DSA 40: Der Geisterwolf - Linda Budinger - E-Book

DSA 40: Der Geisterwolf E-Book

Linda Budinger

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Beschreibung

Die Suche nach ihrem verschollenen Stamm führt die angehende Schamanin Starna und den jungen Krieger Yassi aus Gareth ins wilde Land der Orks. Bei der Begegnung mit dem uralten Schamanen Steinauge stellt sich heraus, daß Yassis Leben mit einem übermächtigen Fluch belegt ist. Wird es den Gefährten gelingen, den schrecklichen Schatten abzuschütteln - und werden die Wolfsgeister der Nivesen Starna bei der Rettung ihres Volkes helfen?

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Biografie

Linda Budinger(geb. 1968) schreibt seit mehr als 20 Jahren, angeregt durch Märchen, Mythen und Legenden aus aller Welt. Schon früh lernte sie das Rollenspiel kennen und lieben. Nach dem Abitur studierte sie einige Semester Ur- und Frühgeschichte, Völkerkunde und Germanistik. Inzwischen ist sie als freie Phantastik-Autorin und Übersetzerin für verschiedene Verlage (u.a. Heyne, Bastei Lübbe. Blitz und Bastei) tätig.

Der Geisterwolf, die Geschichte von Starnas großer Reise, ist ihr erster Roman in der DSA-Reihe. Mehr dazu unter www.budinger.name

Titel

Linda Budinger

Der Geisterwolf

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses Spiele

Aventurien-Karte: Ralph HlawatschE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright © 1999, 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE,MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 3-453-14948-3 E-Book-ISBN 978-3-86889-872-9

Prolog

Der einzige Laut im nächtlichen Wald weit nördlich der Salamandersteine war das stete Fallen von Regentropfen.

Yassi rutschte unbehaglich auf dem borkigen Ast herum, den er zu seinem Sitzplatz erkoren und mit der Satteldecke gepolstert hatte. Diese Unterlage war immer noch besser, als direkt auf dem nassen Boden zu hocken. Schwierig genug war es gewesen, trockenes Feuerholz zu finden, damit er und seine beiden Gefährten eine warme Mahlzeit bereiten konnten.

Der junge Mann griff neben sich und warf einen feuchten Zweig in die Lohe. Das Feuer knisterte und qualmte zuerst, doch dann griffen die Flammenzungen auf den harzigen Fichtenast über. Der Brand schlug kurz empor und warf einen hellen Schein auf die Gesichter der drei Gestalten. Als hätte Yassis Schwester seinen prüfenden Blick bemerkt, blickte sie zu ihm auf und beugte sich näher zu Licht und Wärme. Schattenhaft zeichneten sich die Umrisse ihres Gesichtes ab, die kurzen Haare formten die klare Linie ihres Hinterkopfes.

»Langsam frage ich mich, ob wir nicht doch besser noch eine Weile gewartet hätten. Der Regen steht mir bis zum Hals.« Johel stieß einen langen Ast tiefer in die Glut.

Ihr Bruder mußte unwillkürlich grinsen. »Du meinst, du hättest lieber zu Hause gewartet, an langweiligen Gesellschaften teilgenommen ...« – Yassi bot ihr mit gezierter Geste Brot aus seinem Reiseproviant an, während die flackernden Flammen allmählich erstarben – »... mit uninteressanten, aber heiratsfähigen jungen Stutzern belanglos geplaudert? Wir waren uns doch einig, als wir Gareth verlassen haben!«

»Wenigstens war es bei diesen Festlichkeiten behaglicher als hier im Wald. Aber du hast recht, weder zu Krämern noch zu Höflingen sind wir geschaffen, so sehr unsere Eltern das auch wünschten.«

Für kurze Zeit war eine ausgelassene, spöttische Stimmung aufgekommen, doch das Gespräch stimmte Yassi wieder nachdenklicher. »Ich glaube, unsere Eltern haben einfach mehr an Enkel und die Familie gedacht als an sich oder uns – vielleicht ist es so, wenn man älter wird und Verantwortung hat. Sie haben auf uns geachtet, weil sie Angst um die Familienehre hatten, und sie waren um standesgemäße Eheschließungen bemüht, damit die Familie fortbesteht.«

›Dann hätte ich gern den Klatsch nach unserer Abreise gehört‹, hatte Johel sagen wollen, aber bei den Worten ihres Bruders wandelte sich auch ihre Stimmung. Sie fröstelte, und unwillkürlich wanderte ihr Blick vom Feuer fort, hinauf zu den hohen Fichtenstämmen, die am Rande der Lichtung mit dem Dunkel der Nacht verschmolzen. Sie beschloß, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. »Doch wenn ich die Feiern mit dem Wald hier vergleiche – dort gab es zwar langweilige Leute, aber zumindest waren sie gesprächiger als die Bäume. Und wenn dieser Regen noch lange andauert, wachsen mir irgendwann Schwimmhäute.« Sie blickte auf ihre Finger und drehte die Hand, als fürchte sie, dort schon dünne Häutchen zu entdecken.

Skon, der Barde, hatte sich bisher ungewöhnlich schweigsam verhalten, wie immer, wenn er über einem neuen Lied brütete. Bei Johels Worten aber grinste er breit: »Eure Klage über die schlechte Unterhaltung in diesem Lager trifft mich natürlich, schöne Dame. Ich kann Euch jedoch versichern, daß Euch in Gareth kaum etwas Besseres erwartet hätte. Zwar müßt Ihr auf die süße Stimme meines Instrumentes verzichten, denn Tara ist ein sehr wasserscheues Mädchen, aber ich hoffe, mein bescheidener Gesang wird Euch genügen.« Er strich liebevoll über die auf seinem Knie ruhende, gut eingewickelte Laute, die er sorgsam vor jedem Wassertropfen schützte, der die Verleimung des Holzkorpus oder die Saitenspannung gefährden mochte.

Während Johel und Yassi ihre Aufmerksamkeit dem Barden zuwandten, klopfte dieser einen einfachen Rhythmus auf dem Bauch des Instrumentes. Trotz der dicken Verpackung erklang ein dumpfer Laut. Dazu sang Skon in klarem Bariton einige Spottverse auf die aussichtsreichsten Ehekandidaten der Geschwister. Zuerst neigte er das Haupt zu Yassi, einer Bewunderin von ihm galt sein erster Streich:

»Isla ist kein schönes Kind

sie hat Zähne wie ein Rind

darum hält sie meist den Mund

blickt ergeben wie ein Hund.«

Anschließend drehte er sich zu der Kriegerin um und goß seinen Spott über einen der Jünglinge aus, die in letzter Zeit um Johels Hand angehalten hatten:

»Yorn, das weiß man ohne Fragen

hat daheim nicht viel zu sagen

ist er auswärts – ohne Spaß –

spricht er ohne Unterlaß.«

Dann war wieder Yassi an der Reihe, und so ging es abwechselnd hin und her:

»Fräulein Kartera ist von Welt

will einen Titel und auch Geld

doch ein Wunsch steht hintenan:

sie sucht leider keinen Mann

Junker Gernot weiß genau

er braucht dringend eine Frau

ändert Haar- und Barttracht auch

kämpft nun tapfer mit dem Bauch

Halima ist verführerisch

doch nur eines wünscht sie sich:

sucht nach einem Ehemann

der ihr den Spiegel halten kann

Temon ist ein Muttersohn

meine Warnung ohne Hohn

will ich dir nun singen:

seine Frau muß für ihn springen.«

Johel und Yassi kamen aus dem Lachen nicht heraus. Woher hatte er nur die Kenntnisse über ihre Bekannten in Gareth? Aber Skon war ein aufmerksamer Zuhörer, und die beiden hatten während der Reise schon häufiger von ihrer Heimat geredet.

