Drei fahren in den Sommer - Lise Gast - E-Book

Drei fahren in den Sommer E-Book

Lise Gast

0,0

Beschreibung

Eigentlich kommen Silke und ihre beiden Brüder aus einer ganz normalen, intakten Familie – mit Haus und gepflegten Garten. Sie sind alle drei gesund und ordentlich und, wie sie ohne Stolz hervorhebt, sondern lediglich, um ihre Normalität und Durchschnittlichkeit zu betonen, alle drei sind auch noch nie sitzengeblieben. Doch irgendwie hat Silke das Gefühl, dass ihre beiden Brüder etwas im Schilde führen. Was weiß sie nicht. Die freche Silke beschließt dies auf einer gemeinsamen Radtour herausfinden. Ob ihre Brüder darüber genauso begeistert sind...?-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 178

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lise Gast

Drei fahren in den Sommer

Saga

Drei fahren in den Sommer

© 1976 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509180

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Eigentlich war es ein schöner Morgen. Ich hatte, noch im Halbschlaf, das Pfeifen der Vögel gehört — seit einiger Zeit war einer dabei, dessen Ruf klang wie „hollahi, hollaho“. Ob es eine Amsel war? Ich wußte es nicht. Ich wußte nur, daß ich diesen Ruf im vorigen Jahr nicht gehört hatte.

Es ist erfreulich, daß wir in unserem Garten jetzt Vögel haben. Hoffentlich werden es immer mehr. Aber außer mir merkt das keiner in der Familie.

Übrigens sind wir eine intakte Familie. Eine, in der Ordnung herrscht. Die Eltern meinen es gut mit uns, Vater verdient, Mutter hält zusammen, wir drei Kinder sind gesund und normal. Wir besitzen ein Haus am Stadtrand mit einem kleinen, gepflegten Garten, in dem allerdings kein Hund herumspringen darf, weil er womöglich wühlen könnte. Ich hätte gern einen Hund, und Uli wünscht sich sogar heiß einen, er ist vernarrt in Tiere. Aber Hunde und gepflegte Gärten...

Weder ich noch meine Brüder sind bisher sitzengeblieben. Ich erwähne das nicht aus Stolz, sondern nur im Zusammenhang mit unserer Normalität. Wenn man fernsieht oder Illustrierte liest — beides ist bei uns zu Hause verboten, also orientieren wir uns anderswo —, könnte man annehmen, wir wären die große Ausnahme.

Das ist natürlich ein Fehlschluß. Es gibt viele intakte Familien, ich sehe das doch bei meinen Klassenkameradinnen. Schlüsselkinder sind nicht unter ihnen. Allerdings fehlt bei der einen oder andern der Vater, bei zweien sind die Eltern geschieden, und viele verleben die Sommerferien nicht wie wir zusammen mit den Eltern, sondern in Heimen an der See oder auf Fahrt. Diese Art Ferien finde ich sogar schön und beneidenswert, aber bei uns wurde sie noch nicht gestattet. „Seid froh, daß wir uns Zeit für euch nehmen“, heißt es auf entsprechende Bitten. Denn außerhalb der Ferien hat Mutter nicht viel Zeit für uns, Vater eigentlich nie. Doch das ist wohl überall so.

Vater kennen wir eigentlich nur nervös, unansprechbar, abgearbeitet. „Leise, Vater kommt!“ heißt es täglich. Manchmal denke ich, wir stören ihn durch unser bloßes Dasein. Er hat vor einiger Zeit einen Herzinfarkt gehabt, und da muß er geschont werden. Aber auch vorher waren wir ihm zu laut, zu unkonzentriert, nicht vernünftig genug. Wahrscheinlich hätten wir als Erwachsene zur Welt kommen müssen, als leise Erwachsene.

Mutter ist anders. Sie würde bestimmt oft gern lachen, mal ins Kino gehen, eine unterhaltende Sendung im Radio hören oder ein lustiges Buch lesen. Weil Vater das alles nicht mag, tut sie es nicht. Sie will ihm nicht in den Rücken fallen. Mutter ist ein Gentleman.

Eine richtige Freundin habe ich nicht, obwohl ich mich mit manchen aus meiner Klasse gut verstehe. Nur darf ich leider niemanden nach Hause mitbringen. Auch meine Brüder dürfen das nicht. „Ihr habt Geschwister, das genügt!“ sagt Vater.

