DSA 111: Eiswolf - Linda Budinger - E-Book

DSA 111: Eiswolf E-Book

Linda Budinger

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Beschreibung

Der junge Wundarzt Tjulf Ressken schließt sich einer Expedition in die Klirrfrostwüste an. Dort will die Hesinde-Geweihte Jettjala das verlorene Schwarze Auge Pyrdacors finden. Aber die Fahrt durch Ifirns Ozean birgt mancherlei Gefahren, und das 'ewige Nachteis', wie die Firnelfen die Eiswüste nennen, verzeiht keine Fehler. Schon bald kämpfen die Abenteurer nicht mehr um einen unermesslichen Schatz, sondern nur noch um ihr Leben. Ein ungeahnter Schrecken treibt Tjulf und seine Leute an ihre Grenzen und darüber hinaus. Und im weißen Land unter dem Nordlicht wächst die Erkenntnis, dass manches besser auf ewig unter Firuns Element begraben bliebe.

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Biografie

Linda Budinger(geb. 1968) schreibt seit mehr als 20 Jahren, angeregt durch Märchen, Mythen und Legenden aus aller Welt. Schon früh lernte sie das Rollenspiel kennen und lieben. Nach dem Abitur studierte sie einige Semester Ur- und Frühgeschichte, Völkerkunde und Germanistik. Inzwischen ist sie als freie Phantastik-Autorin und Übersetzerin für verschiedene Verlage (u.a. Heyne, Bastei Lübbe, Blitz und Bastei) tätig.

MitGoldener Wolfkehrte die Autorin zu der Schamanin Starna in die Welt der nivesischen Nomaden zurück.Der Eiswolfhingegen führt in den nördlichsten Winkel Aventuriens.www.budinger.name

Titel

Linda Budinger

Eiswolf

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele Band 11041EPUB

Titelbild: Alan Lathwell Aventurien-Karte: Ralph Hlawatsch Lektorat: Florian Don-Schauen Satz und Layout: Sarah Nick Umschlaggestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 2009, 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Mit Dank an

meine Betaleserinnen von den ‚Phantastic Girls‘: Petra Hartmann und Stefanie Pappon für ihre hilfreichen Kommentare und Telefonate Charlotte Engmann für ihr abschließendes Lesen Carolina Möbis fürs Testlesen der ‚Firnellennovelle‘ Marcel König für nützliche Hintergrundmaterialien und natürlich

Prolog

Nafireona (Klirrfrostwüste), Sommer, 800 BF

Ishariel Kristallschwinge hob die Hände in den Wind. Der kalte Luftstrom kämmte das Fell auf den leichten Handschuhen aus Nerz, und beinahe spürte der Firnelf die Bewegung der Haare darauf, als seien sie eine Verlängerung seiner Finger. Die Atemfahne aus seiner Kapuze und die aufstäubenden Schneewolken über den Eisfeldern wiesen Ishariel zusätzlich den Weg zu seiner Beute. Er prüfte die Landmarken und war sicher, dass der Wind den ganzen Tag noch nicht gedreht hatte. Ishariel fasste seinen Speer fester.

Die einbrechende Dämmerung malte dem Himmel errötende Wangen. Jetzt im Sommer waren die Tage hell und die Nächte von ungewissem Zwielicht erfüllt. Der Elf lief über den Schnee, der unter seinen Tritten kaum knirschte, als würde er über den Boden geblasen wie die Beute, die er sich auserkoren hatte.

Ishariel merkte, wie der Grund trügerisch wurde. Hier waren vielleicht Eisigel gerollt, aber selbst einen Elfen trug der Treibschnee nicht einfach so. Er hätte die Oberfläche durch seinmandrabegehbar machen können. Doch dazu gab es keine Notwendigkeit. Warum sollte er der Umgebung seinen Willen aufzwingen ? Lieber schlug Ishariel einen Bogen und setzte über eine Kluft hinweg.

Inzwischen wies ihm zartes Klirren die richtige Richtung. Vor einem gefrorenen Zackenkamm fand er die Eisigel. Sonnenlicht spielte in Regenbogenfarben auf den Stacheln. Die kristallenen Kugeln konnten sich aus eigener Kraft nicht fortbewegen und waren auf den Wind angewiesen.

Als er sich hinabbeugte, fühlte Ishariel leises Unbehagen. Eine Kälte kroch in sein Innerstes, die nicht von Eis und Schnee herrührte. Er schmeckte die Gefahr. Eisigel waren von der Verderberin Bhardona geschaffene Kreaturen. Aber die Firnelfen, die vor so langer Zeit vor Bhardonas Versuchungen in die Reinheit des Schnees geflüchtet waren, nutzten die schrittlangen Stacheln für Speere und Pfeile. Und dennoch, die dämonischen Eisigel spiegelten alle Ängste wider wie lauterer Kristall.

In dieser Kolonie gab es nur ein älteres Exemplar mit zwei Spann Durchmesser. Es strahlte die stärksten Gefühle ab. Seine Stacheln ragten in alle Richtungen gleichermaßen spitz und bedrohlich. Nicht mehr lange, und es würde unter seinem eigenen Gewicht in unzählige Teile zerspringen. Aus den Splittern erwuchsen mit der Zeit neue Igel.

Ishariel atmete seinen Widerwillen gegen das Wesen in die knisternd kalte Luft und verband sich selbst mit dem klaren Winterhauch, reinigte sein Inneres. Er ging in die Knie und breitete ein grobmaschiges Netz aus Lederbändern auf dem Boden aus. Mit dem Speerende rollte er den großen Igel über das Netz. Sorgfältig führte er die Fäden an den Stacheln vorbei und knüpfte die Lederriemen schließlich über dem Speerschaft zusammen. Sein Atem stockte. Wenn der Igel jetzt barst, würden Ishariel Hunderte scharfer Splitter durchbohren.

Er hob die Stachelkugel am Speer hoch. Zur rechten Zeit würde er sie mit einem wohlgezielten Pfeil aus sicherer Entfernung spalten und den Kristall dann im Einklang mit seinemmandrabesingen, um ihn haltbar zu machen und zu Pfeil- oder Speerspitzen umzuarbeiten.

Aber das konnte warten, bis er wieder im Eispalast der Winterlichter weilte, der sich viele hundert Schritte von hier in den Himmel reckte. Ishariel schulterte den Speer, rückte die Last zurecht, sodass der Schaft mit dem schweren Igel im Gleichgewicht ruhte, und machte sich auf den Heimweg.

Leise nagte das bedrohliche Gefühl weiter an ihm, wie ein Wind, der die Schärfe des Frostes führte. Es war wie die Note im Duft des Schnees, ehebhar‘izar,der Blizzard, erbarmungsloszuschlug. Aber mit dem Wetter hatte es diesmal nichts zu tun. Ishariel stieß den Atem abermals kräftig aus, um die Nüstern von dem Geruch der Gefahr zu reinigen. Erfolglos.

Er schritt an einem hügeligen Eisfeld vorbei, dessen Schroffen der Schnee gezähmt und gebeugt hatte. Flocken wirbelten zwischen den Schneewechten umher. Aus dem Augenwinkel sah Ishariel, wie sich einer der Buckel bewegte - und erschrak.

Ein weißer Bär stürmte auf ihn zu. Die Ausstrahlungen des Eisigels hatten sein Gespür für die Gefahr überdeckt!

Der Bär hinkte, und beim Laufen brach eine Wunde an seiner Hüfte auf. Gelblicher Eiter besudelte das helle Fell und wurde dann von Blut fortgewaschen. Die Verletzung behinderte das Tier bei der Jagd. Und jetzt war es hungrig! Messerscharfe Krallen fetzten Stücke aus dem Untergrund, und hinter demborgrawirbelte eine Wolke aus zersplittertem, nadelfeinem Eis.

Ishariel war kein Jäger, sondern arbeitete vorwiegend als Former. Aber er war Firnelf. Seine Sinne verengten sich auf die leise Melodie des Windes. Der Bär und Ishariel und das Eis. Jede Faser seines Körpers bereitete sich auf die Konfrontation vor, und seinmandralegte sich wie ein wärmender Mantel um sein Inneres.

Der Bär war vielleicht drei Schritt lang. Die Muskeln unter dem wogenden Fell brachten ihn rasch näher.

Ishariels Waffe war blockiert. Er nahm den Speer von der Schulter und ließ den Eisigel in den Schnee gleiten. Dann machte er einen Satz weg von den gefährlichen Stacheln und riss die Waffe in Verteidigungshaltung vor. Sein freier Arm fuhr durch die Luft, der Elf winkte und brüllte.