Eine ganze Weile verging, und als sie wieder ruhiger wurden, waren die dünnen Äste schon verglommen, mehr graue Asche als helle Glut fand sich in der Feuerstelle. Die Reihe war an Johel, neues Feuerholz zu suchen; um dem auszuweichen, legte sie sich lieber schlafen. Auch Yassi steckte der heutige Ritt in den Knochen, doch wollte er noch einmal nach den Pferden sehen, die ein Stück entfernt auf einer Lichtung standen.

Mit dem Tag war auch der Regen gegangen, und Yassi spürte nur die Tropfen, die er im Vorbeigehen von federnden Ästen wischte. Das unregelmäßige Rieseln klang nun aus dem Inneren des Waldes, wo das Wasser erst allmählich zwischen Nadeln und über verflochtene Zweige den Weg zum Boden fand. Zur Lichtung hin wurde die Nacht stiller. Ein würziger Duft nach Fichtennadeln mischte sich mit der aufsteigenden Feuchtigkeit, und über dem Boden schwebte eine dünne Nebelschicht.

Die Pferde ließen müde die Köpfe hängen. Yassi strich Nachtmahr über das nasse Fell. Er hatte den Rappen zu seinem letzten Geburtstag geschenkt bekommen, und das Tier war sein ganzer Stolz. Schließlich besaß nicht jeder ein Pferd, das für den Kampf ausgebildet war.

Als ein wenig Wind aufkam, fröstelte der junge Adlige in seinen klammen Kleidern. Flüsternd neigten die Baumwipfel sich unter dem Luftstrom und schwangen bebend zurück. Am Himmel zogen unruhig die Wolken, es schien, als fräßen sie von der hellen Scheibe des Madamals. So hatte der Mond in Gareth, wo die Familie Asmagyl ihr Stadthaus besaß, nie ausgesehen. Und überhaupt: Yassi bereute die Reise nicht. Wie sonst sollte ein junger Mann wirkliche Erfahrungen sammeln? Dem höfischen Leben hatte er noch nie viel abgewinnen können.

Wie es ihrem Stand entsprach, waren er und seine Schwester von erfahrenen Lehrmeistern in die edle Kunst des Schwertkampfes eingeführt worden, mit großem Interesse hatten sie so manchen Kniff erlernt. Die Eltern hatten das nach den Erfahrungen der Orkkriege befürwortet, Johels Wunsch, eine Kriegerakademie zu besuchen, aber abgelehnt. Die jungen Leute sollten sich zu verteidigen wissen, aber sie im Krieg zu verlieren, hätte den Eltern das Herz gebrochen! Deshalb hatten sie die Geschwister auch auf ein sicheres Landgut geschickt, als die Heere der Orks vor einigen Praiosläufen Gareth bedrohten.

Zu Beginn ihrer Abenteuerreise hatten die Geschwister einen kleinen Überfall regelrecht herbeigesehnt. Einige Orks oder eine Räuberbande! Das wäre etwas anderes, als sich mit den Meistern oder mit gleichaltrigen Stutzern zu schlagen. Deshalb hatten sie zunächst den Weg nach Nordwesten eingeschlagen – zu den unruhigen Landen um den Finsterkamm. Hier würden sie gewiß auf Schwarzpelze stoßen.

Zu einem Zusammentreffen mit den gefürchteten Orks war es dann doch nicht gekommen, statt dessen waren sie in der Nähe von Greifenfurt Skon begegnet und hatten sich ihm angeschlossen. Der Barde mit der spitzen Zunge und dem schnellen Florett bezeichnete sich selber als Zugvogel, dem nie der Gesang ausging. Tatsächlich gab es kaum ein Ereignis, auf das Skon nicht einige treffende Verse zu schmieden wußte.

Als Yassi zum Lagerplatz in der geschützten Senke zurückkehrte, waren seine Schwester und Skon bereits eingeschlafen. Yassi schüttelte sich die Wassertropfen vom schweren Umhang und tat es ihnen gleich.

Ein Laut riß Yassi aus dem Schlaf, und während er noch schwerfällig versuchte, seine steifen Gliedmaßen zu strecken, erkannte er das Schnauben der Pferde. Er zögerte nicht länger, sondern stand hastig auf und lief auf die Lichtung zu. Bis der junge Adlige durch das Unterholz trat, hatte die Unruhe noch zugenommen.

Nervös tänzelten die Tiere auf der Stelle, und Yassi sah deutlich ihre aufgerissenen Augen. Sachte sprach er auf sie ein, aber seine beruhigenden Worte gingen im angstvollen Schnauben unter. Die Pferde gebärdeten sich wie wahnsinnig. Sie zerrten an ihren Halftern und drohten sich zu verletzen. Ohne nachzudenken zog Yassi seinen Dolch und durchtrennte die Stricke der Pferde – erkannte aber im selben Augenblick, daß er die Tiere nicht allein halten und beruhigen konnte.

Gerade wollte er seine Gefährten zur Unterstützung rufen, da hörte er vom Lager einen Aufschrei.

Die Pferde keilten aus und rissen sich endgültig los, aber Yassi achtete nicht mehr darauf. Er vernahm Knurren, Heulen und stürmte in großen Sprüngen dem Kampfeslärm entgegen, konnte im dichten Wald aber nur Schemen erkennen.

Johel schreckte hoch. Ein undeutlicher Laut war in ihre Träume eingedrungen, und ihr Gefahrensinn schlug wie eine Alarmglocke. Sie ahnte eine Bedrohung. Die junge Frau warf die Decke von sich und zog das Schwert. Geschmeidig rollte sie sich zur Seite und stand in einer fließenden Bewegung auf. Sie trug zur Nacht nur ein weites Hemd und eine wollene Hose, und sie spürte den feuchten Waldboden unter den bloßen Füßen. Es blieb keine Zeit mehr, die Stiefel anzuziehen.

Sie hielt den Atem an und lauschte, doch es war nichts zu hören, kein Angreifer zu sehen! Auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers ruhte die reglose Gestalt des Barden. Skon lag noch in tiefstem Schlummer, Yassi jedoch war verschwunden. Vielleicht hatte er sich eine bessere Kampfposition gesucht, überlegte Johel – aber er hätte sie doch wecken müssen! Ärgerlich rief sie den Namen des Barden, doch schon brach hinter ihr etwas aus dem Wald.

Johel wich aus und fuhr herum, leicht geduckt, alle Muskeln angespannt. Eine massige Gestalt stürzte auf die Kämpferin zu, sprang vor, täuschte an, ohne zu schlagen, und wich ins Dunkel zurück, bevor Johels blanker Stahl treffen konnte. Es war so schnell gegangen, daß die Frau den Gegner in der Finsternis nicht einmal richtig hatte erkennen können, nur schattenhafte Umrisse und das Gebiß eines Raubtieres. Aber welches Raubtier ging auf zwei Beinen?

Der Nachtwind drückte das Leinenhemd an Johels Körper, aber sie fror nicht mehr. Wo blieben der verfluchte Barde und Yassi? Kurz erwog sie, ihren Bruder zu rufen – aber vielleicht schlich er gerade aus einer anderen Richtung an, und sie würde ihn damit den Angreifern verraten. Das wollte sie nicht riskieren. Wach war er jedenfalls, und unmöglich konnte ihm all das entgangen sein.

