Drei Vorhänge für Grock - Rudi Kost - E-Book

Drei Vorhänge für Grock E-Book

Rudi Kost

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Beschreibung

Nur noch wenige Tage sind es bis zu der mit Spannung erwarteten Premiere des "Hamlet" am Stuttgarter Staatstheater, da wird auf der Bühne eine Leiche gefunden. Es ist Carlos, der ebenso umjubelte wie umstrittene Starregisseur. Kommissar Grock und sein Team stehen vor einem Rätsel. Unfall oder Mord? Carlos, so scheint es, hat sich viele Feinde gemacht - aber wäre einer davon auch zu töten fähig? Grock wird in eine Welt hineingezogen, die ihm fremd ist und die ihn zunehmend verwirrt. Er begegnet den ganz großen Gefühlen: Leidenschaft, Liebe, Hass. Aber was davon ist echt, was nur gespielt? Bald hat er mehr Verdächtige, als ihm lieb ist, und er bekommt mächtig Druck, denn ihm sitzt ein ehrgeiziger Staatsanwalt im Nacken. Dann kommt er einer diabolischen Inszenierung auf die Spur und dreht den Spieß um: Grock spielt selbst Theater.

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Rudi KostDrei Vorhänge für Grock

Rudi Kost

Drei Vorhänge für Grock

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Rudi Kost, 1949 in Stuttgart geboren, ist gelernter Journalist und arbeitet seit langem als freier Autor und Herausgeber. Er hat Hörfunkfeatures und Hörspiele geschrieben, PC-Fachbücher, Reiseführer und vieles mehr. Er lebt bei Schwäbisch Hall.

Das Stuttgarter Staatstheater gibt es natürlich. Aber alles andere entspringt nur der kruden Fantasie des Autors. Großen Dank für hilfreiche Anmerkungen an Friedrich Schirmer, 1993 bis 2005 Intendant des Schauspiels der Staatstheater Stuttgart, jetzt Intendant der Württembergischen Landesbühne Esslingen, und an Marcus Grube, Chefdramaturg dortselbst. Ich habe mir die dichterische Freiheit genommen, manches zu ignorieren.

 

1. Auflage 2015

© 2015 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © caracterdesign - iStockphoto.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1682-3E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1683-0Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1431-7

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Inhalt

Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

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1

Wieder mal holten sie den Grock aus dem Schlaf. Er hatte schwer geträumt, in seinem Kopf schwirrten Fetzen, die sich zu diffusen Bildern fügten, wieder auseinanderstoben und sich neu formten. Ein Scheinwerfer, wie ein Spot, geisterte herum und hob Dinge hervor, die er trotzdem nicht greifen konnte. Immer wieder ein Etwas, was beharrlich schnurrte, sich wieder beruhigte und dann von Neuem begann.

Irgendwann begriff er. Das Handy. Auf dem Nachttisch. Vibrationsalarm. Alarm!

Der Spot ging aus.

Grock krächzte nur. Ein Bildfetzen war hängengeblieben. Ein Frauenbein, schlank und wohlgeformt. Wo das wohl hingehörte?

»Na endlich!«, sagte Theresa Wimmer munter. »Ich habe es schon drei Mal versucht.«

Grock räusperte sich und hörte zu.

»Gut«, raspelte er. »Bin schon unterwegs.«

Von wegen! Er sah aufs Display. Viertel vor acht. Mühsam wälzte er sich aus dem Bett und schlurfte in die Küche. Es stank nachdem Essen vom Asiaten, das er sich gestern Abend mitgebracht hatte, Nummer siebenundzwanzig. Er war zu müde gewesen, die Reste wegzuwerfen. Nein, zu faul.

Er setzte Wasser auf und löffelte Kaffee in den Filter. Nachdem Lena die teure Kaffeemaschine mitgenommen hatte, war er wieder zur althergebrachten Methode zurückgekehrt. Er goss das kochende Wasser in dünnem Strahl auf das Pulver und sog den betörenden Duft ein. Üblicherweise saß er in begieriger Vorfreude daneben und lauschte geduldig, wie der Kaffee in die Kanne tröpfelte. Aber heute hatte er es eilig, er war ja schon unterwegs. Also ging er duschen, bis der Kaffee durchgelaufen war. Optimales Zeitmanagement.

Derweil steckte Theresa Wimmer das Handy zurück in die Tasche und schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, wir haben heute wieder einen verkaterten Chef«, sagte sie zu Dirk Petersen.

Von wegen! Es war noch keine drei Tage her, da hatte Grock einen Entschluss gefasst. Ich muss mein Leben ändern, hatte er sich gesagt. Nun, das sagte er jeden Morgen. Vielleicht wäre es auch schon längst dazu gekommen, wenn er gewusst hätte, wie sein geändertes Leben aussehen sollte. Chianti statt Trollinger? Ravioli statt Maultaschen? Das war doch keine Alternative!

Kommt Zeit, kommt Rat. Saudummes Sprichwort. Der Rat stand öfter auf dem Teppich, als ihm lieb war.

»Hat man schon ein Alkoholproblem, wenn man abends eine Flasche Trollinger trinkt?«, hatte er den verrückten Hans einmal gefragt.

»Ja«, hatte der geantwortet. »Aber wo ist das Problem?«

Grock hatte sich ein Desensibilisierungsprogramm zurechtgelegt. Nur noch zwei Viertele am Abend, mehr nicht. Eiserne Disziplin. Drei Tage schon. Er war stolz auf sich. Er war auf dem besten Weg, ein besserer Mensch zu werden.

Warum brummte ihm dann trotzdem jeden Morgen der Kopf? Deswegen?

Der Kaffee schwarz, dazu eine Schwarze, genüsslich gepafft. So viel Zeit musste sein. Es gab ja genügend Leute, die dafür sorgten, dass der Tote nicht davonlief.

Von Luginsland hinunter ins Neckartal, aber nicht auf die B 10, vor der Gaisburger Brücke gab es bestimmt wieder einen mordsmäßigen Stau. Stattdessen die Benzstraße. Schleichweg quasi.

Die Idee hatten auch andere.

Er stand die Talstraße hinauf, den Wagenburgtunnel hindurch. Er fluchte, ermahnte sich jedoch sogleich zur Gelassenheit, er wollte ja ein besserer Mensch werden. Drei Schwarze. Seit er den Wagen allein benutzte, gab es wenigstens niemanden mehr, der über den Gestank schimpfte. Seine Gedanken drifteten ab, wieder kam ihm dieses Frauenbein in den Sinn.

