Du hast mich krank gemacht - Julie Gregory - E-Book

Du hast mich krank gemacht E-Book

Julie Gregory

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Beschreibung

Eine Mutter. Eine Tochter. Eine zerstörte Kindheit.

Julie Gregorys Erinnerungen gehen unter die Haut. Aus den Tiefen der Hölle musste sich die couragierte junge Frau aufmachen, um die eigene Kraft und den eigenen Wert zurückzugewinnen. Ihr Überleben und ihre Heilung vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom kommen einem Wunder gleich.

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INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumHinweisVORWORT123456789101112131415ANHANGBILDNACHWEISDANKSAGUNGEN

Über dieses Buch

Eine Mutter. Eine Tochter. Eine zerstörte Kindheit. Julie Gregorys Erinnerungen gehen unter die Haut. Aus den Tiefen der Hölle musste sich die couragierte junge Frau aufmachen, um die eigene Kraft und den eigenen Wert zurückzugewinnen. Ihr Überleben und ihre Heilung vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom kommen einem Wunder gleich.

Über die Autorin

Julie Gregory wuchs in Ohio auf und lebt nach ihrem Studium der Psychiatrie, das sie in England absolvierte, wieder in den Vereinigten Staaten. Die lebenslange Auseinandersetzung mit dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom hat sie zu ihrem Beruf gemacht. Sie trägt dieses Thema durch Vorträge und Publikationen in die Öffentlichkeit und bietet als ehemalige Betroffene heute Opfern Beistand.

Julie Gregory

Du hast mich krank gemacht

Meine Mutter ließ mich leiden

Ins Deutsche übertragen von Katharina Förs und Barbara Steckhan

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der Originalausgabe:

»Sickened. The True Story of a Lost Childhood«

© 2003 by Julie Gregory

Originalverlag: Bantam Dell, A Division of Random House, Inc., New York

© 2004 für die deutschsprachige Ausgabe by

Bastei Lübbe AG, Köln

Übersetzung: Katharina Förs und Barbara Steckhan

Textredaktion: Heike Krüger, Hamburg

Lektorat: Regina Maria Hartig

Umschlaggestaltung: © getty-images/Ghislain & Marie David de Lossy

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3148-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Der hier vorliegende Text entpricht der Wahrheit. Die Ereignisse,

von denen berichtet wird, sind wirklich geschehen. Die meisten Namen, doch keineswegs die der Familienangehörigen, wurden geändert.

Dies geschah zum Schutz der Schuldigen und der Unschuldigen.

VORWORT

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist vielleicht die komplexeste – und bisweilen sogar tödliche – Form von Kindesmisshandlung, die man heute kennt. Man versteht darunter die Vortäuschung oder Herbeiführung physischer und/oder psychischer Krankheit eines abhängigen Menschen durch seinen oder ihren Betreuer. In den meisten Fällen handelt es sich bei dem Täter um die Mutter, und das Opfer ist ihr eigenes Kind. Baron Karl von Münchhausen, der im achtzehnten Jahrhundert gelebt hat, war ein Abenteurer und Soldat, der für seine haarsträubenden Geschichten berühmt wurde. 1951 entlehnte ein britischer Arzt den Namen des Barons und prägte den Begriff Münchhausen-Syndrom – bezogen auf Menschen, die Krankheit vortäuschen oder selbst verursachen, um bemitleidet und gepflegt zu werden und Kontrolle über andere zu gewinnen. Der in Anlehnung daran entstandene Ausdruck Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom oder Münchhausen by Proxy (MBP) wird auf Personen angewandt, die zu dem gleichen Zweck einen Ersatz oder Stellvertreter (engl. proxy) benutzen. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass in den USA jährlich eintausendzweihundert neue MBP-Fälle gemeldet werden und die Zahlen in anderen Ländern vergleichbar hoch sind. Eine Vielzahl weiterer Fälle werden nicht bekannt – oft bleiben sie sogar ganz und gar unentdeckt –, da sich die Misshandlungen im Verborgenen abspielen. Einer vor kurzem veröffentlichten Studie zufolge sind bis zu fünfundzwanzig Prozent der Geschwister des erkrankten Kindes bereits verstorben, wenn ein Fall von MBP endlich aufgedeckt wird – höchstwahrscheinlich, weil sie zuvor Opfer des gleichen Täters geworden sind. Erst wenn innerhalb einer Familie bei einem zweiten, dritten oder gar vierten oder fünften Kind die gleichen Symptome auftreten, sehen sich Ärzte und Behörden gezwungen, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich unter Müttern eine seltsame, mit Krankheit in Zusammenhang stehende Form des Missbrauchs entwickeln kann, die im Gegensatz zu Schlägen oder sexuellem Missbrauch nicht einfach zu erkennen ist. Obgleich der FBI seit einigen Jahren für MBP stark sensibilisiert ist, bleibt das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom eine Tragödie für die Volksgesundheit, über die die Öffentlichkeit paradoxerweise weitgehend im Dunkeln gelassen wird.