Die Frau drehte sich immer noch, sicherte nach allen Seiten, doch hoch über dem Boden waren die Zweige der Bäume dicht verwachsen und schlossen das Mondlicht aus. Während Johel versuchte, ihren Atem zu beruhigen, war das Untier schon wieder da, versetzte ihr einen Schlag und zog sich zurück. Diesmal aber war auch ihr ein Treffer gelungen. Sie stieß einen Kampfschrei aus. Was war das für ein Geschöpf, das mit ihr spielte wie die Katze mit der Maus?

Wo der Hieb Johels Seite getroffen hatte, war der dünne Stoff aufgerissen und auch die Haut darunter zerfetzt. Die Verletzung brannte wie Feuer, aber die junge Frau hoffte, daß die Wunde nicht tief ging.

Mit einer geschickten Drehung wich sie dem erneuten Angriff aus, doch diesmal zog sich der Angreifer nicht wie erwartet zurück. Wütend schrie sie auf und versuchte einen rücklaufenden Hieb, als das Wesen hinter sie gelangte und nach ihr griff. Aber die Arme der furchtbaren Kreatur umfingen sie und wirbelten sie herum wie ein Tänzer die Partnerin. Entsetzt blickte die Frau in ein blutverschmiertes Maul voll messerscharfer Zähne.

Mit all ihrer Geschicklichkeit kam sie nicht gegen diese gewaltigen Kräfte an. Begleitet von einem Grollen, bog das Wesen ihren Arm, und das Schwert glitt aus dem kraftlos gewordenen Griff. Dann zog das Geschöpf die Frau näher zu sich heran, in einer tödlichen Umarmung, und als ihr Genick brach, hing sie wie eine Puppe in den Armen der Bestie. Die Fänge, die das Ungeheuer in ihren Hals grub, spürte sie nicht mehr. Lange Klauen drangen durch die weiße Haut ihrer Brust und zogen tiefe Furchen durch Fleisch und Knochen.

Yassi vernahm den Kampfruf seiner Schwester, und der Schrei traf ihn wie ein Schlag. So gellend hatte ihre Stimme noch nie geklungen! Auch er schrie etwas, ohne sich der Worte bewußt zu sein, dann hatte er endlich den Lagerplatz erreicht. Dort sah er zwei ineinander verschlungene Schattengestalten. In der kleineren vermutete er Johel, der Gegner überragte seine Schwester um Haupteslänge. Die wenigen verirrten Strahlen des silbernen Mondlichtes, die ihren Weg hinunter zum Schauplatz des Kampfes fanden, ließen die Klinge von Johels Schwert hell aufblitzen, und Yassi hörte das Mädchen fluchen.

Ohne nachzudenken stürmte er vor, nur mit dem Dolch bewaffnet wollte er sich in den Kampf werfen, stolperte aber im selben Augenblick und ging zu Boden. Sein Gesicht berührte die feuchte Erde, wie er meinte. Aber es war nicht der Waldboden, und die Nässe war kein Wasser. Yassi roch Blut! Erschreckt erkannte er, daß er über Skon gestolpert war und nun der Länge nach auf dem leblosen Körper des Barden lag. Der Zugvogel hatte heute abend sein letztes Lied angestimmt.

Johels Schmerzensschrei gab Yassi die Kraft, sich aufzurappeln, mit leeren Händen, denn die Waffe hatte er beim Sturz verloren. Während er noch kopflos neben seiner eigenen Lagerstatt nach dem Schwert suchte, wurde es totenstill. Der Angreifer war in der Finsternis verschwunden, Johel lag am Boden ausgestreckt!

Der Anblick, der sich dem jungen Mann im schwachen Feuerschein bot, war entsetzlich: Johels Gesicht war verzerrt, aber kaum verletzt. Dafür klafften Wunden in ihrer Brust und am Hals. Ihre Kehle war herausgerissen worden.

Wie nach einem Tritt in den Magen krümmte sich Yassi zusammen. Er übergab sich, aber bald kamen nur noch bittere Gallensäfte aus seinem Mund. Da sprang ihn etwas an und warf ihn um, scharfe Krallen oder Zähne bohrten sich in seine Schulter, dann lösten sie sich wieder, und Yassi ächzte erstickt auf.

Immer noch wurde er von dem Gewicht des Angreifers beinahe erdrückt, und in seiner Furcht konnte er nichts weiter als helle Augen erkennen, die dicht über ihm schwebten. Fauliger Atem schlug ihm ins Gesicht, und verzweifelt bemühte er sich, die Arme unter dem massigen Leib zu befreien. Yassi bekam keine Luft mehr. Schmerzhafte Stiche jagten durch seine Lunge. In seinen Ohren rauschte es, und nur gedämpft drang die wütende Herausforderung eines weiteren Angreifers in sein Bewußtsein.

Plötzlich war seine Brust frei, und gierig sog er die kühle Nachtluft ein. Wie im Traum sah er Nachtmahr mit der Bestie kämpfen – das losgeschnittene Pferd war nicht geflohen, sondern seinem Herrn zum Lagerplatz gefolgt. Die Augen des Rappen rollten im Zorn, und er entblößte das Gebiß. Ein Tritt des eisen-bewehrten Hufes traf die Kreatur am Schädel, und sie wankte zurück.

Diesen Augenblick nutzte Yassi; er stand mit zitternden Beinen auf und griff dem Pferd in die Mähne. Er wußte, daß sie beide nur noch eine Chance hatten: Flucht.

Auch das Schlachtroß schien dies zu ahnen, denn während sich Yassi mit letzter Kraft auf den Rücken des Tieres zog, wandte der Hengst sich von dem Gegner ab.

Etwas benommen starrte das gelbäugige Wesen den Fliehenden nach, verfolgte sie noch ein Stück, ehe es abgeschlagen zurückblieb.

Mit schmerzender Kehle trieb Yassi Nachtmahr zu halsbrecherischem Galopp an. Er vertraute dem Instinkt des Tieres, einen sicheren Weg zwischen den hoch aufragenden Nadelbäumen zu finden. Es blieb dem jungen Krieger auch keine Wahl. Doch nur kurz ging der Ritt über den Waldboden. Wasser peitschte hoch, als die Hufe Schlamm und Kies des seichten Baches aufwirbelten, der das gefährliche Gehölz zu beiden Seiten ein wenig auf Abstand hielt. Kurz verriet der Schritt des Pferdes eine Unsicherheit, ehe die Hufe Halt auf dem rutschigen Untergrund fanden. Dann folgte das große Roß dem schmalen Flußlauf, der sich in sanften Windungen durch den nebelverhangenen Wald schlängelte.

1. Kapitel

In der heraufziehenden Dämmerung leuchteten die weißen Flecke der Birkenrinde hell wie Schnee in einer Vollmondnacht. Der Wald an dieser Stelle zwischen den Flüssen Oblomon und Kvill war licht, ein Vorposten der großen Wälder, der in die baumlose Ebene des nördlichen Aventuriens vorgedrungen war. Auf einer Erhebung hockte an einem Lagerfeuer eine junge Nivesin, deren Lederkleidung mit auffälligen Stickereien verziert war: geometrische Muster und stilisierte Tierfiguren – gehörnte Karene, die von Wölfen gejagt wurden. Neben der Frau lag ein nivesischer Steppenhund ausgestreckt. Er verlor gerade das dicke Winterfell, die dunklen wolligen Flocken stoben bei jeder seiner Bewegungen im Wind. Wenn er sich nicht gerade kratzte, ruhte sein Fang auf den überkreuzten Pfoten.