Theresa hatte ihm den Weg beschrieben, aber er verpasste die Abfahrt und musste mit der Kirche ums Dorf fahren, stand am Charlottenplatz wieder im Stau, stand mit den anderen die Konrad-Adenauer-Straße vor. Die vierte Schwarze. Sein Magen rebellierte.

Dann endlich die Oper. Hier rechts ab, vor zum Eckensee, wieder rechts, und dann siehst du das Aufgebot schon, Eingang Schauspielhaus.

Die guten Vorsätze halfen nichts, er war grantig, als er seinen Wagen zum Aufgebot hinzustellte und ausstieg. Er hätte seine Gedanken auf ein Frühstück richten sollen und nicht auf ein mysteriöses Frauenbein.

Einer der Uniformierten, genauso muffelig wie er, führte ihn wortlos durch ein Labyrinth von Gängen, dann standen sie auf der Bühne. Wuselige Geschäftigkeit von den Leuten in ihren Ganzkörperanzügen, die herumpinselten, Kärtchen mit Zahlen aufstellten oder sonst was taten. Wenigstens hatten sie diesmal gutes Licht. Es schien ihm, als seien es hunderte von Scheinwerfern, die alles in ein übergrelles Licht tauchten.

Der dicke Dirk Petersen fing ihn ab.

»Spät«, knurrte er.

»Stau«, knurrte Grock. »Was ist? Schlechte Laune?«

»Vor dem Frühstück immer.«

»Dann schick jemanden. Irgendwo wird es hier doch einen Bäcker oder eine Fressbude geben.«

»Das ist Missbrauch einer Amtsperson zu privaten Zwecken. Das übersteigt meine Kompetenz. Dazu braucht es einen Dezernatsleiter.«

»Nun schick schon jemanden!«

Theresa Wimmer kam auf sie zu, mit einem strahlenden Lächeln. »Männer! Denken immer nur an das eine. Ich organisiere das. Was hätten die Herren denn gerne?«

»Egal«, brummte Grock. »Nur nichts Fettiges.«

Theresa runzelte die Stirn. »Nichts Fettiges?«

Grock fühlte sich zu einer Erklärung genötigt. »Ich muss abnehmen.«

Theresa sah ihren hageren Chef an. »Abnehmen, so.« Sie gluckste und ging davon. Nichts Fettiges! Das deutete auf einen veritablen Kater hin. Allmählich kannte sie ihren Chef.

»Warum ist die so gut drauf? Um diese Zeit?«, wunderte sich Grock.

»Frag sie.«

»Hat sie einen Freund?«

»Frag sie.«

Mit einer Kopfbewegung wies Grock auf die männliche Gestalt, die mit dem Gesicht nach unten auf der Bühne lag. »Und?«

»Carlos«, sagte Dirk.

»Carlos wer?«

»Nur Carlos.«

Grock schaute irritiert.

»Künstlername«, erklärte Dirk Petersen. »Regisseur hier am Schauspielhaus. Starregisseur, um genau zu sein, was immer das zu bedeuten hat. Bürgerlich hieß er Rolf Meier.«

»Mit dem Namen wirst du kein Starregisseur, was immer das zu bedeuten hat«, sinnierte Grock.

»Grock ginge schon eher. Aber den Stefan musst du weglassen. Zu bieder.«

»Dann eben nur Grock. Grock, der Star.«

Ihre Leiche war ein großer, kräftiger Mann mit fusseligem Bart und zotteligen Haaren. Neben ihm lag etwas, was wie ein rotes Stirnband aussah.

Theresa kam zurück, mit leeren Händen. Grock und Dirk sahen sie hungrig und verärgert an.

»Ich habe einen der uniformierten Kollegen geschickt. Die stehen sowieso nur rum und langweilen sich.«

»Carlos«, sinnierte Grock. »Da denke ich an den Terroristen. Carlos, der Schakal.«

»Und ich an Don Carlos. Schiller«, erklärte Theresa. »Beides würde übrigens passen. Carlos, der Schakal, ist ein Zerstörer. Don Carlos ein Idealist, der gegen Konventionen aufbegehrt. So ähnlich könnte man unsere Leiche auch beschreiben.«

Grock war verblüfft. »Manchmal erschreckt mich dein Wissen, Theresa.«

»Alles nur geklaut«, sagte Theresa und hielt ihr Tablet hoch.

»Wer hat diesen Carlos gefunden?«, fragte Grock.

»Die Bühnenarbeiter. Gegen Viertel nach sieben. Bisher keine weiteren Erkenntnisse. Alle, die gestern Abend da waren, sind natürlich jetzt noch nicht im Haus.«

»Wo ist unser Leichenfledderer?«

»Unser geschätzter Doktor Rathgeb steckt auch im Stau. Aber er hat wenigstens angerufen.«

»Weshalb sind wir eigentlich hier?«

»Tragischer Unglücksfall, würde ich sagen«, meinte Dirk. »Das soll uns der Herr Doktor bestätigen, sobald er da ist. Danach können wir wieder heim ins warme Ehebett. Ich zumindest. Ich habe noch Überstunden abzufeiern.«

Ein Uniformierter kam und überreichte Theresa eine Tüte. »Ein Croissant für jeden.«

»Mehr nicht?«, fragte Dirk Petersen enttäuscht.

»Ihr wollt doch abnehmen, habe ich gehört«, sagte Theresa und klopfte auf Dirks Bauch.

»Ich nicht«, erklärte Dirk. »Ein Mann muss wissen, wann er den Kampf verloren hat.«

»Sieht das deine Frau genauso?«

Grock biss in sein Croissant. Noch ofenwarm. Und fettig.

Sofort kam ein Mann auf sie zugeschossen. Finkbeiner, Leiter der Spurensicherung. »Seid ihr verrückt? Esst gefälligst woanders! Ihr versaut mir sämtliche Spuren!«

»Der Chef persönlich!«, sagte Grock und biss noch einmal ab. »Wenn der Tote wüsste, welche Ehre ihm widerfährt.«

Finkbeiner war ein mürrischer Mann, der nie eine Miene verzog und sich ständig über die viele Arbeit beklagte, die ihm die Herren Kommissare zumuteten. Wahrscheinlich wurde man so, wenn das Leben aus DNA-Analysen, kleinsten Wollfetzen und unsichtbaren Blutspritzern bestand, aus hunderten von Spuren, von denen sich nur einige wenige als zielführend erwiesen.

