dass man es noch immer mit gesichtslosen Musen zu tun hatte. Es gab nun ein geschärfteres Bewusstsein dafür, dass dies Kafka unmöglich angemessen sein konnte. Denn es ist biografisch durchaus von Belang, wer die Menschen waren, denen er sich nahe fühlte, die er in gewissem Sinne gewählt hatte – ganz zu schweigen davon, dass diese Frauen nun auch um ihrer selbst willen interessant wurden. Das galt vor allem für Milena Jesenská, deren journalistische Arbeiten neben einigen Briefen nach und nach übersetzt wurden und die Sicht auf ein erstaunliches Leben freigaben, in dessen Zentrum keineswegs Kafka stand. Dann folgten Dokumente und Informationen aus dem Umfeld Felice Bauers, welche nicht nur den sozialen Typus, den sie verkörperte, plastisch hervortreten ließen, sondern die auch das Scheitern der Beziehung zu Kafka weit verständlicher machten, als es dessen notorische Selbstanklagen je vermochten.

Schließlich, als Schlussstein dieser biografischen Neuorientierung, die außerordentlich ertragreichen Recherchen zum Leben Dora Diamants, die der Initiative ihrer kalifornischen Namensvetterin zu verdanken sind. Kathi Diamant forschte in deutschen, englischen, polnischen, russischen und israelischen Archiven, machte Familienangehörige auf mehreren Kontinenten ausfindig. Plötzlich entstand vor den Augen des Lesers eine lebendige, differenzierte, widerspruchsvolle Figur mit farbigem Hintergrund, wo es zuvor nur eine Skizze, ja beinahe nur ein Gerücht gegeben hatte. Und nun erst zeigte sich, wie unzulänglich, ja irreführend alle bisherigen Vorstellungen über Kafkas letzte Lebenszeit gewesen waren. Kafka hatte keine Muse getroffen, alles andere als das. Er war einer jungen Frau begegnet, die schon seit ihrer Kindheit ebenjenen Zwiespalt gleichsam körperlich durchlebte und durchlitt, der für ihn selbst ein ethisches und intellektuelles Problem war: den Zwiespalt zwischen einer jüdischen Tradition, deren Vitalität mit Unwissen und Unfreiheit erkauft war, und dem Reichtum westlicher Bildung, der nur um den Preis von Individualismus, Abstraktion und sozialer Kälte zu haben war.

Diese Grenzzone zwischen Tradition und Moderne betraten Franz Kafka und Dora Diamant gleichsam von entgegengesetzten Seiten und fast zur selben Zeit. Sie hatte sich aus einer jüdisch-orthodox geprägten Umgebung freigekämpft, ihren Hunger nach Bildung und Freiheit auf eigene Rechnung gestillt und dafür in Kauf genommen, dass die familiären Bande rissen – ein ungeheures Opfer. Kafka hingegen war aufgewachsen in einer weitgehend assimilierten Familie, und seine Erziehung folgte den Maximen des Liberalismus und des bildungsbürgerlichen Humanismus. Erst nach und nach verstand er, dass damit das Problem der jüdischen Identität nicht einfach verschwunden war – nicht in einer Gesellschaft, in der Juden noch immer, oder wieder, als ›Gastvolk‹ betrachtet wurden. Kafka streckte die Fühler aus: Er sah jiddisches Theater, las über die Geschichte des Judentums, beschäftigte sich mit chassidischen Legenden und versuchte, ein wenig Hebräisch zu lernen. Als er Dora Diamant kennenlernte, begriff er sofort, dass sie eine Art Koexistenz von östlicher und westlicher Lebensweise verkörperte, die auch er sich als Lösung durchaus vorstellen konnte, obgleich das weder in ihrem noch in seinem Lebensplan vorgesehen war: eine Komplizin also. Ob er auch im herkömmlichen Sinn ›verliebt‹ war, wissen wir gar nicht. Wichtiger für ihn war, dass das scheinbar Unmögliche doch noch eingetroffen war: die Begegnung mit einer Frau, mit der ein gemeinsames Leben nicht bloß in der Imagination möglich war. Er kannte sie erst seit zwei Wochen, und der Beschluss war bereits gefasst: Er würde zu ihr nach Berlin kommen. Es ist nicht das geringste Verdienst der ersten Biografie über Dora Diamant, dass uns diese Entscheidung in ihrer Plötzlichkeit und Festigkeit zum ersten Mal als etwas völlig Plausibles erscheint, plausibel von beiden Seiten.

Über unerfüllbare symbiotische Wünsche, die noch seine Beziehung zu Felice Bauer so qualvoll unterminiert hatten, war der 40-jährige Kafka hinaus. Ihm war sicherlich bewusst, dass die privilegierte Bedeutung, die sein ›Schreiben‹ lebenslang für ihn gehabt hatte, für Dora nur schwer zu verstehen war. Sie erlebte ihn als einen Menschen von erstaunlicher Tiefe, dessen mündliche und schriftliche Äußerungen gleichberechtigt waren, und an literarischen Werken hatte sie – nach allen Zeugnissen, die wir jetzt über sie besitzen – ein durchweg inhaltliches, persönliches Interesse. Dass solche Werke auch der Selbstverständigung einer ganzen Epoche dienen, dass daher Kafka zu einer öffentlichen Figur werden und andere, Fremde ihn eines Tages ›interpretieren‹ würden, war für sie kaum vorstellbar, geschweige denn akzeptabel. Die Notizhefte, die er in Berlin benutzte, behielt sie für sich, als enthielten sie Mitteilungen ›an Dora‹ – daher gingen auch diese Texte verloren.

Dora Diamant hat später geheiratet, sie hatte ein Tochter. Als Jüdin, als Frau, als Sympathisantin der politischen Linken erlebte sie Unterdrückung, Verfolgung, gewaltsame Trennung und das Elend des Exils. Was Kafka zu alldem wohl gesagt und geschrieben hätte, überlegte sie gewiss mehr als einmal in ihrem Leben. Und seit wir sie nun kennen, denken auch wir daran.

Reiner Stach, Berlin, Juli 2013

Die Schwelle des Glücks

Ich bin ein lebendig gewordenes Gedächtnis, daher auch die Schlaflosigkeit.Franz Kafka, Tagebücher1

Kierling, Österreich, 3. Juni 1924

Franz war um Mitternacht eingeschlafen. Während die Minuten seines letzten Tages langsam vergingen, saß Dora an seinem Bett, betrachtete seinen geschwächten Körper, achtete genau auf jede Veränderung seiner Atmung. Eine Lampe auf dem Tisch warf lange Schatten auf die hohen Wände des Raums, die Balkontür war geöffnet, damit er frische Luft bekam. Dora beobachtete das langsame Heben und Senken seiner Brust. Sie betrachtete sein Profil, die scharfen Konturen seiner langen, schmalen Nase, die hohen Wangenknochen und tief liegenden Augen. Mehr als je zuvor sah Franz nun wie ein amerikanischer Indianer aus, so, wie er ihr bei der ersten Begegnung erschienen war.

