Du bist Dein Schicksal - Bernd Schuppener - E-Book

Du bist Dein Schicksal E-Book

Bernd Schuppener

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Beschreibung

Schuld sind immer die anderen … das ist meist unser erster Gedanke, wenn in unserem Leben mal wieder etwas richtig schief geht. Dabei liegt es doch oft an uns selbst. Denn tatsächlich kommt unser Schicksal nicht von außen wie ein Unwetter auf uns zu, sondern es ist unser Innen, unser (unbewusster) Charakter, der unser Leben formt. Damit wird verständlich, warum uns immer wieder die gleichen Probleme begegnen: Wir machen sie nämlich selbst. Unser Außen spiegelt das Innen. Mit diesem philosophischen Konzept der Einheit von Innenwelt und Außenwelt ermöglicht uns der Philosoph Bernd Schuppener, die eigenen Lebensmuster zu erkennen und zu verstehen, wie wir als 'heimliche Theaterdirektoren' (Schopenhauer) unsere unverwechselbare Lebensgeschichte erschaffen. Unser Schicksal ist charakteristisch für uns und unser Lebenslauf ist ein sinnvolles Ganzes, in dem die Teile zueinander passen.

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Bernd Schuppener

Du bist Dein Schicksal

Zur Philosophie von Lebensweg und Charakter

© Parodos Verlag Berlin 2013

Bernd Schuppener, Prof. Dr. phil., geboren 1952, studierte Philosophie, Kommunikations- und Literaturwissenschaft in Mainz und Frankfurt am Main. Nach über 20 Jahren in der Medienbranche als Journalist beim ZDF und als Unternehmer (Hering Schuppener Gruppe) hat er sich wieder der Philosophie verschrieben. Er hat französische Texte ins Deutsche übertragen und ist Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe von Jean-Paul Sartres Die Transzendenz des Ego: Philosophische Essays 1931-1939 (Rowohlt), Mitherausgeber der Buchreihe dia-logik (Alber) sowie Verfasser mehrerer Management-Bücher. Als Honorarprofessor lehrt er an der Universität Leipzig Kommunikationsmanagement. Bernd Schuppener lebt in Hamburg.

© Parodos Verlag, Berlin 2013 Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild: iStockphoto (imagedepotpro) ISBN des Printbuches: 978-3-938880-59-3
www.parodos.de
Als E-Book veröffentlicht im heptagon Verlag, Berlin 2016

Für Nina

Vorwort

Das Wahre muss immer wieder gesagt werden, weil auch das Falsche, der Irrtum, wiederholt gepredigt wird, und zwar von der Masse. So ähnlich hat Goethe dies am 16. Dezember 1828 in einem Gespräch mit Eckermann gesagt und mich darin bestärkt, auch etwas zu sagen.

Wir alle bevölkern die Welt mit unseren Vorstellungen. Und je nachdem, wie gerade der Zeitgeist tickt, haben mal die einen, mal die anderen Vorstellungen Oberwasser. In jedem Fall scheint es mir sinnvoll, auch dann das Wahre (oder was ich dafür halte) zu sagen, wenn die Massenmode vielleicht gerade etwas anderes diktiert. Und dass die Mode von heute zwangsläufig morgen die von gestern sein wird, ist auch klar. Ich schaue mir den Zeitgeist also sehr genau an und berichte, was ich sehe.

Darüber habe ich mit den für mich wichtigen Menschen immer wieder debattiert, mit Hans-Jürgen Breuer und Margrit Pauls insbesondere, denen ich sehr für ihre Ideen und kritischen Einwände danke. Ganz besonders möchte ich Stephan Grätzel danken, der dieser Debatte mit unseren »Marienstatter Gesprächen« einen würdigen Rahmen verliehen und mir damit viel Inspiration geschenkt hat. Ohne die ständige Unterstützung von Christina Risse beim Verfassen des Manuskriptes und von Ulf Heuner, meinem anregenden Verleger, wäre aus meinen Vorstellungen ebenfalls kein Buch geworden. All ihnen gebührt Dank!