Starna bereitete sich schon seit Stunden auf die kommende Nacht und das Ritual vor. Abgeschieden von ihrer Sippe, den Iyamit, wollte sie das erste Mal ihre Seele den Himmelswölfen öffnen. Dafür mußte sie zunächst in die Geisterwelt reisen und dort einen Schutzgeist suchen, der sie führte.

Die Schamanin Yuiket, ihre Tante, hatte sie vor vier Jahren zur Nachfolgerin erwählt. Starna hatte während dieser Zeit viel gelernt, über die Legenden und Mythen ihres Volkes und den Gebrauch der Kräuter bei Krankheit und Verwundung. Die verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb von Sippe und Stamm und die befreundeter Gruppen waren ihr inzwischen so vertraut wie der eigene Name.

In das Reinigungsritual, das sie gerade vollzog, war sie schon früh eingeweiht worden. Und seit zwei Jahren übte sie die Tänze und die Gesänge zu Ehren der Wölfe und der Ahnen. Es war wichtig, jeden Geist mit seinem ureigenen Namen zu rufen und einem jedenGabetajbesondere Ehrungen zuteil werden zu lassen. All diese Geistwesen besaßen Bedeutung und wollten geachtet werden.

Die dunkelroten Haare der Frau waren strähnig und feucht, denn Starna hatte ein kurzes Bad im frühlingskalten See genommen. Ihren zitternden Körper hatte sie gleich darauf mit einer Salbe aus magischen Ingredienzen eingerieben. Aufgemalte, verschlungene Zeichen wanden sich schwarz und blutrot um ihre Glieder, zogen sich durch ihr Gesicht. Nach der körperlichen folgte die rituelle Reinigung durch heiligen Rauch. Seit dem Morgen hatte das Feuer gebrannt, und inzwischen stiegen von dem Kohlehaufen würzige Dämpfe empor. Immer wieder streute Starna mit kurzen, genau festgelegten Gesten verschiedene Kräuter auf die Glut und murmelte die ersten Schutzzauber. Leise klapperten dabei ihre Armbänder aus Tierzähnen.

Obgleich die vielfältigen Vorbereitungen sie schon den ganzen Tag in Atem gehalten hatten, wurde sie zunehmend unruhig. Eine Mischung aus Aufregung und Freude erfüllte Starna: Heute würde sie eins mit ihnen werden, vielleicht gar in die weisen, goldenen Wolfsaugen schauen und sicher als neue Schamanin mit Gorfangs Segen zurückkehren. Diese Weihe war das Ende ihrer Zeit als Schülerin. Als Jungschamanin durfte sie zusammen mit ihrer Lehrerin Yuiket vor dem versammelten Stamm die heiligen Figuren tanzen.

Schattenfänger spürte ihre Aufregung und winselte leise. Einige Male erhob er sich, trottete heran und schob seinen Kopf auf ihr Knie, störte ihre Konzentration. Starna mußte den Hund scharf zurechtweisen, bis er wie gewünscht am Rande des kleinen Feuerplatzes liegen blieb. Aber immer noch hob er aufmerksam den Kopf, beobachtete sie aus schmalen Augen und spitzte die Ohren. Seit zwei Jahren war er Starnas treuer Begleiter. Sie hatte ihn bewußt aus dem übrigen Wurf herausgesucht, denn er schielte ein wenig. Der Überlieferung nach konnten mit einem Silberblick gezeichnete Hunde in die Geisterwelt sehen; er wäre also der ideale Gefährte für eine Geisterruferin, hatte Starna damals gedacht. Seinen Namen trug er, weil er als Welpe immer nach dem Schatten einer flatternden Zeltplane geschnappt hatte.

Tief inhalierte Starna den heiligen Rauch, der in Spiralen zum Himmel schwebte. Sie schwenkte die Arme über dem Feuer und bog den Körper ein Stück in die Rauchschwaden. Dann vollführte sie die ersten Schritte, zunächst behutsam, wie der Wolf, der sich an Beute heranschleicht. Sie verharrte still, hob die Nase in die Luft, als wittere sie Karene. Und wirklich: keine Falte ihres Gewandes regte sich, und nur der Wind blies ihre Haare nach hinten wie den Pelz eines buschigen Wolfsschweifes.

Mit einemmal zuckten ihre Finger. Die Bewegung setzte sich den Arm hinauf fort, ergriff den Kopf und lief den Leib hinab bis zu den Beinen. Die Knie bebten. Sie schüttelte sich wie ein Wolf, der Wasser aus seinem Fell schleudert, und dehnte dann die Glieder. Nun begann der Tanz. Mit schwingenden Armen trottete sie um das Feuer, wurde immer schneller und schneller, wie der Wolf auf Jagd.

Schattenfänger verfolgte Starnas Tanz zunächst unbeteiligt, als sie dann aber den Kopf in den Nacken warf, die Lippen spitzte und ein Heulen aus ihrer Kehle entließ, stimmte er mit ein. Zusammen sangen sie das alte Lied der Wölfe.

Starna kam wieder etwas zur Ruhe. Ihr Atem ging schwer, Schweiß vermischte sich mit der Kräutersalbe auf ihrem Leib, deren Duft intensiver wurde. Die erhitzte Haut war bereit, und so drang die heilige Salbe schnell in Starnas Blut. Die Kräutergeister sollten ihre Vorstellung anregen und dem Geist einen Weg in die Trance bereiten. Auf Starnas Stirn erschienen kleine Schweißperlen und verwischten die Farbe, mit denen die geometrischen Tätowierungen nachgezogen waren.

Zum Schluß ließ Starna sich zu Boden gleiten, auf allen vieren kauerte sie schließlich flach auf der Erde, wie der Wolf, der sich in eine Grasmulde drückt. Der Tanz war vorbei. Sie erhob sich und warf abermals getrocknete Kräuter in die Flammen. Ein wenig schwindlig war ihr jetzt, und ihr Atem ging tief und schnell. Aus einem bestickten Beutel, der von Schattenfänger bewacht in einer Astgabel gelegen hatte, zog sie eine Deckelschale, eine Lederflasche und eine Trommel hervor. Das Instrument bestand aus Holz und war mit feingegerbtem bemaltem Leder bespannt: Rote und schwarze Linien bildeten darauf eine Spirale. Starna setzte sich einige Schritte hinter dem Feuer an einen Birkenstamm und breitete die geöffnete Schale und die Flasche vor sich aus. Danach nahm sie das Instrument zwischen die Knie und schloß die Augen.

Während das Blut in ihrem Kopf pochte, dachte sie an den Tanz zurück. Ihre Finger strichen dabei zärtlich über die Trommel, berührten die Haut, glitten am Rand entlang und fühlten dort die Rundungen des Holzes. Es war glatt. Lange hatte Starna es mit Sand bearbeitet, gescheuert und poliert, bis es diese Glätte erreicht hatte.