Sein Äußeres war nun nicht mehr so anziehend: Sein Gesicht war ausgezehrt, seine glänzenden grauen Augen tief eingesunken. In den letzten Monaten war er schnell gealtert. Bis vor kurzem noch hatte er ein jungenhaftes Gesicht. Als Dora ihn kennenlernte, hatte sie ihn für einen jungen Mann gehalten. Franz war vierzig. Genau ein Monat war es noch bis zu seinem einundvierzigsten Geburtstag.

Allein durch ihren Willen, so glaubte Dora, könne sie ihn wieder gesund machen. Manchmal geschehen Wunder. Die Tuberkulose hatte auf seinen Kehlkopf übergegriffen. Es war ihm beinahe unmöglich, zu essen oder ein wenig Wasser zu trinken. Doch trotz der Qualen, die ihm jeder Schluck verursachte, wollte Franz leben. Als der Spezialist aus Wien zu einer Visite eintraf und ihm mitteilte, der Zustand seines Kehlkopfs scheine sich gebessert zu haben, begann er zu weinen, er küsste und umarmte Dora. Nie habe er so sehr Leben und Gesundheit gewünscht wie jetzt, wiederholte er immer wieder. Was auch immer Dr. Beck und die anderen Ärzte sagten: Dora war fest davon überzeugt, dass Franz wieder gesund würde, wenn sie ihn nur dazu bringen könnte, mehr zu essen.

Schlaf war für Franz ein Segen. Oft begann er den Tag schon erschöpft und ausgelaugt nach schlaflosen Nächten. In letzter Zeit jedoch hatte Dora ihn beim Abendessen zu kleinen Schlucken Bier und Wein verlocken können, ohne sein Wissen mischte sie Somatose bei, ein Schlaf- und Aufbaumittel, 2 und so hatte Kafka die letzten Nächte durchgeschlafen und sich morgens wesentlich besser gefühlt. Sogar an der Korrektur der erst kürzlich vom Verlag eingetroffenen Druckfahnen seiner neuesten Sammlung von Erzählungen, Ein Hungerkünstler, hatte er an diesem Nachmittag arbeiten können.

„Hier, jetzt, mit diesen Kräften soll ich es schreiben“, hatte er geklagt, „erst jetzt schicken sie mir das Material.“ 3 Angesichts seines abgemagerten Zustands und seiner Unfähigkeit zu essen war die schmerzliche Ironie nicht zu übersehen. Denn in der Erzählung, die dem Sammelband den Namen gab, betreibt ein verzweifelter Jahrmarktkünstler das Hungern als eine Kunstform.

Dora strich sanft über seine Stirn. In einem schwachen Moment hatte sie ihn zu einem Todespakt überreden wollen. Sie schwor, ihm in den Tod zu folgen, falls er sterben würde, und schöpfte Trost aus dieser emotionalen Erpressung. Dora war verzweifelt, und sie würde jedes ihr verfügbare Mittel einsetzen, auch seinen Wunsch, sie zu schützen. Während der langsam verstreichenden ersten Stunden des 3. Juni wandte sie sich optimistischeren Vorstellungen zu, sie erinnerte ihren Traum von einem gemeinsamen Leben in Palästina, einen Traum, der erst vor elf Monaten begonnen hatte.

Müritz, Ostseeküste, 13. Juli 1923

Dora Diamant stand in der Küche eines Ferienheims im Haus Huten in Müritz, einem Badeort an der Ostsee. Sie bereitete das Essen vor und nahm Fische aus. Durch einen offenen Eingang und ein kleines Fenster nahe der Spüle drang Licht in den Raum. Die Bewölkung klärte sich auf, und die Nachmittagssonne warf einen goldenen Schein in die kleine Küche. Bei der Arbeit dachte sie an den großen, dunkelhaarigen Mann, den sie am Strand mit zwei Kindern hatte spielen sehen. Den Mann, den sie nicht vergessen konnte.

Dora war fünfundzwanzig Jahre alt. Daheim in Będzin, in Polen, hätte man sie „ein spätes Mädchen“ genannt, über ihre besten Jahre weit hinaus und beinahe nicht mehr heiratsfähig. In Deutschland, besonders in Berlin, wo sie seit drei Jahren lebte, dachte man inzwischen ganz anders. Das moderne Bild einer Frau war nicht mehr „die noch fast kindliche, wohlerzogene Jungfrau“ vergangener Jahre, sondern „die unabhängige, wissende, selbstsichere und meist auch berufstätige junge Frau mit eigenem Einkommen.“ 4 Dora brauchte sich keine Sorgen zu machen; sie sah jünger aus, als sie war. Die meisten Leute schätzten sie auf erst neunzehn oder zwanzig Jahre, und sie widersprach ihnen nicht. Warum auch? Das war ja einer der Vorteile, wenn man im Westen ein neues Leben begann: Sie konnte sich neu erfinden und sein, was immer sie wollte.

Sie war nicht auffallend schön; eher klein, ungefähr einen Meter sechzig, mit leichter Tendenz zur Fülligkeit, aber schlanken Beinen. Ihre Gesichtszüge waren reizvoll, aber ihr Gesicht zu rund, die Lippen zu voll und ihr Mund zu groß, um als klassische Schönheit zu gelten. Wenn sie breit lächelte oder lachte, entblößte ihre Oberlippe das Zahnfleisch. Sie lächelte daher meist, besonders auf Fotos, mit geschlossenen oder nur leicht geöffneten Lippen. Sie sah dann aus wie es ihr am liebsten war: ein wenig geheimnisvoll, wie Mona Lisa. Ihre Augen waren dunkel. Ihr hellbraunes Haar trug sie, nach dem revolutionären „Bob“ des modischen Berlin, kurzgeschnitten. Doch ihr Haar war zu wellig für die glatte Frisur, und bei der Arbeit fielen ihr widerspenstige Strähnen in die Augen, die sie mit dem Unterarm zur Seite schob.

Mit sicherer Hand trennte Dora den Fischen die Köpfe ab. Heute, an Oneg Schabbat, sollte es ein besonderes Abendessen geben, denn es war angekündigt, dass ein Gast, Dr. Kafka aus Prag, am Sabbatmahl teilnehmen würde. Eine der anderen Freiwilligen, die sechzehnjährige Tile Rössler, hatte ihn eingeladen. Tile sprach pausenlos von Dr. Kafka, nachdem sie ihm zwei Tage zuvor begegnet war, und schien ziemlich verliebt in ihn.