Ich habe mich der seltsamen Welt des MBP nur widerwillig angenähert. Zunächst primär am Münchhausen-Syndrom interessiert, widerstrebte es mir, mich dem schwer fassbaren und heiklen Thema Kindesmissbrauch zuzuwenden. Als »Münchhausen«-Experte musste ich jedoch versuchen, mich auch in die übrigen Ausdrucksformen dieses Krankheitsbildes einzuarbeiten. So war ich gezwungen, mich mit dem Kinderschutz zu beschäftigen, obgleich MBP-Täter ihre Taten fast immer leugnen, selbst wenn sie dabei auf Video aufgenommen werden. Seitdem bin ich in den USA in zahlreichen MBP-Fällen als Berater und Zeuge aufgetreten, oftmals vor Richtern und Geschworenen, die daran zweifelten, dass eine derart bizarre Form von Missbrauch überhaupt existieren kann. Ich habe über das Syndrom selbst Bücher geschrieben und zu Büchern anderer Autoren zu diesem Thema Kapitel beigesteuert, und ich habe in mehr als tausend Fällen Fragen zu dem Komplex per Telefon, Brief oder E-Mail beantwortet. Im Grunde beschäftige ich mich seit mehr als einem Jahrzehnt Tag für Tag mit dem MBP, und trotzdem bricht es mir noch immer das Herz.

Als ich eines Tages im Internet nach Links suchte, um meine Website zu erweitern, stieß ich auf eine neue und wichtige Perspektive im Hinblick auf das MBP. Eine Frau namens Julie Gregory hatte ihre eigene Site ins Netz gestellt, auf der sie ihre Geschichte als MBP-Opfer mittels lebendiger Sprache und eindrücklicher Fotos der Öffentlichkeit zugänglich machte. Sie erwähnte auch, sie sei daran interessiert, ein Buch darüber zu schreiben, und ich ermutigte sie per E-Mail zu diesem Schritt. So begann unsere Zusammenarbeit, deren Ergebnis hier vorliegt.

Du hast mich krank gemacht gibt einen noch nie da gewesenen Einblick in das Erleben eines MBP-Opfers. Es existieren zu diesem Thema zwar mehr als fünfhundert medizinische Artikel und Bücher, aber aus der Sicht einer Betroffenen ist die Geschichte des MBP noch nie erzählt worden. Julie Gregory wuchs nicht auf Spielplätzen unter Gleichaltrigen auf, sondern in der unheimlichen und antiseptischen Welt von Arztpraxen und Kliniken. Ihr Leben drehte sich allein um die künstlich konstruierte Welt ihrer verschiedenen »Krankheiten«, und Pflegepersonal und Ärzte, die ihr hätten helfen können, wurden dazu benutzt, ihrem Körper und ihrer Seele Schaden zuzufügen. In der Tat agieren die Ärzte beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, ohne es zu wollen, als Komplizen, denn es ist ihnen beigebracht worden, sich blind auf das zu verlassen, was ihnen von Patienten und deren Familien berichtet wird. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Aussagen der Eltern gewöhnlich der beste Anhaltspunkt sind, wenn es zu entschlüsseln gilt, was einem Kind fehlt. Daher muss die Medizin umdenken und sich zukünftig darauf einstellen, dass die Geschichten unwahr sein können und die Mutter – wenn die Untersuchungsergebnisse normal sind, wenn keine Behandlung anschlägt, wenn auch noch so viele Untersuchungen nie »genug« sind – unter Umständen korrekterweise Täterin genannt werden müsste. Natürlich sind die besten Lügen die, in denen sich Fakten und Fiktion vermischen: Möglicherweise zeigt ein Kind tatsächlich echte Symptome, doch welche Ursachen sie haben, lässt sich geflissentlich verschleiern.

Es gibt Mütter, die unersättlich sind in ihrer Gier, aus den Leiden ihres Kindes emotionalen Gewinn zu ziehen. Eine solche Frau braucht gar nicht besonders gebildet zu sein, sie muss nur überzeugend wirken. Wenn MBP-Täter feststellen, dass das Interesse an ihrer tragischen, »selbstlosen« Fürsorge nachlässt, suchen sie sich möglicherweise ein neues Publikum: neue Krankenhäuser, neue Notaufnahmen. Oft durchforsten sie Fachbücher oder das Internet nach medizinischen Informationen, um ihren Auftritt, der manche gute Schauspielerin vor Neid erblassen lassen würde, noch perfekter zu gestalten.

Dem Leser mag es so erscheinen, als habe Julie in späteren Jahren als Komplizin ihrer Mutter ebenfalls versucht, die Ärzte zu täuschen. Hat sie das wirklich getan? Nein. Sie war einfach nur hilflos. Wie soll sich ein Kind der totalen Ichbezogenheit seiner Mutter, einer unzugänglichen Welt, die ein in sich geschlossenes System bildet, entziehen? Wir wissen, dass oft sogar erwachsene MBP-Opfer die wahren Hintergründe ihrer Krankheiten verschweigen, weil sie fürchten, verlassen oder bestraft zu werden, wenn sie aufhören, krank zu sein. Andere Elemente schleichen sich in das Krankheitsbild des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms ein, wie zum Beispiel das Stockholm-Syndrom, von dem uns Patty Hearst berichtete, indem sie den Fall ihrer gewaltsamen Entführer aufrollte: Kinder schützen oftmals die Personen, die sie missbrauchen, und offenbaren sich nicht einmal medizinischem Fachpersonal und Mitarbeitern sozialer Dienste, die ihnen helfen könnten.

Bei Du hast mich krank gemacht handelt es sich nicht um Erinnerungen, die unter Hypnose oder durch die Fragen eines Therapeuten ans Licht gekommen und dementsprechend wenig vertrauenswürdig sind, sondern um Geschehnisse, die unvergessen bleiben – für Julie Fluch und Segen zugleich. Sie gewinnen noch zusätzlich an Wert, weil Julie auch den gesamten Wirrwarr ihrer Arztberichte zusammengetragen hat. Diesen Dokumenten können wir entnehmen, wie schnell die Lügen einer Mutter in heimtückische medizinische Tatbestände verwandelt werden.