Jetzt aber lächelte er. »Einmal auf der Bühne des Staatstheaters zu stehen, das lasse ich mir doch nicht entgehen.« Und fast verlegen fügte er hinzu: »Ich spiele selbst. In einer Laiengruppe.«

Grock war verblüfft. Da kannte man die Kollegen seit Jahren und wusste nichts von ihnen.

2

Auftritt Staatsanwaltschaft. Rainer »Den-Doktor-können-Sie-weglassen« Ströbel rauschte heran, im Schlepptau eine leidlich attraktive, aber verschüchtert wirkende junge Frau mit langen blonden Haaren.

»Was will der denn schon hier?«, brummte Grock unwillig.

»Der lässt sich doch keine große Bühne entgehen«, sagte Dirk.

»Meine Herren!«, rief Ströbel, die Dame geflissentlich übersehend, wofür Theresa eher dankbar denn beleidigt war.

Mit ausgebreiteten Armen kam er ihnen entgegen.

»Welche Tragödie! Ein unersetzlicher Verlust für das deutsche Theater! Carlos war ein Genie. Ich habe seine ›Medea‹ in Köln gesehen. Umwerfend, sage ich Ihnen, umwerfend! Der Fall hat absolute Priorität, Grock!«

»Vorerst ist es noch kein Fall«, sagte Grock unbeeindruckt.

»Wie bitte?« Ströbel schien in seinem Elan gebremst.

»Vorerst haben wir nur eine männliche Leiche«, erklärte Dirk Petersen, der jede Chance auskostete, Ströbel auflaufen zu lassen. »Sechsundvierzig Jahre alt, Todesursache unbekannt.«

»Ein ungeklärter Todesfall! Aber genau deswegen müssen wir tätig werden, das wissen Sie genau, Petersen. Was sagt denn Doktor Rathgeb?«

»Nichts.«

»Wieso nichts?«

»Weil er noch gar nicht da ist.«

»Um Himmels willen! Bei einem Fall mit dieser Brisanz dürfen wir uns keine Verzögerung erlauben, die ganze Welt blickt auf uns. Warum ist der Doktor Rathgeb noch nicht hier?«

Rathgeb schien hinter der Bühne auf sein Stichwort gewartet zu haben. Er schnaufte mit seinem Koffer herbei.

»Weil der Doktor Rathgeb in einem Stau gesteckt ist. Schicken Sie mir das nächste Mal einen Hubschrauber, wenn es so pressant ist. Und jetzt verschwindet, Kinder, alle miteinander, und lasst mich endlich meine Arbeit machen.«

Ströbel rannte auf der Bühne umher, schaute nach links und nach rechts und nach oben.

»Da!«, rief er und deutete mit dem Finger nach oben. »Der Schnürboden! Die Kulissenschieberei! Dort ist das Opfer hinuntergestürzt, glauben Sie mir. Finkbeiner, Sie müssen das alles untersuchen, diese ganzen Seile da.«

»Die Seile nennt man Züge, Herr Staatsanwalt.«

»Egal! Das muss alles untersucht werden. Alle Spuren müssen gesichert werden. Und Sie, Petersen, müssen alle hier im Haus befragen, alle, bis zur letzten Putzfrau.«

Petersen und Finkbeiner warfen sich einen Blick zu.

»Wir wissen, wie wir unsere Arbeit zu machen haben«, sagte Dirk nicht eben freundlich.

Finkbeiner winkte einen seiner Leute zu sich, flüsterte mit ihm. Der Mann grinste, verschwand und kam gleich darauf mit einem Paar Plastiküberzieher wieder.

»Herr Staatsanwalt!«, sagte Finkbeiner todernst, mit seinem üblichen mürrischen Gesicht. »Ziehen Sie bitte Ihre Schuhe aus!«

»Was?«

»Sie trampeln hier in unserem Tatort herum und haben viele Spuren hinterlassen. Wir müssen Abdrücke von Ihren Schuhen nehmen, damit wir Sie schon mal aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen können. Ziemlich viel Mehrarbeit für uns, aber was soll’s, muss eben sein. Und machen Sie einen Termin im Präsidium aus, wegen der Fingerabdrücke. Auch die müssen wir ja ausschließen.«

Der Staatsanwalt lief puterrot an. »Das ist Schikane!«

»Nein«, sagte Finkbeiner gelassen. »Das ist Ermittlungsarbeit. Alle Spuren müssen gesichert werden. Ihre Anweisung.«

Er hielt ihm die Überzieher hin. »Aber Sie müssen ja nicht in Strümpfen herumlaufen.«

Was blieb Ströbel anderes übrig? Mit wütender Miene schlüpfte er aus seinen Schuhen, die Finkbeiner in einen Asservatenbeutel steckte und sorgsam beschriftete. »Kann ein paar Tage dauern, bis Sie die wiederbekommen. Sie sehen ja, viel zu tun.«

Ströbel zog sich die Überzieher an und schaute sich unbehaglich um. Niemand nahm Notiz von ihm, alle waren in ihre Arbeit vertieft. Er holte tief Luft. »Dann will ich mal nicht länger stören. Aber Sie halten mich auf dem Laufenden, Grock, unverzüglich!«

Er trat zu Rathgeb. »Wie sieht’s aus, Herr Doktor Rathgeb?«

Rathgeb schaute zu ihm hoch und kratzte sich am Kopf. »Schwierig, schwierig! Ich kann noch nichts Genaues sagen. Aber wir sehen uns ja bei der Obduktion, nicht wahr, Herr Staatsanwalt? Ich gehe doch davon aus, dass Sie persönlich anwesend sein werden.«

»Äh … wenn es sich einrichten lässt«, stotterte Ströbel.

Es war allgemein bekannt, dass er in der Gerichtsmedizin zu einem kleinen Würstchen schrumpfte, weil ihm regelmäßig schlecht wurde. Wofür Grock volles Verständnis hatte, ihm ging es nicht anders.

»Aber ich bitte Sie, Herr Doktor Ströbel! Bei einem Fall mit dieser Brisanz!«

Abgang Staatsanwalt, die verschüchterte Dame zehn Schritte hinter ihm.

Grock, Petersen und Finkbeiner sahen sich an und grinsten.