Dora war für die Küche verantwortlich. Die Ferienkolonie wurde organisiert und geleitet vom Jüdischen Volksheim, einem Hilfswerk, gegründet während des Ersten Weltkriegs, um die jüdischen Traditionen der osteuropäischen Flüchtlinge zu fördern. Es war auf Waisen und Kinder ausgerichtet, die aus Städten, Dörfern und Schtetln in Galizien und Schlesien durch Krieg, Hungersnot und Pogrome vertrieben worden waren; die bemüht waren, sich in den Elendsquartieren des übervölkerten Berliner Scheunenviertels, des alten jüdischen Viertels, ein Leben aufzubauen. Seit Doras Ankunft in Berlin hatte das Jüdische Volksheim ihr ein Gefühl von Gemeinschaft und Familie gegeben. Nach dem Vorbild des Siedlungsbausystems, das in England und den USA für Palästina entwickelt worden war, unterstützte es eine Vielzahl von Aktivitäten wie selbstverwaltete Jugendgruppen, Kurse für Hebräisch und rhythmischen Tanz, Wanderungen, Diskussionen zu politischen und kulturellen Themen sowie das Erzählen jüdischer Sagen und chassidischer Geschichten, worin Dora sich besonders hervortat. 5 Die Ferienkolonie des Volksheims im Haus Huten, einer weitläufigen, zweigeschossigen Herberge, befand sich am Rand eines Birkenwalds im östlichen Müritz. Für die Kinder war der Aufenthalt ein Aufatmen, eine wohltuende Ruhepause vom schwierigen Leben als staatenlose Fremde.

Kurz nachdem sie als polnisch-jüdische Emigrantin in Berlin angekommen war, hatte Dora von den Aktivitäten des Volksheims erfahren und bot ihre Fähigkeiten als ›Fröblerin‹ oder Kindergärtnerin an, um mitzuhelfen, die jüngeren Kinder auf eine Übersiedlung nach Eretz Israel vorzubereiten. Ebenfalls aus dem Osten hierher gekommen, kannte sie die gewaltigen Hindernisse und den Hass, denen sich Juden gegenübersahen. Sie glaubte mit Leidenschaft an die Notwendigkeit einer jüdischen Heimat in Palästina, in Eretz Israel, dem Gelobten Land. In ihren Tagträumen sah sie sich oft, wie sie sagte, „in den Feldern Galiläas“, in einem Kibbuz, Seite an Seite mit anderen freien Juden arbeiten und leben, Männern und Frauen aus allen Ländern, die Moore und Brachland urbar machten, Gärten bepflanzten und für ihre zukünftigen Kinder und Enkelkinder eine sichere und gerechte Welt erschufen.

Theodor Herzl, der Begründer des modernen politischen Zionismus, hatte 1897, ein Jahr vor Doras Geburt, zum ersten Mal einen jüdischen Staat in Palästina gefordert. Wie Herzl (dessen Mutter ebenfalls Diamant hieß) hatte auch Dora große Träume, und die Botschaft Herzls, „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“ 6 , bestärkte sie darin. Doch außer Träumen besaß sie nichts, kein Geld, kein Erspartes. Sie ließ alles zurück, als sie sich von den Überzeugungen und Traditionen ihres Vaters abwandte.

Wenn eine Heirat für sie nicht infrage kam, blieben ihr als ältester Tochter eines angesehenen und strenggläubigen Vaters nur zwei Möglichkeiten: Kindergärtnerin oder Buchhalterin zu werden. Letzteres war für sie völlig indiskutabel, und obwohl Dora Kinder liebte – sie half, ihre jüngeren Geschwister großzuziehen, nachdem ihre Mutter verstorben war –, wollte sie auch Kindergärtnerin nicht werden. Sie wollte mehr von ihrem Leben als das, was ihre Mutter durchgemacht hatte. Dora schöpfte Hoffnung aus den zahlreichen neuen Möglichkeiten, die sich, mehr als jemals zuvor in der Geschichte, für junge, auch jüdische Frauen ergaben, und sie wollte sie nutzen. In Deutschland machten Frauen große Fortschritte in der Kunst, Wissenschaft und Politik. Auch Dora wollte etwas aus sich machen, aber sie wollte auch die Welt verbessern und das Leben anderer. Eines ihrer Vorbilder in Berlin war Clara Zetkin, die leidenschaftliche Sozialistin und Feministin, Mitbegründerin der internationalen Frauenrechtsbewegung, politische Führungsfigur und Abgeordnete des deutschen Reichstags.

Nach dem Tod ihrer Mutter übernahm Dora als älteste Tochter zusätzliche Verantwortung. Daher wuchs sie selbstständiger auf als die meisten Mädchen. Sie versorgte ihre Geschwister und übernahm die Rolle ihrer Mutter, wenn sie am Freitagabend die Kerzen anzündete und zum Ende des Sabbats das Gebet ›Gott Abrahams‹ sprach. Doch mit dieser Verantwortung hatte sie auch mehr Freiheit, zu lesen, zu lernen und von anderen Möglichkeiten in ihrem Leben zu träumen. Als heranwachsende Frau begann sie, die von Geburt an für sie vorgesehene Rolle abzulehnen.

Dora hielt aus Gefühl und Überzeugung an ihren Wünschen fest, auch wenn die Spannungen mit ihrem Vater wuchsen und sich in manch heftigem Streit entluden. Selbst ihr Verlangen, mehr über ihre Religion zu erfahren, wurde als unnatürlich und schädlich betrachtet. Eine Zeit lang täuschte sie vor, die von ihrem Vater und der Gesellschaft auferlegten Regeln zu befolgen. Doch heimlich schloss sie sich in Będzin einer Theatergruppe an und agierte in einigen Stücken als Schauspielerin.

Zehn Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau verheiratete sich ihr Vater erneut. Dora war nun fast zwanzig Jahre alt. Es musste etwas geschehen mit ihr, und so wurde sie nach Krakau gebracht, in die Mädchenschule ›Sarah Schirmer Beis Ya’acov‹. Dort aber, in Krakau, wurden Dora endlich die Augen geöffnet, und sie erkannte, dass sie tatsächlich eine andere Wahl für ihr Leben hatte. In Europa war ein neues Zeitalter des Säkularismus und Humanismus angebrochen. Zahlreiche junge Menschen ließen ihre Heimat und Traditionen hinter sich auf der Suche nach neuen Chancen und Lebensweisen in den wissenschaftlich wie gesellschaftlich hochentwickelten Ländern des Westens. Daran wollte Dora teilhaben und, wie sie sagte, „die Pilgerfahrt nach Westeuropa unternehmen, um in seinen Tabernakeln die Gesetze der Humanität, des Lichts und der Schönheit zu studieren“ 7

Zwei Mal lief Dora aus der Beis-Ya’acov-Schule in Krakau fort. Sie ging nach Deutschland „mit einer aufnahmebereiten Seele“, suchte das Licht des Westens, von dem sie so viel gehört hatte, „mit seinem Wissen, seiner Klarheit und seinem Lebensstil“. Als sie Polen verließ, sah Dora sich als „ein dunkles Geschöpf voller Träume und Vorahnungen, wie aus einem Roman von Dostojewski entsprungen“. 8 Nach ihrer ersten Flucht spürte ihr Vater sie auf, fand sie in Breslau und brachte sie zurück in die Schule. Beim zweiten Mal resignierte der Vater und ließ sie ziehen. Doras Entscheidung beschämte ihre Familie, und ihr Vater, Herschel Dymant, ein beliebter und frommer orthodoxer Jude und angesehener Anhänger des chassidischen Gerrer Rebbe, war tief enttäuscht. Aber was sonst hätte Dora tun können? Ihr scharfer Verstand, ihre tiefen Gedanken und ihre Willensstärke – alles das galt nichts in ihrer angestammten Umgebung, allein deshalb, weil sie eine Frau war. Der Gott ihres Vaters verleugnete sie, verweigerte ihr, weiter zu lernen und die jüdischen Gesetze zu studieren, und er verurteilte sie zu einem Leben, das sie nicht leben konnte.