Sie spürte in die Trommel hinein. Das Instrument war ein lebendes Wesen, eine Wohnung für einen niederen Geist. So besaß es einen eigenen Willen. Etwas kräftiger schlugen Starnas Fingerspitzen nun auf die Bespannung. Ein dumpfer Klang ertönte, aber sie konnte den Ton verändern, je nachdem, wo sie die Trommel berührte und wo sie schlug. Versuchsweise ließ sie die Hände eine Weile über die gespannte Haut wandern, bis sie den Rhythmus fand, den die Trommel wünschte.

Diese Trommel war ein Rufer und sollte Starna helfen, einen Schutzgeist zu finden, der sie zu den Himmelswölfen führte. Sanft klopften ihre Hände auf die Trommel. Jeder zehnte Schlag wurde durch den Einsatz der Fingerknöchel verstärkt. Immer schneller wurde der Rhythmus, und immer weiter wanderten ihre Hände vom Rand in die Mitte der Trommel, wo die Farbe durch häufiges Berühren blasser geworden war. Die Trommel lebte und sang ein Lied. Und Starna schlug dazu den Takt, bis auch sie die Stimme erhob.

»Höre mein Lied, o Geist! Höre den Ruf meiner Trommel. Ich werde dir Nahrung geben und dir ein Lied singen. Fliege herbei, du Geist!«

Bei diesen Worten löste sie kurz die Rechte von der Trommel und wies auf die bemalte Holzschale mit ausgelassenem, erstarrtem Karenfett und die lederne Flasche mit frischer Milch. Starnas heller Gesang beschwor die wandernden Geistwesen. Wieder hatte sich ihr Körper stark erhitzt. Ihr Herzschlag ging so schnell, wie sie die Trommel schlug. Immer weiter. Ihre Hände waren kaum noch Teil ihres Körpers, sie gehörten zur Trommel.

Leise summte Starna eine neue Melodie. Sie spielte mit den Tönen, trällerte manchmal wie ein Vogel oder schrie spitz wie ein Steppenhase. Helle Flecke tanzten vor Starnas Augen, schoben sich langsam ineinander und bildeten schließlich eine helle Sonne, deren Strahlen das Bewußtsein der jungen Frau vollkommen ausfüllten. Beinahe schmerzte das grelle Licht, aber dann, als hätte sie ein Tor durchschritten, fand sie sich in einer gänzlich fremden Landschaft wieder.

Es gab keinen Himmel und keine Bäume, keine Berge, da war nur der Nebel, der über dem Boden wogte und an einigen Stellen in Strudeln wirbelte. Sie marschierte los und bemerkte erst jetzt, daß ihr Körper plötzlich groß wie ein Baum war. Ihr Kopf hing in den Wolken. Sie blickte auf ihre Hände, die so weit entfernt waren, daß Starna im milchigen Nebel kaum die Finger erkannte. Immer noch dröhnte die Trommel, ein Herzschlag, der sie begleitete. So ging sie vorwärts, während sie leise die Ahnen um Unterstützung bat.

Seltsame Wesen lebten hier in den Ebenen der Geister. Vor ihr waren Steine, die mit Federn bedeckt waren und wie kauernde Vögel wirkten.

»Sagt mir, wo finde ich die Geister? Könnt ihr mir helfen? Seid ihr vielleicht die Geister?« fragte sie die Gestalten. Aber sie bekam keine Antwort. Träge wie vollgefressene Raben hockten die Vogelsteine dort und schwiegen.

Schwindel erfaßte Starna, sie schrumpfte wieder zusammen, und wohin sie sich auch drehte, in jeder Richtung zugleich war der Boden. Langsam beruhigte sich die schwankende Erde jedoch wieder, und so konnte das Mädchen seine Suche fortsetzen. Endlich, nach langer Zeit der Wanderung, kam es an ein Zeichen und stieß einen Laut der Freude aus. Im Nebel vor sich sah Starna deutlich den Fußabdruck eines Wolfes. Sie folgte dem Zeichen, immer wieder rief sie dabei die Namen der Himmelswölfe, doch es kam keine Antwort.

»Liska, wo bist du?«

»Ihr Wölfe der Nacht: O großer Gorfang, Rotschweif und Reißgram – sagt, wo kann ich euch finden?«

Sie bat ihre Eltern um Hilfe, rief ihre Ahnen herbei, doch kein Geist zeigte sich ihr.

Auf einmal wurde ihr klar, daß sie im Kreis gegangen war. Ohne erklären zu können, wie es geschah, stieg sie hoch hinauf und erblickte unter den aufgerissenen Wolken eine kreisrunde Wolfsfährte, eingedrückt in den Nebel.

»Ich bin Starna, Yuikets Schülerin. Ich werde viele Stunden für dich tanzen. Bitte, komm, o Geist! Komm herbei und hilf mir bei meiner Suche.« Der Wind zerrte die Worte von ihren Lippen. Plötzlich, als wäre dies eine Antwort, stürzte Starna von ihrer hohen Warte aus hinab. Sie breitete als erstes die Arme aus, um wie ein Vogel zu segeln, sah die Spur immer näher herankommen und riß dann die Rechte schützend vors Gesicht. Aber sie zerschellte nicht wie befürchtet am Boden, sondern sackte durch die weiße Nebelschicht. Oder war es Rauch? Sie roch Rauch. Ganz sicher!

Mit einemmal öffnete sie die Augen und saß wieder an ihrem alten Platz auf dem kleinen Hügel unter der Birke. Es – aber das konnte nicht sein! – es dämmerte. Der Morgen graute heran, und ihr Feuer war niedergebrannt und kalt. Starna fröstelte in der klaren Morgenluft und streckte die steifen Gliedmaßen. Sie war zurück, und sie hatte keinen Helfer gefunden.

Der Schmerz darüber biß in ihrem Innern, und ein tiefes Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Starnas Hände griffen in die erkaltete Asche. Sie schleuderte sie wütend hoch, und der graue Staub senkte sich auf Haar und Schultern. Tränen der Enttäuschung wuschen kleine Rinnen aus der Maske ineinanderlaufender Farben und Asche, die ihr Gesicht bedeckte. Sie verstand nicht, warum sie so versagt hatte. Yuiket hatte ihr doch versichert, daß sie bereit war.

Als sie dort saß, das Gesicht in der Armbeuge vergraben, berührte eine feuchte Nase ihren Ellbogen: Schattenfänger war herbeigekommen und wollte sie trösten. Schluchzend vergrub Starna die Hände in seinem weichen Fell und drückte den warmen Körper an sich. ›Sollten die letzten vier Jahre umsonst gewesen sein?‹ fragte sie sich im stillen bitter.

Da ihre Eltern früh verstorben waren, hatte sich ihr Leben immer von dem der anderen unterschieden: Abwechselnd hatte sie bei ihren älteren, schon verheirateten Geschwistern gewohnt, aber dort nie ein richtiges Heim gefunden. Seit sie bei ihrer Tante leben durfte, hatte Starna nur ein Ziel gekannt: Sie wollte Schamanin werden!

Jetzt war dieses Ziel weiter als je zuvor in die Ferne gerückt.

Das Gebiet um den Oblomon war die Nahtstelle zwischen den waldreichen Gebieten im Südosten und der endlosen, kahlen Steppe im Nordwesten. Bäume und Tundra wechselten sich unregelmäßig ab. So ließ Starna das Waldstück bald hinter sich, als sie mit hängenden Schultern nach ihrem Mißerfolg dem Lager ihrer Sippe zuschritt.