Ich widme das Buch Nina. Das sagt mehr als jede weitere Erklärung. Vielen Dank für alles!

Bernd Schuppener

Teil I Lebensmuster

Sie hatte es so satt. Und sie hatte es geahnt: Thomas war gestern Nacht nicht nach Hause gekommen. Ganz offensichtlich, auch wenn er es noch nicht zugeben wollte, hatte er eine Freundin. Wieder einmal war Anna hereingefallen. Auf seinen Charme, seine Überzeugungskraft, seine Versprechen. Thomas aber war wie alle: erbärmlich schwach und ein Blender, bindungsunfähig, menschlich ein Versager. Dabei hatte sie so gehofft, diesmal nicht hintergangen zu werden. Schon Stephan und Alex hatten sich ja letztendlich als untreu entpuppt. Jedenfalls empfand Anna das so. Immer Augen für schöne Frauen, ständig andere Damen in ihrer Nähe …

Wir müssen die Geschichte nicht weitererzählen. Sie handelt von Mustern, von Lebensmustern und Erwartungen, von Typisierungen. »Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebnis, das immer wiederkommt«, heißt es bei Nietzsche (Nietzsche, KSA 5, 86). Annas typische Erlebnisse kehren immer wieder und handeln von Betrug, Täuschung und Ängsten. Vielleicht sind sie aber auch Projektionen: Ihre Männer gehen (nur vermeintlich) fremd. Wir wissen es nicht.

Aber wer trägt die Verantwortung für Annas trauriges Schicksal des wiederholten Betrogen-Werdens? Natürlich die Männer, die betrügen. Oder vielleicht doch Anna selbst, insofern sie Partner mit einem bestimmten Persönlichkeitsprofil anzieht? Vielleicht projiziert Anna ihre schlechten Erwartungen auf ihre Partner. Möglicherweise trifft aber auch alles gleichermaßen zu! Ihr Charakter, also ihre individuelle Persönlichkeit, »bewirkt« jedenfalls immer wiederkehrende Situationen. Wir alle kennen solche Lebensmuster. Ein Ereignis wird zu einem Muster, wenn es sich wiederholt, wenn Ähnliches immer wieder geschieht. Ein bestimmter Charakter hat, so Nietzsche, ein ganz bestimmtes Erlebnismuster zur Folge. Dem Charakter, der Innenwelt eines Menschen, gesellt sich im Außen ein dazu passendes Schicksal hinzu.

Das ist die These dieses Buches: Die innere und die äußere Welt gehören zusammen, sie beziehen sich aufeinander und bilden ein Ganzes. Das Außen passt zum Innen, das Schicksal zum Charakter. Dies bringt sehr treffend ein vielzitierter Satz aus dem Roman Heinrich von Ofterdingen des Romantikers Novalis zum Ausdruck: »… daß Schicksal und Gemüt Namen Eines Begriffs sind.« (Novalis, 1981, 271). Außen und Innen sind eins. Das ist der Punkt! Es besteht eine enge Verbindung zwischen meiner Person und den Dingen, die mir zustoßen. Innenwelt und Außenwelt sind miteinander verbunden. Das ist ebenso meine persönliche Lebenserfahrung wie auch die derjenigen Autoren, die hier zu Wort kommen werden.

Der Alltag jedoch sieht zunächst anders aus: »Du bist schuld!« Auffällig viele Menschen suchen und finden die Gründe oder Ursachen für ihr gegenwärtiges Verhalten, ihre Gefühle oder ihr Denken in anderen Menschen oder Umständen. Gerne konstruieren sie zwischen ihrem persönlichen Befinden und irgendwelchen äußeren Ereignissen einen Kausalzusammenhang, bei dem die Ursache stets im Außen liegt. So wird die Ursache von Ehestreitigkeiten meist beim jeweils anderen Partner verortet. Schuld hat immer der andere.