Julie Gregory hat nicht nur eine bemerkenswerte Geschichte zu erzählen, sondern sie teilt auch ihre bemerkenswerte Seelenstärke mit uns. Zudem hat sie Glück, dass sie noch am Leben ist. Der Autor Philip Yancey hat geschrieben: »Das Leben ist kein Problem, das gelöst werden muss, sondern eine Arbeit, die zu leisten ist, und bei dieser Arbeit kommt manches Rohmaterial zum Einsatz, auf das wir lieber verzichten würden.« Julie ist auf eine Art unverwüstlich, wie man sie unter den gegebenen Umständen kaum für möglich halten würde. Dass sie das alles nicht nur mit intaktem Selbstwertgefühl überstanden, sondern sich auch noch den klaren Kopf bewahrt hat, so dass sie darüber schreiben kann, ist überaus erstaunlich. Ich hoffe, dass sie durch das Festhalten dieser in ihr Bewusstsein eingebrannten und wunderschönen Erinnerungen ein paar Dämonen der Vergangenheit zum Schweigen bringen und gleichzeitig jenen helfen kann, die noch im Spinnennetz des MBP-Missbrauchs gefangen sind.

Ich gehe davon aus, dass Du hast mich krank gemacht die Initialzündung sein wird, die das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom endgültig ans Licht bringt und dafür sorgt, dass Ärzte, Gesundheitsbehörden, Wissenschaftler, also alle, die sich mit Kindesmisshandlung befassen, sowie die breite Öffentlichkeit es nicht mehr ignorieren können. Der finstersten und schwierigsten Situation entsprungen, die ein Kind erleben kann, stellen die hier niedergeschriebenen Worte ein Denkmal dar, einen wahren Triumph des menschlichen Geistes.

Marc D. Feldman, M.D.

Abteilung für Psychiatrie und Verhaltensneurobiologie,

Universität von Alabama, Tuscaloosa

1

Was ich am meisten hasste, war das Rasieren. Wie viele Haare kann ein zwölfjähriges Mädchen schon auf der Brust haben? Trotzdem schäumen sie mich ein und fahren mit einer neuen Einwegklinge über meine kaum vorhandenen Brüste. Glatt und haarlos sollen sie sein, damit die kleinen weißen Knöpfe auch an den jeweiligen Punkten im Umfeld meines Herzens kleben bleiben und sie meinen Herzschlag aufzeichnen können. Während der Vorbereitungen schwebe ich über meinem Körper, betrachte konzentriert die rauen weißen Deckenfliesen und male mir ein auf dem Kopf stehendes Zimmer aus, in dem ich leben möchte, ein Zimmer fern von der Unordnung in unserem Zuhause, fern von diesem Krankenhaus – inmitten von reinem weißem Frieden.

Der Geruch der Rasiercreme zieht mich wieder zurück auf den Boden. Die gleiche Sorte, wie Dad sie benutzt hat. Jeden Morgen vor Tagesanbruch hatte er seine fürchterlichen Hustenanfälle. Dann schleppte er sich auf die Toilette und versuchte, sich das Herbizid Agent Orange aus den Lungen zu würgen. Manchmal, wenn die Welten zwischen Wachen und Schlafen einige benommene Momente lang nahtlos miteinander verschmolzen, kam das Würgen auch aus den Kehlen der geisterhaften Gestalten meiner Träume. Gewöhnlich rasierte er sich, nachdem er erbrochen hatte.

In unausgesprochenem Einverständnis drückt sich die Krankenschwester einen dicken Batzen Creme aus der Dose in die Handfläche, so viel, dass ihre Haut meine nicht berührt, wenn sie mir die drei Zentimeter dicke Schicht auf die Brust schmiert.

Irgendwann ebbte die Agent-Orange-Flut schließlich ab. Normalerweise lehnte Dad sich dann erschöpft an den Türpfosten. »Ich kotze mir die Seele aus dem Leib, Sissy. Hast du verstanden? Die Seele. Die Seele. Die Seeeele.« Anschließend lachte er in sich hinein und wischte sich mit der dicken Faust über die Lippen.

Die Krankenschwester nimmt eine neue Klinge mit blauem Griff und zieht sie säuberlich an meinem Brustbein entlang. Ein weiterer frischer rosa Streifen Haut zeichnet sich ab.

Was kann man morgens um sieben schon anderes machen, als in das Lachen seines großen, sich schwerfällig bewegenden Vaters einzustimmen, wenn er so tut, als wäre der Türpfosten ein Laternenpfahl, an dem er sich betrunken festklammert, und sich seine Lungen heraushustet.

Irgendwann ist alles fertig. Die weißen Tellerchen sind mit einem durchsichtigen Haftgel an sechs unterschiedlichen Stellen befestigt worden. Ihre Kabel vereinigen sich zu einem breiteren Kabelfluss, der mein Brustbein entlang zum Bauch läuft und am Reißverschluss in meine Hose, als hätte ich da drinnen das neueste Modell eines Pay-TV-Decoders verborgen. Die Elektroden mit den Gummiknöpfen füttern ein Aufzeichnungsgerät, das sich in ein rechteckiges Lederetui schmiegt und wie eine Handtasche aussieht. Sein Riemen liegt auf meiner Schulter, und während mein Siebtklässlerleben dahintickt, versanden meine dazugehörigen Herzschläge in dem Kasten.