Seit nunmehr vier Jahren gelang es Dora, ein selbstständiges Leben zu führen. Ihre erste Stelle in Berlin hatte sie als Kinderfräulein bei Dr. Hermann Badt, einem leitenden Mitglied der orthodoxen Gemeinschaft Berlins und ranghohen Beamten im preußischen Innenministerium – der „erste Jude überhaupt, der zum preußischen Staatsdienst zugelassen wurde“. 9 Später fand sie eine Unterkunft in einem Waisenhaus, wo sie als Näherin arbeitete.

Obwohl Dora die Riten nicht mehr praktizierte und nach den Maßstäben ihres strenggläubigen Vaters nicht mehr religiös war, war sie doch ganz erfüllt von ihrem Judentum. Sie studierte die Gesetze der Thora, interessierte sich für deren tiefere humane Bedeutung und suchte ihren Platz in der Welt als moderne Frau. Hätte sie sich entschieden, in Będzin zu bleiben, hätte man ihr ihre Bücher für immer weggenommen. Hätte sie nachgegeben und mit Billigung ihres Vaters einen der mittellosen Religionsgelehrten geheiratet, hätte ihr, wie zuvor ihrer Mutter und Großmutter, jeden Morgen ein Tag voll schwerer Arbeit bevorgestanden, um dabei täglich die Gebete ihres Mannes anhören zu müssen, in denen er dafür dankte, nicht als Frau geboren zu sein.

Als Dora in der Küche des Ferienheims die Fische ausnahm, wanderten ihre Gedanken zurück zum Strand, zu den Schaumkronen auf den Wellen und zu der Seebrücke, die sich weit hinaus erstreckte. Zu Fuß waren es nur fünf Minuten dorthin, den Pfad hinunter durch das Unterholz der Kiefern, Birken und Linden. Dora fragte sich, ob der dunkelhaarige und geheimnisvolle Mann jetzt gerade dort sein würde, wo sie ihn vor zwei Tagen in seinem Strandkorb zum ersten Mal gesehen hatte. Als er aufrecht stand, bemerkte sie, wie groß, schlank und dunkel er war. Zwei Kinder, ein kleines Mädchen und dessen älterer Bruder, spielten dort, und eine Frau stand dabei, wahrscheinlich seine Ehefrau. Sie sah zu, wie er mit dem Jungen lachte, der ungefähr elf Jahre alt sein musste. Eine glückliche Familie, dachte Dora.

Sie konnte ihre Augen von diesem Mann nicht losreißen. Er hatte etwas Besonderes. Worin lag es? Er sah gut aus. Groß und dunkelhaarig, eine Mähne von tiefschwarzem Haar umrahmte sein kantiges Gesicht. Sein Lachen war jugendlich, seine Stimme wohlklingend. Als der Mann zusammen mit der Frau und den Kindern den Strand verließ und sie auf der Straße auf den Ort zugingen, folgte ihnen Dora, obwohl das unsinnig war.

Es war Hochsommer, doch es war kühl. Ein Nordwind wehte kalt und feucht von der Ostsee herüber. Zwei Straßen, beide von der Seebrücke ausgehend, führten in den Ort. Die Strandpromenade folgte den Dünen die Küstenlinie entlang nach Westen bis zur Ortsmitte. Die Hauptstraße begann am Ende der Strandstraße, an der auch das Haus Huten lag, und verlief weiter vorbei an Windmühlen und reetgedeckten Bauernhäusern durch Weideland und abgeerntete Felder, auf denen gleichförmige Heuballen lagen. Auf dem Weg in den Ort hielt Dora einen gebührenden Abstand hinter der Vierergruppe, wobei sie ihre Augen von dem Mann nicht abwandte. Er machte lange Schritte und schwankte ein wenig beim Gehen. Offensichtlich war er ein Ausländer, so wie sie, kein Deutscher, doch woher er kam, konnte sie nicht sagen. Groß und gerade stand er da, den Kopf etwas zur Seite geneigt, wenn er zuhörte. Es war sein beschwingter Gang, der Dora schließlich darauf brachte, dass er gar kein Europäer sei. „Das muss ein Halbblut-Indianer sein“, entschied sie.

Lange, tiefe Furchen hatten die Straße aufgeweicht, wo sie nach Norden abbog in Richtung einiger Hotels, Villen und Pensionen, neben Restaurants und Geschäften nahe der Landungsbrücke von Müritz. Die Steine, die einst die Hauptstraße bedeckten, fehlten oder lagen einzeln umher. Die Straße war in einem verfallenen, traurigen Zustand. Obwohl das Ende des Kriegs schon vier Jahre zurücklag, konnte die einzige gepflasterte Straße der kleinen Stadt noch immer nicht erneuert werden. Die immensen Reparationszahlungen, die der Vertrag von Versailles Deutschland nach seiner Niederlage auferlegte, machten es unmöglich.

Müritz ist eine Stadt mit einer sechshundertjährigen Geschichte. Die Seebrücke, 1882 erbaut und nach verheerenden Winterstürmen viele Male wiederaufgebaut, erstreckte sich genau nördlich ins Meer. Paare spazierten über die Promenade und die Brücke, wo Dampfschiffe und Fähren andockten, Passagiere und Fracht aufnahmen oder wieder an Land brachten. Als am späten Nachmittag endlich die Sonne herauskam, ließen rosarote und goldene Strahlen, die durch pastellfarbene Wolken fielen, den Himmel eindrucksvoll erleuchten. Nur wenige abgehärtete Naturen wagten sich, bekleidet mit den neuen, fast knielangen Badeanzügen, ins erfrischende Wasser. Ein abgegrenzter Badebereich links von der Seebrücke war menschenleer. Die meisten Strandbesucher saßen, vor Wind geschützt, in Strandkörben, die über die weite Fläche aus grobem Sand verteilt standen.