Manchmal säße ich beispielsweise gern mit Inge in meinem Zimmer, um über einen Film oder ein Buch oder sonstwas zu klönen, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Das aber wird bei uns nicht gern gesehen. „Tu lieber was!“ heißt es dann. „Erwachsene sitzen auch nicht ’rum. Hast du denn keine Pflichten?“

Vater sagt, das Erste im Leben sei die Pflicht. Ich finde, Pflicht klingt so sauer. Aber trotzdem, und auch wenn ich manchmal eine stille Wut auf Vater habe, gehöre ich im Grunde eben doch „zu uns“. Denn Pflicht —

Als ich an diesem eigentlich schönen Morgen an diesem Punkt angekommen war, ging mir auf, daß ich wieder einmal zu spät zum Frühstück kommen würde.

Ich versuchte die verlorene Zeit einzuholen, und es ging, wie es immer geht, wenn man hastet: Alles läuft verkehrt. Der Schnürsenkel riß, ich fand meine Schulmappe nicht, und, und...

Schließlich raste ich die Treppe hinunter, schaffte aber die Kurve im Flur nicht ganz, rempelte die Schrankecke an und krachte regelrecht zur Tür herein. Die andern saßen schon. Vater zuckte schmerzhaft mit der Augenbraue, nahm aber den Blick nicht von der Zeitung.

Ich kann es nicht ausstehen, wenn er beim Frühstück Zeitung liest. Er nennt es: „sich an den Überschriften orientieren“. Wir dürfen nicht mucksen, höchstens leise um Salz oder Zucker bitten. Mutter schiebt uns alles schweigend zu und sendet Löwenbändigerblicke aus.

‚Vater ist nervös...‘

‚Bitte seid leise...‘

Ich kenne es nicht anders, als daß Mutter die Bewegungen eines Dirigenten macht, der die Kesselpauke dämpft. Und vornehmlich ich bin damit gemeint. Wenn Roland seine Cornflakes in sich hineinknirscht, daß man’s im Nebenzimmer hört, oder Uli den Kaffee schlürft, da wird selten gewunken.

„Warum so spät?“ fragte Vater also mißbilligend. Ich murmelte etwas von Verschlafen-haben. Mutter winkte schon wieder.

Am liebsten hätte ich die Schulmappe geschnappt und wäre verschwunden, nur ’raus, nur fort! Aber sowas tut man nicht. Man rückt den Stuhl zurecht und setzt sich, gehorsam und zierlich wie ein Biedermeierfräulein.

Es war übrigens — aber das wußte ich da noch nicht — der Dreizehnte. Aberglaube sei Unsinn, hätte Vater dann sicher gesagt, oder: „Nimm dich zusammen, das haben wir alle gemußt!“ Dabei weiß man doch, daß es Pech- und Glückssträhnen gibt, schwarze und helle Tage, Tiefs und dann wieder Zeiten, in denen einem alles gelingt. Warum das ableugnen? Nicht alles ist mit dem Verstand zu erklären.

„Danke, ich möchte nicht“, flüsterte ich, als Mutter mir die Butter hinschob, und sogleich kam es von Vater:

„Es wird gegessen. Diese blöde Hungerei wegen der Figur! Seid dankbar, daß ihr satt werdet. Es gab Zeiten —“

Ich kann es schon auswendig. Dabei hatte ich gar nicht die Absicht zu hungern. Zum Frühstück darf man essen, heißt es immer. Uli grinste mich schadenfroh an, und auch Rolands Mundwinkel hoben sich, aber sie kamen nicht dazu, ihren Triumph zu genießen. Denn jetzt deutete Vater auf eine Stelle in der Zeitung und sagte so laut und deutlich: „Das ist ja unerhört!“ daß wir alle zusammenfuhren.

„Was denn, Rudolf?“ fragte Mutter halblaut.

„Hier — in unserer Stadt. Jugendliche. Haben eine Hütte ausgeraubt — besser: aufgebrochen und innen sinnlos alles kurz- und kleingeschlagen. Ohne Grund, aus reiner Zerstörungslust. Fenster, Möbel, Geschirr, Bücher — gibt es denn sowas? Da baut sich ein braver und redlicher Mitbürger ein Gartenhäuschen, um seine kurze Freizeit dort zu verbringen, und da kommt eine Rotte Jugendlicher und macht ihm alles kaputt.“

„Waren es wirklich Jugendliche?“ fragte Mutter vorsichtig. „Woher weiß man denn —“

„Er hat sie erwischt. Oder doch beinahe. Jedenfalls ist er dazugekommen, ein paar hat er sogar erkannt. Das wäre bei Erwachsenen schwerer Einbruch. Jugendliche werden —“ er stand auf und ging in die Wohnstube ans Bücherregal. Das tut er oft, wenn er uns bei Tisch etwas genau sagen will: Er holt entweder das Lexikon oder, wie diesmal, das Strafgesetzbuch.