Ich war schon von klein auf häufig krank, dünn wie eine Bohnenstange und empfindlich wie ein Soufflé aus dem Backofen. Ständig holte ich mir blaue Flecken und fühlte mich oft schlapp und elend. Die Kinder in der Schule fragten mich ganz ungeniert, ob ich magersüchtig sei. Aber das war ich nicht, ich war nur krank. Meine Mutter riss sich schier ein Bein aus, um herauszufinden, was mir fehlte. Dass mit meinem Herzen etwas nicht stimmte, ließ sich nicht übersehen. Irgendwie lag bei mir alles im Argen und war zu so vielen undurchdringlichen Schichten geronnen, dass es unmöglich schien, zur Wurzel des Übels vorzudringen. Es war, als wollte man einer Zwiebel die durchsichtigen Häute einzeln abziehen, und als ich alt genug war, mich an diese Aufgabe zu wagen, brachte mich jede dieser Häute zum Weinen.

Ich wuchs in dem kranken Leib einer kranken Mutter heran, die sich selbst kasteite, indem sie hungerte, und auf diese Weise auch mich aushungerte. Zum Zeitpunkt meiner Geburt litt sie unter schwerer Anämie und war aufgrund einer Blutvergiftung vorübergehend erblindet – wie sie mir erklärte, war die Blutversorgung der Augen durch ihren Bluthochdruck unterbrochen gewesen. Kaum drei Pfund schwer, wurde ich vorzeitig in die Welt gestoßen, ein durchscheinend schimmerndes Frühchen, und als man mir den Klaps auf den Hintern verpasste, gab ich keinen Mucks von mir. Zunächst hielt man mich für tot. Der Arzt, der meinen bläulichen Körper an den Fersen hielt, sagte, nachdem er einen ersten Blick auf mich geworfen hatte: »Mein Gott, was für große Füße sie hat.« Dann verfrachtete man mich eilig in einen Brutkasten, wo ich wie alle Frühgeborenen den Zeitpunkt meines Eintritts in die reale Welt außerhalb der schützenden Fruchtblase erwartete. In der Folge war mein Gesundheitszustand so labil, dass man sich ständig mit meinem Befinden und der Frage, wo der Ursprung des Übels lag, beschäftigen musste.

Da waren die frühen Nasen- und Halsentzündungen, ein bellender Husten, der meine zarte Erscheinung Lügen strafte, heftige und hartnäckige Migräneanfälle, geschwollene Mandeln, die, sobald ich Ahhhh sagte, nach einer Operation schrien, eine deformierte Nasenscheidewand, die mich dazu zwang, mit offenem Mund zu atmen, undefinierbare Allergien, die mir ein für alle Mal den Verzehr der vier wichtigsten Nahrungsmittelgruppen verboten. Als wir der Ursache meiner rätselhaften Krankheiten in der Kardiologie näher kamen, verschrieb sich Mom der Logistik meines in allen Einzelheiten ausgearbeiteten Behandlungsplans mit der Gewalt einer Furie.

»Verdammt noch mal, Sie sehen doch, dass dieses Mädchen krank ist, oder nicht? Schauen Sie doch selbst! So wahr mir Gott helfe, wenn sie stirbt, weil Sie nicht feststellen können, was ihr fehlt, werde ich Sie auf jeden einzelnen Cent verklagen, den Sie besitzen.« Mom hatte die Augen in ihrem schmalen Gesicht zusammengekniffen, und wie immer, wenn sie wütend war, bildete sich auf ihrer Unterlippe ein weißlicher Schaum aus dickflüssigem Speichel. Ihre Stimme verfolgte jeden Arzt, der einzuwenden wagte, man habe bereits alle Untersuchungen durchgeführt, sie hallte ihm den Gang hinunter nach und zerriss die Krankenhausstille.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, zischte sie, wenn sie ins Untersuchungszimmer zurückkehrte. »Was für ein unfähiger Trottel!«

»Mach dir keine Sorgen, Mom. Ist schon gut. Wir suchen uns einen anderen.«

So tröstete ich sie, mit der Versicherung, dass wir nicht aufgeben würden.

»Ach, ich will doch nur dein Bestes! Ich opfere mein Leben, damit wir herausfinden, was dir fehlt. Also vermassele es nicht wieder, indem du beim Hereinkommen so tust, als wäre alles normal. Zeig ihnen, wie krank du bist, und lass uns der Sache auf den Grund gehen. Ist das klar?«

»Ja, alles klar.«

Tag für Tag hockten wir zusammen – Mom, Dad, der kleine Danny, ich und dann später noch die Pflegekinder –, aber Dad erfuhr nie, dass man mir die Brust rasierte. Mom staffierte ihn nur dann mit ein paar »anständigen Sachen« und den sorgfältig verpackten weißen Slippers aus, wenn im Krankenhaus eine Demonstration väterlicher Fürsorge angesagt war. Ansonsten blieb er der x-ten Wiederholung von M*A*S*H und dem Berg Nussschalen überlassen, die er mit seinen rotfleckigen Pistazienfingern auf dem Bauch angehäuft hatte.

Wir wohnten damals in einem Trailer von doppelter Standardbreite, am Ende einer unbefestigten Straße im Hinterland von Ohio, einer wilden und üppig grünen Gegend des Bundesstaates. Die Cinemascope-Pracht der endlosen Kette von Bergen, die sich vor uns entfaltete, ließ einem den Atem stocken, und man meinte ständig, im Säuseln des Windes leise Banjoklänge zu hören.

Meine Eltern hatten ihren schwarzen Samtdruck von Jesus dem Gekreuzigten, dem von der Dornenkrone seitlich am Kopf plastisch ausgebildetes Blut herabsickerte, aus dem fernen Arizona über sechs andere Stationen bis in dieses Tal und in die Burns Road geschleppt. Dort ließen wir uns dann nieder.

