Drohende Abschiebung - Christine M. Graebsch - E-Book

Drohende Abschiebung E-Book

Christine M. Graebsch

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Beschreibung

Sind Sie oder ist eine von Ihnen beratene Person von Abschiebung bedroht? Welche Möglichkeiten es gibt, diese zu verhindern, zeigen zwei ausgewiesene Expert*innen auf. Auf der Basis detaillierter Auseinandersetzung mit den Rechtsgrundlagen des Aufenthalts-/Asylrechts und den vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten weisen Christine Graebsch und Martin von Borstel auf Handlungsoptionen in dieser schwierigen Lage hin. Das heutige Aufenthalts- und Asylrecht ist komplexer denn je und Betroffene wie Beratende kommen kaum hinterher, alle neuen Entwicklungen stets im Blick zu behalten. Es gibt diverse Gründe, weshalb drittstaatsangehörige Personen, aber auch EU-Bürger*innen, von Abschiebung bedroht sein können. Um eine Abschiebung juristisch verhindern zu können, ist es notwendig, sich mit ihren rechtlichen Voraussetzungen und den vorhandenen Rechtsschutzmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Hierbei kommen sowohl ordentliche als auch außerordentliche Rechtsmittel wie die Verfassungsbeschwerde oder eine Beschwerde bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Betracht. In den Blick zu nehmen ist dabei sowohl die Situation von Personen, die in Freiheit sind, als auch jene von Personen, die sich in Straf- oder Abschiebungshaft befinden. Dieses Buch gibt Betroffenen wie Beratenden einen Überblick über die rechtlichen Grundlagen der Aufenthaltsbeendigung und infrage kommende Rechtsmittel.

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Geflüchtete Menschen psychosozialunterstützen und begleiten

 

Herausgegeben von

Maximiliane BrandmaierBarbara BräutigamSilke Birgitta GahleitnerDorothea Zimmermann

Gastherausgeberin:Ines Welge

Christine Graebsch/Martin von Borstel

Drohende Abschiebung

Handlungsmöglichkeiten und Rechtsschutz

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Nadine Scherer

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6436

ISBN 978-3-647-99990-6

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

1Einleitung: Beratung von Abschiebung bedrohter Personen

1.1Hintergrund des Buches und der Autor*innen

1.2Drohende Abschiebung als Ausgangspunkt für Beratung

1.3Herangehensweise, Aufbau und empfohlene Benutzung des Buches

2Abschiebung

2.1Begriff der Abschiebung

2.2Voraussetzungen der Abschiebung

2.2.1Vollziehbare Ausreisepflicht und Rückkehrentscheidung

2.2.2Androhung und Ankündigung der Abschiebung

2.2.3Durchführung der Abschiebung

3Gründe für eine drohende Aufenthaltsbeendigung

3.1Erlöschen eines Aufenthaltstitels

3.2Unerlaubte (Wieder-)Einreise

3.3Ablehnung des Asylantrags

3.4Ausweisung

3.5Verlust des Freizügigkeitsrechts

4Schutz vor Abschiebung

4.1Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse und Asyl(folge)antrag

4.1.1Asylantrag und Hürden des Asylverfahrens

4.1.2§71 AsylG: Asylfolgeantrag

4.2Duldungsgründe (inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse)

4.2.1Familiäre Gründe

4.2.2Weiterer Familienbegriff und faktische Inländer*innen

4.2.3Gesundheitliche Gründe

4.3Rechtliche Situation unter Duldung

4.3.1Räumliche Beschränkung und Wohnsitzauflage

4.3.2Erwerbstätigkeit mit Duldung

4.3.3Sozialleistungen mit Duldung

4.3.4Duldung mit dem schriftlichen Zusatz »für Personen mit ungeklärter Identität«

4.4Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung

4.4.1§ 60c AufenthG: Ausbildungsduldung

4.4.2§ 60d AufenthG: Beschäftigungsduldung

4.5Härtefallkommissionen/Petitionsverfahren

4.5.1Härtefallkommissionen

4.5.2Petitionen

5Rechtsschutz

5.1Antrag bei der Behörde

5.2Gerichtlicher Rechtschutz

5.2.1Klageverfahren

5.2.2Eilrechtsschutz

5.2.3Verfassungs- und menschenrechtlicher Rechtschutz

6Wege aus der Duldung in einen gesicherten Aufenthalt

6.1§25 Abs.5 AufenthG: Aufenthalt aus humanitären Gründen

6.2§25 a AufenthG: Aufenthalt wegen guter Integration von Jugendlichen/Heranwachsenden

6.3§ 25b AufenthG: Aufenthalt wegen nachhaltiger Integration

6.4§ 19d AufenthG: Aufenthaltserlaubnis für Erwerbstätigkeit nach Berufsqualifizierung