Als sie in der Ortsmitte angelangt waren, kam Dora wieder einigermaßen zu sich. Sie erinnerte sich ihrer vernachlässigten Pflichten in der Küche und eilte zurück zum Ferienheim. Auf der Straße vor sich sah sie den Mann mit der Frau und den Kindern. Nur mit einem Nicken und einem kurzen Blick überholte sie sie rasch. Einmal schaute sie sich noch um, konnte aber nur seine große und schlanke Silhouette vor der untergehenden Sonne erkennen.

Dora warf die Fische auf das Küchenbrett. Was immer sie tat, sie konnte ihn nicht vergessen. Er ging ihr nicht aus dem Sinn. Wer war er? Warum zog er sie so stark an? Offensichtlich war er verheiratet. Das war schlimm, doch sie ging darüber hinweg. Vernunft und Zurückhaltung verließen sie. Sie wusste, sie musste ihn wiedersehen.

Plötzlich wurde es dunkler in der Küche. Jemand stand draußen vor dem Küchenfenster. Dora blickte auf, als der Schatten sich rührte und das Licht wieder in den Raum zurückkehrte. Sie sah die Gestalt eines Mannes im Türeingang, sein Kopf war zur Seite geneigt. Es war der Mann vom Strand! Er war größer, als Dora zunächst gedacht hatte: mindestens einen Meter achtzig. Als er eintrat, war Dora hingerissen von seinen Augen, groß und braun – oder waren sie grau? Sie waren weit geöffnet. Sein hypnotisierender Blick war auf den ganzen Raum gerichtet, dann auf den Berg von Fischen vor ihr und, endlich, auf ihre Augen. Sie konnte sich weder rühren noch sprechen. Aber er sprach zu ihr mit tiefer und sanfter Stimme: „So zarte Hände, und sie müssen so blutige Arbeit verrichten!“ 10 Dora blickte hinunter auf ihre Finger, rot vom Blut und mit Fischresten überkrustet. Sie spürte, wie sie errötete, dann aufblickte und sein Lächeln erwiderte. Er tippte an seinen Hut und war wieder verschwunden. Beim Abendessen sah Dora den Mann wieder. Als man auf den Bänken an den langen Tafeln Platz nahm, erfuhr sie, dass der geheimnisvolle Mann vom Strand der Ehrengast dieses Abends war, Dr. Kafka aus Prag. Er wohnte nebenan im Haus Glückauf und hatte zuvor ihre Küche betreten, als er den Eingang zum Ferienheim suchte. Er kam allein. Hoffnung regte sich in Doras Brust. Dies konnte nur eines bedeuten und schon bald wurde ihre neue Zuversicht bestätigt: Dr. Kafka war nicht verheiratet! Er wohnte mit seiner Schwester und ihren drei Kindern in dem benachbarten Hotel. Dora war „überwältigt vor Freude“, sagte sie. Ihre Gebete waren erhört worden. 11

Dora war schon verliebt gewesen. Sie lebte allein in einer der freizügigsten Städte der Welt und hatte bereits so manches über das Leben gelernt. Auch hatten Männer sich in sie verliebt, und tatsächlich gab es gerade jetzt jemanden in ihrem Leben. Sie kannte ihn aus ihrer Heimat, er studierte an der Gartenbauschule in Berlin-Dahlem. Sie hatten Pläne geschmiedet, nach Eretz Israel zu gehen, um dort im Weinbau zu arbeiten. Doch alle Gedanken an ihn – und an jeden anderen – waren wie weggeblasen, als Kafka durch die Tür trat.

Außer dass er Junggeselle geblieben war, hörte Dora nun weitere Einzelheiten über den Gast. Als er bei Tisch den Fisch weiterreichte, ohne davon zu nehmen, erfuhr sie, dass er Vegetarier war. Erst vor kurzem war er pensioniert worden, als hochrangiger Jurist, Obersekretär bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag, wo er auch lebte. Doch das war noch nicht alles: Laut Tile Rössler war er auch ein Schriftsteller, der schon veröffentlicht hatte. Tile rühmte sich sogar, sie habe eigenhändig eines seiner Bücher in der Buchhandlung Jurovics in Berlin, wo sie arbeitete, ins Schaufenster gestellt.

Während des Abendessens gab es einen kleinen, aber bemerkenswerten Vorfall, der, wie Dora meinte, viel darüber verriet, was für ein Mensch Kafka war. Die Kinder waren besonders artig und bemüht, sich dadurch hervorzutun. Sie saßen ganz gerade auf ihren Bänken und gaben ihr Bestes, um den bedeutenden Gast zu beeindrucken. Ein kleiner Junge von etwa fünf oder sechs Jahren, nach Doras Meinung „von allen der am ängstlichsten Bemühte“, war etwas übereifrig, als er gebeten wurde, etwas zu holen. Er erhob sich, geriet dabei ins Stolpern und fiel zu Boden. Beschämt rappelte er sich eilig wieder auf. „Gelächter und Buhrufe würden nun jeden Augenblick losbrechen, umso mehr, da die anderen Kinder ebenso vor Scham gelähmt waren“, berichtet Dora. „Aber bevor das Gelächter anfing und das Kind vor allen gedemütigt wurde, rief Kafka mit völliger Bewunderung in seiner Stimme aus: ‚Wie geschickt du gefallen bist und wie geschickt wieder aufgestanden!‘ Nicht nur die Selbstachtung des Kindes wurde gewahrt, es erfuhr darüber hinaus auch eine Anerkennung, um die es niemand zu beneiden brauchte.“ Solange sie lebte, hat Dora diesen Vorfall und seine Bedeutung nie vergessen. Fünfundzwanzig Jahre später dachte sie noch immer nach über Kafkas fürsorgliche Aufmerksamkeit für den kleinen Jungen: „Als ich mir später diese Worte in Erinnerung rief, schienen sie mir im wesentlichen ausdrücken zu wollen, dass alles zu retten sei – alles außer Kafka. Kafka war unrettbar.“ 12

Nach dem Essen setzten Kafka und Dora ihr Gespräch fort. Als Kafka, der selber nur mit viel Mühe Hebräisch lernte, erfuhr, dass Dora über hervorragende Kenntnisse verfügte, bat er sie, ihm vorzulesen. Dora war beglückt über diese Gelegenheit, ihre Sprachfähigkeiten anwenden und zeigen zu können. Schon als Kind hatte sie die hebräischen Buchstaben gelernt, das ›Alephbet‹, indem sie heimlich dem Cheder-Unterricht ihres Bruders lauschte. Als Dora erwachsen war, wurde das Studium der hebräischen Sprache zum Keim des ersten offenen Aufstands gegen den Vater. Für Herschel Dymant war Hebräisch die heilige Sprache der Thora und nicht die Sprache, die auf der Straße oder bei weltlichen Angelegenheiten gesprochen wird. Er verabscheute die zionistischen Bestrebungen, hebräisch als Nationalsprache Palästinas wiederzubeleben, und verbot Dora die Teilnahme am Hebräischunterricht, den eine zionistische Gruppe in Będzin für Mädchen und Frauen erteilte. Dora jedoch widersetzte sich ihrem Vater und meldete sich zum Unterricht an, ohne auch nur den Versuch zu machen, dies zu verheimlichen. Ja, sie posierte gar mit ihrer Klasse für ein offizielles Schulfoto.