Je näher der Bär kam, desto mehr wurde Ishariel in Gedanken selbst zu dem Tier. Er fühlte, wie die schwärende Wunde an der Flanke schmerzte und ihn das Ungleichgewicht der Sprünge verlangsamte. Er spürte den Hunger in den Gedärmen wühlen. Ishariel und derborgrawaren im Grunde eins.

Der weiße Bär ließ sich von abwehrenden Gesten und Rufen nicht vertreiben. Ishariel nahm einen festen Stand ein und beruhigte seinen schnellen Herzschlag mit einem Gedanken. Er suchte die Melodie desbha‘iza dhafeyra,um den Bär zu blenden, doch die Töne fügten sich falsch zusammen.

Dann war der Bär heran, krümmte den Rücken und richtete sich aus der Bewegung auf. Ishariel stieß vor. Aber der Gegner war bereits nah und ragte für einen gezielten Stoß ins Auge zu hoch auf.

Ishariel tänzelte auf die verletzte Seite desborgra.Der Gegner drehte sich nur mit Mühe und schonte das blutende Bein. Seine einzige Schwäche.

Behände tatzte der Weiße in Ishariels Richtung. Krallenspitzen schnitten sausend durch die eisige Luft, als sich der Elf geschwind wegbog. Unter dem wogenden Weißfell zählte Ishariel die Rippenbögen des Tiers. Genau da pochte das gewaltige Herz. Sein Angriffsschrei mischte sich mit dem Brüllen des Bären.

Der Speer drang durch die Speckschicht in den Wanst. Dann aber glitt die Spitze an emem Knochen ab, und die Waffe wude Ishariel aus der Hand geprellt.

Rasend vor Zorn knickte derborgraden Speer. Er brüllte herausfordernd und spie Ishariel seinen übelriechenden Atem ins Gesicht. Ishariel erblickte die weißlichen Haare auf dem schwarzen Bärenmaul. Er sah schon sein eigenes Bild in den Augen des Tiers und wurde von einem Prankenhieb nach hinten gestoßen.

Etwas brach in seinem Leib, als er gegen eine Eiszinne prallte. Er schrie auf, doch Ishariel biss die Zähne zusammen, flankte zur Seite und wich aus. Bei der Bewegung verschob sich etwas in seinem Brustkorb, und vor Qual verlor er einen Moment lang die Orientierung.

Dann fing er sich wieder und brachte sich mit einem erneuten Sprung vor den Hieben des Angreifers in Sicherheit. Er wollte sich schier krümmen vor Pein.

Der Bär folgte hinkend. Vom gebrochenen Speer tröpfelte das Blut eine rote Perlenkette in den Schnee.

Die Kapuze war dem Elfen vom Kopf geglitten, und der Wind zauste das eisgraue Haar. Ishariel war bereit, ins Licht zu gehen. Er hatte viele Sommer und Winter gesehen, geborgen in der Sippe. Er hatte Silandala getroffen und mit der Gefährtin seines Herzens Panali gezeugt.

Ishariel sandte im Geiste einen innigen Abschiedsruf an seine Familie und machte sich bereit für sein Sterbelied. Werden und Vergehen bildete die Welt. Er hatte seine letzte Kristallblüte geformt.

Kapitel 1 – Ein Fall von Leben und Tod

Paavi, 1018 BF, 15. Ingerimm

Ein Windzug stob Tjulf entgegen und zerzauste seine schwarzgelockten Haare. Die Luft roch nach Schnee. Obwohl jetzt zu Beginn des Frühlings der Eismantel der Bucht in viele Schollen zerbrach, wirbelten immer noch Flocken umher. Sie legten sich wie ein feiner Schleier auf Tjulfs Kragen und vergingen innerhalb eines Atemzugs.

Der Diener gab ihm einen letzten Schubs, und Tjulf stolperte aus dem Hauseingang auf die schlammige Straße. Die Instrumente in seiner Tasche klirrten leise wie Glas.

Der Dienstbote schleuderte noch Tjulfs Mantel hinterher, und der fing den Pelz im letzten Moment auf, ehe dieser auf die schlammige Straße fiel. Hinter ihm streckte ein Mann den Kopf heraus: Rahjon, der Bernsteinhändler. Sein Gesicht über der üppig bestickten Kleidung leuchtete rot wie Walblut.»Pack dich, du Schlächter. Ich werde um Melaris willen dafür sorgen, dass du im Umkreis niemandem mehr mit deiner Quacksalberei schadest. Denk dran, ich habe gute Verbindungen zum Herzog. Und wenn mein Stammhalter nicht leben würde ...«

Tjulf zog den Kopf ein und ließ die Schimpftirade über sich ergehen wie einen Wintersturm. Er legte sich den Pelzmantel um die Schultern und eilte Richtung Altpaavi, wo er seine Praxis unterhielt. Immer noch trug er den blutverschmierten Kittel und wäre ihn, wie eine unwillkommene Erinnerung, gerne losgeworden.

Das Leben war so zerbrechlich, und ein Heiler konnte das Unausweichliche oft genug nur aufhalten. Bei Melari, der letzten Patientin, hatte seine ärztliche Hilfe bloß noch für eine geglückte Entbindung sorgen können. Mit einer Massage im kalten Wasser hatte Tjulf den schwachen Lebensfunken des Neugeborenen zu einer stetigen Flamme entfacht. Die Mutter hingegen hatte er nicht retten können. Es war eine kräftezehrende Geburt gewesen - für alle Beteiligten.

Er kroch tiefer unter seinen Pelzkragen. Rahjons Flüche verklangen leise.

Der Schmerz verlangte den Menschen viel ab. Tjulf wusste, wie sehr Trauernde nach einem Schuldigen suchten. Trotzdem empfand er die Vorwürfe wie Hagel auf nackter Haut. Er gab und nahm schließlich kein Leben, sondern konnte ihm auf seiner derischen Bahn nur den Weg weisen. Zudem war er Medikus und keine Hebamme! Die Geweihte vom Travia-Schrein, die sonst für Geburtshilfe zuständig war, hatte sich mit ihrer Gehilfin vor drei Tagen zu einer Robbenjägersiedlung aufgemacht. Das Schmelzwasser des hereinbrechenden Frühlings hatte ihr vermutlich den Rückweg abgeschnitten.

Zu allem Unglück hatte sich der alternde Feldscher Eikan Meeltheur gestern Nacht wieder einmal bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Tjulf bezweifelte, dass der Knochenrichter, der die Wunden der Walfänger und Goldsucher notdürftig zusammenflickte, bei einer Entbindung überhaupt eine Hilfe gewesen wäre. Es gab also niemanden sonst in Paavi, der helfen konnte, und allein aus diesem Grund war er zu der Schwangeren geeilt.

Die enge Verquickung von Leben und Tod bei einer Geburt nahm ihn immer am meisten mit. Seine eigene Mutter war im Kindbett gestorben. Er seufzte und rieb sich die Ohren mit der Handfläche. Wenigstens hatte ereinLeben gerettet.

Tjulf beschloss, noch einen Umweg zu machen und zur Erholung einmal längs des Wassergrabens um die Stadt zu laufen. Er hatte festgestellt, dass er neue Kräfte gewann und den Kopf freibekam, wenn er in Ruhe eine Stunde oder auch zwei über Land ging, Frösche aufscheuchte oder Vögel beobachtete. Zu Hause erwartete ihn ohnehin nur ein verloschenes Feuer und vielleicht der alte Firuban, der ein Tonikum gegen seine Schmerzen im Beinstumpf wollte. Aber Meskinnes, den Firuban wie Wasser schluckte, würde dagegen genauso gut helfen.

Tjulf bog ab und wandte sich genGoldgrund.Das Stadtviertel grenzte direkt an den Wassergraben, der die Stadt vor den Sumpfranzen schützte, die nach der Stadt auchPaavianegenannt wurden. Nun, wo sich der Tag dem Ende neigte, war es hier deutlich belebter. Walfänger, Bernsteinsammler und Händler fielen in die zahllosen Schänken ein, um den Lohn der Arbeit in wenige Stunden schnapsseligen Vergnügens zu investieren. Auch Liebesdiener beiderlei Geschlechts profitierten vom Goldrausch der letzten Jahre.

Vor derWal-Schule,einer Kneipe mit etwas besserem Ruf, stieß Tjulf mit einer Frau zusammen, die aus der Schänke trat. Sie trug einen schweren Wollmantel in Grün mit gelbem Besatz in Schlangenform. Das Schlangenhalsband und das Abzeichen auf ihrer Brosche ließen keinen Zweifel an ihrem Stand: eine Hesinde-Geweihte.