7Beratung in der Abschiebungshaft

7.1Rechtliche Grundlagen

7.1.1Sicherungshaft nach §62 AufenthG

7.1.2Zurückweisungshaft nach §15 Abs.5 AufenthG

7.1.3Überstellungshaft nach der Dublin-III-Verordnung

7.1.4Vorbereitungshaft

7.1.5Ausreisegewahrsam

7.1.6Mitwirkungshaft

7.1.7Behördlicher Gewahrsam

7.2Verfahren

7.2.1Regelungen des FamFG

7.2.2Ankündigung der Abschiebung

7.2.3Rechtsschutz

7.2.4Person des Vertrauens

7.3Vollzug

8Strafrecht, Strafvollzug, ›Gefährder*in nen‹ und Aufenthaltsrecht

8.1Auswirkungen strafrechtlicher Beschuldigung auf den Aufenthalt

8.2Strafvollzug und Aufenthaltsrecht

8.2.1Abschiebung aus dem Strafvollzug

8.2.2Vollzugsöffnende Maßnahmen bei eventuell drohender Abschiebung

8.3Rechtsfolgen einer Einstufung als ›Gefährder‹

8.3.1Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG

8.3.2Aufenthaltsgebote und Überwachungsmaßnahmen

8.3.3Abschiebung von ›Gefährdern‹ ohne Anordnung nach § 58a AufenthG

9Ethische Dilemmata in der Arbeit mit von Abschiebung Bedrohten

9.1Integrations-Dilemma

9.2Reform-Dilemma

9.3Krimmigrations-Dilemma

9.4Gefährder-Dilemma

10Schluss

11Anhang

11.1Abkürzungsverzeichnis

11.2Literaturverzeichnis

11.3Glossar

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

»Politische Entscheidungen machen Menschen zu Flüchtlingen. Es kann jeden treffen, und es trifft zunehmend mehr Menschen.«1

Eine Klientin, nennen wir sie Frau F., kommt zur Beratung, bringt nervös einen Brief mit, indem sie dazu aufgefordert wird, Passersatzpapiere bzw. einen Identitätsnachweis zu beschaffen. Frau F. hat eine Duldung, seither durfte sie keinen Deutschkurs mehr besuchen, bekam keine Arbeitserlaubnis mehr. Nun stellt sich noch die Frage: Wozu brauchen die Behörden so dringend Passersatzpapiere? Mit Pass kann man abgeschoben werden, oder? Die Frage ist schwer zu beantworten. Berichte von jüngsten Sammelabschiebungen gehen durch die Medien und entfalten eine bedrohliche Wirkung. Ohne Pass gibt es aber lediglich Leistungen, die weit unter dem Existenzminimum liegen und eigentlich nicht mehr zum Leben reichen, inzwischen zynisch ›Duldung light‹ genannt. Der Druck steigt, Frau F. wird immer nervöser, kann kaum mehr schlafen. Aber wie nahe ist die Abschiebebedrohung wirklich? Und welche Handlungsmöglichkeiten gibt es?

Diese und ähnliche Situationen erleben wir täglich in der Beratung und in der psychosozialen Arbeit mit Geflüchteten. Immer wieder taucht die Frage auf, wie akut die Bedrohung einer Abschiebung gerade ist und was getan werden kann. Die Handlungsmöglichkeiten sind für Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, im alltäglichen Leben ohnehin sehr begrenzt – sehr häufig dürfen sie nicht arbeiten und keine Deutsch- bzw. Integrationskurse besuchen. Die Hoffnung auf Sicherheit, auf ein besseres Leben ist schwierig aufrecht zu erhalten, oft geht es im täglichen Kampf darum, die Verzweiflung nicht übermächtig werden zu lassen. Und auch Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen verspüren in solchen Situationen häufig Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Es kann emotional sehr belastend sein, die Verantwortung für eine »richtige« Antwort in dieser Situation zu übernehmen.

Christine Graebsch und Martin von Borstel ist es gelungen, ein Buch für die Beratung mit von Abschiebung bedrohten Personen zu verfassen, in dem einfach und schnell nachgeschlagen werden kann, welche Handlungsoptionen es in den Fällen gibt, in denen der Aufenthaltsstatus unsicher bzw. der Aufenthalt bedroht ist. Ein besonderes Kapitel stellt die Beratung in Abschiebungshaft dar. Mit ihrer langjährigen Erfahrung in der Beratung in einer Abschiebungshaftanstalt und der Tätigkeit in der Ausbildung im Rahmen einer Legal Clinic stellen die Autor*innen hier einen praxisorientierten Fundus zur rechtlichen Beratung bereit, der auch angesichts der ohnehin sehr spärlichen Literatur zum Thema einen Wissensschatz darstellt. Sehr sachlich, nüchtern und knapp wird die aktuelle Rechtslage und Rechtsprechung dargelegt und – zugeschnitten auf die unterschiedlichen Konstellationen, aus denen eine Abschiebebedrohung resultiert – jeweils Ansatzpunkte und Handlungsoptionen aufgezeigt. Praxishinweise liefern immer wieder wichtige Ergänzungen zu komplexeren Fragen/Einzelfällen, spezifischeren Konstellationen, Fragen etc. Das letzte Kapitel schließlich bettet die Gesetzgebung und Praxis in gesellschaftliche Diskurse ein und bietet einen Deutungsrahmen an.

In dem ganzen »Dschungel« an Regelungen, Paragrafen und im Wissen, dass Behörden häufig einen Auslegungsspielraum haben, fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Christine Graebsch und Martin von Borstel haben diesen Über- und Durchblick – und legen ihr Wissen, das sich aus jahrelanger Praxis und Lehre speist, verständlich und gut lesbar Schritt für Schritt dar. Insgesamt macht dies den Band zu einem wertvollen Nachschlagewerk, in dem rasch Informationen gefunden werden können, ohne dicke Gesetzestexte durcharbeiten zu müssen. Auf diese und weitere Quellen zur Rechtsprechung und Rechtspraxis wird an den entsprechenden Stellen verwiesen. Zusammen mit dem Glossar und den Querverweisen im Text ist eine schnelle Orientierung in den wichtigsten Zusammenhängen und Begriffen möglich. Wir wünschen diesem Buch seinen festen Platz im Regal von Beratungsstellen, psychosozialen Zentren, (Refugee) Law Clinics oder auch bei ehrenamtlich tätigen Rechtsberater*innen im Kontext Flucht/Asyl/Migration.

Maximiliane Brandmeier

Barbara Bräutigam

Silke Birgitta Gahleitner

Dorothea Zimmermann

1Andreas Kossert, 2020. Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. Siedler, S. 347.