Unser Wohnzimmer war mit einer urtümlichen veloursbezogenen Kopie der Sofas aus der Pionierzeit ausgestattet, und Jesus hing an einer grellorangen Samttapete, die einfach über die Holzvertäfelung geklebt worden war, so dass sich deren Fugen als hohle, dunklere Streifen abzeichneten. Klebrige Wollfäden (als hätte jemand Honig verschüttet und anschließend aufgesaugt) wallten wie Seegras ungehindert über den Boden. Unseren Hinterhof schmückten Betonminiaturen der Tiere auf dem Bauernhof, in Paaren oder Grüppchen aufgestellt – weiße Küken, kleine Kühe mit rosafarbenen Eutern, Hennen, die sich um einen Hahn scharen, ein Esel mit Sombrero –, und wenn wir zu einem meiner Arzttermine in die Stadt fuhren, hielt Mom mit Adleraugen Ausschau nach Ergänzungen für ihre Hinterhofmenagerie.

Ich erinnere mich noch gut, wie Dad damals war: wie eine Seekuh, dick, weich, blank geschrubbt, als habe man ihn auf seinem Fernsehsessel durch eine Autowaschanlage gerollt. Nackte bleiche Haut von der Farbe weißen Tons spannte sich über seinen mächtigen Bauch. Nichts hören. Nichts sehen. Nichts sagen. Aus dem abgedunkelten Wohnzimmer unseres Trailers drang nichts – bis auf den gelegentlichen Ausbruch dröhnenden Gelächters über das endlose Geblödel von Hawkeye und Hunnicut.

Einmal, als ich sieben war, lag ich im Bett und war gerade am Einschlafen, als Dad rief: »Siiisssy! Siiissssy!« Ich dachte mir, es sei irgendetwas passiert, sprang auf und stolperte in meinem Schlafanzug mit den angenähten Füßen durch den Flur.

»Mach mir ein paar Scheiben Toast, ja?« Dad hatte die Hände über dem Bauch gefaltet, die dicken Waden auf die ausziehbaren Fußstützen gelegt und wandte den Blick nicht eine Minute vom Fernsehgerät.

Abgesehen von den Ausflügen zum Arzt hielten wir uns fast ständig in unserem Trailer am Ende der unbefestigten Straße auf. Zwischen dem, wie wir wirklich waren, und dem, wie wir wirkten, wenn wir uns einmal fortbewegten, bestand ein himmelhoher Unterschied. Ich besitze ein Foto aus einem Urlaub an den Niagarafällen, auf dem ich etwa sieben bin und mein Bruder Danny knapp vier. Wir hocken in einem künstlichen Holzfass, das scheinbar gerade den Wasserfall herabstürzen will, und unser Lächeln wirkt ebenso künstlich wie die Wasserwirbel im Hintergrund. Ich bin, Clairol sei Dank, inzwischen natürlich blond, trage ein pastellfarbenes Kleid aus dem Versandhauskatalog und strahle vor Glück.

Aber Glück hat einen anderen Stellenwert, wenn man als Zwölfjährige mit einer Gänsehaut, die an ein gerupftes Hühnchen erinnert, in einem mit Chromstahl ausgestatteten Untersuchungszimmer sitzt und raues Papier in die feuchten Achselhöhlen gestopft bekommt. Bis jetzt sind die Antworten in den Bergen vor uns verhallt. Mal ein leichtes Herzrasen, mal ein Symptom, das auf das Marfan-Syndrom hindeutet, doch nichts aussagekräftig genug, um eine komplette und offizielle Diagnose zu erstellen. Trotzdem wurde weitergesucht. Denn Mom war überzeugt, dass die Ursache in meiner Herzkrankheit zu finden war. Eine Mutter weiß so was. Schließlich hatte sie mit angesehen, wie ich im Gesicht aschegrau wurde, hatte meinen flatternden Puls gefühlt und miterlebt, wie ich abmagerte bis auf die Knochen, während ich zur gleichen Zeit in die Höhe schoss. Deshalb blieben wir am Ball, immer auf der Jagd nach der Antwort. Sie war stets zum Greifen nahe, man musste sie zu packen bekommen, und schon würde sich alles zu einem plausiblen Ganzen zusammenfügen. In gewissem Sinne hatte sie sogar Recht. Doch inzwischen lief mir womöglich die Zeit davon, und als Mom auf einer weiteren Untersuchung bestand und sie uns verweigert wurde, machten wir, dass wir hinauskamen. Und begaben uns auf die Suche nach jemandem, der wirklich etwas von dem verstand, was er tat.

2

Meine Mutter, Sandy Sue Smith, wurde von ihrer eigenen Mutter im zarten Alter von siebzehn Jahren mit einem Mann namens Smokey verheiratet, der schon mehr als fünfzig Jahre zählte und einen Zirkus am Stadtrand betrieb. Smokey war ein kleiner, strenger Mann, unter dessen schwarzem Cowboyhut dicke, krause Koteletten hervorlugten. Er besaß Reitpferde, die speziell für die Zirkusarena abgerichtet waren, und er brachte Sandy Sue halsbrecherische Kunststücke bei, die er »Der fliegende Apache« und »Hals über Kopf« nannte. Im Anschluss an diese Nummer pflegte er Sandy an eine hölzerne Scheibe zu schnallen, die er dann in Bewegung setzte, um mit fünfundvierzig Zentimeter langen Messern nach ihr zu werfen. Wenn sie die zehn scharfen Klingen überlebt hatte, die entlang ihres Körpers in das zersplitterte Holz gefahren waren, winkelte sie wie ein Model das Bein an, lächelte strahlend und winkte triumphierend mit einer ihrer zarten Hände. Das war, bevor ich zur Welt kam, aber ich habe Fotos gesehen, und die sind wirklich atemberaubend: Sie steht hoch aufgerichtet auf dem sattellosen Rücken eines wilden weißen Pferdes, das vor dem Hintergrund eines rubinrot und orange gestreiften Himmels über ein Feld galoppiert.