In einer Ecke des gemeinschaftlichen Wohnzimmers von Haus Huten öffnete Dora das Buch des Propheten Jesaja, und Franz Kafka, der einzige Zuhörer (und der einzige, den sie wollte), widmete ihr seine ganze Aufmerksamkeit, lächelte wohlwollend, nickte, ermutigte sie. Wie lebendig er war, dachte sie, wie aufmerksam für jede Einzelheit! Dora kannte diese Passagen auswendig, trug sie aus dem Gedächtnis vor und machte aus der Lesung eine dramatische Darbietung der biblischen Schriften. Nachdem sie geendigt hatte, genoss sie Kafkas glühende Bewunderung und überschwängliches Lob.

Seit seiner Ankunft vor drei Tagen, am 10. Juni, war Kafka fasziniert von dem Ferienheim des Berliner Jüdischen Volksheims, das nur fünfzig Schritte weit entfernt lag von seinem Balkon im Haus Glückauf. In einem Brief an Freunde in Jerusalem, geschrieben an dem Morgen, als er Dora begegnete, heißt es: „Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehn. Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder. Ostjuden, durch Westjuden vor der Berliner Gefahr gerettet. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang. Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks.“ Der Brief endet mit: „Heute werde ich mit ihnen Freitag-Abend feiern, ich glaube zum ersten Mal in meinem Leben.“ 13 Wenige Stunden später überschritt Kafka jene Schwelle.

Seit seinen Anfängen im Jahr 1916 war das Berliner Jüdische Volksheim für Kafka ein Anlass zur Hoffnung. Durch seinen Freund Max Brod und andere Bekannte, die beratend mitwirkten, so etwa der Philosoph Martin Buber, wusste Kafka über den praktischen und zukunftsgerichteten Ansatz des Volksheims gut Bescheid und war ein begeisterter Unterstützer und Fürsprecher seiner zionistischen Ziele. Als er noch mit seiner früheren, in Berlin lebenden Verlobten Felice Bauer liiert war, schrieb er ihr Dutzende Briefe, in denen er sie ermutigte, die Möglichkeiten, die das Volksheim bot, zu nutzen. „Es ist, soviel ich sehe, der absolut einzige Weg oder die Schwelle des Weges, der zu einer geistigen Befreiung führen kann. Und zwar früher für die Helfer, als für die, welchen geholfen wird.“ 14 So war nun Kafka hocherfreut über seine Begegnung mit Dora, einer jungen, intelligenten Frau, die mit Leib und Seele die Grundsätze des Jüdischen Volksheims verinnerlicht hatte.

Doras Beherrschung der hebräischen Sprache beeindruckte ihn tief. Seit mehreren Jahren hatte Kafka sich bemüht, Hebräisch zu lernen, mit verschiedenen Lehrern, aber ohne großen Erfolg. Doras Persönlichkeit war zudem tief durchdrungen von den chassidischen Überlieferungen und Erzählungen der ostjüdischen Mystik, von denen er sich seit Jahren schon stark angezogen fühlte. Ihre Sprache und Ausdrucksweise war geprägt von den Sprichwörtern und den alten jüdischen Gleichnissen ihrer Großmütter. Doch das vielleicht Wichtigste für Kafka war Doras Freiheit und Unabhängigkeit. Obwohl fünfzehn Jahre jünger, hatte sie schon geschafft, was er noch bewältigen musste: Sich von den seelischen und emotionalen Ketten des Vaters zu befreien. Sie hatte sich von der Gemeinde gelöst und der Strenge der Religion, mit der sie aufgewachsen war, getrotzt. Auf sich allein gestellt, wurde aus Dora eine Persönlichkeit, die in Berlin ein freies Leben führte. Ein Leben, von dem Kafka schon seit langem träumte. Abgesehen von kurzen Ausflügen, Ferienreisen und einigen Sanatoriumsaufenthalten, hatte Kafka Prag nie verlassen und die Bindung an die Autorität seines Vaters nie ganz lösen können. Auch wenn es an der Oberfläche ruhig schien: Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war ein Kampfgebiet. Hermann Kafka war stets auf eine demütigende Weise kritisch gegenüber seinem Sohn, den er zwar liebte, der ihm aber auch ständig Anlass zu geben schien für Enttäuschung und Verärgerung. Franz war früh ein Opfer dieses Kampfes geworden, als kleiner Junge schon seelisch verwundet und gezeichnet. Er suchte dieser Opferrolle zu entkommen, denn er spürte, dass sie ihn für immer an seine Eltern fesselte. 1922, ein Jahr bevor er Dora begegnete, notierte er in seinem Tagebuch „die Vorstellung, daß ich als kleines Kind vom V. besiegt worden bin und nun aus Ehrgeiz den Kampfplatz nicht verlassen kann alle die Jahre hindurch, trotzdem ich immer wieder besiegt werde.“ 15

Nach Kafkas und Doras erster Begegnung an Oneg Schabbat am Freitag, dem 13. Juli, verging kein einziger Tag, an dem sie nicht Zeit miteinander verbrachten. Kafka schrieb in einem Brief, dass er jeden Tag ins Ferienheim gehe, ebenso wie er für den Rest seines dreiwöchigen Aufenthalts in Müritz auch jeden Freitagabend am Sabbat teilnahm. Er fühlte sich stark angezogen, er war fasziniert von der Organisation des Ferienheims, vom Unterricht für die Kinder und von seinen Gesprächen und der wachsenden Freundschaft mit Dora, die von ihm gleichermaßen angetan war. In dem Tagebuch, das Dora in ihrem letzten Lebensjahr schrieb, erinnerte sie sich an unvergessliche Momente aus diesen Tagen: „Franz hilft Kartoffel schälen im Volksheim in Müritz. – Die Nacht auf der Landungsbrücke. – Auf der Bank im Müritzer Wald.“ 16

In einem Brief an Tile, die Ende Juli nach Berlin zurückgekehrt war, schrieb Kafka, dass er ihren letzten Brief – ihren zweiten an diesem Tag – mit der Abendpost bekommen habe, während er am Strand war. „Dora war dabei“, schrieb er, „wir hatten gerade ein wenig Hebräisch gelesen, es war der erste sonnige Nachmittag seit langer Zeit und wohl für lange Zeit“. Kafka gestand, dass er wieder an Müdigkeit, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen litt und fragte sich, warum diese Plagen zu Beginn seines Aufenthalts viel erträglicher gewesen waren. „Vielleicht darf ich nicht zu lange an einem Ort bleiben; es gibt Menschen, die sich ein Heimatgefühl nur erwerben können, wenn sie reisen. Es ist ja äußerlich alles, wie es war, alle Menschen im Heim sind mir sehr lieb, viel lieber, als ich es ihnen zu zeigen imstande bin, und besonders Dora, mit der ich am meisten beisammen bin, ist ein wunderbares Wesen“. 17