1 Einleitung: Beratung von Abschiebung bedrohter Personen

Ziel des Buches ist es, psychosozialen Fachkräften und anderen Berater*innen einen Leitfaden dafür anzubieten, was bei der Beratung von Abschiebung bedrohter Personen aus juristischer Sicht zu beachten ist. Wir wollen den Leser*innen – auch über das Glossar – einen Überblick über dafür wichtige migrationsrechtliche Grundbegriffe verschaffen.2 So soll das Buch erleichtern, z. B. behördliche Bescheide und gerichtliche Entscheidungen zu verstehen, die in die Beratung mitgebracht werden. Bei von Abschiebung bedrohten Personen ist oft schnelles Handeln geboten. Dafür braucht es ein solides Grundverständnis der rechtlichen Situation und der noch bestehenden Handlungsansätze.

1.1 Hintergrund des Buches und der Autor*innen

Gerade wenn eine Abschiebung unmittelbar bevorsteht und die Zeit drängt, sind es oft Beratungsstellen, die schnell eine vorläufige Einschätzung des Falls vornehmen müssen. Ihren Mitarbeiter*innen möchte unser Buch praxisnahes Grundwissen bereitstellen und strukturelles Verständnis erleichtern.

Unser Buch richtet sich dementsprechend an Beratungsstellen für Migrant*innen und Geflüchtete, aber auch für EU-Bürger*innen, die durchaus ebenfalls von Abschiebung bedroht sein können und sich teilweise sogar – mangels Sozialleistungen – in einer wirtschaftlich besonders prekären Situation befinden, in der sie keinen anwaltlichen Rat in Anspruch nehmen können. Oftmals beraten dort Fachkräfte der Sozialen Arbeit, Studierende oder Ehrenamtliche und keine Volljurist*innen.

Aus unserer eigenen langjährigen (und teilweise gemeinsamen) Erfahrung sowohl in der Beratung von Abschiebung bedrohter Personen als auch in der Unterstützung nicht-juristischer Beratung wissen wir, wie wichtig auch die nicht-anwaltliche Beratung in diesem Bereich ist. Zugleich konnten wir uns die Überzeugung bilden, dass solche Beratung und Unterstützung bei der Verhinderung von Abschiebung ausgesprochen erfolgreich sein können, sei es in Ergänzung anwaltlicher Tätigkeit oder im Notfall auch an deren Stelle. Wir sehen täglich, dass gerade Nicht-Jurist*innen hier oft viel näher an der Lebenswelt der Betroffenen und mit mehr Zeit tätig werden können. Dies gilt besonders, weil die Unterstützung dabei meist nicht mit einem einfachen Rat (z. B. »Suchen Sie sich einen Ausbildungsplatz.«) getan ist, sondern ein breites Feld an Tätigkeiten insbesondere für die Soziale Arbeit darstellt, das von der Begleitung zu Behörden und Ärzt*innen über die Beschaffung von Dokumenten und Stellung von Anträgen bis hin zum Herausarbeiten für die rechtliche Beurteilung relevanter Tatsachen reicht. Im Ergebnis kann die (zusätzliche) Unterstützung durch Nicht-Jurist*innen auch und gerade in diesem rechtlich schwierigen Feld oft erst einen Erfolg herbeiführen. Weiterhin ist es nicht so selten, dass die Betroffenen zwar (punktuell) anwaltlich begleitet werden, es den Anwält*innen aber dennoch an notwendigen Spezialkenntnissen hinsichtlich der Verhinderung von Abschiebungen fehlt. Auch hier kann eine entsprechend hochspezialisierte Beratungstätigkeit eine elementare Ergänzung darstellen.

Gemeinsamer Hintergrund der Autor*innen ist die langjährige Unterstützung von Abschiebung bedrohter Personen insbesondere in der Bremer Abschiebungshaft sowie die anwaltliche Tätigkeit im Migrationsrecht und die juristische Unterstützung der Migrationsrechtlichen Legal Clinic an der Fachhochschule Dortmund in Lehre und Praxis3. Letztere bietet wöchentlich Beratung an und war zeitweise auch in der Bürener Abschiebungshaft aktiv. Es dürfte die einzige Legal Clinic bundesweit sein, in der Studierende der Sozialen Arbeit selbst unter volljuristischer Anleitung Rechtsberatung anbieten.

Christine Graebsch hat seit 2011 eine Professur für Recht der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Dortmund und lehrt dort mit dem Schwerpunkt Gefängnisse, Straffälligenhilfe und Migrationsrecht, Letzteres im Rahmen der dortigen Legal Clinic. Sie ist außerdem seit 1991 Mitglied des ›Vereins für Rechtshilfe im Justizvollzug des Landes Bremen e. V.‹ und seit 2003 in dessen Vorstand. Dieser Verein ist in Kooperation mit dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen die älteste, seit rund vierzig Jahren existierende, Legal Clinic in Deutschland.4 Sie bietet wöchentliche Rechtsberatung in den Bremer Haftanstalten an und ist seit 1994 auch in der Abschiebungshaft aktiv. Durch die Einbettung in das Jurastudium begleitet Christine Graebsch die Legal Clinic seit 2003 dort auch als Lehrbeauftragte. Martin von Borstel ist seit März 2020 Rechtsanwalt mit Schwerpunkt im Migrationsrecht und seit 2009 als Mitglied des Rechtshilfevereins in der Bremer Abschiebungshaftberatung tätig. Seit März 2021 ist er zudem Mitglied im Beirat für den Abschiebungsgewahrsam in Bremen und ist zurzeit Lehrbeauftragter für Recht im Kontext von Flucht und Migration an der Universität Oldenburg.