Ich ahnte noch immer nichts, als mein Blick auf Uli fiel. Uli war so blaß geworden, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.

An sich ist er der Hübscheste von uns, obwohl er Brillenträger ist. Die Zwillinge sind ja ganz verschieden, zwei-eiig, also sozusagen nur Geschwister, die zufällig zu gleicher Zeit geboren sind, während eineiige ein einziges geteiltes Wesen darstellen. Roland ist blond und Uli dunkel; Roland ähnelt Vater, auch etwas im Wesen, jedenfalls in seiner ewigen Besserwisserei; Uli dagegen hat mehr von Mutter mitbekommen, die früher recht munter gewesen sein muß. Auch jetzt kann sie noch manchmal Temperament entfalten, meist wenn Vater nicht dabei ist. Ich mag Uli sehr gern. Seine langen, seidigen, dunklen und dichten Wimpern, etwas aufgebogen, sehen bezaubernd aus, und in seinen rabenschwarzen Augen können tausend Teufel tanzen. Wenn ich mal Söhne bekomme, so sollen sie wie Uli werden. Das dachte ich schon damals, als wir uns noch prügelten und anspuckten — früher. Jetzt tun wir das nicht mehr; immerhin bin ich sechzehn. Aber Uli kann unwiderstehlich sein. Und was ihm alles einfällt! Mütter mit sieben Söhnen haben bestimmt nicht so viel Ärger und Aufregungen, wie unsere allein durch Uli erfährt. Neulich wollte er sich ein Unterwasser-Atemgerät bauen. Da montierte er, wie, das ahne ich nicht, einen Druckmesser und ein Ventil auf eine Weinflasche und pumpte die dann auf. Er ließ sie im Wohnzimmer stehen und vergaß sie, wie so oft. Inzwischen muß der Luftdruck gefallen sein oder sonstwas. Jedenfalls gab es plötzlich einen heidenmäßigen Krach, einen solchen Mordsschlag, daß Mutter, die allein daheim war, dachte, das Haus falle ein. Sie rannte ins Wohnzimmer. Die Flasche war geplatzt, sie muß regelrecht auseinandergeschossen sein wie eine krepierende Granate. Ein paar Splitter staken in den Glasfenstern der Vitrine. Daß sowas überhaupt möglich ist, hätte ich nie geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.

Es gelang uns, die Spuren dieser Untat an einem Vormittag zu beseitigen. Vater hat nie etwas davon erfahren. Ich kam an jenem Tag früher heim, und Mutter war noch ganz durcheinander. Ich konnte nur trösten. Ich hatte Mutter noch nie so gesehen.

Uli versprach, das mit der Flasche nie wieder zu machen, und als er damals Mutters noch immer zittrige Hände bemerkte, bat er sogar unaufgefordert um Verzeihung „für seine Blödheit“. Irgendwas mußte er bei dem Experiment übersehen haben. Aber bei Uli wußte man nie, ob ihm nicht morgen noch etwas Schlimmeres einfiele!

Daran mußte ich jetzt denken, als Vater die Geschichte von der aufgebrochenen Hütte vorlas und ich sah, wie Uli blaß wurde, weiß um die Mundwinkel und grau unter den Augen.

Ich wußte sofort, daß er dabeigewesen war. Ich erschrak. Diesmal traf es nicht nur uns. Wen schert es schon, wenn unser Haus in die Luft fliegt wegen einer auf Überdruck gepumpten Weinflasche? Aber wenn andere Leute geschädigt und beraubt werden — das kommt vor den Staatsanwalt! Wenn Vater nur jetzt nicht Verdacht schöpfte und den Blick aus der Zeitung auf seinen zweiten Zwillingssohn richtete mit der durchbohrenden Schärfe, mit der er es bei seiner Tochter Silke zu tun pflegt, das bin ich...

Übrigens schien auch Roland nicht unschuldig zu sein. Er war ein bißchen rot geworden, aber das mußte nicht unbedingt auffallen. Er aß auch weiter. Uli nicht. Daraus schloß ich, daß Roland vielleicht nur Zuschauer bei dieser Untat gewesen sei — Zuschauer, aber nicht Verhinderer.