Kafka und Dora gingen beinahe jeden Tag durch den Wald zum Strand, saßen im Strandkorb und blickten auf das Meer. Vor zehn Jahren war Kafka zuletzt am Meer gewesen, und er fand es nun „wahrhaftig […] schöner, mannigfaltiger, lebendiger, jünger“ denn je. 18 Stundenlang sprachen sie miteinander, meist über das Leben Doras, aber auch über viele gemeinsame Interessen. Kafka wusste, wie man Fragen stellt, berichtet Dora, aber auch, wie man „mit beiden Ohren“ 19 zuhört. Er wurde nie ermüdet durch ihre Geschichten über das Familienleben in Będzin, die Geschichten, die ihre Mutter und Großmutter erzählt hatten, und die Legenden von Baal Schem Tov, dem Begründer des Chassidismus. Wie Scheherazade webte sie jeden Abend ihren Zauber um Kafka, enthüllte langsam ihren verborgenen Schatz aus ›Bubeh Meises‹ 20 , einer Sammlung von Märchen und alten jüdischen Volkssagen, die in ihrem Mund lebendig wurden.

Es gab vieles, was Kafka an Dora bewunderte: Sie war natürlich, gesund, hübsch und unkompliziert. Sie führte ein Leben, das Kafka für authentisch hielt und das auf nichts Geringeres als auf spirituelle Befreiung zu weisen schien. Dora ihrerseits war nie zuvor jemandem wie Franz Kafka begegnet, diesem einzigartigen und außergewöhnlichen Mann. Auch andere Menschen spürten das und waren geneigt, in seiner Gegenwart „auf Zehenspitzen oder wie über weiche Teppiche zu gehen“. 21 Er war elegant und kultiviert, zugleich aber auch verspielt und heiter. Sein Blick war gutmütig und sein Auftreten zurückhaltend. Er sprach nicht über sich selbst, begegnete aber allen anderen mit einer grenzenlosen Neugierde.

Keiner der westjüdischen Männer, die Dora vor Kafka kennengelernt hatte, konnte ihren Erwartungen entsprechen. Mit begieriger und offener Seele war sie nach Deutschland gekommen, erkannte aber bald, dass die Menschen dort ruhelos waren, dass es ihnen an etwas Wesentlichem zu mangeln schien. Kafka war ebenfalls ruhelos. Doch es erschien Dora so, als sei er dabei in ständigem Kontakt mit etwas außerhalb seiner selbst. Seine Suche nach dem, was er das ›Unzerstörbare‹ 22 nannte, bestimmte sein Wesen. „Es war nicht nur ein Aufhorchen“, sagte Dora, „sondern es hatte auch etwas sehr liebevoll Zugeneigtes“, so, als würde er sagen: „Allein bin ich nichts. Ich bin nur etwas, wenn ich mit der äußeren Welt verbunden bin.“ 23

Trotz der offenkundigen Unterschiede zwischen ihnen fand Franz Kafka in der jungen osteuropäischen Jüdin die Erfüllung seiner Sehnsüchte. Die erste Frau, mit der er sein Leben würde teilen können. Ein Biograf bemerkte: „Es ist leicht ersichtlich, warum sie sich zusammen so wohlfühlten, denn sogar wenn Kafka Dora selbst erschaffen hätte, hätte sie ihm nicht besser entsprechen können.“ 24 Und Max Brod, Kafkas engster Freund und erster Biograf, war überzeugt: „Die beiden Menschen paßten ganz wundervoll zueinander.

Der reiche Schatz ostjüdischer religiöser Tradition, über den Dora verfügte, war für Franz eine stete Quelle des Entzückens; während das junge Mädchen, das von manchen Großtaten westlicher Kultur noch nichts wußte, den großen Lehrer nicht minder liebte und verehrte wie seine träumerischen seltsamen Phantasien, in die sie sich leicht und spielerisch einlebte.“ 25

Dora Diamant und Franz Kafka repräsentierten zwei entgegengesetzte Pole des europäischen Judentums. Dora hatte sich als Kind ultraorthodoxer chassidischer Juden in Polen von religiösen Tabus und gesellschaftlichen Fesseln befreit und sich dabei doch ihre jüdische Identität bewahrt. Kafka aber, der zwar mütterlicherseits einer Rabbinerfamilie entstammte, war so weit assimiliert, dass er im Alter von vierzig Jahren noch nie an einer Sabbatfeier teilgenommen hatte. Seine Bar-Mizwa, der rituelle Übergang ins Mannesalter, geschah nur des äußeren Anscheins wegen. Er hatte dieses Ereignis gefürchtet, aber auch gehofft, dass die religiöse Zeremonie ihm etwas von der tieferen Bedeutung des Judentums enthüllen würde. Er sollte Passagen aus der Thora auf Hebräisch auswendig lernen, verstand aber nur sehr wenig von der Bedeutung der fremden Laute und Buchstaben. Die zeremonielle Feier war eine Tortur für den sensiblen Dreizehnjährigen, eine qualvolle Übung in Bedeutungslosigkeit. Als Erwachsener sehnte Kafka sich nach einer mystischen Verbindung zu seinen jüdischen Wurzeln, musste es jedoch ertragen, Jude in einer antisemitischen Gesellschaft zu sein, ohne die stabilisierende, kräftigende Wirkung jüdischer Spiritualität erleben zu können. Dora erschien es paradox, dass die Westjuden auf Ostjüdinnen wie sie mit Herablassung reagierten und sie zugleich doch als Quelle jüdischer Erkenntnis und Weisheit betrachteten. „Nach der Katastrophe des Krieges erwarteten alle eine Heilung durch die Vermittlung aus dem Osten“, sagte Dora. „Ich aber war aus dem Osten davongelaufen, weil ich glaubte, das Licht im Westen zu finden.“ – „Aber immer wieder hatte ich das Gefühl, daß die Menschen dort etwas brauchten, was ich ihnen geben könnte. […] Europa hatte meine Erwartungen enttäuscht, seine Menschen waren im Grunde ihres Herzens ruhelos. Irgend etwas fehlte ihnen. Im Osten wußte man um den Menschen; vielleicht konnte man sich dort nicht so frei in der Gesellschaft bewegen und wußte sich nicht so leicht auszudrücken, aber man wußte um die Einheit von Mensch und Schöpfung. Als ich Kafka das erstemal sah, nahm ich sofort wahr, dass sein Bild meiner Idee und Vorstellung vom Menschen entsprach. Aber auch Kafka wandte sich mir aufmerksam zu, als ob er etwas von mir erwartete.“ 26