1.2 Drohende Abschiebung als Ausgangspunkt für Beratung

Findet die Abschiebung tatsächlich statt, so sind damit Weichen gestellt, die für den weiteren Verlauf meist irreversibel sind. Zwar kann theoretisch Rechtsschutz auch noch nach der Abschiebung gesucht werden und eine Rückkehr ist nicht generell ausgeschlossen. Allerdings scheitert dies in der Praxis meist daran, dass Abgeschobene dann mit ganz anderen Problemen konfrontiert sind. Sie verfügen oft nicht über die Ressourcen, ein Verfahren in Deutschland zu führen. Vielfach bricht daher auch der Kontakt zu Unterstützer*innen und Anwält*innen ab. Behörden können daher auch mit einer rechtswidrigen Abschiebung Fakten schaffen. Es gilt also unbedingt rechtlich einer Abschiebung zuvorzukommen.

Neben der persönlichen Situation verschlechtert sich die Rechtsposition nach einer Abschiebung oft drastisch: Gegen bestehende Einreise- und Aufenthaltsverbote muss erst gerichtlich vorgegangen werden. Während der vielfach jahrelangen Verfahrensdauer ist eine Wiedereinreise nicht erlaubt. Selbst wenn die Rechtswidrigkeit der Abschiebung später festgestellt wird, ist eine Rückkehr nicht automatisch möglich. Vielmehr braucht man dafür im Regelfall ein Visum, also einen anerkannten Aufenthaltsgrund, z. B. familiärer Art. Gerade bei der großen Gruppe der Geduldeten kommt eine Rückkehr in die Duldung nach einer Abschiebung überhaupt nicht in Betracht. Dann kann man sich auch nicht mehr auf die wenigen vorhandenen Wege aus der Duldung in ein Aufenthaltsrecht (6) berufen. Diese Problematik stellt sich im Übrigen nach einer ›freiwilligen Ausreise‹ kaum anders dar, auch wenn in diesem Fall in der Regel eine Wiedereinreisesperre nicht besteht. Es ist daher zwingend geboten, mit rechtlicher Unterstützung tätig zu werden, bevor die von Abschiebung bedrohte Person die Bundesrepublik verlässt. Denn danach ist es dafür in aller Regel zu spät.

In dieser Situation gilt es, ein Verständnis dafür präsent zu haben, wie nahe die beratene Person einer Abschiebung tatsächlich ist, um dann Möglichkeiten ausloten zu können, diese noch zu verhindern. Die Bedrohungslage für Ausländer*innen (Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit) stellt sich als Kontinuum dar, auf dem es einen Fall zunächst einzuordnen gilt. Im Extremfall ist eine Abschiebung sogar dann rechtlich möglich, wenn ein noch gültiger Aufenthaltstitel vorliegt – so bei als ›Gefährder*in‹ eingestuften Personen nach § 58a AufenthG (8.3.1). Oft verkannt wird, dass Personen mit einer noch gültigen Duldungsbescheinigung keineswegs generell vor Abschiebung geschützt sind. Manchmal stehen der Abschiebung aber auch noch längerfristig wirksame Rechtsgründe entgegen, auch wenn eine Abschiebungsandrohung (2.2.2) bereits erfolgt ist, z. B. in Verbindung mit der Verfügung einer Ausweisung (3.4) oder einem ablehnenden Bescheid im Asylverfahren5. Hier kommt es dann oft darauf an, ob einem erhobenen Rechtsmittel aufschiebende Wirkung zukommt. Schwieriger und deshalb nicht weniger wichtig sind Szenarien, in denen schwierig abzusehen ist, wie nahe eine Abschiebung bevorsteht, z. B. bei bestehender Passlosigkeit und Bemühungen der Ausländerbehörde, Passersatzpapiere für die Abschiebung zu beschaffen.

Eine drohende Abschiebung bleibt für die Betroffenen auch mit Beratung riskant, gerade weil sie eine komplexe Lage darstellt. Hinsichtlich des Erfolgs der Beratung gibt es wenig Zwischenstufen. Bei Misserfolg findet die Abschiebung mit nachhaltiger Wirkung für die Betroffenen statt, bei erfolgreich abgewendeter Abschiebung kann oftmals ein längerfristiger Verbleib im Bundesgebiet erreicht werden, bestenfalls mit einem rechtlich abgesichertem Aufenthaltsstatus. Eine fundierte juristische Beratung ist hier unumgänglich. Es sollte daher niemals ohne Not auf den Rat migrationsrechtlich spezialisierter Anwält*innen verzichtet werden.

1.3 Herangehensweise, Aufbau und empfohlene Benutzung des Buches

Vor dem Hintergrund unserer praktischen Erfahrungen haben wir das vorliegende Buch so konzipiert, dass wir zwar mit dem Thema der Abschiebung beginnen, darauf folgend aber gewissermaßen von hinten her diverse relevante Gebiete des Migrationsrechts aufrollen. Dies liegt daran, dass eine Verhinderung der Abschiebung als solcher, also etwa zu einem konkret vorgesehenen Flugtermin, noch keineswegs einen – nachhaltigen – Erfolg darstellt. Eine Abschiebung längerfristig zu verhindern gelingt dagegen nur, wenn ein stabiler rechtlicher Aufenthaltsgrund etabliert werden kann. Geht man anhand der diversen migrationsrechtlichen Untergebiete die noch bestehenden Möglichkeiten durch, so zeigt sich häufig ein Anknüpfungspunkt. Das gilt unserer langjährigen Erfahrung nach selbst für Personen, die sich bereits in Abschiebungshaft befinden. Während insbesondere von Behörden immer wieder nahegelegt wird, bei den Betroffenen sei »rechtlich längst alles gelaufen«, lohnt sich eine genaue Prüfung der von uns im Folgenden dargelegten Möglichkeitsräume immer!