»Verzeihung!«, stieß Tjulf eilfertig hervor. Sein Bedarf an Beschimpfungen war für einen Tag mehr als gedeckt. »Seid Ihr in Ordnung, Euer Gnaden?«

Die Frau nickte und tastete nach einem viereckigen Paket an ihrem Gürtel. »Schon gut. Ich war unachtsam«, sagte die Geweihte. Sie blinzelte Tjulf kurzsichtig an und setzte dann ihren Weg fort.

Tjulf hingegen verharrte. Rauch und Gelächter drangen aus dem Gasthaus und schlugen ihn in unsichtbare Fesseln.

Plötzlich sehnte er sich danach, dazuzugehören, teilzuhaben an der Fröhlichkeit der Kneipengänger, so aufgesetzt sie ihm auch vorkam. Tjulf schluckte. Vielleicht würde ein Trunk den schalen Geschmack vertreiben, der seit Melaris Tod in seinem Mund klebte.

Über ihm quietschte das Kneipenschild derWal-Schulein der Brise, die vom Meer herüber wehte wie ein Walross. Auf der Holztafel mit dem doppeldeutigen Namen predigte ein Nandus-Geweihter einigen Walen, die dümmlich grinsend aus dem Wasser schielten. Tjulf konnte sich lebhaft vorstellen, dass diese Darstellung einer Hesinde-Geweihten nicht eben gefiel. Was sie wohl in der Spelunke verloren hatte?

Er schob sich durch die halb offene Türe und suchte sich einen ruhigen Platz in der hinteren Ecke. Sein blutiger Kittel zog einige Aufmerksamkeit auf sich, aber Blut war in einer Walfängerkneipe dann doch kein so seltener Anblick. Tranlampen erhellten den Raum mit den engen Fenstern und der niedrigen Decke.

Tjulf vertrug Alkohol nicht besonders gut und fand keinen Gefallen am Rausch. Aber er winkte dem Wirt, ihm einen Stamper Meskinnes zu bringen. Nach einem Tag wie diesem brauchte er etwas, das die Lebensgeister wieder weckte.

Die Kneipe war mit einem wüsten Sammelsurium ausrangierter Utensilien dekoriert. Abgebrochene Harpunen, stumpfe Flensmesser, ein Steuerrad, Schiffsglocken und dergleichen wiesen die Gaststätte als Anlaufpunkt von Walfängern und Seeleuten aus.

Über der Theke baumelte ein präpariertes Waljunges. Die vom Gastraum abgewandte Seite des Tiers barg ein Flaschenlager, das zwischen den Rippen untergebracht war.

Tjulf fand das besonders geschmacklos, aber damit stand er offenbar allein da. Es schien hier Brauch zu sein, vor jeder neuen Runde mit dem Wal »anzustoßen«, und am Tresen dienten Fässer als Sitzgelegenheiten, die bis auf den letzten Platz besetzt waren.

Unter den Frauen und Männern dort fiel eine Gestalt besonders auf: ein Zwerg, der von den anderen ausgehalten wurde, während er von jeder vorrätigen Flasche einen Becher probierte. Jedes Mal prostete der stämmige Angroscho in Richtung des Wals, kam aber aufgrund seiner geringen Körpergröße nicht ganz heran.

Insbesondere die anderen Gäste, die an den Tischen hinter der munteren Gesellschaft saßen, amüsierten sich darüber. Auch Tjulf konnte sich dem Schauspiel nicht entziehen. Der Zwerg streckte sich immer höher und höher, während er einen Becher nach dem anderen kippte.

»Xiglosch, hoch«, feuerte ihn eine massige Frau im Seehundsfellmantel an. »Du packst das.«

Wieder und wieder fand ein Getränk seinen Weg zwischen die Lippen des Zwergs, ehe er den Wal berührt hatte.

»Noch einen, Xiglosch«, rief eine dünne Halbnivesin neben dem Angroscho. Sie knallte einen weiteren Becher auf die schrundige Theke. »Koste mal diesen Brand. Der zieht dir jeden Zahn einzeln.«

Xiglosch prostete in die Runde und hob dann den Arm für einen Salut auf den Wal.

Jetzt hielt es einen der stillen Beobachter dahinter nicht mehr auf seinem Stuhl. Es war ein muskelbepackter Seemann mit krummer Nase, der es an Kraft gewiss mit dem Angroscho aufnehmen konnte. Mit drei schnellen Schritten durch den Raum erreichte er den Zwerg. Er fasste Xiglosch um die Hüften und hob ihn hoch, sodass der Becher kräftig gegen den aufgehängten Meeressäuger stieß.

»Tarkan!«, jubelte der Chor dahinter.

Ein Teil der Flüssigkeit spritzte herunter und dem Zwerg auf den Kopf. Der schrie empört auf

»Das nennt man bei uns anstoßen, Herr Zwerg«, tönte der Seemann und lachte.

»Missratene Sumpfranze«, schimpfte Xiglosch. »Hast wohl zu lang am Morgendornstrauch geschnuppert?«

Der Matrose hatte den Zwerg noch nicht abgesetzt, da fing er sich bereits den ersten Hieb aufs Ohr. Er brüllte vor Schmerz und ließ den zappelnden Angroscho fahren. Dieser krachte auf das Fass und kippte damit um. Xiglosch kugelte auf dem Boden einmal um sich selbst, hüpfte aber bemerkenswert schnell wiederauf die Füße. Immer noch umklammerte er den leeren Becher, holte Schwung und schleuderte ihn nun auf sein Gegenüber.

»Behalte deine Pfoten bei dir«, zeterte er. »So darf mich nurmeine geliebte Keraktax anfassen!«

Der Mann wischte das Geschoss beiseite, als wäre es nicht mehr als ein Schneeball. Er streckte kampflustig beide Fäuste vor. »Nun denn, Zwerg.«

»Immer halblang!«, versuchte die blonde Halbnivesin den Streit zu schlichten. Aber dann stimmte jemand vom Tisch des Seemanns eine Liedstrophe an, und begeistert fielen die anderen Gäste ein:

»Und der Zwerg, der hebt die Axt, und er schlägt das Fass entzwei,und der ganze Trubel endet, in ´ner Kneipenschlägerei!«

Daraufhin lief der Zwerg puterrot an. »Das sagt ihr nur, weil ich ein Angroscho bin! Dabei könnt ihr froh sein, dass ich meine Axt nicht in Paavianblut tunken möchte.«

Drei Robbenjäger erhoben sich wie ein Mann und stellten sich hinter den Seemann. »Wie nennst du uns?«, fragte der Größte von ihnen.

Die vierschrötige Frau im Seehundsmantel an der Theke lachte, und ihr gewaltiger Busen wogte dazu im Takt. »Wo der Zwerg recht hat, hat er recht!«, rief sie herausfordernd und stand auf

Die Robbenjäger ließen sich nicht lumpen. Einer mit zottigem Bart streckte den Kopf vor. »Für eine Dahergeschwommene reißt du dein Maul ganz schön weit auf Hast du das von den Walen gelernt?«

»Bist du etwa ein swafnirbuckelnder Thorwaler? Lieber Wal, braver Wal ...«, antwortete sie mit gekünstelter Sanftmut und tätschelte dem toten Olportwal den Bauch. »Komm doch her, wenn du einen anständigen Schlag vertragen kannst.«

Nun erhob sich ein weiterer Chor: »Temmla! Temmla! Temmla, der Wal!«

Die solcherart Gerühmte ließ sich nicht lange bitten. »Man nennt mich nicht umsonst Temmla,den Wal.«Sie verschränkte die Hände ineinander und ließ die Gelenke knacken. Tjulf fuhr bei diesem Laut zusammen. Das konnte unmöglich gesund sein.

Temmla bezog Position neben dem Zwerg. Die Halbnivesin ließ sich kopfschüttelnd zurück gegen den Tresen fallen. Aber ein weiteres Mitglied der Thekengesellschaft, ein schwarzhaariger Geselle, krempelte demonstrativ die Ärmel hoch. »Worauf wartet ihr hässlichen Wasserspeier?«

Die vier Seeleute rückten näher.

Jetzt flitzte der Wirt hinter dem Tresen hervor wie ein Schelm, den man mit einem Katapult abgeschossen hatte.

»Nein, keine Prügelei! Ich geb auch eine Runde aus«, stieß er hervor und wies auf das ausgestopfte Tier über der Theke. »Lassen wir den Wal wackeln.«

Aber das Angebot konnte niemanden mehr beschwichtigen.