»Finkbeiner, du bist mir so einer!«, sagte Grock. »Dass du nicht selbst lachen musstest!«

Finkbeiner zuckte mit den Achseln. »Auch als Amateurschauspieler lernt man so einiges.«

Grock schaute sich um. Doktor Rathgeb widmete sich wieder seiner Leiche, Finkbeiner scheuchte seine Leute umher.

Grock ging auf der Bühne vor bis zum Ende und schaute in den Zuschauerraum. Das also waren die Bretter, die für manche die Welt bedeuteten. Er hatte es sich gewaltiger vorgestellt, einschüchternder. Von hier aus wirkten die Zuschauerränge fast intim. Viel beeindruckender war, was sich hinter dem Bühnenportal befand, dort, wo die Leiche lag. Trotzdem, wenn er hier stehen müsste, er würde keinen Satz herausbringen.

Er schloss die Augen.

Hinter sich hörte er Dialoge aus einem absurden Theaterstück.

Theresa: »Warum haben Sie nicht auch seinen schicken Designeranzug mitgenommen, Herr Finkbeiner?«

Dirk: »Du willst ja nur sehen, welche Unterhosen unser schneidiger Staatsanwalt trägt.«

Theresa: »Trunks von Calvin Klein, gelb mit schwarzem Bund.«

Finkbeiner: »Oh!«

Theresa: »Ich habe vor Kurzem zufällig gesehen, wie er die beim Breuninger gekauft hat. Dreierpack im Sonderangebot.«

Dirk: »Da ist doch die Frage: Was hast du bei den Männerunterhosen zu suchen?«

Theresa: »Meine neueste Masche, einen Kerl aufzureißen. Schau auf seine Unterhosen, und du weißt, was du kriegst.«

Nachdenkliches Schweigen zweier Männer.

Dirk (zögernd): »Trunks?«

Finkbeiner (ungläubig): »Gelb?«

Rathgeb (dröhnend): »Mehr Licht!«

Über den Zuschauerrängen ging eine Batterie von Scheinwerfern an, so grell, dass es sogar durch die geschlossenen Lider blendete. Grock öffnete die Augen und blickte in eine Wand aus Licht, nichts war mehr zu sehen von den Sitzreihen vor ihm.

Er versuchte sich vorzustellen, wie einem Schauspieler zumute war. Ganz allein auf sich gestellt stand er hier in einem Käfig aus Licht, der ihn vom Rest der Welt abschirmte und gleichzeitig erbarmungslos bloßstellte, und interpretierte einen Text, den er auswendig gelernt hatte.

Was war ihm denn aus Schulzeiten noch im Gedächtnis geblieben, als sie sich mit diesen langweiligen Klassikern abplagen mussten? Ein Textfetzen kam ihn in den Sinn, seine Herkunft so mysteriös wie das nächtliche Frauenbein. Er schloss wieder die Augen und bewegte lautlos die Lippen. Wär’s möglich? Könnt’ ich nicht mehr, wie ich wollte? Nicht mehr zurück, wie mir’s beliebt?

Er stellte sich den Applaus des Publikums vor, und tatsächlich, er hörte Applaus.

Es war nur Petersen, der klatschte.

»Du würdest einen guten Faust abgeben.«

»Warum Faust?«, fragte Grock.

»Grüblerisch und auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.«

»War das nicht der, der seine Seele dem Teufel verschrieben hat?«

»Ja.«

»Passt.«

»Komm, Rathgeb ist fertig«, sagte Petersen. »Die Lichtorgie war eine extra Inszenierung für dich. Das hat Finkbeiner organisiert.«

Grock wollte schon aufbrausen, doch dann sah er die leuchtenden, erwartungsvollen Augen Finkbeiners.

»Und?«, fragte der. »Wie ist es, so im Rampenlicht zu stehen?«

»Es ist…eigenartig. Faszinierend und beängstigend zugleich. Ich kann’s nicht genau benennen.«

»Man kann süchtig danach werden.«

»Du auch?«

»Irgendwie schon.«

»Sag mir Bescheid, wenn du wieder spielst. Du auf der Bühne, das muss ich sehen.«

»Am Freitag«, sagte Finkbeiner prompt. »Ich lasse dir eine Karte zukommen.«

So ernst hatte das Grock nun auch wieder nicht gemeint. Aber warum nicht? Den missmutigen Finkbeiner auf einer Theaterbühne konnte er sich nicht so recht vorstellen.

Rathgeb klatschte in die Hände. »Wenn die Herren die Güte hätten? Auf mich warten noch andere Leichen.«

Es war eigentlich klar, was passiert sein musste, aber Grock tat Rathgeb den Gefallen, damit der seine Show abziehen konnte, und fragte: »Und?«

»Das sieht doch jedes Kind«, antwortete der Arzt von oben herab. Dann stellte sich der kleine, korpulente Mann in Positur, ein Bein gestreckt, das andere leicht angewinkelt, eine Hand auf dem Bauch, die andere in die Höhe gereckt, und deklamierte: »Gefallen – gefallen – hinuntergefallen!«

Er grinste Grock an. »Ernst Jandl.«

»Muss man den kennen?«

»Du bist ein Kulturbanause, Grock!«

»Stimmt«, sagte Grock und schüttelte den Kopf. Hatte diese Theaterbühne eine besondere Ausstrahlung, die alle zu Kindereien animierte?

Rathgeb wurde wieder ernst. »Genickbruch durch einen Sturz. Und zwar von ziemlich weit oben. Ein paar andere Knochen haben auch was abgekriegt, aber das hat dann schon keine Rolle mehr gespielt.«

Grock sah nach oben. Sie waren hinter dem Portal der Bühne, es ging weit nach oben, zu weit für seinen Geschmack. Er zählte fünf Galerien…Laufstege…Rundgänge … was immer das auch waren. Das oberste … Ding … vielleicht in zehn, fünfzehn Metern Höhe oder auch mehr, er war schlecht im Schätzen.

»Gefallen oder geschubst?«, fragte er den Arzt.

»Soll ich deine Arbeit etwa auch noch machen?«, gab der zurück, gewohnt patzig.

»Rathgeb, du weißt, was ich meine. Ich habe heute nicht die Nerven, dir jedes Wort einzeln aus der Nase zu ziehen.«

»Schlecht geschlafen, der Herr?«, fragte Rathgeb.

»Herrgott, ja!«, blaffte Grock.