Es soll allerdings an dieser Stelle davor gewarnt werden, detaillierte und vehemente Schriftsätze zu angeblich aufenthaltsberechtigenden Sachverhalten gegenüber den Behörden nur auf Grundlage des Gesprächs mit der zu beratenden Person vorzutragen. Hier ist vielmehr Vorsicht geboten, es empfiehlt sich dringend vorher Akteneinsicht bei der Behörde zu nehmen (§ 29 Abs. 1 VwVfG). Denn nur so kann man ermitteln, welche Tatsachen bereits zuvor vorgetragen und berücksichtigt wurden, welche Anträge bereits gestellt und eventuell abgelehnt wurden, etc.

Migrationsrechtliche Literatur nimmt nach wie vor häufig ihren Ausgangspunkt vom gesetzlich vorgesehenen Regelfall einer Einreise mit Visum oder eines Asylerstverfahrens. Spurwechsel zwischen unterschiedlichen Kategorien von Aufenthaltsgründen werden eher am Rande als Ausnahme erwähnt. Die Übertragung der rechtlichen Möglichkeiten auf bereits von Abschiebung bedrohten Personen ist dann gerade für Nicht-Jurist*innen nicht einfach. Deshalb versuchen wir darzustellen, wie man von einer prekären aufenthaltsrechtlichen Situation wieder in einen sichereren Aufenthalt gelangen kann.

Zunächst befassen wir uns damit, was eine Abschiebung rechtlich bedeutet und voraussetzt (2.), denn dies ermöglicht, ein Grundverständnis dafür zu entwickeln, ob eine Abschiebung in einem Fall bevorsteht. Danach beschäftigen wir uns mit den rechtlichen Gründen, aus denen eine Aufenthaltsbeendigung drohen kann (3.). Diese möglichen Szenarien zu kennen, erlaubt eine Auseinandersetzung mit den Hintergründen einer drohenden Abschiebung und einzuschätzen, wie weit die zugrundeliegenden Vorgänge fortgeschritten sind, wie konkret eine Abschiebung bevorsteht und auch schon, welche rechtlichen Gegenmaßnahmen in Betracht kommen. Im Anschluss daran werden Gründe und Herangehensweisen für einen Schutz vor Abschiebung dargestellt (4.). Im daran anschließenden Kapitel geht es um die Verfahren, wie Rechtsschutz gegen die Abschiebung erlangt werden kann (5.). Wenn es gelingt, eine Abschiebung zu verhindern, stellt sich regelmäßig die Frage, wie ein längerfristig gesicherter Aufenthalt erreicht werden kann (6.). Im Anschluss daran gehen wir aus Beratungsperspektive ausführlich auf die Abschiebungshaft und ihre Voraussetzungen ein (7.). Denn dort befinden sich Personen mit besonders dringendem Beratungsbedarf hinsichtlich einer drohenden Abschiebung. Umgekehrt sind von Abschiebung bedrohte Personen auch tendenziell von Abschiebungshaft bedroht, weshalb es wichtig ist, sich damit zu befassen, unter welchen Voraussetzungen eine Inhaftierung in Betracht kommt. Zunehmend lässt sich auch eine Verflechtung migrationsrechtlicher mit strafrechtlicher Kontrolle feststellen, weshalb auf diese sowie den Sonderfall der Einstufung als ›Gefährder‹ mit drastischen aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen ebenfalls eingegangen wird (8.). Abschließend befassen wir uns mit einigen ethischen Dilemmata, die bei der Beratung von Abschiebung bedrohter Personen auftreten können (9.).

Insbesondere seit 2015 sind extrem häufige Gesetzesänderungen im Migrationsrecht zu verzeichnen, die eine erhebliche Verschlechterung der Rechtsposition unserer Zielgruppe, den Migrant*innen, zur Folge hat. Ohnehin lassen sich aber rechtliche Regelungen nicht in einer Weise lernen, bei der man sich einfach merken könnte, »wie es ist«. Vielmehr gilt es, sich ein strukturelles und begriffliches Grundgerüst zu erarbeiten, das einem ermöglicht, die gesetzlichen Regelungen auch dann aufzufinden und zu verstehen, wenn diese sich erneut ändern. Wir empfehlen, das Buch nur zusammen mit aktuellen (!) Gesetzestexten zu lesen. Der Gesetzestext sollte dabei jeweils selbst und Wort für Wort nachgelesen werden. Zum einen kann dann direkt überprüft werden, ob sich schon bei Lektüre dieses Buches etwas geändert hat, zum anderen ist das eigenständige gründliche Lesen der Gesetzestexte unabdingbar für das Verständnis unserer Abhandlung. Als Quelle der jeweils geltenden Gesetze empfiehlt es sich, diese auf https://dejure.org nachzulesen. Zum einen sind dort immer die aktuell geltenden Gesetze online, zum anderen findet sich unter jeder Vorschrift ein Hinweis darauf, wann diese zuletzt geändert wurde mit Änderungsübersichten zu früheren Gesetzesfassungen versehen. Die Bearbeitung dieses Textes ist auf dem Stand von März 2021. Ebenfalls unter https://dejure.org können die meisten von uns zitierten gerichtlichen Entscheidungen unter »Rechtsprechung« gefunden werden. Soweit wir ausnahmsweise andere Gerichtsentscheidungen zitiert haben, wird auf andere Fundstellen verwiesen. Weiterführende Informationen u. a. zu Rechtsprechung, zu einzelnen Herkunftsländern und Arbeitshilfen können Sie auch unter https://www.asyl.net finden.