Kafka war an die Ostsee gefahren, um sich von einer schweren Krankheit zu erholen. Nachdem er zusätzlich zu der Tuberkulose, an der er seit fünf Jahren litt, auch noch eine Lungenentzündung knapp überlebt hatte, musste er im vergangenen Jahr immer wieder das Bett hüten. Die Reise nach Müritz war, wie er erklärte, „die kleine Vorprobe zur größeren Reise“, um „meine Transportabilität zu prüfen“. 27 Er wolle nach Palästina, verriet er Dora, und hoffte, im Herbst fahren zu können. Er wusste, dass er etwas Entscheidendes tun musste, wenn er weiterleben wollte. Und für ihn gab es nichts Entscheidenderes, als sich endlich von seinem Elternhaus in Prag zu befreien und nach Palästina zu gehen. 28

Die Ehefrau von Kafkas Freund Hugo Bergmann, inzwischen Professor an der Hebräischen Universität, hatte Kafka einige Monate zuvor gewissermaßen eine Rettungsleine zugeworfen. Else Bergmann lud Franz ein, nach Jerusalem zu kommen und gemeinsam mit ihrer Familie zu leben. Sie versprach, seine Gesundheit würde sich in dem heißen, trockenen Klima Palästinas rasch verbessern. Außerdem könne er seine Wurzeln im Judentum wiederentdecken und sich gleichzeitig am Aufbau der künftigen jüdischen nationalen Heimat in Palästina beteiligen. Erstaunlicherweise nahm Kafka die Einladung an und schrieb seinen Freunden, er hoffe, im Oktober zu kommen.

Nach Palästina einzuwandern, war der große Traum, den Dora Diamant und Franz Kafka miteinander teilten. Schon wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung sprachen sie angeregt darüber, die Reise gemeinsam wagen zu wollen. Die Tage verflogen rasch, und der Sommer war schon fast vorüber.

Den Gedanken an eine Rückkehr nach Prag fürchtete Kafka. Daher überlegten Dora und er, vorläufig in Berlin zu bleiben, als Zwischenstation auf dem Weg nach Palästina. An eine konkrete Planung war jedoch angesichts seines fragilen Gesundheitszustands noch nicht zu denken.

Seitdem er Dora kennengelernt hatte, war Kafkas Wunsch, in Berlin zu leben, stärker als je zuvor. Zehn Jahre früher, mit 30 Jahren, hatte er begonnen, von einem Umzug in die deutsche Hauptstadt zu träumen, und er notierte in seinem Tagebuch: „Wenn es möglich wäre, nach Berlin zu gehn, selbstständig zu werden, von Tag zu Tag zu leben, auch zu hungern, aber seine ganze Kraft ausströmen lassen“. 29 Doch mittlerweile machte es ihm seine Krankheit unmöglich, allein zu reisen, und es war ihm bisher nicht gelungen, einen Freund als Begleiter zu gewinnen. Zudem war er gewohnt, dass jemand ihn umsorgte.

Dora bot die vollkommene Lösung. Sie lebte seit drei Jahren in Berlin, kannte sich dort aus und konnte ihm helfen. Dora nahm seine Idee bereitwillig auf: Sie würde ihm eine preisgünstige Wohnung besorgen, einrichten und sich um alles Weitere kümmern. Sie war bereits eingeschrieben für Kurse an der Hochschule für die Wissenschaft vom Judentum, die er ebenfalls besuchen wollte. Sie konnten zusammen hingehen, er würde nicht allein sein. Diese neue Gelegenheit, einen lange gehegten Traum zu verwirklichen, in dem Wissen, dass er sein Leben ändern musste, wenn er weiterleben wollte – wie konnte Kafka dies zurückweisen?

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Fußnoten

1 - Franz Kafka: Tagebücher 1914­­­–1923, S. Fischer 1996, S. 187.

2 - Robert Klopstock in Anmerkung Nr. 119 zum Brief an Julie und Hermann Kafka, 19. Mai 1924: Briefe an Ottla und die Familie, S. Fischer 2011, S. 215.

3 - Gesprächszettel Kafkas, abgedruckt in: Briefe 1902–1924, S. Fischer 1975, S. 487.

4 - Egon Larsen: Die Weimarer Republik, Heyne 1980, S. 110.

5 - Dr. S. Lehmann: Jüdisches Volksheim Berlin, Erster Bericht, Mai–Dezember 1916.

6 - Theodor Herzl: Altneuland (von 1902) (Motto vor Kap. 1).

7 - Dora Dymant: Shlomo Michoels, The Jew, Loshn un Lebn 97, Februar 1948.

8 - J. P. Hodin: Erinnerungen an Franz Kafka, Der Monat, Juni 1949, S. 91.

9 - Eric Gottgetreu: They knew Kafka, Jerusalem Post, 14. Juni 1974.

10 - J. P. Hodin: Erinnerungen an Franz Kafka, Der Monat, Juni 1949, S. 91.

11 - Marthe Robert: Notes Inédites de Dora Dymant sur Kafka, Evidences (Paris) 28, November 1952.

12 - ebd.; vergleiche auch J.P. Hodin: Erinnerungen an Franz Kafka, Der Monat, Juni 1949, S. 91.

13 - Franz Kafka an Hugo Bergmann, Mitte Juli 1923, und an Else Bergmann, 13. Juli 1923: Briefe 1902–1924, S. Fischer 1975, S. 436f.

14 - Franz Kafka an Felice Bauer, 12. September 1916: Briefe an Felice, S. Fischer 1976, S. 696f.

15 - Franz Kafka: Tagebücher 1914–1923, S. Fischer 1968, S. 196.

16 - Dora Diamant: Tagebücher.

17 - Franz Kafka an Tile Rössler, 3. August 1923: Briefe 1902–1924, S. Fischer 1975, S. 439ff.

18 - Franz Kafka an Else Bergmann, 13. Juli 1923: Briefe 1902–1924, S. Fischer 1975, S. 436f.

19 - Dora Diamant: Tagebücher.

20 - Jüdische Märchen und Volkssagen, (Bubeh: Jiddisch für Großmutter).

21 - J. P. Hodin: Erinnerungen an Franz Kafka, Der Monat, Juni 1949, S. 94.

22 - Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, S. Fischer 1994, S. 236.

23 - Dora Diamant: Tagebücher.

24 - Peter Mailloux:A Hesitation Before Birth: The Life of Franz Kafka,University of Delaware Press 1989, S. 535.

25 - Max Brod: Über Franz Kafka, S. Fischer 1974, S. 182.

26 - J.P. Hodin: Erinnerungen an Kafka, Der Monat, Juni 1949, S. 91.

27 - Franz Kafka an Hugo Bergmann: Briefe 1902–1924, S. Fischer 1975, S. 436.

28 - Franz Kafka an Ottla Kafka, 4. Oktoberwoche 1923: Briefe an Ottla und die Familie, S. Fischer 2011, S. 145f.

29 - Franz Kafka: Tagebücher 1912–1914, S. Fischer 1997, S. 142.