»Lass stecken, du Wicht«, meinte Temmla gutmütig. »Und wenn hier ein Wal wackelt, dann bin ich das.« Sie ballte die Fäuste und spannte die Arme an. Ihr Vorbau sprang noch ein Stück weiter heraus.

Hinten im Raum grölte jemand, ob bewundernd oder in beleidigender Absicht, blieb offen. Tjulf konnte die aufgestaute Wut förmlich riechen. Wenn eine Keilerei erst mal im Gange war, gab es hier kein Durchkommen mehr. Er kippte den Inhalt des Stampers hinter die Lippen, und der scharfe Schnaps rann brennend seine Kehle herab. Sein Blick trübte sich eine Träne lang, als der Meskinnes in seinem Magen ankam. Dann stand er auf

Und kaum hatte er einen Schritt Richtung Ausgang gemacht, da sprangen auch die anderen Gäste auf; fast so, als habe er das Signal zum Losschlagen gegeben.

»Nein!«, flehte der Wirt mit einem ängstlichen Blick auf die brennenden Tranlampen. Aber der Zwerg ließ schon seinen Schlachtruf ertönen: »Keraktax!« Er stürzte sich zwischen die Seeleute. Dicht auf dem Fuß folgte Temmla, die wie eine Naturgewalt vorwärtsstürmte.

Ihr Beispiel riss die Übrigen mit. Bald balgten sich abgerissene Gestalten mit Seeleuten in Schiffsuniformen, tauschten Einheimische Hiebe mit Fremden, und mancher Ellbogenstoß traf einen Verbündeten statt des Gegners.

Tjulf stand zwischen den Raufenden eingekeilt an der Wand. So gut es ging, wich er dem Getümmel aus. Seine Körpergröße flößte den meisten Respekt ein, vielleicht war es auch seine blutige Kleidung. Aber ein paar Mal musste er seine Schultern einsetzen, um den nötigen Freiraum zu wahren. An ein Verlassen der Kneipe war nicht mehr zu denken.

Alles war auf den Beinen. Auch die zögerlichsten Besucher sprangen nun ihren Kameraden zu Hilfe. Bloß die blonde Halbnivesin blieb auf ihrem Fass sitzen und begnügte sich damit, gelegentlich ich einen Schlag mit ihrem leeren Bierhumpen auszuteilen und in Ruhe die Becher der anderen zu leeren, ehe sie zu Bruch gingen.

Der Seemann mit der schiefen Nase, Tarkan, hatte sich zu seinem ersten Gegner durchgekämpft. »Hab ich dich, du Felsenaal!« Er packte den Zwerg mit der einen Hand am Bart und versuchte mit der anderen, den alkoholgetränkten Angroscho mittels einer Tranlampe in Brand zu setzen.

Doch der Zwerg war flink. Er packte genau zwischen die Armsehnen des Matrosen, Tarkans Griff lockerte sich und er ließ die Lampe fahren. Tran sickerte aus dem geborstenen Gefäß zwischen die grobgefügten Fußbodenbohlen.

Panisch wieselte der Wirt heran. »Feuer, Feuer!«

Für eine Sekunde leckte eine Flamme hoch, aber die stampfenden Füße des Angroscho, der sich über den Matrosen hermachte, erstickten das Feuer und zermalmten die restlichen Tonscherben.

Das Eingreifen des Wirts lenkte einen der Faustkämpfer ab. Sein Schlag ging fehl und bohrte sich auf Höhe der Nieren in den Rücken eines Schiffskameraden. Tjulf zuckte mitleidig zusammen.

Der Getroffene grunzte und taumelte, riss einen Dritten zu Boden, ehe er selbst an der Theke Halt fand. Sein Opfer hatte weniger Glück. Der Mann rollte noch von den Scherben fort, blieb dann aber liegen wie eine geschlachtete Robbe. Von den Kämpfenden achtete niemand auf den Gestürzten. Er konnte sich nicht mehr vor den eisengenagelten Stiefeln in Sicherheit bringen, die rings um ihn den »Eisbrecher« tanzten.

Tjulf holte aus, langte zu und läutete die Schiffsglocke, die von der Decke baumelte. Ein hektisches Bimmeln schnitt durch die verräucherte Kneipe. Einen Lidschlag lang horchten die Streithammel auf. Tjulf packte die Gelegenheit beim Schöpfe, drückte sich durch die murrende Menge. »Nun lasst mich kurz durch. Ich will nur zu dem Verletzten.«

Da besannen sich auch die anderen ein wenig und rückten voneinander ab.

»Das ist einer von uns, oder?«, fragte Temmla. »Wo bleibt denn Pettar? Wo ist unser gottverlassener Knochenflicker?«

Die Halbnivesin verdrehte die Augen und wies auf den Mann am Boden. »Da isser. Und so schnell renntdernicht weg.«

Tjulf räusperte sich. Nun, wo es einen Berufskollegen erwischt hatte, fühlte er sich erst recht in die Pflicht genommen. »Ich bin selbst Medikus«, erklärte er. »Helft mir, wir heben ihn gemeinsam auf den Tresen.«

Temmla fegte mit dem gewaltigen Arm einmal über die Theke, und die restlichen Becher gingen den Weg alles Derischen. Zu viert hievten sie den Mann hoch. Tjulf gab Anweisungen und hielt selbst den Kopf des Verletzten. Seine Hände wurden klebrig von Blut.

»Ruhig. Ganz vorsichtig ablegen!« Der Verletzte rührte sich nicht, aber immerhin atmete er.

»Warmes Wasser«, herrschte Tjulf den Wirt an, und als der eine Schüssel brachte, reinigte Tjulf rasch seine Finger und tupfte das Gesicht des Verletzten sauber. Nachdem er die Lider angehoben und die Augen untersucht hatte, tastete er den Schädel ab.

»Und, was ist nun mit ihm?«, fragte der schwarzhaarige Seemann.

Tjulf pustete sich eine verzwirbelte Locke aus der Stirn. »Der Kopf scheint noch heile zu sein. Abgesehen von einer Platzwunde, wo er aufgekommen ist.«

Im gleichen Moment erlangte Pettar das Bewusstsein zurück. »Verflucht, was ist passiert?«, murmelte er.

Tjulf entspannte sich ein wenig. Er klopfte dem Mann sachte auf die Schulter und prüfte noch einmal die Reflexe. »Es sieht nach einer leichten Gehirnerschütterung aus. Ihr solltet Euch etwas schonen.«

»Das weiß ich selbst!«, schnappte Pettar. »Vielleicht wärt Ihr lieber so freundlich, von meinem Bein runterzugehen, statt gute Ratschläge zu erteilen.«

Tjulf lief rot an und hüstelte verlegen. Niemand berührte die Beine des Verletzten. Erst jetzt drückte er prüfend Pettars Oberschenkel, und prompt keuchte der Mann auf »Nu‘ pass doch aufl«

»Scheint gebrochen zu sein«, befand Tjulf und unterdrückte einen Seufzer. Heiler waren selbst die schlimmsten Patienten. Er erinnerte sich noch, wie der Großvater ...

»Ist es etwas Schlimmes?«, wollte Temmla wissen. Im Hintergrund hörte Tjulf, wie der Zwerg davon sprach, eine gewisse Jettjala herbeizuholen. Die anderen Streithähne hatten Tische und Hocker wieder aufgestellt und verhielten sich auffällig leise.

Dem Verletzten behagte das alles nicht. Er musterte Tjulf abschätzig von Kopf bis Fuß. »Ihr seht aus wie ein Schlächter. Seid Ihr etwa der versoffene Meeltheur? Von dem hab ich nur Übles gehört.«

Tjulf kochte innerlich, und endlich entlud sich der gesammelte Zorn des Tages. »Mein Name ist Tjulf Ressken, und ich entstamme einer Familie von Gelehrten und Heilern. Wenn‘s recht ist, werde ich Euch das Bein schienen,Kollege,und dann bin ich auch schon fort.«

Er machte sich stumm an die Arbeit. Dieser Tag stand unter keinem guten Stern.

Expeditionstagebuch Jettjala,

Paavi, 11. Ingerimm, 1018 BF

Der Kapitän derFirunswogedrängt auf eine rasche Abfahrt. Wir müssen den schmalen Korridor abpassen, sagt er, wenn die Bucht bereits eisfrei ist, aber der Rand der Klirrfrostwüste noch schlittensicher genug. Und auch ich möchte so schnell wie möglich hinaus, um das Artefakt zu bergen, ehe es in die Hände von üblen Gestalten fällt.