»Du bist heute wirklich nicht gut drauf, was?«, fragte Rathgeb und fuhr schnell fort: »Er hat keine über die Rübe gekriegt, wenn du das meinst. Und bevor du danach fragst: zwischen zwölf und zwei Uhr heute Nacht. Das kann ich im Moment nicht besser eingrenzen, diese Scheinwerfer erzeugen eine ganz schöne Hitze.«

»Wann bekomme ich’s genauer?«, fragte Grock.

»Wenn es deine Laune hebt: am frühen Nachmittag.«

»Das ist ein Wort«, sagte Grock, einigermaßen verblüfft. Manchmal hatte schlechte Laune offenbar beschleunigende Wirkung. Das sollte er beim nächsten Seminar über Mitarbeiterführung mal zur Sprache bringen.

»Ich ziehe diesen Kunden vor«, sagte Rathgeb, »ich weiß doch, dass dir Ströbel im Nacken sitzt.«

Er wusste nicht, was ihm plötzlich die Stimmung so verhagelt hatte. Die unidentifizierbaren Traumreste? Dieses Theatermilieu hier, das ihm so fremd war wie sonst was? Der Staatsanwalt? Das schien ja ein Fall von einiger Prominenz zu werden, und Ströbel witterte die Chance für einen großen Auftritt. Er würde ihm keine Ruhe lassen, dessen war Grock sich sicher.

Rathgeb holte ihn aus seinen Gedanken.

»Schau mal her, Grock«, sagte er, ging ächzend auf die Knie und drehte den Kopf des Toten. »Siehst du das an seiner linken Wange?«

»Eine Folge des Sturzes?«

»Definitiv nicht. Dem hat einer die Fresse poliert, landläufig gesagt.«

»Könnte das die Ursache …«

»Nein, dafür sind die Hämatome zu weit ausgeprägt. Aber auch noch nicht vollständig, das heißt, das Ganze ist nicht allzu lange vor seinem Dahinscheiden passiert. Genaueres …«

»… am frühen Nachmittag, ja.«

»Wer kommt? Du ja bestimmt nicht.«

Grocks Aversion gegen die pflichtgemäße Anwesenheit bei Obduktionen war allgemein bekannt und akzeptiert.

»Mal sehen«, sagte er.

»Darf ich einen Wunsch äußern?«, fragte Rathgeb. »Theresa. Wir hatten da eine interessante Diskussion über maskuline Bekleidungsstücke, die ich bei der Gelegenheit gerne fortsetzen würde.«

»Verschone sie mit deinen schmutzigen Medizinerwitzen, Rathgeb!«

»Das wären in dem Fall eher Herrenwitze.«

»Noch schlimmer.«

»Im Ernst, sie kann viel lernen, und dieser Kunde sieht ja noch ganz appetitlich aus. Ich bin auch ganz brav, versprochen.«

»Mal sehen«, sagte Grock wieder.

»Ich rufe dich an, wenn ich so weit bin.«

Grock wandte sich dem Leiter der Spurensicherung zu.

»Finkbeiner, deine Leute müssen dringend da rauf auf diese Gänge. Von irgendwo dort oben muss er gekommen sein.«

Finkbeiner zuckte ergeben mit den Schultern. »Wenn’s sein muss. Wir haben ja sonst nichts zu tun. Aber das kann dauern.«

»Wie lange?«

Unbemerkt war ein Mann in Arbeitsklamotten zu ihnen getreten.

»Ralf König, Bühnenmeister, ich leite die Schicht«, stellte er sich vor und wiederholte: »Wie lange?«

Finkbeiner kratzte sich am Kopf. »Schwer zu sagen. Später Nachmittag wird’s schon werden.«

»Das geht nicht«, erklärte König. »Wir müssen arbeiten.«

»Wir auch«, gab Finkbeiner gelassen zurück.

»Was arbeiten?«, fragte Grock.

Der Bühnenmeister deutete um sich. »Das Bühnenbild der Abendvorstellung abbauen. Das Bühnenbild der Probe aufbauen, die soll um elf Uhr beginnen. Die Probendeko abbauen, die Abendbühne aufbauen. Wir haben heute einen straffen Zeitplan.«

»Mit der Probe wird’s schon mal nichts«, sagte Finkbeiner. »Und dann sehen wir weiter. Ich verstehe ja Ihr Problem, aber ich kann’s wirklich nicht abschätzen.«

»Das ist eine Katastrophe!«

»Das war’s für den Herrn Carlos auch.«

Grock wandte sich an den Bühnenmeister.

»Herr König, diese Laufstege … Rundgänge …« Wenn es dafür einen Fachbegriff gab, geruhte der Bühnenmeister nicht, diesen preiszugeben. »Wer kann da hoch?«

»Jeder.«

»Und wer geht normalerweise hoch?«

»Bühnentechniker. Beleuchter.«

»Regisseure auch?«

»Warum sollten sie?«

»Damit sie sich ihr geniales Werk von oben anschauen können.«

Der Bühnenmeister schüttelte verständnislos den Kopf. »Was hätten sie davon? Die Zuschauer sitzen da unten. So verrückt war nicht einmal der Carlos.«

»Und das will etwas heißen?«

Der Bühnenmeister schwieg. Vielsagend, wie Grock fand.

»Jedenfalls haben Sie erst einmal Pause. Machen Sie sich einen freien Tag.«

»Das muss ich mit der Theaterleitung besprechen«, sagte der Bühnenmeister.

»Gutes Stichwort. Wo finde ich die?«

»Ich bringe Sie hin«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Andauernd materialisierten sich Menschen, die er bislang nicht wahrgenommen hatte. Als ob sie vom Himmel kämen. Vielleicht waren sie das auch, im Theater schien alles möglich. Wenn sogar der mürrische Finkbeiner … Er sah nach oben auf eine verwirrende Technik. Stangen, an denen Kulissen hingen, Seile, Laufgänge, unendlich viele Scheinwerfer. Bestimmt, von dort oben kamen sie herabgeschwebt, die Menschen, die vor Grock Gestalt annahmen. Vielleicht auch ein toter Regisseur namens Carlos, nur dass der nicht geschwebt war.