Ein weiteres Beispiel: Eine junge Dame wurde, wo immer sie ihren Arbeitsplatz hatte, gemobbt und hatte mit allen anderen Streit. Jedenfalls empfand sie dies so. Sie war der festen Überzeugung, dass die bösen Kollegen und Kolleginnen die Aggressoren waren, womit sie sicher auch teilweise recht hatte. Was sie aber nie sah, war die Tatsache, dass immer sie selbst es war, die gemobbt wurde, und nie jemand anders im Büro. Dieses stets wiederkehrende Muster blieb ihr verborgen. Sie wollte nichts davon wissen, die Schuld oder Verantwortung für das Mobbing lag da draußen bei den anderen. Hinweise darauf, sich selbst als Teil des Problems zu verstehen, machten sie richtiggehend wütend. Und so blieb es dann beim immer wiederkehrenden Muster des Mobbings in ihrem Berufsleben. Es war ihr nicht möglich, die wesensmäßige Verbindung zwischen der inneren Disponiertheit ihrer Person und der äußeren Situation zu sehen: Äußere Ereignisse finden parallel zur inneren Einstellung statt, sie sind typisch dafür.

Dass Innen und Außen zusammengehören und dass eine geheimnisvolle Verbindung zwischen ihnen waltet – das hat etwas Magisches an sich. »Innen wie Außen« ist keine Alltagswahrheit, sondern erschließt sich erst der Reflexion auf das konkrete Leben: Bedeutsames Geschehen in der Außenwelt ist eine Spiegelung der Innenwelt, Charakter und Leben verweisen aufeinander. Die äußeren Umstände, denen ein Mensch im Laufe seines Lebens begegnet, sind Ausdruck seines inneren Lebens.

In der formelhaften Verkürzung dieser Erkenntnis bei Goethe – »Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: // denn was innen das ist außen« (Goethe, GSW 12, 92) – liegt eine Wirkung wie bei einem Zauberspruch. »Wie innen, so außen« steht im Mittelpunkt unserer Betrachtungen und ist der zauberhafte rote Faden dieses Buches, der sich durch mehr als zwei Jahrtausende hindurch immer wieder als ein Faszinosum und großes Geheimnis gezeigt hat, teils in bewusster Anerkennung, teils durch unbewusstes oder intuitives Wirken. Diesem Geheimnis möchte ich nachspüren, von der Antike bis heute.

Schon in der Antike war die Entsprechung von Innen und Außen, Mikrokosmos und Makrokosmos eine wirkungsvolle Denkfigur und ein verbreitetes Welterklärungsmuster. Insbesondere in der Hermetik und in der Stoa – beide philosophischen Denkschulen werden in den nächsten Kapiteln erläutert – waren kosmologische Deutungen eng verbunden mit den Deutungen der Seele bzw. umgekehrt. Wir werden sehen, dass das Entsprechungsdenken auch später noch, bis ins 20. Jahrhundert hinein, wirkungsvoll blieb; es ist nie ganz gestorben. Die Einheit von Innen und Außen ist mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaften und des Rationalismus sozusagen ins Unbewusste verdrängt worden, so wie »alles Vergangene allmählich dem Unbewußten verfällt« (Jung, GW 16, 232). Und das Alte ist auch im Neuen aktiv, als archetypische Menschheitserfahrung.

Philosophen und Dichter wie Goethe, Schopenhauer, C.G. Jung und Thomas Mann, auf die ich näher eingehen werde, haben diese geheimnisvolle Wahrheit im Inneren verspürt und aus dem Untergrund wieder ans Tageslicht geholt. Diese Autoren sind die »freien Geister«, die frei vom wissenschaftlichen Mainstream und quer zum jeweils herrschenden Zeitgeist einer grundlegenden Intuition Ausdruck verliehen haben, natürlich in ganz eigener Manier. Das Geheimnisvolle dieses Sachverhalts, dass nämlich die Seele sich im Außen immer selbst begegnet, ist allen Autoren gemeinsam. Sie lässt sich nicht wissenschaftlich erklären oder beweisen und erschließt sich nicht dem Intellekt, diese Einheit von Innen und Außen, von Charakter und Leben. Wohl aber lässt sie sich erfahren und erzählen, lässt sich von ihr berichten. Sie liegt der Goethe’schen Naturbetrachtung ebenso zugrunde wie Schopenhauers Willensmetaphysik. Sie taucht in C.G. Jungs Synchronizität wieder auf und ist grundlegender Gedanke in Thomas Manns Konzeption des Lebens im Mythos.