Allerdings habe ich immer noch keinen Führer durch die unwegsame Eiswüste gefunden. Als ich das Ziel unserer Reise erwähnte, komplimentierten mich die Firnelfen der Lichthüter-Sippe vergleichsweise höflich, aber unmissverständlich hinaus. Eine kleinere Sippe, die zum Tauschhandel nach Paavi gereist war, warnte uns unverblümt vor einer Fahrt dorthin. Sie redeten von »zerza«, das bedeutet in ihrer Zunge »unaussprechliche Gräuel«, und wollten danach kein einziges Wort mehr mit uns wechseln. Vielleicht ist die Kunde vom Artefakt schon zu ihnen gedrungen. Für die Naturkinder des Firns müssen seine Ausstrahlungen unerklärlich und fürderhin unheilig sein. Aber selbst gegen die Gefahren, die von den Kreaturen Pardonas ausgehen, sind wir gerüstet. Nicht umsonst habe ich vier kampferprobte Söldner angeworben.

Uns fehlt nur ein Fährtenleser und eiskundiger Führer. Aller guten Vorbereitung zum Trotz ist so ein Spezialist nur im hohen Norden zu entdecken.

***

Paavi, 15. Ingerimm, 1018 BF,

Hesindes Weisheit hat mich zur rechten Zeit geführt. Ich habe inzwischen einen Nivesen aufgetan, der schon einmal in das eisschollige Land jenseits der Bäreninseln gereist ist. Er hat uns beraten, welche Felle und Ausrüstung wir noch benötigen, und sich selbst angeschlossen. Morgen soll dieFirunswogeAnker lichten. Den Teilnehmern der Expedition habe ich einen freien Abend gewährt und mich derweil mit Magus Estikan an Bord eingerichtet.

Paavi, 16. Ingerimm, 1018 BF

Es klopfte an der Tür. Tjulf, der sich gerade den Nacken massierte, sprang auf. Sein Stuhl schlidderte über die Dielen, die viele Füße in schwerem Schuhwerk glattgescheuert hatten, und landete polternd vor der Wand. Angespannt eilte der junge Wundarzt durch den Vorraum und zur Tür. Heute Morgen hatten bereits zwei Kräuterhändler, bei denen er immer anschrieb, die sofortige Begleichung ihrer Rechnungen gefordert. Außerdem hatte ihn ein Gesandter des Praios-Tempels aufgesucht und ihm ins Gewissen geredet. Über die Verantwortung seines Berufs gepredigt und die Anmaßung eines Medikus, über Leben und Tod entscheiden zu wollen, wo es doch dem Herrn Praios alleine oblag, die Lebensspannen zuzumessen. Der Bernsteinkaufmann Rahjon war ein einflussreicher Mann, und er warf seine Macht nun gegen Tjulfs Reputation in die Waagschale.

Tjulf zwang seine Mundwinkel nach oben, spürte, dass er wohl eher die Zähne fletschte, und mäßigte sich zu einem Lächeln. Vielleicht war es ja ein Patient. Sogar der alte Firuban wäre ihm augenblicklich willkommen. Innerlich wappnete er sich allerdings gegen eine weitere unangenehme Begegnung und riss die Türe auf: »Ja?«

Auf seiner Schwelle stand, in vollem Ornat, die Hesinde-Geweihte, die er gestern vor derWal-Schulebeinahe über den Haufen gerannt hatte. Heute hielt sie einen mannshohen, hölzernen Stab in der Hand, um den sich eine Metallschlange wand. Tjulf seufzte. Bestimmt hatte die Betschwester seinen Namen herausgefunden, um sich bei ihm zu beschweren, weil sie gestern vor Schreck Schluckauf bekommen hatte. Und natürlich war auchdasTjulfs Schuld.

»Was gibt es?«, fragte er kurz angebunden und ohne die Götterdienerin mit ihrem Ehrentitel anzureden.

Die Frau im gelbgrünen Mantel riss die Augen auf und zwinkerte dann nervös. »Oh, Ihr seid es!«

Tjulf brummte. »Ja, als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, da war ich es noch ... Euer Gnaden.«

»Ihr seid also Meister Ressken, der Medikus?«, wollte sie wissen.

Das klang nicht, als habe Rahjon sie zu Klagen angestiftet.

»Eben der. Tretet ein. Habt Ihr Bauchweh, oderschmerzen Eure Augen vom Studium der Bücher?«, fragte er, etwas besänftigt. Er brauchte wirklich nicht noch mehr Feinde in der Stadt.

»Mir ist sehr wohl, danke sehr«, sagte sie artig und schritt über die Schwelle. »Mein Name lautet Jettjala. Ich komme in einer bestimmten Angelegenheit zu Euch, über die wir in Ruhe sprechen sollten.«

Sie durchquerten das winzige Wartezimmer und erreichten den Behandlungsraum, wo der Ofen bullerte. Tjulf wies Jettjala den Konsultationsstuhl zu und eilte zum Feuer, um Tee zu holen. Die Kanne stand auf der eisernen Platte, die den Ofen abschloss, und wurde so warm gehalten.

Nachdem sie beide einen Schluck zu sich genommen hatten, kam Jettjala auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen.

»Ihr habt gestern in derWal-Schule...«, sie rümpfte etwas die Nase, und Tjulf erinnerte sich an das despektierliche Wirtshausschild mit dem Nandus-Geweihten, »... Pettar versorgt, einen meiner Leute. Er hatte sich das Bein gebrochen und den Kopf verletzt.«

»Oh,denmeint Ihr. Ich erinnere mich gut. Der Kollege verfügte in Hinblick auf Schimpfworte über ein bemerkenswertes Vokabular.«

Sie hüstelte verlegen. »Er ist Schiffsarzt, und die Sitten auf See sind rau. Ich entschuldige mich für ihn und möchte mich für die Hilfe bedanken, die Ihr ihm angedeihen ließet.«

Das zauberte ein echtes Lächeln auf Tjulfs Züge. »Ich musste schließlich sichergehen, dass er sich keinen Schädelbruch geholt hat oder zu Tode getrampelt wird.«

Jettjala zog eine Börse aus ihrem Ärmel und legte einen Dukaten auf den Tisch. »Ich gehe davon aus, das stellt ein angemessenes Entgelt dar ...«

Tjulf nickte und schob wie beiläufig die Hand über die Münze. Er hatte bereits für Goldkrümel und Bernsteinstücke gearbeitet, und manchmal für Naturalien, Fisch, Robbenleber oder Felle.

»Dann wünsche ich Eurem Mann gute Besserung!«, sagte er, weit freundlicher, als er wirklich empfand.

Die Hesinde-Geweihte beugte sich vor. »Ich bin noch aus einem anderen Grund da. Wisst Ihr, ich leite eine Expedition in die Klirrfrostwüste. Pettar ist mein Medikus. Oder war, sollte ich vielmehr sagen, denn mit einem gebrochenen Bein kann ich ihn unmöglich mitnehmen.«

Tjulf nickte höflich, begriff aber nicht recht. Er hatte Walfängern schon Beine oberhalb des Knies abgenommen und sie Wochen später mit Holzbeinen wieder anheuern sehen. Sollte er für den Kollegen Kindermädchen spielen, bis dieser wieder laufen konnte?

»Ihr versteht sicher, ein Medikus an Krücken ist kaum einsatzfähig. Kapitän Swanlarf hat mir außerdem zu verstehen gegeben, dass kein versehrter Arzt jemals sein Schiff betreten würde. Da wollte er noch eher einen Elfen an Bord lassen.« Sie hob eine Augenbraue. »Aberglaube, sicherlich, aber manchmal hängen Erfolg und Misserfolg von Dingen wie Kleinmut ab.«

Langsam erkannte Tjulf, welchen Kurs die Möwe flog. »Ihr sucht einen Ersatzmann? Warum verschiebt Ihr Eure Fahrt nicht einfach?«

Jettjala warf die Worte aus wie ein Haifischer Blutköder. »Ich suche einen kompetenten Medikus, der das Unbekannte nicht scheut. Eine Verschiebung der Unternehmung kommt nicht in Frage. Wir müssen den kurzen Sommer ausnutzen. Allein die Schiffsreise dauert vermutlich noch den halben Rahja, wenn nicht länger ...« Sie legte den Kopf schräg. »Ihr kennt Euch als Bewohner von Paavi sicher mit Erfrierungen und Bärenangriffen aus, mit Krankheiten, Schneeblindheit und den Anzeichen einer Mangelernährung. Pettar musste widerwillig eingestehen, dass Ihr ihn kompetent versorgt habt. Ich bezahle gut.«

Tjulf hob die gefalteten Hände auf Brusthöhe und wärmte den Dukaten zwischen den Fingern.