Der Wind blies kühl, aber die Sonne hatte bereits einige Blumen aus dem Erdboden gelockt. Doch Star-na hatte heute keinen Sinn für die ersten Boten des Sommers. Ohne Eile schritt sie über das hügelige Grasland und durchquerte einen weiteren kleinen Waldflecken, ehe sie erneut in offenes Gelände gelangte. In dieser Weise setzte die junge Frau ihren Weg fort, ohne einen Blick für den Wechsel von Licht und Schatten.

Hinter der Erhebung dort hinten lagerte ihre Sippe. Jeder würde wissen wollen, was sie bei den Himmelswölfen gesehen hatte, aber statt dessen würde Starna ihre Enttäuschung mit ihnen teilen müssen. Am härtesten würde es wohl Yuiket treffen: Das Versagen ihrer Schülerin fiel auch auf die alte Schamanin zurück. Starna seufzte und rückte ihren geschulterten Ledersack zurecht.

Ungläubig starrte Starna auf das Bild der Verwüstung. In einem lieblichen Talkessel nahe dem Fluß Nuran Trasic hatte sie ihre Sippe zurückgelassen. Die zehn Jurten der Iyamit standen im Kreis, am Rande floß ein Bach vorbei. Zwischen den runden Behausungen aus Holzstangen und Leder hatten Kinder gespielt, waren Männer und Frauen ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgegangen.

Nun sah das Lager aus, als wäre eine wütende Herde wilder Karene hindurchgejagt. Schlimmer noch: Zwischen den niedergerissenen Zelten lagen reglose Körper, Rauchfäden stiegen von den ausgebrannten Feuern empor. Starna lief den Hang hinunter, so rasch es ging, aber ihre Knie wurden weich, ihre Schritt unsicher und kraftlos, während ihr das Ausmaß der Verwüstung bewußt wurde. Etwas Schreckliches war geschehen. Eine eisige Faust bohrte sich in Starnas Bauch.

Fänger war weit vorausgeeilt und rannte ebenso hilflos wie seine Herrin von einem Toten zum anderen, schnüffelte, kläffte. Endlich scheuchte er eine große Krähe auf, die mit mißmutigem Krächzen ruckartig den Kopf wandte. Ihre kalten, runden Augen fixierten den Hund, ehe sie die Schwingen entfaltete. Sie nahm nur langsam Höhe auf, und so konnte Schattenfänger ihr ein Stück weit folgen, hochspringen und nach den Schwungfedern schnappen. Mit wütendem Kreischen stieg der große Vogel empor und ließ seinen Verfolger zurück.

Betäubt irrte Starna inzwischen über das Leichenfeld, stieg über zerfetzte Körper, trat auf Waffen. Nur kurz blickte sie auf, als der Steppenhund die Krähe vertrieb – es war das einzige Leben gewesen, das sie im Lager vorgefunden hatten. Jemand war nachts über die Sippe hergefallen und hatte alle niedergemetzelt. Nein, nicht alle – anfangs war Starna fast ohne Besinnung zwischen den Toten umhergegangen, hatte die bekannten, jetzt leblosen Gesichter gesehen und war ständig von neuem Schmerz und Unglauben erschüttert worden. Aber viele ihrer Stammesgenossen fanden sich nicht unter den Toten, wie Starna erst allmählich bewußt wurde.

Sie ließ den tränenblinden Blick über das Lager wandern. Es befanden sich weit weniger Tote hier, als die Sippe an Köpfen zählte. Tatsächlich lagen fast nur Alte oder Kranke zwischen den Zelten, dazwischen waren wenige der jungen und kräftigen Jäger mit der Waffe in der Hand gefallen. Die geschundenen Leiber zeugten von einem gnadenlosen Kampf. Die meisten der Iyamit waren verschwunden, und es fanden sich keine Kinder unter den Toten.

Starna bemerkte all das, doch die Erkenntnis fügte sich nicht zu einem Bild. Statt dessen erkannte sie ein Rundzelt vor sich: Ehemals war es prächtig mit Jagdszenen bemalt gewesen, jetzt war es ein formloser Haufen aus geknickten Stangen und zerrissenen Planen. Mehr als das übrige Lager war dieser Ort ihre Heimat.

In der Nähe des Schamanenzeltes lag Yuiket am Boden, eine Waffe hatte ihren rechten Arm fast abgetrennt. Durch die blutdurchtränkte Kleidung konnte Starna das Weiß des Knochens erkennen. Aber auch Brust und Rücken waren durchbohrt. Starna brauchte nicht erst Yuikets Puls zu fühlen: Die Schamanin war mit Sicherheit tot, wie die anderen.

Der Hieb, der den Arm getroffen hatte, hatte auch ihre Waffe zerschmettert. Yuikets Streitkolben, hergestellt aus dem Schenkelknochen des großen Bären, lag zerborsten neben ihrer Hand. Innerlich taub vor Schmerz, kniete Starna nieder, um die Bruchstücke der Knochenkeule wieder zusammenzufügen. Beinahe tröstlich erschien ihr der Gedanke, daß ihre Tante die Zerstörung des kunstvoll geschnitzten Kolbens nicht mehr erlebt hatte. Die Knochenkeule war das Zentrum der Schamanenmacht, das Symbol des Wolfssprechers. Der Tod mußte schnell wie mit Flügeln über das Lager gekommen sein. Anderenfalls hätte Yuiket ihre tierischen Brüder, die Wölfe, mit einem machtvollen Ritual zur Hilfe gerufen.

Eine ganze Weile kauerte Starna neben dem Leichnam ihrer Lehrmeisterin. Sie brauchte Zeit, um neue Kraft zu schöpfen. Als sie sich wieder erhob, hatte sie den Schrecken in sich aufgenommen und spürte nur noch eine dumpfe, schmerzhafte Traurigkeit. Sie fühlte sich allein, obwohl Schattenfänger inzwischen seine Jagd beendet hatte und an ihre Seite zurückgekehrt war. Auch der Hund war still geworden und winselte bedrückt.

Gesenkten Hauptes schritt Starna durch das tote Lager. Tatsächlich hatten die Fremden fast sämtliche Iyamit jenseits des vierzigsten Lebensjahres erschlagen, allerdings kaum einen jüngeren. Ihre Familie und viele ihrer Freunde lebten vielleicht noch! Starna mußte Gewißheit haben. Sie trat zu jedem Toten, schaute auch unter die niedergerissenen Zelte. Schmerzerfüllt wich sie den starren Blicken aus.

So sorgfältig sie auch suchte, mit ihrem Familienzeichen bestickte Gewänder konnte sie nirgendwo entdecken. Ihr Bruder, die zwei Schwestern und deren Familien waren verschwunden, vielleicht war ihnen ja die Flucht geglückt!

Schattenfänger knurrte vernehmlich, bellte und riß Starna schließlich aus ihren Gedanken. Als das Mädchen näher trat, sah es zwischen den rauchenden Überresten den Grund für Schattenfängers Aufregung. Ein lebloser Körper lag dort, und aus den Geschichten der Iyamit erkannte sie in der Gestalt einen Ork, obwohl sie nie zuvor ein solches Wesen mit eigenen Augen gesehen hatte. Neben ihm lag die Leiche des Lahti, des Häuptlings, aus dessen Brust die abgebrochene Säbelklinge des Schwarzpelzes ragte. Irgend jemand hatte den Tod des Sippenführers gerächt und den Mörder hinterrücks erschlagen, wie eine klaffende Wunde am Hinterkopf der Kreatur verriet.