Auf einem anderen Foto lässt Smokey eine fast acht Meter lange geflochtene Lederpeitsche in Sandys Richtung schnellen. Sie lehnt mit ausdruckslosem Gesicht an dem Wohnwagen, und die Peitsche windet sich wie eine Schlange, die im Begriff ist, sich um ihren Hals zu wickeln. Sie tragen beide schwarz-weiße Satinhemden mit Druckknöpfen aus Perlmutt, Hosen mit muschelbesetzten Säumen und Gürtelschnallen, so groß wie Platzteller.

Das Ende von Sandys Geschichte mit Smokey sieht ungefähr so aus: Sie hat eine Mutter und einen Vater und einen älteren Bruder namens Lee, der ein bisschen neben der Spur ist. Der Vater kümmert sich nicht um seine Familie, viel lieber beschäftigt er sich mit seiner Sammlung von Waffen, die er überall im Haus hortet. Die Mutter, Madge, stammt aus einer Familie in West Virginia, bei der es an der Tagesordnung war, dass der Bruder mit der Schwester schlief und umgekehrt und anschließend wie zum Beweis schielende Kinder zur Welt kamen. Gelegentlich wird Sandy Männern überlassen, die ihr in einem dunklen Keller schreckliche Dinge antun. Der Vater mit seinen Waffen wird eines Tages durch einen anderen Waffen tragenden Vater ersetzt, nur dass dieser eine Polizeimarke sein Eigen nennt. Er lässt Sandy auf dem Rücksitz seines Motorrads mitfahren, seine Hand liegt dabei auf ihrem nackten Bein. Er bringt sie zu abgelegenen Fischgründen, deren Ufer mit hohem Gras bewachsen sind, und die Angler, die sich dort gelegentlich einmal aufhalten, blicken geflissentlich in die andere Richtung. Zwei Jahre später entdeckt Sandy bei der Heimkehr von der Schule, dass dieser neue Dad sich die Pistole in den Mund gesteckt und sich mitten auf dem Wohnzimmersofa erschossen hat.

Madge ist zehn Jahre zur Schule gegangen, hat in ihrem Leben jedoch noch nie gearbeitet. Nur selten ist etwas zu essen im Haus. Sandy bekommt auch kein Geld für eine Mittagsmahlzeit, und im Alter von fünfzehn ist sie halb verhungert. Die Mangelernährung führt dazu, dass sie einmal nach der Schule, während sie einen Fußboden mit Ammoniak schrubbt, zusammenbricht. Unter den weißen Krankenhauslaken zeichnen sich sichtbar ihre Hüftknochen ab, und man päppelt sie mit drei Mahlzeiten am Tag auf. Als sie wieder so weit bei Kräften ist, um entlassen zu werden, gibt ihre Mutter sie Smokey, einem Mann, der am Ende der Straße einen Bauernhof hat und Pferde hält, einem Mann, der sich um sie genauso gut kümmern kann wie um seine Tiere. Und gelockt von dem Versprechen, ein eigenes Pferd zu bekommen, steigt sie in seinen Lieferwagen. Die Zukunft scheint ihr rosig. Sie geht fort mit einem Mann. Mehr weiß sie nicht.

Jahre vergehen, in denen Sandy an die Scheibe gebunden wird: weißes Leder, das Lächeln eines Showgirls. Kohlrabenschwarzes Haar, in der Mitte gescheitelt und mit Lederstreifen zu Zöpfen geschnürt wie bei einer Squaw – das betont den leichten Cherokee-Einschlag, dem sie auch ihre hohen Wangenknochen und die vollen roten Lippen verdankt. Sie rennt neben dem Pferd her, ihrem Geschenk, während es in vollen Galopp fällt, greift in die lange, wehende Mähne, springt dann, den Knauf umklammernd, geschmeidig wie ein Panther in den Sattel und richtet sich vorsichtig auf, bis sie in voller Größe auf dem Pferderücken balanciert. Die Zuschauer applaudieren begeistert. Bei unverändert halsbrecherischer Geschwindigkeit lässt sie sich dann unter den Bauch des Pferdes gleiten und streckt mit großer Geste einen Arm aus – ta-daaaa. Das ist der »Russische Todesritt«. Sie hat das Publikum in ihren Bann gezogen und erlebt zum ersten Mal, seit sie denken kann, etwas anderes als ein Dasein, einen Körper voller Schmerzen.