Merkwürdig, daß ich Uli immer in Schutz nehmen will. Schon damals war das so gewesen, als die Jungen zwei waren und ich sechs und ich sie hüten mußte. Schon damals verteidigte ich bei Katastrophen dieser oder jener Art — ach, wie klein waren sie im Vergleich mit den heutigen! — immer Uli. Er stiftete an, er führte aus, Roland folgte höchstens im Kielwasser seines Bruders. Und doch verteidigte ich immer ihn, sagte, er habe Pech gehabt, er habe es nicht so gemeint, er werde es nie wieder tun — und was großschwesterliche Ausreden und Begütigungen mehr sind. Denn gerade weil ich vor Vater ducke (denn er ist der Stärkere — ich komme doch nicht gegen ihn auf), gerade deshalb imponiert mir Ulis heldische Frechheit. Uneingeschüchtert und unbeeindruckt hatte er stets zugegeben, was er angestellt hatte. Heute zum erstenmal sah ich ihn blaß werden, und daran erkannte ich das Ausmaß der Tragödie.

„Danke, ich bin fertig“, sagte ich und stand auf.

„Aber du hast doch noch gar nichts —“

„— getrunken? Ach so. Ja, bitte, gib mir Milch“, sagte ich rasch und schob Mutter meine Tasse hin. Ich trinke sonst nie Milch zum Frühstück, aber ich war so verwirrt, daß ich es diesmal tat. Und dann gelang mir endlich die Flucht.

Im Flur hörte ich Vater noch von „neuer Mode“ und „eher wegrennen“ reden, aber da war ich schon durch die Tür. Ich lief unseren Vorgarten entlang und um die Ecke. Dort wartete ich.

Sie mußten ja kommen, und sie kamen auch. Voran Roland, ein wenig betreten und noch nicht ganz zur Schadenfreude entschlossen, dahinter Uli, finster und blaß. Ich schloß mich ihnen wortlos an.

„Seid ihr verrückt? Das ist kriminell“, sagte ich schließlich. Uli zuckte die Achseln. Roland verwahrte sich sofort: „Also, wenn du behauptest, ich wäre dabeigewesen —“

„Dabei warst du“, brummte Uli.

„Aber ich habe nur —“

„Du hast?“ fragte ich scharf.

„Zugesehen, mehr nicht.“

Klatsch, da hatte er eine Ohrfeige. Ich erschrak vor mir selbst — hier auf der Straße! Aber zum Glück waren wir im Augenblick allein.

„Ist Zusehen etwa —“

„Zusehen ist feige!“ schrie ich.

„Ach, hätte ich vielleicht mitmachen sollen?“ fragte Roland höhnisch. Die Ohrfeige hatte zwar getroften, aber er machte sie schlimmer, als sie war. Doch er ging weder mit den Fäusten auf mich los noch schrie er mich an.

„Wer war noch dabei?“ fragte ich mit knappem Atem.

„Uwe — hier aus der Straße. Und Horst Koltmann.“

„Jemand aus eurer Klasse?“

„Nein. Die wohnen alle woanders.“

„Was hat denn das damit zu tun?“

„Ach, wir hatten das doch gar nicht vor. Wir wußten einfach nicht, was wir machen sollten — Vater hatte uns am Tag vorher den Fußball weggenommen. Eigentlich wollten wir an dem Tag kicken, aber da hatte er — da hatte Uli —“

„Was hattest du?“ fragte ich Uli. Aber der schwieg, und Roland berichtete, nun bemerkenswert fröhlich: „Uli hatte bei Dr. Hermanns die Scheibe eingeschmissen. Weißt du das nicht mehr? Vater war stinkwütend —“

Doch, jetzt wußte ich es wieder. Die Jungen hatten auf der Straße Fußball gespielt, was sie nicht sollen — und Uli war dieses Pech passiert. Er hatte wütend protestiert, er könne nichts dafür, weil der Schuß zwar von ihm gekommen, aber von einem anderen mit dem Kopf abgefangen worden war. Der andere hatte ihn erst in die Scheibe geköpft, bestritt aber, schuld gewesen zu sein. Wenn andere etwas bestreiten, kommen sie fast immer damit durch.