Wir haben unseren Text um ein Glossar ergänzt, in dem wichtige Begriffe erläutert werden. Die im Glossar vorkommenden Begriffe sind im Text hervorgehoben. Wir hoffen, dass sie das Verständnis erleichtern und auch ermöglichen, das Buch zum Nachschlagen zu benutzen.

2Anmerkung der Autor*innen: Verweise auf andere Textstellen innerhalb des Buches werden von uns mit einem Pfeil vor dem Begriff/Textteil gekennzeichnet. Verweise auf das Glossar haben wir durch doppelte Hervorhebung der entsprechenden Begriffe (fett und unterstrichen) gekennzeichnet.

3http://www.lc-do.de.

4Näher Graebsch (2011) und unter https://strafvollzugsarchiv.de/lehre.

5Vgl. zu diesem Thema den weiteren Band in der Reihe Fluchtaspekte von Lena Ronte (2018): »Asylantrag gestellt: Was dann? Rechtliche Grundlagen und Praxishinweise zum Asylverfahren und zur Familienzusammenführung«.

2 Abschiebung

In diesem Kapitel geht es darum, den juristischen Begriff der Abschiebung zu erläutern und ihn von anderen Rechtsbegriffen abzugrenzen. Dabei zeigt sich zum einen, dass es andere Begriffe gibt, die einer Abschiebung faktisch gleichkommen und Begriffe, die etwas anderes bedeuten, aber häufig mit dem der Abschiebung verwechselt werden. Danach werden die rechtlichen Voraussetzungen erläutert, die gegeben sein müssen, damit eine Abschiebung durchgeführt werden darf. Beides ist elementar, um einschätzen zu können, ob einer Person in Beratung tatsächlich eine Abschiebung droht und welche Zwischenschritte vor dieser eventuell noch anstehen.

2.1 Begriff der Abschiebung

Die Abschiebung (§ 58 AufenthG) ist juristisch ein Akt der zwangsweisen Vollstreckung der Ausreisepflicht. Es handelt sich also um das reale Außerlandesbringen, z. B. mittels eines Fluges. Vorrangig ist man selbst zum Ausreisen verpflichtet, die zwangsweise Durchsetzung darf nur dann stattfinden, wenn man nicht selbst ausgereist ist bzw. mit einer selbständigen Ausreise nicht (mehr) zu rechnen ist.

Juristisch gibt es einige weitere Begriffe, die im Ergebnis das Gleiche bedeuten, aber in unterschiedlichen rechtlichen Zusammenhängen stehen:

–Rückführung: Von den Behörden verwendeter Überbegriff für alle Arten aufenthaltsbeendender Maßnahmen

–Überstellung: Abschiebung im Rahmen des Dublin-Verfahrens oder zur Strafvollstreckung bei Abschiebung aus dem Strafvollzug heraus

–Zurückweisung: Eigentlich – wie der Begriff nahelegt – das Unterbinden der Einreise an der Grenze. Da es diverse Fallgestaltungen gibt, bei denen die Einreise physisch bereits erfolgt ist, juristisch aber als nicht erfolgt gilt, steht der Begriff auch für Abschiebungen, die kurz nach der Einreise und noch in Verbindung mit dieser erfolgen (z. B. im Flughafenverfahren).

–Zurückschiebung: Aufenthaltsbeendende Maßnahme nach Vollendung einer unerlaubten Einreise, wenn die betroffene Person in der Nähe der Grenze angetroffen wird (im Einzelnen siehe Glossar).

Unabhängig von der Bezeichnung droht in all diesen Fällen eine zwangsweise Beendigung des Aufenthalts in der Bundesrepublik.

2.2 Voraussetzungen der Abschiebung

Eine Abschiebung darf nur erfolgen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

–Es besteht Ausreisepflicht.

–Es existiert eine Rückkehrentscheidung.

–Die Ausreisepflicht ist vollziehbar.

–Es besteht ein Abschiebungsgrund.

–Es ist eine Abschiebungsandrohung erfolgt oder es darf ausnahmsweise auf die Androhung der Abschiebung verzichtet werden.

Diese Voraussetzungen werden nun im Einzelnen erörtert. Sind sie nicht erfüllt, darf die Person nicht abgeschoben werden.

2.2.1 Vollziehbare Ausreisepflicht und Rückkehrentscheidung

Personen, die kein Recht zum Aufenthalt haben, sind ausreisepflichtig. Ausreisepflicht liegt gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG vor, wenn die betroffene Person nicht (mehr) über einen erforderlichen Aufenthaltstitel verfügt (zur Frage des Erlöschens 3.1 und zur Erforderlichkeit 3.2).

Wurde eine Ausreisefrist gesetzt, müssen sie das Bundesgebiet innerhalb derselben verlassen. Durfte nach dem Gesetz im Einzelfall darauf verzichtet werden, eine Ausreisefrist zu setzen6, muss das Bundegebiet unverzüglich verlassen werden (§ 59 Abs. 1 AufenthG). Die Bescheinigung einer Duldung ändert am Bestehen der Ausreisepflicht nichts, die Ausreisepflicht besteht fort (§ 60a Abs. 3 AufenthG). Bei bestehender Ausreisepflicht muss der Ausländerbehörde ein Wohnungswechsel oder eine mehr als dreitägige Abwesenheit angezeigt werden (§ 50 Abs. 4 AufenthG), bei Nichtbefolgen könnte Abschiebungshaft (6.1) drohen. Bei bestehender Ausreisepflicht (nicht zuvor!) soll zudem der Pass bis zur Ausreise von der Ausländerbehörde eingezogen werden (§ 50 Abs. 5 AufenthG).