»Wenn ich ehrlich sein soll, lebe ich erst seit einigen Jahren in Paavi. Die erwähnten Krankheitsbilder sind mir indes vertraut. Allerdings gebe ich zu, dass ich selbst keine Schule besucht habe. Ich habe von Kindesbeinen an meinem Großvater assistiert, der ein begnadeter Chirurg war. Wir kommen aus ...«

Jettjala unterbrach ihn, eifrig wie ein Schulmädchen. »Lasst mich raten. Anhand Eurer Klangfärbung würde ich sagen: Norburg. Ich stamme selbst aus dem Bornland.«

Tjulf nickte. »Ihr habt recht. Ein kleiner Ort westlich von Norburg. Wir haben den Weiler verlassen, als ich acht Jahre alt war, und sind zehn Götterläufe lang immer weiter Richtung Norden gezogen.« Ein unstetes Wanderleben, an das Tjulf nicht viele gute Erinnerungen hatte. Von Siedlung zu Siedlung, hier einige Monde, dort ein ganzes Jahr. Und dann von einem Tag auf den nächsten - Aufbruch. Spielgefährten blieben zurück. Freunde, Liebste. Und irgendwann hatte Tjulf von sich aus vorsorglich seine Wurzeln gekappt, ehe sie ihm wieder ausgerissen wurden.

Jettjala betrachtete ihn nachdenklich. »Ihr habt viele Orte gesehen. Dann seid Ihr der Mann, den ich brauche.« Ihre Stimme nahm einen drängenden Tonfall an. »Wird es Euch nach diesem Norbardenleben hier nicht langweilig, Meister Ressken?«

Tjulf stutzte. Lebte er wirklich seit fünf Jahren in Paavi? Er rechnete nach. Vor zwei Wintern war der Großvater gestorben, der Tjulf seine Kindertage lang versorgt und ihn später seine Profession gelehrt hatte. Sein Vater war bereits länger tot, erschlagen von einigen Strauchdieben. Ja, der Zeitraum kam hin.

Was hatte er eigentlich zu verlieren? »Worum geht es denn bei der Expedition?« Unter der Leitung einer Hesinde-Geweihten würde es sich kaum um eine simple Schatzsuche nach den Kleinodien des Nordens handeln: Kristallen, Mammuton oder Bernstein. Das weckte seine Neugier.

»Die Kirche von Mutter Hesinde ist jederzeit an neuem Wissen über Dere interessiert. Genaueres kann und darf ich Euch erst verraten, sobald Ihr angemustert habt.«

Wenn ich an Bord bin und nichts ausplaudern kann, selbst wenn ich wollte. Ein Haiköder, in der Tat.

Aber er wollte nicht zu offensichtlich den Ifirnshai spielen. »Für wie viele Seelen wäre ich denn verantwortlich? Meine Heilmittel-Vorräte sind nicht so umfangreich, müsst Ihr wissen.«

»Pettar hat bereits für alles vorgesorgt. Salben aus Walrat, Kräuter, Verbandszeug und - ähm, Instrumente.« Ihr Blick schweifte umher, und Tjulf fragte sich, ob sie wohldie Knochensäge suchte. »Natürlich könnt Ihr die Bestände gerne durchsehen, Meister Ressken, und nach eigenem Gutdünken Ergänzungen vornehmen.«

Das gefiel Tjulf, aber er mochte nicht zu früh »Ja« sagen. Also blickte er Jettjala auffordernd an, wie einen Patienten, der sein Leiden nur unzureichend beschrieben hatte. Die meisten Leute schätzten keine Gesprächspausen und überbrückten die Stille mit Geplapper. Manches Mal schlüpften ihnen dabei verräterische Kleinigkeiten heraus, die Tjulf auf die Spur der Krankheit gebracht hatten. Nur, dass er nun auf einer ganz anderen Fährte war.

Jettjala hatte die Musterung seines Behandlungszimmers inzwischen beendet. Tjulf hüstelte erwartungsvoll. Wie erhofft, fuhr sie fort: »Mit Euch und meiner Person erreichen wir die göttergefallige Zahl Zwölf für die Expedition. Zuzüglich der Schiffsbesatzung werden also wohl zweiunddreißig Männer und Frauen in Eurer Obhut sein. Die Schlittenhunde nicht mitgerechnet.«

Tjulf nickte. Zur Notwürde er auch Tiere behandeln. Er hatte Schlittengespanne gesehen, die besser ernährt waren als die Familie ihres Führers. Eine Überlebensnotwendigkeit in einem weiten, öden Land mit wenigen Siedlungen.

»Die Kirche erhält Wissen«, sagte er. »Was bekommendie Nordlandfahrer?«

»Eine berechtigte Frage, Meister Ressken. Übrigens fällt mir da eine bemerkenswerte Namensähnlichkeit auf. Ihr seid nicht zufällig mit einem gewissen ParinorRessverwandt?«

Tjulf schüttelte den Kopf. Er wusste so gut wie nichts über seine Herkunft. »Ich denke nicht. Was ist das für ein Mann?«

»Er war ein Pirat«, sinnierte Jettjala mit abwesendem Ausdruck. »Nach ihm wurde eine Seekarte Nordaventuriens benannt, die sich im Garether Aves-Tempel befindet. Ich habe sie gründlich studiert - aber das tut jetzt nichts zur Sache.« Ihr Blick fokussierte wieder.

»Zurück zur Frage der Entlohnung. Ich habe mit den Leuten eine Beteiligung am Gewinn der Expedition ausgemacht, zusätzlich zu einem festen Wochenlohn. Glückliche Funde werden gerecht aufgeteilt. Diese Bedingungen gelten für Euch genauso. Pro Woche erhaltet Ihr einen Dukaten, plus Bonus, wenn die Reise erfolgreich war.«

»Wenn wir den Polardiamanten gefunden haben, hätte ich gerne einen Splitter davon als Skalpell«, scherzte er.

Jettjala zuckte nur einmal kurz zusammen und streckte die Hand aus. »Nun denn, willkommen bei meiner Expedition.«

Tjulf schlug ein und fragte sich im gleichen Moment, worauf er sich da eingelassen hatte. Eine Suche nach der mystischenEissphinx oder dem Nebelschloss des Grauen Königs? Märchen und Legenden darüber gab es zuhauf. Ebenso wie Geschichten über verschollene Expeditionen.

Mit einem Mal schienen ihm die schmuddeligen Wände seines Behandlungsraumes die Luft abzudrücken. Paavi war nur eine weitere Station einer endlosen Reise. Er ließ hier nichts und niemanden zurück. »Wann soll es losgehen?«, fragte er.

Jettjala wirkte überaus zufrieden. »So schnell wie möglich.«

Interludium 1 – Kristallstachel

Nafireona (Klirrfrostwüste), Sommer, 800 BF

Der Bär rückte näher. Ishariel liebkoste die daunenfarbene Wüste ringsum noch einmal mit weitschweifendem Blick und öffnete seinen Geist. Dann schob sich der todbringende Schatten vor.

Als habe der Abschied seinen Geist geklärt, fanden sich in der entstandenen Leere seines Inneren helle Töne zu einer Melodie. Der Firnelf ging am Eisgrat in die Knie. Er summte die Tonfolge, stimmte seinmandraaufbha‘iza dha feyraein und stieß den letzten Ton hervor wie einen Vogelschrei.

Seine Linke schoss vor, und zwei Finger wiesen auf den Angreifer.

Das Tier brüllte und hob die Pranke vor den Schädel, als habe Ishariel ihm einen glühenden Ast ins Auge gestoßen. Der unsichtbare Blitz blendete und verwirrte den Bären. Ziellos schlug er umher, rutschte nach hinten und konnte sich mit dem verletzten Hinterbein nicht richtig abfangen.

Während der Bär um sein Gleichgewicht kämpfte, packte Ishariel das Netz mit dem Eisigel und setzte über den Grat. Die böse Aura zerrte unerträglich an seinen Sinnen. Der Elf schätzte die Höhe des Eisgrats, hob das Geflecht und ließ es einmal um die Hand kreisen, um Schwung zu holen. Vielleicht starb er hier. Vielleicht auch nicht. Sausend löste sich das Netz aus seinen Fingern und schoss auf den heranstürmenden Bären zu. Ishariel ließ sich fallen und presste sich tiefer hinter den Grat, in der verzweifelten Hoffnung auf Deckung.

Mit einem Schmatzen fand die spitze Eiskugel ihr Ziel. Dann, fast unhörbar unter dem Brüllen desborgra,zischten Stachelgeschosse in alle Richtungen, als der Eisigel auseinanderbrach.