Starna wußte nur wenig über Orks, denn die Iyamit waren in den letzten Jahren nicht mit Angehörigen dieses barbarischen Volkes zusammengetroffen. Doch die uralten Legenden berichteten von einer erbitterten Feindschaft zwischen Orks und Nivesen, deren Völker bisweilen auf ihren ruhelosen Wanderungen durch die Steppenlande aneinandergerieten. Die Nivesen bezeichneten die Schwarzpelze auch als Wolfsschlächter, denn die Orks machten Jagd auf Wölfe und töteten sie auf grausame Weise. Starna wunderte sich nicht, daß ein solches Volk auch die eigenen Toten achtlos zwischen den gefallenen Feinden liegenließ.

Im Winterlager der Iyamit, weit im Süden, war die Gegenwart der Orks spürbar. Wie es hieß, bereicherten die Orks sich gerne an Karenherden der Nivesen und verschonten auch unaufmerksame Hirten nicht. Zwar waren es häufiger die Goblins, die in den Winterlagern einzelne Karene unverfroren aus den Herden des Stammes erjagten, doch ihre größere Brutalität machte die Orks zu verhaßteren Gegnern. Zumeist aber waren diese Mordgesellen auf der Suche nach lohnenderer Beute, und so weit in den Norden folgten sie den Wanderungen der Nivesen nicht.

In den letzten Jahren jedoch hatten fahrende Händler Beunruhigendes über die Orks berichtet: Nicht nur vereinzelte Plünderer, sondern ganze Orkstämme hatten ihr Heimatland verlassen und sich am Fluß Svellt ausgebreitet. Diese neue Heimat der Orks war weit von den Wegen der Iyamit entfernt, gewiß, doch der harte Winter hatte das Wild dezimiert. Die Schwarzpelze litten Hunger, wurde berichtet, und drangen deshalb vielleicht weiter in das Land der Nivesen vor.

Im letzten Herbst hatten die Iyamit mit Hillahs Norbardensippe Felle getauscht und dabei am Lagerfeuer von den Greueltaten der Schwarzpelze gehört. Starna erinnerte sich verbittert daran. Viele Stämme siedelten zwischen ihnen und dem Land der Orks, und sie hatten sich nicht bedroht gefühlt. Doch diese Ungeheuer hatten den Weg zum Nuran Trasic und in die Zelte der Iyamit gefunden. Bestimmt hatten die Orks ihre Leute verschleppt, um sie in grausamen Ritualen ihrem blutrünstigen Götzen zu opfern oder als Sklaven für sich arbeiten zu lassen. Schlimmstenfalls um mit den Menschenfrauen ihr Vergnügen zu treiben.

Starna ließ sich zu Boden sinken. Das war mehr, als sie verkraften konnte. Schattenfänger riß sie aus ihrer Tatenlosigkeit: Aufgeregt begann der dunkle Hund zu bellen. Ob die Feinde zurückkamen? Sie vernahm Schritte, jemand wühlte in den zerstörten Behausungen und kam dann näher.

Hastig griff das Mädchen nach einer Waffe. Besser kämpfend sterben als lebendig in die Hände der Schwarzpelze fallen! Aber Fänger wedelte heftig mit dem Schwanz und sprang dem Neuankömmling fröhlich kläffend entgegen.

»Still!« hörte sie eine bekannte Stimme mit Bestimmtheit fordern. Sie erhob sich, noch mit dem Jagdspeer in der Hand. Dann erkannte auch sie den Nivesen: »Pevyk?« fragte sie zweifelnd.

»Starna, wer war das?« stieß der junge Hirte entsetzt hervor und blieb mit offenem Mund stehen. Starna wies stumm auf den toten Ork. »Die Orks! – Woher kommst du?«

Sie war erleichtert, einen bekannten, lebenden Menschen zu sehen. Zugleich hatte diese Begegnung etwas Unwirkliches, und Starna fühlte sich meilenweit entfernt von dem Geschehen.

Pevyk zögerte, ehe er eine Antwort geben konnte: »Ich war mit den anderen bei der Herde im nächsten Tal. Als heute morgen keiner zur Ablösung kam, haben sie mich losgeschickt, um nachzuschauen. O ihr Wölfe! Yalunka ist tot, und meine Eltern. Sie war doch noch so jung! Was sollen wir nur tun?« Er schlang sich die Arme um den Leib, wie um seine Geliebte.

Er erwartete von ihr eine Antwort. Sicher, der Lahti war erschlagen, und auch die Schamanin war tot. Pevyk war verzweifelt. Er suchte jemanden, der ihm sagte, was zu tun war. Wenn sie es nur selber wüßte!

»Die Toten bestatten«, kam es dumpf von Starna. »Wir werden dazu die Hilfe der anderen brauchen. Hol alle herbei, die entbehrlich sind. Aber laßt die Herde nicht völlig schutzlos zurück. Sie ist das einzige, was wir noch besitzen.«

Seit Anbeginn der Zeiten waren die Nivesen mit den Karenen gezogen. Ihr Fleisch und Fett nährten sie in den eisigen Wintern, ihr Fell bot ihnen Kleidung und Schutz vor den Elementen. Ihr Horn diente als Material für ihre Waffen und Werkzeuge, ihre Sehnen wurden als Bogenbespannung gebraucht. Sogar ihre Knochen wurden genutzt. Die Herde war der ganze Stolz eines jeden Stammes. Der Reichtum des einzelnen war an der Zahl seiner Karene abzulesen. Da auch die weiblichen Tiere ein Gehörn trugen, wurde das Eigentum an den Karenen durch bunte Bänder gekennzeichnet, die man zwischen die Stangen knüpfte oder um die Karenhälse hängte.

Starna gehörten fünf Tiere, das war der übliche Besitz eines unverheirateten Mädchens. Nach ihrer Weihe zur Schamanin hätte man ihr zwei weitere Jungtiere geschenkt. Denn auch wenn jede Familie ihre eigenen Karene besaß, hütete die Sippe alle Tiere gemeinsam in einer großen Herde. Die Tiere hatten ein gutes Stück abseits des Lagers gegrast, so waren sie und ihre Hirten der Vernichtung entgangen.

Während Pevyk die Überlebenden holte, stimmte sich Starna auf das Bestattungsritual ein. Eigentlich bedurfte es dazu einer ausgebildeten Schamanin. Aber auf den Wolfssprecher der Lyrat konnte sie nicht warten. Obwohl sie ungefähr wußte, wo die befreundete Sippe zur Zeit lagerte, mochte es Tage dauern, sie zu finden, und es wäre schlimmer Frevel, die Toten so liegenzulassen, schutzlos Aasfressern und Karenfliegen ausgeliefert.

Schließlich fanden sich die Hirten in der Mitte des Platzes ein. Kyrmon, der Althirte, nickte Starna betroffen zu. Er war ein alter Junggeselle von zurückhaltendem Wesen. Am liebsten wanderte er allein mit den Karenen durch die Einsamkeit. Kyrmon blickte ernst, bewahrte aber von allen am meisten die Fassung.

Terryl, Hablyr und Kovyl, die drei jungen Nivesen, konnten ihre Gefühle weniger im Zaum halten. Beim Anblick der Zerstörung und der Toten wurden sie bleich. Terryl schluchzte los und rannte fort, um ihre Tränen zu verbergen. Sie war gerade erst dreizehn geworden. Bestürzt schauten Hablyr und Kovyl ihr hinterher.