Ausreisepflichtig zu sein, bedeutet allerdings noch nicht, dass die Ausreisepflicht auch schon ohne weiteres mittels Abschiebung durchgesetzt werden dürfte. Dies ist an weitere Voraussetzungen gebunden. Eine Abschiebung darf nicht stattfinden, bevor die Ausreisepflicht nicht auch vollziehbar ist.

Praxishinweis

Zu beachten ist, dass auch eine Aufenthaltsbeendigung drohen kann, obwohl die Person im Besitz einer noch nicht abgelaufenen Duldungsbescheinigung ist.

Das Recht der Abschiebung ist stark europarechtlich geprägt. Die in der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie, RüFü-RL) geregelten Garantien gehen teilweise über die des deutschen Rechts hinaus. Eine Umsetzung der Richtlinie ist aber in das deutsche Gesetz nicht durchgängig erfolgt. Es ist zudem noch nicht immer höchstrichterlich geklärt, welche Schlussfolgerungen für das deutsche Recht hieraus gezogen werden müssen. In solchen Fällen sollte direkt auf die verbindliche RüFü-RL Bezug genommen werden.7 So verlangt Art. 6 Abs. 1 RüFü-RL in jedem Fall vor der Abschiebung eine Rückkehrentscheidung eines Gerichts oder einer Behörde. Ausnahmen hiervon gibt es nur in folgenden Fällen:

–Die betroffene Person besitzt einen Aufenthaltstitel in einem anderen EU-Mitgliedstaat (mit Ausnahme von Irland und Dänemark), Island, Liechtenstein, Norwegen oder der Schweiz; in diesem Fall muss diese Person zunächst einmal dazu aufgefordert werden, unverzüglich in diesen Mitgliedstaat zurückzukehren, bevor eine Rückkehrentscheidung für den Herkunftsstaat bzw. den Staat der Staatsangehörigkeit dieser Person erlassen werden darf (Art. 6 Abs. 2 RüFü-RL);

–Eine Rückkehrentscheidung ist nach Art. 6 Abs. 3 RüFü-RL entbehrlich, wenn ein anderer Mitgliedstaat im Rahmen einer bilateralen Wiederaufnahmevereinbarung erklärt hat, die betroffene Person wieder aufzunehmen8;

–Keine Rückkehrentscheidung muss ergehen, wenn die Dublin-III-Verordnung Anwendung findet.

Beispiele dafür, welche Art von Verwaltungsakt im nationalen Recht der Bundesrepublik eine Rückkehrentscheidung im unionsrechtlichen Sinne (Art. 3 Nr. 4 RüFü-RL) darstellen können, sind:

–Eine Abschiebungsandrohung gemäß § 59 Abs. 1 AufenthG oder § 34 AsylG

–Ein Widerruf oder eine Rücknahme eines bestehenden Aufenthaltstitels

–Eine Zurückweisungsverfügung nach § 15 AufenthG

–Eine Ausweisung nach den §§ 53 ff. AufenthG; jedenfalls, wenn sie mit einer Abschiebungsandrohung verbunden ist9

–Eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG

Die Entscheidung muss schriftlich ergehen (§ 77 AufenthG) und zugestellt werden. Nach § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG tritt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht auch aufgrund einer unerlaubten Einreise, also ohne eine ausdrückliche (Rückkehr-)Entscheidung, ein, wenn der Aufenthalt nicht nach dieser unerlaubten Einreise legalisiert worden war. Diese gesetzliche Regelung dürfte jedoch europarechtswidrig sein, da Art. 6 Abs. 1 RüFü-RL eine ausdrückliche behördliche oder gerichtliche Rückkehrentscheidung erfordert. Gleiches gilt für die Regelung des § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AufenthG, nach der die Ausreisepflicht von Gesetzes wegen vollziehbar ist, wenn die erstmalige Erteilung eines erforderlichen Aufenthaltstitels oder seine Verlängerung noch nicht beantragt wurde oder die Antragstellung keine Fiktionswirkung ausgelöst hat (3.1, 4.1).

Ansonsten ist die Ausreisepflicht erst dann vollziehbar, wenn die Rückkehrentscheidung, die die Ausreisepflicht festgestellt und begründet hat, vollziehbar ist. Das ist der Fall, wenn sie nicht mehr angefochten werden kann (Ablauf der Widerspruchs-, Klage- oder Antragsfrist) oder wenn der eingelegte Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat (5.2, 6.2).

Die hier dargestellte Thematik der Rückkehrentscheidung ist deshalb sehr wichtig, weil ohne eine Rückkehrentscheidung keine Abschiebung stattfinden und auch keine Abschiebungshaft angeordnet werden darf.

2.2.2 Androhung und Ankündigung der Abschiebung

Eine Abschiebung darf nicht einfach ohne jede Vorwarnung erfolgen. Sie muss vielmehr in der Regel vorher angedroht oder angekündigt worden sein, sonst wäre die Abschiebung rechtswidrig. Daher gehen wir nun auf die dazu bestehenden Regelungen näher ein. Für die Beratung ist es wichtig zu wissen, dass nicht unmittelbar vor der Abschiebung (nochmals) eine Androhung oder Ankündigung erfolgt, so dass die Abschiebung faktisch eben doch oft überraschend kommt.

Eine Abschiebung muss grundsätzlich vorher angedroht werden. Mit der Abschiebungsandrohung muss in der Regel eine Frist zur freiwilligen Ausreise zwischen 7 und 30 Tagen gesetzt worden sein. Die Ausländerbehörde darf ausnahmsweise eine kürzere Frist setzen oder von einer Ausreisefrist ganz absehen, z. B. wenn der begründete Verdacht einer Entziehungsabsicht besteht (§ 59 Abs. 1 AufenthG, weitere Ausnahme betreffend ›Gefährder‹7.3). Befindet sich die Person in Haft, z. B. in Abschiebungshaft (7) oder im Strafvollzug (8.2.1), so wird keine Ausreisefrist gesetzt, da dann ohnehin keine freiwillige Ausreise ermöglicht wird (§ 59 Abs. 5 S. 1 AufenthG).