Wir können, wenn nicht mit dem Verstand, so doch spekulativ und intuitiv, diese Wahrheit der Seele in unseren Alltagswelten entdecken. Im Spannungsverhältnis von Freiheit und Notwendigkeit zeigt sich unser Schicksal als das, was unseren bewussten und vor allem unbewussten Charakter ausmacht: Der Mensch hat kein Schicksal, sondern er ist es. Dieses Schicksal wird in den Mythen erzählt, von denen auch das alte Symbolsystem der Astrologie berichtet.

Im Zusammenspiel von Seele und Leib kann die Einheit von Innen und Außen besonders nah erlebt werden. So wie der Mensch sein Schicksal ist, ist auch die Seele ihr Leib. Ich habe keinen Körper. Ich bin mein Körper, mein Außen! Und wenn der Mensch erkrankt, versucht folgerichtig die psychosomatische Medizin, der leib-seelischen Einheit gerecht zu werden.

Auf dem Feld der Beziehungen – Partnerwahl, Streitthemen usw. – gewinnen Innen und Außen leuchtende Erklärungskraft. Lebenspartner spiegeln sich gegenseitig. Mein Partner realisiert im Außen, was für mein Innen »typisch« ist. Alles weist darauf hin, »daß wir selbst die Erfahrungen wählen, die uns heimsuchen« (Greene, 1991, 195), also auch Glück und Unglück der Ehe. Mein Partner kommt zwar anscheinend von »außen« auf mich zu, ist aber tatsächlich aus meinen inneren Bildern erschaffen. »In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage … Wir halten uns für den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben der Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer« (Frisch, 1985, 29). Die wichtigen Menschen, die uns im Laufe unseres Lebens begegnen, sind die Außenseite unseres eigenen Inneren. Auch wenn sie zunächst als Zufall empfunden werden, gehören sie zu uns. »Am Ende ist es immer das Fälligste, was uns zufällt« (Frisch, 1985, 408).

Mein Leben ist typisch für mich. Wenn ich erkannt habe, dass ich der (unbewusste) Autor meiner eigenen Lebensgeschichte bin und dieses Faktum annehme, bin ich ein freier Mensch: eine phantastisch elektrisierende Erkenntnis!

Teil II Die freien Geister

Im antiken hellenischen Raum entsteht die Denkfigur einer Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos, die »holistische Idee eines durch Entsprechungen geordneten Kosmos« (von Stuckrad, 2004, 25), deren Ursprünge jedoch weit in die frühe babylonische Kultur hineinreichen. In der Philosophie der Hermetik und der Denkschule der Stoa wurde die Idee der Entsprechungen, der Analogien, formuliert und als Deutungsmuster der Wirklichkeit erprobt. Schon Platon, der wohl wirkmächtigste Philosoph der westlichen Welt, hatte in seinem Dialog Timaios den Zusammenhang zwischen kosmologischem Geschehen und der Seele (Psyche) mythologisch beschrieben. Ich möchte einen Blick auf diese Traditionen werfen, um ein Gefühl dafür zu vermitteln, was unter der vielgestaltigen Idee der Entsprechung zu verstehen ist und was daraus folgt.

Vom heutigen wissenschaftlichen Standpunkt aus mögen solche Betrachtungen und Weltdeutungsversuche naiv erschei­nen. Und tatsächlich haben ja auch Vernunft und Wissenschaft, Technik und Analyse, der Vorstellung, Mikro- und Makrokosmos seien strukturell ähnlich, den Garaus gemacht. Dass eine Harmonie bestünde zwischen den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit, wird so niemand mehr allen Ernstes annehmen; der heutige Zeitgeist lässt das nicht zu. Der Zeitgeist der Epoche der Aufklärung und des Rationalismus hat sich zunehmend solcher spekulativen, metaphysischen »Wahrheiten« enthalten und stattdessen auf »vernünftige«, klare und überprüfbare Fakten gesetzt, die ohne göttliches Zutun auskommen. Und das ist gut so.