Kristallzähne bohrten sich in Ishariels Rücken, schrammten über seine Haut.

Weniger als drei Atemzüge später war alles vorbei. Er hob den Kopf und stemmte sich hoch. Von zahllosen Wunden übersät, schien der Bär von den Stacheln regelrecht an den Boden genagelt. Ishariel trat zu ihm, zog den abgebrochenen Speer aus seinem Leib und versetzte dem blutüberströmten Tier den Gnadenstoß.

Er betastete seinen Brustkorb und den Rücken. Mindestens eine Rippe war gebrochen. Außerdem hatten ihn einige Stacheln verletzt. Aber nicht schwer.

Ishariel sammelte die brauchbarsten Splitter ein. Leider waren die meisten Stacheln in kleine Fragmente zersprungen und zu nichts mehr nutze. Auch das löchrige Fell des Bären taugte nun zu wenig mehr als Pelzbesatz. Gebeugt vor Schmerz und doch beseelt vom Hochgefühl des erkämpften Lebens, eilte der Kristallformer heimwärts.

Kapitel 2 - Expedition

Brecheisbucht, 18. Ingerimm, 1018 BF

Am ersten Abend an Bord wurden die Mitglieder der Expedition einander in der großen Kajüte vorgestellt. Der Zwerg hob den Becher mit dem Begrüßungstrunk und leerte ihn in einem Zug. Nurmjo, der nivesische Führer, der auch für die Schlitten verantwortlich war, tat es ihm gleich. Immer wieder maß er Xiglosch mit Blicken, beileibe nicht als Einziger. Es zog nun einmal wenige Zwerge in die Weißen Lande, von ein paar halb wahnsinnigen Geoden mal abgesehen.

Ein junger Jäger, mit deutlichen Schrammen auf der Wange noch gezeichnet von der Prügelei, wurdeRobbegerufen, wohl wegen seiner auffälligen Kapuze aus Robbenfell. Die Halbnivesin Novis hielt sich an seiner Seite.

In der anderen Ecke standen vier Bewaffnete, die sich von den Glücksrittern absonderten. Tjulf hatte keinen von ihnen je gesehen. Jettjala hatte ihre Namen genannt, aber für Tjulf waren es nur grimmige Gesichter, die er anhand ihrer Narben und Verletzungen auseinanderhielt: Gebrochener Kiefer, Halbauge, Zwei böse Narben, Geplatzte Lippe. Die schlachterprobten Frauen und Männer sprachen wenig, betrachteten alles mit wachen Augen und nippten nur am Meskinnes.

Tjulf befand sich zwischen beiden Gruppen und fühlte sich keiner von ihnen zugehörig. Er stellte sein Getränk unauffällig beiseite. Für die Besprechung wollte er gerne einen klaren Kopf behalten, und von der Schaukelei wurde ihm auch so übel.

Gegenüber der Hesinde-Geweihten, aber etwas im Hintergrund, wartete der Magus Estikan. Er trug eine weinrote, bestickte Robe mit Pelzbesatz, über die sein langer, schwarzer Haarzopf wie eine Schlange züngelte. Tjulf zählte durch und stutzte. Hatte die Hesinde-Geweihte nicht von einem vollen Dutzend Teilnehmern gesprochen?

Da schob sich die Tür auch schon auf, und eine weitere Gestalt polterte in den Raum. Tjulf hielt den Atem an. Es war der krummnasige Matrose, mit dem sich die eine Hälfte der Gruppe vor zwei Tagen in der Kneipe geprügelt hatte. Auch er trug davon noch Abschürfungen im Gesicht.

»Tarkan«, stieß der Mann hervor, und es blieb unklar, ob das sein Name war oder ein Gruß sein sollte.

Er schlug sich nach einem schnellen Rundumblick auf die Seite der Bewaffneten. Die ließen keine Lücke, sodass er sich an ihnen vorbeidrücken und direkt vor die Wand stellen musste. Das brachte weitere Unruhe. Stiefel scharrten, Waffen klirrten. Der Zwerg machte einige äffische Geräusche. Tjulf beobachtete, wie Tarkan daraufhin stumm die Fäuste ballte.

Dann räusperte sich Jettjala und sah alle der Reihe nach an, bedeutsam, als wolle sie jedes Mitglied der Unternehmung noch einmal auf die Probe stellen.

Tjulf nutzte die Gelegenheit ebenfalls zu einem Überblick. Ihre kleine Gruppe erschien ihm wie ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Die beiden Gelehrten Jettjala und der Magier waren die leitenden Köpfe der Expedition. Glaube und Wissenschaft gingen also hierbei Hand in Hand. Führer durch das weiße Land war der Nivese. Jäger, Abenteurer und Glücksritter, also der Zwerg, Robbe, Novis und Tarkan, übernahmen die praktischen Aufgaben der Nahrungsbeschaffung, das Kundschaften und die Bergung. Und die vier Krieger würden sie alle und sich vor den Kreaturen des Eises beschützen. Tjulf schließlich musste dafür sorgen, dass alle heil wieder nach Hause kamen.

Ihm fröstelte, und er war froh, dass Jettjala das Wort ergriff.

»Hier sind wir.« Sie wandte sich um und wies auf eine an der Bordwand befestigte Landkarte.

Tjulf erkannte Paavi, die Eiszinnen und die Lande der Grimmfrostöde. Auf der anderen Seite der Brecheisbucht lag das Eherne Schwert, ein unüberwindbares Gebirge, das über den Rand der Karte hinauswucherte, als habe der Stift des Kartographen gezögert, seine Grenzen auch nur anzudeuten. Ein Stück über den Kontinent hinaus gruppierten sich vier Inseln eng beieinanderliegend im Ozean und danach nichts mehr. Im Norden war die Karte buchstäblich leer.

»Bis wir diesen Punkt erreicht haben ...«, Jettjalas Finger zog eine Linie durch das Nichts, etwa die halbe Strecke oberhalbder Bäreninseln, »... sollte die Eisgrenze für eine Passage hinreichend zurückgewichen sein. Dort wird uns dieFirunswogeabsetzen.«

»Und was gibt es da?«, fragte Robbe. »Außer Frostbeulen am Hintern beim Scheißen?«

Jettjalas Finger verließ die Karte. »Das werden wir bald genug herausfinden. Ihr alle habt sicher schon eine Menge Geschichten über den Norden gehört. Es gibt Schätze dort, und es gibt Wissen. Und es gibt Schätze, die unvorstellbares Wissen beinhalten und damit über große Macht verfügen.«

Bei ihren letzten Worten kam Bewegung in die Leute. Xiglosch grinste, die Jäger stießen einander an, sogar die Söldner wurden unruhig.

»Zu große Macht«, fuhr Jettjala fort, »als dass sie nach dem Willen der Mutter Hesinde ungenutzt in der Einsamkeit des Eises verbleiben dürfte.«

»Wir suchen Goraanthan«, flüsterte Novis deutlich hörbar. »Ich wusste es!«

Jettjala machte eine Pause, denn nach dieser Äußerung entlud sich die allgemeine Erwartung erst einmal in Gelächter. Dann nickte sie Novis zu. »Die Geschichte vom sprechenden Eisberg ist eine Kindermär. Vielleicht wahr, vielleicht nicht. Wir aber setzen uns auf die Spur einer anderen Geschichte. Einer für Erwachsene.«

Gemurmel brandete auf. Der Zwerg trat einen Schritt vor, Tarkan öffnete den Mund, da wurde es schlagartig stiller. Totenstill.

Aus dem Augenwinkel hatte Tjulf gesehen, wie Estikan mit einigen Gesten einen Zauber beschwor und einen Finger auf die Lippen legte. Die knarrenden Planken, das schwappende Wasser, das Ächzen des Mastes verstummten. Auch das unterdrückte Kichern, das Novis‘ Erwähnung des Eisbergs mit Gesicht hervorgerufen hatte, endete wie abgeschnitten. Es war gespenstisch. Tarkan klappte den Mund auf und zu, aber kein Laut ertönte. Er kratzte sich am Kopf. Dann brach ein Fingerschnippen des Magiers den Stillezauber.

»Hört besser zu, was Ihre Gnaden erzählt!«, empfahl er. Die Worte gewannen Gewicht, als das Poltern von Deck gleich Paukenschlägen wieder einfiel.

Tjulf schluckte. Ein Magus fürwahr. Estikan lächelte dünn.