Unglücklicherweise war Vater dazugekommen. Er sah nur die Scheibe und die betreten umherstehenden Jungen, und seine sofortige Frage: „Wer war das?“ wurde einstimmig mit „Uli!“ beantwortet. Uli versuchte zu erklären, aber Vater hörte gar nicht zu. So jedenfalls hatten es die Jungen später berichtet. Uli mußte hineingehen und sich entschuldigen, auf der Stelle, Vater verlangte es und blieb so lange auf der Straße stehen. Und natürlich mußte Uli die Scheibe bezahlen, von seinem Taschengeld. Wochenlang hat er daran geknabbert. Dabei hätte Dr. Hermann das gar nicht verlangt, er soll sogar gelacht und gesagt haben, er habe als Junge auch Scheiben eingeschmissen. Auf jeden Fall aber wurde der Ball von Vater beschlagnahmt, ja, und da konnten die Jungen nicht mehr spielen, weder auf der Straße noch auf dem Fußballplatz.

„Na und? Da seid ihr losgezogen, um die Hütte kaputtzuschlagen?“

„Nein. Horst und Uwe — aber wehe, wenn du sagst, daß sie es waren!“

„Ich will wissen —“

„Die fragten, ob wir mitkämen, ein Stück Spazierengehen — und da kamen wir dann zu der Hütte. Ich wußte gar nicht, daß es sie gab, sie liegt ziemlich versteckt. Und da —“

„Da fingen die beiden andern an. Der eine drückte ein Fenster ein, nur so aus Quatsch. Und dann griff er durch und machte es von innen auf. Und dann krochen wir ’rein, alle vier. Erst die andern, dann wir. Und dann fingen sie an —“

„— alles kaputtzuschlagen?“ fragte ich, als die Jungen schwiegen. Roland nickte.

„Ja. Erst die andern Fenster. Von innen. Und dann das Geschirr. Und dann —“

„Aber — —“

„Geraucht haben sie auch!“ Roland platzte fast vor Mitteilungslust. „Und Petroleum ausgeschüttet. Dort ist natürlich kein Strom. Und Schneckentod ’rumgestreut —“

„Schneckentod?“

„Ja, solches Zeug, das lag da in Tüten. Und Samen — und dann die Bücher, die da standen.“

„Und ihr habt mitgemacht?“ fragte ich. Ich bekam fast keine Luft mehr vor unterdrücktem Zorn und wilder Empörung.

„Uli hat mitgemacht“, sagte Roland, „nur Uli. Ich war mit drin, aber ich hab’ nichts angerührt.“ Er machte dabei ein Gesicht, daß ich ihm am liebsten, nochmal eine gelangt hätte. Obwohl ich natürlich wußte, daß eher Uli die Ohrfeigen verdiente.

„Hast du wirklich?“ fragte ich ihn.

Er nickte.

„Und warum?“

Achselzucken.

„Haben die andern gesagt, es sei feige, nicht mitzumachen?“

„Hm. Aber eigentlich — das haben sie zu Roland gesagt. Und erst später.“

„Als du schon mitgemacht hattest? Und warum hast du mitgemacht?“

Wieder Achselzucken. Ich versuchte, Ulis Blick zu fangen. Er wich mir aus, sah kalt und hochmütig aus. Blaß war er nicht mehr, seine Haut hatte ihre normale sanftbräunliche Farbe. Uli hat eine Haut, um die viele aus meiner Klasse ihn beneiden, so gleichmäßig und mattglänzend ist sie — und um die Oberlippe sah ich jetzt zum ersten Mal einen zarten, dunklen Flaum. Schwarzhaarige bekommen den Bart zeitig — es rührte mich. Ich sagte nichts mehr.

Wir trennten uns dann, die beiden mußten über die Kreuzung in die Kayserstraße und ich nach links zu unserer Schule. Ich ging schnell aus Gewohnheit. Eine aus den oberen Klassen puffte mich mit dem Rad, weil ich überhaupt nicht achtgab. Sie schimpfte. Mir war es egal.

2

In den ersten Stunden saß ich da und dachte immerzu nach. Ich wußte nicht einmal, welches Fach gerade dran war. Später wachte ich dann auf. Inge, die neben mir sitzt, fragte, ob ich Liebeskummer hätte. Liebeskummer — ich zeigte bloß an die Stirn. „Ihr habt Sorgen!“ murmelte ich. In Biologie kam ich dann dran und mußte mich zusammennehmen. Weil mich Biologie interessiert, ging es dann auch.

Inge dachte zuerst, sie müsse mir vorsagen. Aber das war nicht nötig. Es handelte sich um den Blutkreislauf. Darüber weiß ich Bescheid, weil ich ihn sehr interessant finde, gut durchdacht, sozusagen. Später möchte ich gern Medizin studieren.