Es bedarf also großen Mutes sowie großer intellektueller Unabhängigkeit und Authentizität, diesem Zeitgeist zu trotzen und dem (Lese-)Publikum ein ganz eigenständiges Weltbild vorzulegen. Deswegen nenne ich die vier hier vorzustellenden Autoren – Goethe, Schopenhauer, C.G. Jung und Thomas Mann – die »freien Geister«, ein Begriff, den Nietzsche gerne als Idealvorstellung verwendet, um den »Philosoph[en] der Zukunft« zu kennzeichnen (Nietzsche, KSA 5, 60). Goethe ist in seinen Augen ein solcher »freigewordener Geist« (Nietzsche, KSA 6, 152). Unsere freien Geister dachten, wie ich zeigen werde, quer zum Zeitgeist, sie waren Solitäre, einzelne Monumente in ihrem jeweiligen historischen und philosophischen oder literarischen Umfeld, unvergleichliche Einzelgestalten, die – obwohl natürlich Kinder ihrer Zeit – immer auch unzeitgemäß waren. Sie waren empathisch und von tiefer Kenntnis des menschlichen Herzens. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – von allergrößter Könnerschaft im jeweiligen Metier, sind sie nie im akademischen Betrieb heimisch gewesen oder geworden. Große persönliche Unabhängigkeit war immer das Bestreben der freien Geister.

1827, im Gespräch mit Eckermann, mahnt Goethe an, die Epoche der Welt-Literatur zu beschleunigen (Goethe, GSW 19, 205 ff.), will sagen, er unterstreicht den globalen Anspruch bedeutsamer Literatur – und natürlich insbesondere seiner eigenen. Große Literatur ist Weltliteratur und erfüllt universelle Ansprüche. Neben der Unabhängigkeit des eigenen Denkens ist es die Universalität des Gedachten, die zählt. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass es auch mein Anspruch ist, mich hier mit einem Denken zu beschäftigen, das seine nationalen Wurzeln übersteigt und – mit Einschränkungen – universale Bedeutung hat. Die vier freien Geister waren international tätige und denkende Köpfe und in aller Welt anerkannt und geachtet – teils sogar anerkannter als in der Heimat, wie Jung. Thomas Mann hat lange Jahre während der Hitler-Diktatur in den USA gelebt und gearbeitet. Er war amerikanischer Staatsbürger. Die Werke des Nobelpreisträgers von 1929 sind in über 30 Sprachen, teilweise gleich mehrfach, übersetzt worden und genießen sowohl in Amerika als auch in Asien große Anerkennung. Auch die Tiefenpsychologie Jungs ist keine deutschtümelnde Angelegenheit, sondern eine internationale. Jung-Institute oder andere Vereinigungen für analytische Psychologie gibt es in fast allen Winkeln der Welt. Seine Archetypenlehre belegt die Universalität seines Denkansatzes, den er in Vorträgen auf vielen Kontinenten persönlich verbreitet hat. Der gelernte Kaufmann Schopenhauer hatte ebenfalls internationales Philosophieren im Sinn, wenn er kantische Philosophie mit hinduistischem und buddhistischem Gedankengut verband, und verstand sich als eine Art »philosophischer Weltbürger« (Zimmer, 2010). Sein Denken war viel globaler angelegt als das seiner philosophierenden Zeitgenossen wie Hegel, Schelling oder Kierkegaard.

1. Analog, polar, paradox – die Geheimnisse der Hermetik

Der Begriff »Hermetik« umfasst religiös-philosophische Strömungen, die wohl im hellenistisch-ägyptischen Kulturraum zwischen dem 3. vorchristlichen und dem 3. nachchristlichen Jahrhundert entstanden sind. Kulminationspunkt dieser Geistesströmung ist der mythische Hermes Trismegistos, der dreimal größte Hermes, den man sich als den altägyptischen Gott Thot vorstellte, Träger der Weisheit, Erfinder der Schrift und anderer Künste wie Astrologie und Mathematik, Alchemie und Magie. Hermes-Thot ist so gewissermaßen der Ur-Vater der abendländischen Esoterik, ein Weiser und ein Mystiker, der – so die Legende – das Urwissen der Menschheit besitzt. Im Dom zu Siena ist er neben Moses und Platon auf einem Fußbodenmosaik abgebildet.