»Finkbeiner, da ganz oben, wo dieses Zeugs hängt, da müsst ihr …«

»Der Schnürboden mit den Zügen. Prospektzüge, Punktzüge. Keine Sorge, Grock, wir suchen überall, ich bin schließlich Profi, ich kenne mich aus.«

Finkbeiner lächelte. Eigenartig, sobald es ums Theater ging, trat ein anderer Finkbeiner zu Tage, als hätte er sich eine zweite Haut übergezogen. Oder abgestreift. Solch eine Bühne musste mit den Menschen etwas machen.

»Und ihr, Dirk, Theresa, ihr…Ach was!« Er winkte ab. Es war unnötig, weitere Anweisungen zu geben, seine Leute wussten, was sie zu tun hatten.

3

Der Mensch, der neu vom Himmel geschwebt war, stand derweil da und wartete, geduldig, träge, schicksalsergeben. Mitte dreißig, verwaschene Jeans, zerknittertes Jackett, zerknittertes Hemd, zerknitterte Frisur. Er war unrasiert und sah schläfrig drein, als hätte man ihn mitsamt seinen Kleidern aus dem Bett geholt.

»Können wir?«, fragte Grock.

Der Unrasierte nickte und ging voraus. Ein Gewirr von Gängen zu einem Aufzug.

»Peter Grigoleit«, stellte sich der Unrasierte vor, »ich bin der Produktionsdramaturg.«

»Was ist ein Produktionsdramaturg?«, fragte Grock.

»Pauschal gesagt: Ich stelle die Hintergrundinformationen für das Team zusammen, bin für das Programmheft verantwortlich und der Seelentröster bei der ganzen Produktion. Manchmal auch der Einpeitscher. Und permanent der Vermittler.«

»Was gibt es da zu vermitteln?«

»Eine Theaterinszenierung ist eine ziemlich aufwendige Sache, logistisch gesehen und auch emotional. Da prallen Meinungen aufeinander, da kommen Gefühle hoch. Besonders bei einer Produktion von Carlos.«

»Was ist an diesem Carlos so besonders?«

»Carlos ist – war eine, sagen wir mal: extreme Persönlichkeit. Ein Exzentriker. Ein Egoist. Mit wilden Fantasien, und gleichzeitig ein gnadenloser Perfektionist, der von seinen Mitarbeitern das Letzte fordert. Da gibt’s schon mal Tränen, vor allem bei den Mädels.«

»Von welcher Produktion reden wir überhaupt?«, fragte Grock.

»›Hamlet‹«, sagte Grigoleit müde und fügte hinzu: »Von Shakespeare.«

»Ach?«, sagte Grock spöttisch. »Ich dachte, der sei auch von Goethe.«

Der Witz war dumm, und er kam auch nicht an; Grigoleit verzog keine Miene. Na gut, dachte Grock, spiele ich eben den ungebildeten Tölpel. Das war erfahrungsgemäß die beste Art, andere zu unbedachten Äußerungen zu verleiten.

»Übrigens, was Ihr Kollege von Carlos in Köln gesehen haben will, war nicht die ›Medea‹ von Euripides, sondern ›Antigone‹ von Sophokles.«

»Aha«, sagte Grock.

»Nur so fürs Protokoll. Können Sie ihm ja bei Gelegenheit unter die Nase reiben.«

Waren seine Aversionen gegen den Staatsanwalt so deutlich zu bemerken gewesen? Oder hatten Theaterleute besondere Antennen dafür?

Mittlerweile waren sie oben, Grock hatte gar nicht darauf geachtet, in welchem Stock. Wieder ein Gewirr von Gängen, ein Zimmer.

Ein Mensch, nicht vom Himmel geschwebt, sondern hinter einem Schreibtisch aufspringend.

»Ich bin informiert. Sie haben meine Bühne sperren lassen. So geht das aber nicht! Wir haben Proben, wir haben Vorstellung.«

»Und ich habe eine Leiche«, entgegnete Grock gleichmütig und absichtsvoll. »Der Verstorbene« klang beschönigend, »der Tote« nüchtern, das Wort »Leiche« aber hatte einen Beigeschmack.

Der Mensch setzte sich.

Wolfgang Beil, Intendant.

Grock wusste nicht, was er sich unter einem Theaterintendanten vorzustellen hatte, vielleicht so etwas wie er, mit Pferdeschwanz und leicht speckiger Lederjacke, jedenfalls keinen Mann im modischen Dreiteiler hinter einem aufgeräumten Schreibtisch.

Grock fühlte sich an Staatsanwalt Ströbel erinnert und war sofort voreingenommen.

Wie aus dem Ei gepellt. Nur die perfekt geföhnte Löwenmähne verbreitete einen Hauch von Extravaganz. Ungefähr sein Alter, Mitte fünfzig, frisch rasiert, teures Aftershave, scharfe Gesichtszüge und Leidensmiene. Leichte Schatten unter den Augen.

Der Intendant deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Grock indes, der beim Eintreten gewohnheitsmäßig den Raum einer raschen Prüfung unterzogen hatte, ignorierte den Wink und steuerte auf eine Sitzgruppe in der Ecke zu. Befriedigt nahm er zur Kenntnis, dass ihm der Intendant nach kurzem Zögern folgte. Auch Peter Grigoleit, der Produktionsdramaturg, setzte sich hinzu sowie ein anderer Mann, den Grock bisher nicht wahrgenommen hatte.

»Michael Bussig, mein Chefdramaturg und Stellvertreter«, stellte der Intendant vor. Und im gleichen Atemzug, mit weit ausholender Geste: »Eine Katastrophe, eine einzige Katastrophe! Ich bin fassungslos! Erschüttert! Ein unersetzlicher Verlust, Sie können gar nicht ahnen, wie unersetzlich!«

Grock hätte ihm gerne aus jahrelanger Erfahrung und voller Überzeugung gesagt, dass jeder Mensch unersetzlich war, aber er schwieg.

»Mein Gott, dieser ›Hamlet‹ wird das Theater revolutionieren. Das ist ein Ereignis, ein Event sondergleichen, Sie haben ja die Plakate gesehen.«

Plakate? Grock konnte sich an zwei Plakate erinnern, die ihm in letzter Zeit aufgefallen waren. Das eine warb mit einem markigen Spruch für ein Automodell, das er sich nicht leisten konnte und das er deshalb blöd fand. Das andere zeigte eine junge nackte Frau von hinten, die sich mit einem neckischen Lächeln halb zu dem Betrachter umwandte. Schöne Beine, schöner Hintern, schöner Busen. Auf den Text hatte er nicht geachtet, nur auf einen perfekten Körper, der so in natura gar nicht vorkommen konnte; wahrscheinlich eine Reklame für Dessous. Aber das hatte der Intendant bestimmt nicht gemeint.