Der Abschiebung kann mit einer sog. ›freiwilligen Ausreise‹ zuvorgekommen werden. Entgegen der Bezeichnung geht es dabei aber keineswegs um eine tatsächlich freiwillige Ausreise.

Der Ausreisepflicht genügt man durch Ausreise in einen anderen Staat der Europäischen Union oder einen anderen Schengen-Staat nur dann, wenn man dort über ein Aufenthaltsrecht verfügt (§ 50 Abs. 3 AufenthG). Ein solches wird in der Regel nicht bestehen, so dass diese von Betroffenen oftmals angestrebte Alternative nicht realisierbar sein wird. Reist die Person dennoch in einen solchen Staat aus, wird dies rechtlich nicht als freiwillige Ausreise gewertet, so dass nach Rückkehr in die Bundesrepublik wiederum eine Abschiebung in den Staat droht, in den sie ursprünglich erfolgen sollte.

Während die Behörde gemeinsam mit einer Abschiebung stets ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnet, ist dies bei einer ›freiwilligen Ausreise‹ nicht immer der Fall. Allerdings kann eine Einreisesperre nach einer ›freiwilligen Ausreise‹ nach geltender Gesetzeslage auch nicht mehr in allen Fällen vermieden werden. (§ 11 Abs. 2, 6 und 7 AufenthG).

Zu einer Abschiebung als Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung darf nur gegriffen werden, wenn die selbständige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist. Alternativen wie Meldepflicht, Stellen einer Kaution u. Ä. sind vorrangig (Art. 7 Abs. 3 RüFü-RL). Allerdings kann eine Abschiebung auch angeordnet werden, wenn die Überwachung der Ausreise aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich erscheint (§ 58 Abs. 3 AufenthG).

Die Abschiebungsandrohung erfolgt meist mit demselben Bescheid, mit dem auch die Ausreisepflicht begründet wurde, z. B. mit einer Ausweisung. Die Abschiebungsandrohung kann daher bei Geduldeten schon lange her sein, muss später nicht noch einmal wiederholt werden und die Abschiebung kann danach in vielen Fällen unangekündigt erfolgen.

Dem Erlass der Abschiebungsandrohung stehen Duldungsgründe nicht entgegen. Nachdem die Abschiebungsandrohung unanfechtbar geworden ist, soll die Ausländerbehörde solche, die bereits zuvor gegeben waren, nicht mehr berücksichtigen dürfen. Sie können dann nur noch gerichtlich geltend gemacht werden, was ausdrücklich nicht ausgeschlossen ist (§ 59 Abs. 3 und 4 AufenthG).

Eine Abschiebungsankündigung ist nur erforderlich, wenn die betreffende Person aktuell mindestens ein Jahr lang durchgehend geduldet war (§ 60a Abs. 5 S. 4 AufenthG). Dabei ist unerheblich, ob die Duldungsbescheinigung gleich auf ein Jahr ausgestellt war oder ob mehrere hintereinander bescheinigte Duldungen einen ununterbrochenen Gesamtzeitraum von einem Jahr ergeben. Eine Abschiebungsankündigung wird jedenfalls dann nicht für erforderlich gehalten, wenn die Abschiebung nach Ablauf der Geltungsdauer der Duldungsbescheinigung erfolgen soll und auch dann nicht, wenn die Duldung nachträglich widerrufen wird. Weiterhin wird vielfach angenommen, auch bei einer mit aufschiebender Bedingung versehenen Duldung sei eine Ankündigung der Abschiebung nicht erforderlich, wenn diese nach Eintritt dieser Bedingung erfolge.10 Dies ist insbesondere problematisch bei der auflösenden Bedingung »die Duldung erlischt mit Bekanntgabe des Abschiebungstermins«. Der Abschiebungstermin darf nämlich seit 2015 nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise gerade nicht mehr angekündigt oder bekanntgegeben werden (§ 59 Abs. 1 S. 8 AufenthG).

Das Verbot, den Abschiebungstermin anzukündigen, ist bereits für sich genommen höchst problematisch, da es zu beständiger Ungewissheit führt. Es kommt hinzu, dass damit in vielen Fällen de facto kein Rechtsschutz gegen eine drohende Abschiebung in Anspruch genommen werden kann. Ein für einen Eilantrag (5.2.2) notwendiges Rechtsschutzinteresse an einer gerichtlichen Entscheidung wird nämlich typischerweise von Gerichten erst dann angenommen, wenn ein Abschiebungstermin feststeht – den die betreffende Person nunmehr nicht kennen kann. Darin liegt ein Verstoß gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG.11 Bei Abschiebung aus der Haft soll diese jedoch mindestens eine Woche vorher angekündigt werden (§ 59 Abs. 5 S. 2 AufenthG, 7.2.2).

2.2.3 Durchführung der Abschiebung

Um abschätzen zu können, wann und wie eine Abschiebung droht, ist es sinnvoll, die rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer Durchführung zu kennen.

Abschiebungen erfolgen vielfach aus Wohnungen und zu Zeiten, zu denen ihre Bewohner*innen schlafen. Die Ausländerbehörden und Polizeien haben diesbezüglich neue gesetzliche Befugnisse erhalten. Zunächst einmal ist ihnen die Durchsuchung der Wohnung nur mit richterlichem Durchsuchungsbeschluss und dem auch im