In einem der für Ohio typischen harten Winter erkrankte Smokey an einer schweren Grippe, wie er sie jedes Jahr einmal hatte. Sandy hatte eine böse Vorahnung. Wenn Smokey nicht gerade auf Sommertournee war und mit seiner Vorstellung dem Grand Ole Opry hinterherreiste, arbeitete er Doppelschichten in der Großwäscherei Swan, wo er die ganze Zeit über der dicken, chemikaliengeschwängerten Luft ausgesetzt war. Gewöhnlich wurde er jeden Winter krank. Doch ganz gleich wie schlimm er hustete oder wie viel Blut er spuckte, es war Sandy unmöglich, ihn zu einem Arztbesuch zu bewegen. Nein, Smokey hatte keine Krankheit, die sich nicht mit einem Schluck des Magenmittels Pepto-Bismol heilen ließ. Als er am Weihnachtstag mit einer Gesichtsfarbe wie schmutziges Wischwasser aufwachte, schickte er Sandy also in die Stadt, damit sie ihm das Mittel besorge. Das Brennen in seiner Brust beruhte wahrscheinlich auf nichts anderem als Verdauungsstörungen, wie sonst auch. Als Sandy im Auto saß, überkam sie der Wunsch, immer weiter zu fahren und nie mehr zurückzukehren. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich ins Haus kommen und Smokey mit schmerzverzerrtem Gesicht und kalt und starr dort liegen. Sie wollte nicht noch einmal bei ihrer Heimkehr einen toten Mann vorfinden. Während sie so stundenlang über kurvige Landstraßen fuhr, überlegte sie verzweifelt, wen sie anrufen könnte. Aber sie hatte niemanden außer Smokey. Als sie ein paar Stunden später dann doch zurückkehrte, stand Smokey sternhagelvoll und stinkwütend, dass er sein Weihnachtsessen zu spät bekam, in der gekiesten Auffahrt. Sie gingen an diesem Abend gegen zehn Uhr zu Bett. Keine halbe Stunde später richtete sich Smokey urplötzlich auf und gab einen Strom schäumenden Blutes und ein Todesröcheln von sich. Anschließend sank er starr und leblos in die Kissen.

Mit den Pferden und den Rechnungen, einer Hypothek auf dem neuen Hof und massenweise Sätteln und Zaumzeug, Decken und Bürsten bleibt Sandy zurück. Und obwohl es sich so anhören mag, als sei ihre Ehe vom Teufel arrangiert worden, hatte sie Smokey geliebt. Er hatte sie besser behandelt als jeder andere Mann, dem sie je begegnet war, und sei es auch nur insofern, als dass sie von ihm nie geschlagen worden war. Jetzt muss sie nicht nur ohne ihn zurechtkommen, sondern auch ohne Versicherung, ohne Geld, ohne Arbeit und ohne Familie. Sie verkauft die Pferde und die Scheibe zum Messerwerfen, die Sättel und das Zaumzeug, nur um sich einen Sarg für den Mann leisten zu können, zu dessen Begräbnis niemand kommt. Sandy steht bei Smokeys Beerdigung allein in einer namenlosen Friedhofshalle und trauert neben seiner Leiche, bis der Bestatter sie hinausschickt, weil die bezahlte Zeit abgelaufen ist. Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt.

Also. Irgendwo am anderen Ende der Stadt gibt es einen lächelnden, mageren neunzehnjährigen Jungen, der gerade aus dem Vietnamkrieg nach Hause geschickt worden ist, weil er ein paar fragwürdige Dinge getan hat, um in einem Militärhospital unterzukommen. Sein Gesicht ist gezeichnet von den jahrelangen Misshandlungen durch einen Vater, dem die Tomatenpflanzen in seinem Garten wichtiger waren als seine Kinder, und sein Blick ist stets argwöhnisch und wachsam, denn wenn ihn jemand, irgendjemand, zu genau oder zu lange ansieht, dann ist ihm klar, dass dieser Jemand etwas über ihn weiß, was er nicht wissen sollte, und dann gilt es entweder zuzuschlagen oder wegzulaufen. Gewöhnlich zuschlagen. Diesen Blick hat er auch nach Vietnam mitgenommen, wo er eine Lunge voll dioxinhaltigem Agent Orange abbekam und dann mit ansehen musste, wie sein bester Freund aus der Highschool neben ihm im Dschungel in Stücke gerissen wurde. Als er den zerfetzten Kopf seines Freundes in den Händen hielt, drangen gepresste, erschöpfte Schluchzer aus seiner Kehle. Vier Monate später bekommt er seine Entlassungspapiere, geht mit einem leisen hohen Summen zwischen den Ohren aus der Psychiatrieabteilung des Militärhospitals hinaus in die Sonne – nur ein leichter, nicht ganz eindeutiger Fall von paranoider Schizophrenie. Das ist mein Vater, Dan Gregory der Erste. Insgesamt verbrachte er nicht mehr als einige Monate in Vietnam.

Sandy und Dan begegneten sich kurze Zeit später zufällig auf dem Parkplatz der Tankstelle, bei der er arbeitete, und sie stürzten sich mit einem so bohrenden Verlangen aufeinander, dass ihre Seelen zu Kannibalen wurden. Sandy wollte bei Lane and Sullivan eigentlich nur tanken, doch als sie den Mechaniker bat, das Öl zu kontrollieren, erfuhr ihr Leben eine jähe Wende. Mein Vater stieg in ihr Auto und kam nie wieder heraus. Drei Monate lang umwarben sie einander, dann machten sie es amtlich. Unverbrüchlich. Dad wollte katholisch heiraten. Der Priester knöpfte sich Sandy vor und fragte: »Mein Kind, sind Sie sich darüber im Klaren, dass dieser Mann verrückt ist? Er ist verrückt.« Später erklärte sie wiederholt, sie habe keine Ahnung gehabt, dass er jemals in psychiatrischer Behandlung gewesen sei, und verbuchte die neunzehn Jahre, die sie mit ihm verbrachte, als Erfahrung, aus der man ja bekanntlich lernt.

Nun gut. Es ist eine Sache, in den Papieren des Kriegsveteranenamts zu lesen, dass dein Vater verrückt ist, und von deiner Mutter immer wieder bruchstückhafte Geschichten zu hören, die das bekräftigen. Etwas ganz anderes ist es, dieses Konzept aufzugeben und sich Jahre später, zurückblickend, zu fragen, ob diese Frau, deine Mutter, in Wirklichkeit nicht viel verrückter ist als der Mann, der dein Vater ist – nur dass es keine Dokumente gibt, die das belegen würden.