Grock überlegte sich eine unverfängliche Antwort, aber das war gar nicht nötig, dem Intendanten schien seine Reaktion herzlich gleichgültig, er rang die Hände und schüttelte die Löwenmähne.

»Carlos war ein Genie. Ohne ihn ist das deutsche Theater ein ganzes Stück ärmer. Ach was, das Theater! Die Welt!«

Der Intendant übte wohl für seinen Nachruf, deshalb unterbrach ihn Grock: »Dieser Carlos war also Regisseur an Ihrem Haus und inszenierte den ›Hamlet‹?«

Bussig erläuterte knapp: »Carlos arbeitete als Gastregisseur mal bei diesem, mal bei jenem Theater. Letzte Saison hat er für uns ›Richard III.‹ gemacht, diese Saison den ›Hamlet‹. Am Samstag ist Premiere.«

Grock schätzte Bussig auf Mitte vierzig. Er war leger gekleidet und wirkte unauffällig. Bemerkenswert allerdings war ein Paar braune Augen, die schon alles gesehen zu haben schienen, die nichts mehr überraschen konnte. Im Gegensatz zu dem hyperaktiven Intendanten wirkte er gelassen und nüchtern und in sich ruhend. Um seinen Mund war ein Zug, der Grock ironisch vorkam.

»Und? Werden Sie die Premiere absagen?«

»Um Himmels willen«, rief der Intendant, »natürlich nicht! Die ganze Welt wartet auf diese Inszenierung! Jetzt erst recht! Dieser ›Hamlet‹ ist ja jetzt so etwas wie das Vermächtnis des Künstlers Carlos.«

»Geht denn das, eine Premiere, wenn der Regisseur tot ist?«, fragte Grock skeptisch.

Wieder Bussig: »In diesem Stadium, ein paar Tage vor der Premiere, steht alles. Was jetzt noch passiert, ist Feinarbeit und sind die technischen Durchläufe.«

Weil Grock etwas verständnislos guckte, ergänzte er: »Damit das Licht stimmt, die Musik richtig einsetzt, die richtigen Bühnenbildelemente zum richtigen Zeitpunkt kommen – mal etwas vereinfacht ausgedrückt.«

»Und wer wird diese Feinarbeit leiten?«, fragte Grock.

Bussig und der Intendant warfen sich einen Blick zu, ehe Bussig etwas zögernd antwortete: »Wohl Tobias Habich, Carlos’ Assistent. Er ist mit Carlos’ Konzeption am besten vertraut. Und die Theaterleitung wird natürlich ein Auge drauf haben.«

Grock wechselte das Thema.

»Wie es scheint«, sagte er, »ist Carlos von den Galerien oder vom Schnürboden gestürzt. Was hatte er da zu suchen?«

»Eigentlich nichts«, bekannte Bussig.

»Wir werden das nie erfahren«, sagte der Intendant düster und schüttelte sein Löwenhaupt. »Ein Unglücksfall. Tragisch, tragisch!«

»Können Sie mir schildern, was gestern Abend hier so alles los war?«

»Der übliche Betrieb«, sagte Bussig. »Wir hatten Vorstellung, und Carlos hat geprobt.«

»Auf der Bühne?«

»Natürlich nicht«, fuhr der Intendant gereizt dazwischen. »Wir hatten ja Vorstellung.«

»In einem Probenraum, Carlos wollte noch mal ein paar Details durchgehen. Die Probe ging von sechs bis etwa zehn«, sagte Bussig. »Ich war die ganze Zeit dabei, Wolfgang, also Herr Beil, zeitweise. Danach hatten wir, also Wolfgang und ich, noch ein Gespräch mit Carlos hier im Intendantenbüro. Bis kurz nach elf.«

»Worum ging es bei diesem Gespräch?«

»Wir haben über die Inszenierung gesprochen, wie wir das ständig tun.«

»Gab es irgendwelche Probleme?«

»Nein«, sagte der Intendant schnell.

Etwas zu schnell, fand Grock. Das war ein Punkt, den er sich merken musste. Aber im Moment ließ er es dabei bewenden und fragte stattdessen: »Ist Ihnen an Carlos in letzter Zeit etwas aufgefallen? War er anders als sonst?«

»Herr Kommissar«, sagte der Intendant etwas herablassend, »wir stehen gerade kurz vor der Premiere einer überaus wichtigen und anspruchsvollen Produktion. Da sind alle anders, da sind die Nerven bis aufs Äußerste gespannt, jeder ist nervös. Das ist eine absolute Ausnahmesituation!«

»Hatte Carlos Feinde?«

»Aber ich bitte Sie! Wieso hätte ein Mensch wie Carlos Feinde haben sollen? Kritiker ja, Neider natürlich, jede Menge, das ist nicht anders möglich bei einem Genie wie Carlos, das Zeichen setzt.«

»Hatte er Streit mit jemandem?«

»Es gibt immer Auseinandersetzungen, das kann auch gar nicht anders sein, künstlerische Auseinandersetzungen, bei der Arbeit an einem Stück kochen die Emotionen hoch, völlig selbstverständlich, das ist ja unser Beruf, wir erzeugen Emotionen, wir spielen mit ihnen, wir … Aber was hat das mit diesem tragischen Unfall zu tun?«

»Noch wissen wir nicht, ob es tatsächlich ein Unglücksfall war.«

»Was sollte es denn sonst sein? Mein Gott, Sie denken doch nicht … Nein, das ist undenkbar. Völlig undenkbar. Nicht in meinem Haus, das geht nicht!«

»Vorerst ist das für uns ein Todesfall mit unbekannter Ursache, und wir ermitteln deshalb in alle Richtungen. Auch in die Richtung, die Ihnen so undenkbar erscheint, nämlich Mord. Ich brauche eine Liste von allen, die nach dreiundzwanzig Uhr hier im Haus waren. Und die bestellen Sie bitte hierher. Sie können uns doch bestimmt einen Raum für die Befragungen zur Verfügung stellen?«

Der Intendant stöhnte.