Der Althirte räusperte sich: »Pevyk sagte uns, daß vor allem die jungen Leute verschont wurden.«

»Die Orks haben sie verschleppt, fürchte ich.«

»Pevyk ist bei der Herde geblieben. Er wollte nicht zurückkommen – du weißt schon, wegen Yalunka.«

Starna verstand sehr gut. Als Kind war Yalunka von einem Bären angegriffen worden. Im Bären hausteTaarjuk,ein Geist, und seine Kraft und sein Mut machten ihn zu einem gefährlichen Gegner. Fremde Jäger hatten Yalunka gerettet, jedoch ihr linkes Bein war verkrüppelt und der linke Arm unbrauchbar geblieben. Aber sie hatte die schönste Stimme gehabt, und sie und Pevyk waren kurz davor gewesen, dasHerkjuzu feiern und einen lebenslangen Bund einzugehen. Rücksichtslos hatten die Feinde das Mädchen niedergemacht, vermutlich weil es nicht Schritt halten konnte.

Starna schluckte und unterdrückte einen Fluch. Dann schickte sie die anderen fort, um Holz zu suchen. Kyrmon und den kräftigen Kovyl bat sie, die Toten zusammenzutragen. Sie hatte inzwischen einiges aus der Schamanenhütte geborgen: Starna selber besaß außer ihrer Trommel noch keine zeremonielle Kleidung oder Gegenstände.

Während ein großes Feuer entfacht wurde, stimmte das Mädchen die alten Totengesänge an, monotone Klagelieder, nur unterstützt vom Geräusch der Rassel. Nach und nach wuchs der Scheiterhaufen. Die ersten Toten wurden auf seinen Flammen zu den Himmelswölfen geschickt. Starna hockte daneben und sang vom Feuer und vom Wind, vom Rauch, mit dem die Seelen der Toten gen Himmel stiegen. Die Leiber der Alten, der Eltern und zuletzt die der Jungen wurden langsam von den Feuerzungen verzehrt.

Gewöhnlich streute man eine Mischung aus getrocknetem Harz und Kräutern über die Toten. Doch es waren so viele, daß für jeden nicht mehr als eine Handvoll Totenrauch übrig blieb. Der Gestank von verbranntem Fleisch lastete wie eine Gewitterwolke über dem Lager.

Immer noch warf Starna Totenrauch und sang dazu, schüttelte die Rassel, wiegte den Körper im Rhythmus der Klagelieder hin und her. Ihr Gesicht war rauchgeschwärzt, und wie die anderen hatte sie sich Haare und Augenbrauen versengt. Als endlich der letzte Tote zu den Ahnen gegangen war, erhob Starna die Stimme zu den Himmelswölfen, bat um Führung und Schutz für die Gefallenen. Inzwischen war das Mädchen heiser, und als es aufstehen wollte zu einem letzten Tanz, forderten das Fasten, die durchwachte Nacht und der Schrecken des Tages ihren Tribut. Starna flimmerte es vor den Augen, und hätte nicht Kyrmon beherzt zugepackt, wäre sie wohl ohnmächtig niedergesunken.

Als die Toten verbrannt waren, wollte das Leben wieder zu seinem Recht kommen. Die kleine Gruppe hielt ein bescheidenes Totenmahl, und obgleich keiner Appetit verspürte, war es doch Sitte und geschah, um die Verstorbenen zu ehren.

Beim Essen nickte Starna einige Male fast ein. Die Gluthitze, die neben den Flammen geherrscht hatte, wich langsam aus ihrem Körper und machte vollkommener Erschöpfung Platz. Morgen, entschied sie, würden sie dem überlieferten Brauch entsprechen und die erkaltete Asche der Toten dem Wind übergeben.

Auch die anderen waren müde nach einem Tag und einer Nacht bei der Herde. Bevor die Sonne unterging, bauten sie in aller Eile eine Jurte wieder auf und legten sich zum Schlaf. Schattenfänger hielt draußen die Wacht.

In der Nacht kam ein heftiger Wind auf und heulte wie mit Geisterstimmen um die Jurte. Neben Starna bewegte sich eines der Mädchen und weckte sie dadurch. Leise hörte sie Terryl wieder weinen und versuchte, sie zu trösten. »Seht! Keine Angst.«

Als Terryl Starna fragend anblickte, erklärte diese mit fremder, heiserer Stimme: »Jetzt holen Gorfang und die anderen Himmelswölfe unsere Toten zu sich.

Dann leben sie glücklich auf der ewiggrünen Ebene.« Etwas beruhigt rollte sich das junge Mädchen zusammen, um weiterzuschlafen. Starna fühlte eine eigentümliche Verantwortung. So mußte es auch Yuiket ergangen sein. Und zum ersten Mal kam ihr trotz aller Müdigkeit der Gedanke, daß es wohl das war, was einen Schamanen auszeichnete.

In dieser Nacht hatte Starna einen Traum. Sie stand, gekleidet in ein Zeremoniengewand, inmitten des Lagers, umringt von ihrer Sippe. Doch dann wurden ihre Leute weggeführt von eigenartigen, gesichtslosen Gestalten. So sehr sie sich mühte fortzukommen, blieb sie doch festgewachsen wie ein Baum auf der Stelle stehen. Auf einmal fiel das Schamanengewand von ihr ab wie das Laub von den Birken. Sie war nackt und bloß, und in der Ferne verschwand ihre Sippe.

2. Kapitel

Als die Nivesen morgens mit dem ersten Licht aufstanden, die Plane zurückschlugen und aus dem Rundzelt heraustraten, hatte der Wind schon die Asche der Toten zerstreut. Es stimmte, was Starna behauptet hatte: Die Himmelswölfe hatten die Verstorbenen aufgenommen. Nun gab es nichts mehr für sie zu tun.

Sollte die Sippe weiterbestehen, so würde sie diesen Ort für einige Jahre nicht mehr aufsuchen. Zu schwer und schmerzvoll wogen die Erinnerungen. Traurig packten die Überlebenden die verbliebenen Habseligkeiten zusammen. Starna hielt einen kleinen Fisch in der Hand, einen Anhänger aus Horn, der nicht ganz fertig geworden war. Sie hatte ihn unter den Hinterlassenschaften des alten Loschim gefunden, der für alle Kinder der Sippe einen solchen Schmuck geschnitzt hatte. Zuletzt hatte er diesenJaunalähuk,einen Wels, für Amuris ungeborenes Kind gearbeitet.

»Ich werde nach unseren Brüdern und Schwestern suchen«, verkündete Starna. Sie würde den Spuren der Orks folgen, bis sie ihre Leute gefunden hätte. Denn sonst war die Sippe der Iyamit zum Sterben verurteilt. Die anderen blickten Starna nachdenklich an, aber keiner zeigte sich wirklich überrascht von ihrem Entschluß.

»Soll ich mit dir kommen?« bot Kyrmon an, doch Starna schüttelte den Kopf: »Du mußt bei den anderen bleiben und ihr neuerLahtiwerden.«

Das war die vernünftigste Lösung. Wenn noch mehr fortgingen, würden sie die Herde verlieren, ohne die sie nicht überleben konnten. Lang und kalt lagen die Winter über dem Nivesenland, und Menschen konnten nicht Gras und Moos unter dem Schnee hervorkratzen und weiden, wie es Karene taten. Der Althirte war Starnas Meinung, schien aber noch etwas auf dem Herzen zu haben. Verlegen suchte er nach Worten, das Reden war niemals seine Stärke gewesen.