Die Hermetik ist ein synkretistisches Konglomerat ägyptisch-hellenistischer Herkunft mit jüdischen und arabischen Spuren, mit pythagoreischem, platonisch-neuplatonischem und stoischem Gedankengut sowie vielen Berührungspunkten mit Gnosis und natürlich dem Christentum. Hermetische Schriften datieren in der Zeit um und kurz nach Christi Geburt ebenso wie im Mittelalter, in der Renaissance oder zur Zeit der Aufklärung. Der Charakter der Schriften ist ganz unterschiedlich – je nach historischem oder geographischem Kontext. Es gibt sowohl religiös ausgerichtete Texte als auch solche astrologischen, medizinischen oder alchemistischen Inhaltes, eher unzugängliche wie auch populäre Schriften. Bedeutend für die Rezeption der Hermetik sind insbesondere die im sogenannten Corpus Hermeticum versammelten griechischen und lateinischen Texte.

Die Hermetik ist weit davon entfernt, eine einheitliche Bewegung oder Gemeinschaft von Anhängern mit einem durchgängigen Lehrgebäude zu sein. Trotz der Heterogenität der Texte (oder vielleicht gerade deswegen) sind die Denkfiguren über zwei Jahrtausende hinweg bedeutsam und wirkmächtig gewesen; weniger als offizielle Weltanschauung denn als »unterschwellige«, natürliche Vorstellung vom Walten Gottes und dem Ursprung aller Dinge. Aber es gibt weder eine bestimmte Epoche noch ein umgrenztes Verbreitungsgebiet der Hermetik, nichts in sich Abgeschlossenes oder Begrenzbares. Sie konnte sich weder gegen das Christentum durchsetzen noch hat sie gegen die aufklärerische Vernunft bestanden, die ihr letzten Endes (fast) den Garaus gemacht hat. Dennoch existiert hermetisches Denken nach wie vor – nicht als außen sichtbare Denkströmung, Religion oder Philosophie, sondern eher als innerer Sinn einer in Misskredit geratenen und ins »Andere der Vernunft« (Böhme/Böhme, 1985) verdrängten Geisteshaltung, die auf den Menschen gerade deshalb eine »subversive« Wirkung ausübt, weil sie die Einseitigkeit der Rationalität durch irrationale und paradoxe Momente ergänzt.

Mich interessiert an dieser Stelle nicht die historische Tatsache der Hermetik, sondern die Sinnstruktur der teilweise einander widersprechenden Denkfiguren, die den Menschen immer wieder fasziniert, geformt und verstehbar gemacht haben. Diese Denkfiguren, die sich irgendwann im weiten Umkreis des antiken Mittelmeerraums herausgebildet haben und die im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit durch Umformungen und Erweiterungen, kreative Neudarstellungen und individuelle Adaptionen immer wieder von neuem belebt wurden – diese Figuren möchte ich kurz anreißen und darstellen. Berühmte Vertreter der Hermetik finden sich über die Jahrhunderte verteilt, bezeichnenderweise gab es aber niemals einen Kopf, Gründer oder Guru. Hermetik ist eher ein Netz von Denkansätzen als eine Kathedrale. Das ist sicher ein Bild, welches die Aktualität dieses alten Ansatzes unterstreicht: kein hierarchisches Königreich, sondern ein vielfach vernetztes »Reich der Ideen« – so kann man es ausdrücken. Nicht die klare, möglichst in sich widerspruchsfreie und wissenschaftlich überprüfbare Darstellung dessen, was Hermetik im jeweiligen historischen oder personenbezogenen Kontext war oder ist, interessiert hier also, sondern das bewusste oder unterschwellige Wirken bestimmter Denkfiguren, die man der Hermetik zurechnet, wenngleich sie im Einzelnen auch in anderen Denkrichtungen auffindbar sind.