»Den Raum kriegen Sie«, sagte Bussig. »Aber das technische Personal von der Spätschicht gestern kommt normalerweise erst heute Nachmittag wieder, es wird also seine Zeit dauern, bis wir die aufgetrieben haben.«

»Kein Problem«, sagte Grock, »wir haben genügend zu tun. Aber bis zum Ende unserer Befragungen bleibt die Bühne auf alle Fälle gesperrt.«

Der Intendant vergrub sein Gesicht in den Händen und stellte seine Löwenmähne dekorativ zur Schau. »Eine Katastrophe!«, murmelte er. »Eine einzige Katastrophe! Das bringt alles völlig durcheinander!«

Der Theaterintendant neigte – nun ja, zur Theatralik, das hatte Grock gemerkt. Bussig schien das ausgleichende Gegenstück zu sein.

»Das Produktionsteam dürfte allmählich eintrudeln«, erklärte er ruhig. »Eigentlich hätten wir jetzt die zweite Hauptprobe, aber die muss ja wohl ausfallen. Das bringt uns ziemlich durcheinander, aber das kriegen wir schon hin. Peter, kümmerst du dich um die Liste?«

»Bringen Sie sie doch bitte gleich runter zu unseren Leuten«, bat Grock.

Der Unrasierte nickte, stand auf und verschwand im Vorzimmer.

»Da wir schon dabei sind: Wo waren Sie gestern Nacht zwischen 23 und drei Uhr?« Grock spannte den mutmaßlichen Todeszeitpunkt bewusst etwas weiter, obwohl er wusste, dass er sich auf Rathgebs Schätzung verlassen konnte.

Der Intendant fuhr auf.

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Nichts«, sagte Grock gelassen. »Reine Routinefrage.«

»Heißt das etwa, dass einer von uns etwas mit diesem…dieser Geschichte zu tun hat?«, fragte der Intendant sichtlich aufgebracht.

»Das wird sich zeigen«, sagte Grock. »Also nochmals: Wo waren Sie?«

»Zu Hause«, sagte der Intendant. »Ich bin gleich nach unserem Gespräch gegangen, also gegen elf.«

»Zeugen?«, fragte Grock.

Der Intendant druckste etwas herum. »Wenn es unbedingt sein muss.«

Grock schaute ihn schweigend an, amüsierte sich heimlich, und winkte ab.

»Und Sie, Herr Bussig?«

»Noch kurz in der Kantine, bis etwa halb zwölf, danach auch zu Hause.« Kurze Pause. Sanft lächelnd fuhr er dann fort: »Zeugin ist meine Frau. Aber sie hat schon geschlafen.«

»Wer war zu dieser Zeit sonst noch in der Kantine?«

»Oh Gott, die kriege ich nicht alle zusammen. Da war ein Kommen und Gehen. Ein Teil des ›Hamlet‹-Teams, manche von der Abendvorstellung.«

»Carlos auch?«

»Carlos auch.«

Grock stand auf und sagte förmlich: »Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie sich für mich genommen haben. Das wär’s fürs Erste, ich möchte Sie nicht länger beanspruchen, Sie haben gewiss viel zu organisieren jetzt nach diesem tragischen Todesfall.«

Der Intendant fragte: »Wann kann ich denn nun die Bühne wieder benutzen?«

»Wir geben Ihnen natürlich umgehend Bescheid, aber so schnell wird’s nicht gehen«, antwortete Grock.

Der Intendant stöhnte nur und sagte: »Sie finden doch bestimmt allein hinaus?«

»Ich fürchte nein«, bekannte Grock.

Bussig erhob sich. »Ich muss sowieso runter, mit dem ›Hamlet‹-Team reden.«

Der Intendant stöhnte abermals. »Ich komme auch gleich, ich muss mich erst noch sammeln.«

Bussig ging voraus. Im Aufzug sagte er: »Wolfgangs Zeugin ist eine unserer Dramaturginnen. Die beiden haben ein Verhältnis. Weiß aber eigentlich jeder.«

»Und warum macht er dann so ein Geheimnis daraus?«, fragte Grock.

Bussig zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weil beide verheiratet sind. Auf dem Papier wenigstens.«

Sie hatten den Aufzug erreicht und fuhren nach unten.

»Wenn man dem Intendanten Glauben schenkt, war Carlos ein von allen geliebter Mensch«, sagte Grock. »Ich habe aber auch gehört, dass er recht schwierig gewesen sein soll.«

»Das sind Regisseure immer.«

»Intendanten auch?«

Bussig grinste. »Alle. Sogar Chefdramaturgen. Wir sind im Theater, Herr Kommissar. Das ist ein Hexenkessel. Unsere Arbeitsgrundlage sind Gefühle, große Gefühle. Und damit müssen wir nicht nur auf der Bühne umgehen. Man liebt sich, und man hasst sich. Heute so, morgen so und manchmal auch beides gleichzeitig. Man herzt und küsst sich und denkt dabei, was bist du doch für ein Arsch.«

»Sie sind zynisch.«

»Nüchtern. Das hilft beim Überleben. Sonst würde man verrückt werden. Oder depressiv.«

In einem Theater war offenbar nicht nur das Labyrinth der Gänge verwirrend. Grock wusste nicht, weshalb sie plötzlich wieder auf der Bühne standen.

»Hier sind wir«, sagte Bussig. »Ich muss jetzt in die Kantine, die geknickten Seelen aufrichten helfen. Ich nehme an, wir sehen uns dort?«

Theresa Wimmer hielt einige Zettel in der Hand und schüttelte den Kopf. »Du glaubst ja nicht, wer an einem Theaterabend alles beschäftigt ist. Bühnentechniker, Maskenbildner, Beleuchter, Garderobenfrauen, Inspizienten, Tontechniker, Requisiteure, Souffleusen. Ach ja, und ein paar Schauspieler auch.«

Der Unrasierte, dessen Namen Grock schon wieder vergessen hatte, stand neben ihr und nickte. »Ein Haus wie das Stuttgarter Staatstheater ist ein Großunternehmen. Wir haben über 1300 Beschäftigte. Alle, die laut Dienstplänen gestern Abend hier im Schauspielhaus zu tun hatten, sind informiert und dürften im Verlauf der nächsten Stunde eintrudeln. Ich weiß natürlich nicht, wer sonst noch im Haus war. Räume stehen bereit.«

»Schön, danke«, sagte Theresa.

Der Unrasierte sah sie mit schläfrigen Augen unverwandt an. »Ich muss jetzt in die Kantine, zu den Schauspielern. Aber wir sehen uns noch?«

»Sicher«, murmelte Theresa, in die Liste vertieft.