»Danke. Wenn ich nun also fortfahren dürfte«, das ‹ungestört› schwang in Jettjalas Rede mit. »Der Alte Drache Pyrdacor wurde im Zweiten Drachenkrieg seiner derischen Existenz beraubt. Trolle verschleppten seinen Hort, darunter das berühmte Schwarze Auge. Das Artefakt ging im Ewigen Eis verloren. Aber nun haben wir eine Quelle gewaltiger Astralkraft jenseits von Ifirns Ozean geortet.«

Nun wurden die Zuhörer doch wieder unruhig. Tjulf sah Gier in den Augen der Krieger aufflackern, und der Zwerg riss in stillem Jubel die kurzen Arme hoch.

Er selbst wusste nicht, ob er den Kopf schütteln oder die Achseln zucken sollte. Kein Wunder, dass Jettjala nicht früher darüber hatte sprechen wollen. Das berühmte und mächtige Schwarze Auge gehörte ebenso in die nordische Sagenwelt wie Goraanthan und die Eissphinx. Das Eis hatte mehr Abenteurer und Expeditionen auf der Suche nach diesem Schatz verschlungen, als Seelen Paavi bevölkerten, die Sumpfranzen mitgerechnet.

Andererseits würde die Hesinde-Kirche gewiss keine Unternehmung ausrüsten, die nur auf Hörensagen aufbaute. Und Estikan wirkte ebenfalls alles andere als leichtgläubig.

Jettjala fasste die Anwesenden ins Auge wie eine Gruppe Schulkinder. Das aufgeregte Scharren verstummte.

»An diesem Kleinod sind viele Kräfte interessiert. Im eigenen Interesse solltet ihr also darüber so wenig wie möglich sprechen, nicht einmal der Mannschaft gegenüber. Wir suchen das Auge mit Hilfe des hochgelehrten Herrn Estikan, bergen es und reisen so rasch wie möglich zurück.«

So wie die Geweihte es darstellte, klang alles ganz einfach.

***

Zwei Tage später stand Tjulf auf Deck und atmete die frische Luft. Endlich ein neuer Morgen. Unten in der großen Kajüte war es stickig und roch nach zu vielen Menschen auf zu engem Raum. Dort waren, mit Ausnahme der Expeditionsleiterin, die eine Einzelkabine bezogen hatte, alle Passagiere untergebracht. Noch unerträglicher war es eigentlich nur im Laderaum, wo die drei Schlitten und die zugehörigen zwei Dutzend Schlittenhunde verstaut waren.

Nachdem dieFirunswogeden Hafen verlassen hatte, pflügte der Holken mit den verstärkten Planken durch die Brecheisbucht Richtung Norden. Die Bucht, gefangen zwischen den Vulkanbergen der Grimmfrostöde und des Ehernen Schwertes, war ein Tummelplatz von Eis und Feuer. Es war die früheste schiffbare Passage im Jahr, aber dies hatte einen hohen Preis. An den Grenzen der Elemente tummelten sich die Mindergeister von Eis, Luft, Wasser und Feuer zugleich. Dampfumwölkt und rauchverwoben lag dieser Teil von Ifirns Ozean oft unter einer Glocke dichten Nebels.

Aber heute zeigte das Meer sein helles Gesicht. Weit hinten glühten Lavaströme an den Flanken eines Vulkans, auseinandergefingert wie Wurzeln oder Adern. Die Sonne warf zauberische Lichter durch dünne Eiskanten. Glitzernde Schollen tauchten immer wieder wie die Köpfe von Firunsbären aus dem dunklen Gewässer. Dazwischen bliesen echte Wale: algenüberkrustete, fahlgrüne Riesen. Oder waren es nur gigantische Eisformationen, die Erdfeuer dampfen ließ?

Tjulf schlug den Kragen hoch, um die langsam erstarrenden Wangen zu wärmen. Im Bestreben, der überfüllten, stickigen Kajüte zu entkommen, hatte er das Tuch vergessen, das er sonst um Hals und Kinn schlang.

Mit Ausnahme des Magiers wagten sich alle Landratten nur dick eingepackt an die Luft. Magus Estikan schien erhaben über etwas so Profanes wie übermäßig warme Kleidung, und die Mannschaft war abgehärtet gegen den Biss des schon frühlingshaften Firunsatems, gegen den sie beständig kreuzten.

Von wegen frühlingshaft! Tjulf vermochte sich kaum vorzustellen, dass es noch kälter werden konnte. In Paavi waren die Winter auch lang und frostklirrend - doch erst jetzt, den Elementen ausgesetzt, ging ihm auf, wie geschützt die Stadt in Wahrheit lag.

Gerade erklommen die Männer und Frauen des Holken die Wanten. Die Mannschaft schien ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Robbenjägern, Walfängern und anderen wagemutigen Gestalten, wie Tjulf sie in derWal-Schulebereits kennengelernt hatte. Keiner an Bord war indes nur Seemann oder -frau. Viele Matrosen verdienten sich im langen Winter, wenn keine Schifffahrt möglich war, mit der Jagd ein Zubrot oder schnitzten während der Freiwache Schmuck und Zierrat aus Bein oder Mammuton.

Tjulf sah auf. Die gefrorenen Taue ächzten unter den Tritten der schweren Seehundstiefel, die feine Eisschicht splitterte. Er wich auf das Vorderdeck aus, weniger, um den hinabstäubenden Krusten zu entkommen, denn das war nur der Anfang dessen, was folgen würde. Ihm fröstelte auch so genug, auch ohne Eisbrocken im Kragen. Kurz darauf hörte er ein Krachen und Knirschen. Fingerlange Eisstücke hagelten auf Deck und schlitterten glitzernd über die Planken. Die Seeleute schlugen regelmäßig die Eiszapfen von Masten und Segeln, die sich durch das Zusammenspiel von Sonne und Kälte immer wieder aufs Neue bildeten. Außerdem klopften sie das rußige Pulver aus, das sich beim letzten Ascheregen in den Segeln gefangen hatte.

Tjulf lauschte der Mannschaft, die sich über die leichte und schnelle Fahrt unterhielt. Die Leute wussten, dass die Passagiere den Platz unterhalb der Segel scheuten, und fühlten sich sicher. Aber Tjulf besaß feine Ohren, und um über dem Knarren der Masten und den splitternden Eiszähnen Gehör zu finden, sprachen die Matrosen lauter als sonst.

»Hab noch nie so viele Gischtböcke wie auf dieser Reise gesehen.«

»Kein Wunder, mit dem Magus an Bord«, sagte eine meckernde Stimme.

»Da ist doch glatt...«, stießeine der Frauen alarmiert hervor. Tjulf schaute unwillkürlich hoch.

»Verzieh dich!«, schimpfte Temmla.

Tjulf beobachtete, wie ein winziges Wesen einen Eiszapfen herabrutschte, um mit frostigem Knistern über das Meer Richtung des Eisbergs zu verschwinden, der etwa eine Viertelmeile weiter sein türkisblaues Antlitz der Sonne entgegenhob.

»Eisbolde. Das hat uns gerade noch gefehlt«, meckerte der Seemann.

»Wundert mich nicht, dass hier so viel los ist. In diesem dampfenden Badebottich sieht man ohnehin mehr Schaumschläger und Dampflichter als sonst wo.«

»Vergiss nicht die Qualmquassler«, ergänzte Temmla. »Ich hasse die Biester. Sind unheimlich. Zum Glück bin ich aber vor ihnen gefeit.« Die Matrosin legte die Hand über ihren Busen, wo unter dem Mantel ein Amulett zu hängen schien.

»Mistbiester. Die werden alle vom Zaubern angelockt, hab ich gehört. Und es heißt, wenn so ein Magier seinen zwölf mal zwölften Zauber ausspricht, kommen all diese Geisterlinge, um ihn in die Niederhöllen zu zerren.«

»So ein Geschwätz! Die gute Fahrt ist kein Zufall, und das gefällt mir. Da ist doch dieser Magus noch für etwas anderes gut, als seine feine Kleidung auszuführen.«

Verstohlen schaute sich Tjulf um, ob der Magier vielleicht ebenfalls zuhörte. Estikan verbrachte einen Großteil seiner Zeit hinter dem Stellschirm, mit dem er sich einen Bereich der Kajüte abgetrennt hatte.

Nur gelegentlich stolzierte er an Bord und führte Wetterbeobachtungen durch. Und beinahe schien es Tjulf, als könne man mit bloßem Auge verfolgen, wie unter den gemurmelten Worten des Zauberers die Eisberge weiter auseinanderdriften und eine beständige Brise die Segel füllte, obwohl der eisige Atem Firuns ihnen entgegenwehte.

Wenn die ruhige Fahrt derFirunswoge