Ein wichtiges Merkmal der Hermetik ist das Denken in Analogien, Ähnlichkeiten, Entsprechungen. Mensch und Welt sind aufeinander verwiesen wie Mikrokosmos und Makrokosmos, oben und unten. Die wohl meistzitierte hermetische Weisheit auf der sogenannten Smaragdtafel lautet: »Wie oben, so unten; wie unten, so oben« (Kybalion, 1997, 29). Der Verweisungszusammenhang von Mikro- und Makrokosmos, der sich durch die europäische Geistesgeschichte schlängelt, ist jedoch kein Eigentum des Hermes Trismegistos; er findet sich auch in anderen Kulturen und hat, was die konkrete Ausgestaltung dieser Idee anbetrifft, einen wichtigen Ursprung im hellenistischen Ägypten (von Stuckrad, 2004, 25). Die Denkfigur der Entsprechung von Oben und Unten, Innen und Außen hat sich ins abendländische Denken eingraviert und so ihre Wirkung entfaltet. Sie wird auch in der Neuzeit, der Moderne und der Postmoderne aus dem »Unbewussten« heraus immer wieder gestaltend sichtbar werden. Das ist die Basis meiner Überlegungen: Mikro- und Makrokosmos können ähnliche Struktur, Sinn oder Ursprung haben. Die Analogie von Oben und Unten ist keine intellektuelle, logische, auch keine kausale oder sonst wie diskursiv oder naturwissenschaftlich beweisbare, sondern eine intuitive, eine spürbare, erlebbare. Oben und Unten, Innen und Außen, Selbst und Natur verweisen aufeinander, spiegeln sich gegenseitig und bilden so eine Einheit.

Generell ist die eine Seite oder die eine Behauptung so wahr wie die andere, der Ägypter Thot oder der Grieche Hermes. Gegensätze werden zusammengedacht und die Logik der Widerspruchsfreiheit gilt nicht mehr. Es kann sowohl das eine als auch das andere wahr sein, insofern beide sich widersprechende »Wahrheiten« auf eine »dahinter« liegende weitere Wahrheit verweisen, die geheim ist, die in Bildern, Symbolen oder Hieroglyphen verborgen werden muss, um auch geheim zu bleiben. »Die Götter sprechen (heute würden wir sagen: Das Sein spricht) in hieroglyphischen und enigmatischen Botschaften« (Eco, 2004, 63). »Wahre Schweigen, mein Sohn« (Corp. Herm., 2008, 183), die Wahrheit ist nur für Eingeweihte bestimmt und sie erscheint nie an sich, sondern immer nur angedeutet.

Hermetische Weisheit ist aus göttlicher Offenbarung entstanden, ist Urwissen, das aus den Anfängen der Zeit zu uns gekommen ist. Unsere fernen Ahnen wussten zwar nicht so viel wie wir, aber das Wenige wussten sie besser, tiefer, wahrer.

Uraltes Offenbarungswissen, auf Analogien und Sinnzusammenhängen basierend und in sich durchaus widersprüchlich, bildet kein geschlossenes System fester aufein­ander bezogener Aussagen. Solches Wissen ist vielmehr paradox, diffus, konturlos, es bewegt sich in ständiger Metamorphose und ist so quasi das »Andere« (Böhme/Böhme, 1985) des rationalistischen und positivistischen Denkens der aufgeklärten Vernunft – auch das »Andere« des christlichen Glaubens. Hermetik ist keine Antithese zur Vernunft, sondern das Ursprünglichere, Mythische, Unbewusste, die innere und äußere Natur des Menschen, seine Seele. Der Mensch ist Abbild Gottes, und Gott ist der, »der als der Eine alles ist und als das All der Eine« (Corp. Herm., 2008, 207). Hen kai pan. Eins und Alles. Hermetisches Denken ist immer ganzheitlich angelegt, Ganzheit als Geist. »Das All ist Geist, das Universum ist geistig« (Kybalion, 1997, 28). Das Primat des Geistigen ist ein wichtiges Merkmal der Hermetik, das sich bei allen späteren Rezipienten finden wird: Ganzheit und Geist. Beides ist konstitutiv für hermetisches Denken. Aus dieser Ganzheit heraus leben die Pole allen Seins: das Männliche und Weibliche, groß und klein, innen und außen usw. Auch gut und böse. Alles hat zwei Seiten, wie der Volksmund wahrheitsgemäß feststellt. Die zwei Seiten sind allerdings immer die einer Medaille. Gut und Böse verteilen sich nicht auf unterschiedliche Lebensbereiche oder Menschen bzw. auf Gott und den Teufel. Gut und Böse – in diesem Denken – sind in Gott selbst. Polaritäten durchziehen das ganze Leben, Goethes Dichtung ist voll solcher grundsätzlichen Muster wie Repulsion und Attraktion, Einatmen und Ausatmen, Leib und Seele, Licht und Finsternis usw.