Zum erstenmal an diesem Tage wurde ich meine Bedrückung etwas los. Als ich mich setzte, markierte Inge unter der Bank Beifallklatschen. Ich trat sie ans Schienbein. Sie stöhnte übertrieben und tat, als sei es gebrochen.

Die nächste Stunde hatten wir Französisch. Unser Französischlehrer ist sehr beliebt, jung noch; er unternimmt in den Ferien immer etwas mit Schülerinnen. Einmal fuhr er mit allen aus der Klasse, die mitdurften, nach Frankreich, um Kriegsgräber zu pflegen. Und dieses Jahr leitet er ein deutsch-französisches Ferienlager in der Lüneburger Heide. Ich habe bisher nie so etwas mitmachen dürfen. Aber für dieses Jahr habe ich die Erlaubnis bekommen.

Wenn ich daran denke, ist mir immer, als könne ich tiefer atmen. Frei sein — endlich einmal frei sein, nicht immerzu hören: „Halt dich gerade!“ „Sei nicht so laut!“ „Hast du schon Schularbeiten gemacht?“ „Du könntest mir eigentlich flink —“ und dann kommen die Aufträge. Einmal hinaus, nicht mehr gegängelt werden, machen können, was man will. Wird das wohl tun!

Früher fuhren wir mit den Eltern in den großen Ferien nach Flensburg zu den Großelten. Sie wohnen ziemlich nahe am Strand, und wir hatten dort schöne Ferien, jedes Jahr. Jetzt seien die Großelten zu alt, sagt Vater — vielleicht will er aber auch die Reisekosten sparen. Seit wir gebaut haben, geht es bei uns immer ums Sparen. Ständig heißt es: „Ihr wißt, unser Haus! Wir müssen erst einmal die Schulden loswerden.“ Und wenn wir erzählen, daß unsere Klassenkameraden eigentlich alle verreisen, dann heißt es:

„Ihr habt den Garten, und das Schwimmbad ist auch nicht weit. Andere Kinder wären froh, wenn sie es so hätten. Seid dankbar...“ Dabei haben wir in den Ferien natürlich die gleichen häuslichen Pflichten wie in der Schulzeit, wenn nicht noch mehr: „Hilf mal, faß mal mit an, du hast doch Zeit!“ Und was nützt das eigene Haus, wenn wir drin still sein müssen wie in einer Mietwohnung, und der Garten, wo man sich nicht auf den Rasen legen und ungestört schmökern darf?

„Was sollen denn die Nachbarn sagen!“ heißt es dann. „Komm, hilf mir beim Einkochen.“

Dieses Jahr darf ich also das erstemal fort. Mutter hat es fest versprochen und Vater halb fest — wie es so seine Art ist: „Mal sehen, wie du dich bis dahin benimmst.“ Das macht mich wütend. Ich bin kein Kind mehr, das belohnt wird, wenn es ‚brav‘ war. Ich brauche meinen Urlaub genau wie jeder andere Mensch, und zu Hause habe ich keinen Urlaub.

Aber diesmal darf ich ja mit.

»Ich habe auf der Karte nachgesehen, wohin wir fahren“, sagte Inge. „Es muß schön dort sein. Und Französisch lernt sich schnell, so die Umgangssprache, meine ich, wenn man gezwungen ist, sie zu sprechen. Ich borg’ dir ein Heft, darin stehen vielleicht hundert Redensarten, die man täglich braucht — wenn man sich die ansieht, ist man sozusagen schon firm.“

„Fährt die Frau von Elias auch mit?“

Elias ist der Spitzname unseres Französischlehrers. „Ja, sie hat jetzt fest zugesagt. Voriges Jahr war sie auch dabei. Sie machte abends immer Spiele mit uns und brachte uns Lieder bei, die wir noch nicht kannten, sehr schöne, meist französische, aber auch englische und sogar finnische. Die mag ich am meisten, sie klingen so traurig. Dieses Jahr nimmt sie auch ihren Sohn mit, er ist jetzt drei. Voriges Jahr war er bei seinen Großeltern, und sie schrieb ihm immer Karten. Er ist süß, ganz blondlockig, wie ein Mädchen — zum Fressen“.

„Inge Hohlfeld, Sie können wohl den Mund nicht halten“, kam es jetzt verzweifelt von vorn. „Ich beobachte Sie jetzt seit sieben Minuten...“

„Blöd genug“, murmelte Inge noch, ehe sie endlich schwieg. Auch ich war still. Aber ich dachte nur noch an die Heide und an unser Lager. Und über der Vorfreude vergaß ich fast meine Sorgen um die Jungen.