Die Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos, Analogien und Verweisungen, Unschärfe und Metamorphosen, Paradoxien und Polaritäten kennzeichnen das ganzheitliche Urwissen des geheimnisvollen Hermes, der seit zwei Jahrtausenden (oder länger) das abendländische Vernunftdenken als Unterströmung begleitet. Mal tritt er ganz offen auf die Bühne, wie in der Renaissance, und steht dort neben Moses und Platon; meist jedoch bewohnt er fast unsichtbar das Kellergewölbe der Vernunft und macht nur gelegentlich in leisen Tönen und fast unsichtbar von sich reden. Dann erzählt er von den Tiefenschichten der Seele: dem Unbewussten, Unheimlichen, Unlogischen und Unbeliebten der Vernunft. Dass man das Kellergewölbe meist nicht wahrnimmt, heißt nicht, dass es nicht da ist. Es ist immer da und trägt die oberen Geschosse mit dem Tageslicht. Die Hermetik liefert einen Rahmen, innerhalb dessen sich solche Phänomene verstehen lassen, die sich einer rein rationalen Betrachtung entziehen. Die abendländische Vernunft hat im Verlauf ihrer Entwicklung manches ins Reich des Irrationalen, des Aberglaubens oder des schlichten Unfugs verbannt, was sie mit ihren wissenschaftlichen Methoden nicht erklären konnte. Hermetisches Denken ist vom Ansatz her ganzheitlich angelegt und integriert auch solche Sachverhalte, die in sich paradox, unklar oder mysteriös sind. Die konkrete menschliche Erfahrung, dass inneres und äußeres Erleben eine gemeinsame Sinnstruktur aufweisen, lässt sich wissenschaftlich nicht erklären, passt aber perfekt in den Rahmen hermetischer Betrachtung und Deutung hinein. Dieses »uralte« Konzept ist überraschend aktuell. Seine Denkfiguren, allen voran Analogie und Polarität sowie der Verzicht auf zwingende Widerspruchsfreiheit und kausale Linearität, ermöglichen es auch – und gerade – heute, unterschiedliche Ansätze in ein vernetztes und holistisches Modell zu integrieren. Seelische Realitäten (wie z.B. Projektionen oder die sogenannte repräsentierende Wahrnehmung) werden so besser fassbar, psychophysische Phänomene wie Synchronizität oder Quantenverschränkung vielleicht überhaupt erst begreifbar.

2. Die Stoa und die Kette des Schicksals

»Alles ist ineinander verflochten wie durch ein heiliges Band, und beinahe nichts ist dem Anderen fremd. Eines ist dem Anderen beigeordnet und dient zur Harmonie derselben Welt. Denn eine Welt ist vorhanden, aus allem zusammengesetzt, eine Gottheit, alles durchwaltend, ein Urstoff, ein Gesetz, eine Vernunft allen vernünftigen Wesen gemeinsam, und eine Wahrheit, alles unter der Voraussetzung, dass es auch eine Vollkommenheit für all diese Verwandten, derselben Vernunft teilhaftigen Wesen gibt« (Marc Aurel, 2003, 105). Diese kurze Zusammenfassung des stoischen Denkens unternimmt der römische Kaiser Marc Aurel (121 – 180 n. Chr.) in seinen Selbstbetrachtungen