3

Meine ersten Erinnerungen an gesundheitliche Katastrophen stammen aus der Zeit, als wir nach Arizona zogen, um in der Nähe von Moms Mutter Grandma Madge zu wohnen. Ich war damals drei und hatte langes, dünnes, karamellblondes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden wurde. Damals genoss ich alle Freuden einer typischen Dreijährigen, lief geschützt durch ein auf den Hintern gebundenes Kissen Rollschuh, briet in der Mittagshitze von Phoenix auf dem Bürgersteig ein Ei, lernte vom mexikanischen Nachbarsjungen spanische Schimpfwörter und besuchte Grandma, die weiter oben an der Straße wohnte.

Grandma gehörte damals den wiedergeborenen Christen an und war eine eifrige Sonntagsschullehrerin. Passend zu ihrer fröhlichen Natur trug sie eine Stoffmütze mit einem aufgenähten Smiley. An den glutheißen Nachmittagen von Phoenix fuhr sie mit mir an den See, um Sonnenfische zu angeln. Unser Weg führte uns vorbei an den Bergen, deren Gipfel sich im Smog der Großstadt verloren, ehe er sich über der Wüste auflöste. Wenn wir den höchsten der Gipfel passierten, den Encino Mountain, parkte Grandma ihren Wagen auf dem staubigen Seitenstreifen, beschirmte die Augen mit der Hand und suchte den Berggipfel nach der Verkörperung Jesu ab. Sobald sie ihn entdeckt hatte, zog sie mich auf ihren Schoß, so dass ich aus dem Fahrerfenster blicken und die Offenbarung mit ihr teilen konnte.

»Siehst du ihn, Schätzchen?« Sie zeigte mit ihrem faltigen Finger an meinem Kopf vorbei. »Er ist genau dort.« Dann kniff sie das Auge zusammen, als würde sie durch ein Zielfernrohr blicken. Manchmal sah ihn Grandma Madge, wie er im Gebet kniete, manchmal stand er auch einfach nur da, die Bibel in der Hand. Und gelegentlich vergoss sie angesichts der reinen Schönheit dieses Anblicks ein paar Tränen. Dann zeigte sie wieder mit dem Finger. »Siehst du ihn denn nicht, Schätzchen? Er ist dort, ganz genau dort!«

Tut mir Leid, Grandma, ich glaube, ich kann nichts sehen. Grandma Madge geriet über mein mangelndes Vorstellungsvermögen so in Wut, dass ich mir aus der bruchstückhaften Erinnerung an die Bilder der Sonntagsschule seine Kleidung zusammenreimte:

»Oh, Grandma, ist er das dort, in dem braunen Gewand? Mit der jungen Ziege? Ja, ich glaube, jetzt kann ich ihn sehen.«

Grandma Madge erschauerte vor Begeisterung, als ich von seinen Riemensandalen zu reden begann. Doch dann umklammerte sie plötzlich meine schmalen Arme und schwang mich zu sich herum, so dass mich ihr fauliger Atem mit voller Wucht traf.

»Hast du wirklich dort droben Jesus gesehen?«, fragte sie. »Du lügst mich doch nicht an, oder? Denn Lügner kommen dirrrekt in die Hölle.« Das Wort »dirrrekt« schien geradewegs aus jener Tiefe zu hallen, die mir damals als der Höllenschlund schlechthin erschien. Es war das einzige Mal, dass Grandma Madge auf mich zornig wurde – als ich ihr vorlog, auf dem Gipfel des Encino Mountain, inmitten der öden Industrielandschaft außerhalb von Phoenix, Jesus gesehen zu haben. Künftig sah ich ihn etwas früher, und nachdem ich mir in der Sonntagsschule weitere Einzelheiten seiner Erscheinung eingeprägt hatte, glaubte ich es allmählich selbst. Ich hätte schwören können, dass jener Felsen, auf den mein Auge traf, wenn es Grandma Madges ausgestrecktem Zeigefinger folgte, die Form eines bärtigen, ins Gebet vertieften Mannes annahm.

Anschließend fuhren wir weiter zum See, hockten uns auf die glatt gewaschenen Ufersteine und fingen Fische, die sich kratzig anfühlten, wo immer ich sie berührte. »Sonnenfische« nannte Grandma sie, weil sie im Sonnenlicht, das sich auf dem Wasser fing, so schön glitzerten. Es gibt ein Foto aus jener Zeit, auf dem ich x-beinig im Wasser stehe, mit der Sonne um die Wette lache und eine Angelrute hoch über den Kopf halte, an deren Leine ein magerer kleiner Fisch zappelt. Wir schenkten den Fischen in der Regel die Freiheit, und das war für mich das Schönste daran: Ich gab sie Grandma, die ihnen den Haken aus dem Maul zog, und dann hockten wir am Ufer und sahen ihnen nach, wie sie davonschwammen. Für diejenigen, die mit dem Bauch nach oben trieben, hoffte ich und betete zu Jesus, dass es ihnen wirklich so gut ging, wie Grandma Madge behauptete, nachdem sie den Haken entfernt hatte.

Wenn die Sonne sank und sich die Wasserfläche sanft kräuselte, stiegen Grandma und ich wieder ins Auto, fuhren los und bauten einen Unfall.

Besonders dramatisch war es nie. Ein Frontalzusammenstoß hier, ein Auffahrunfall da, immer bei geringer Geschwindigkeit und gewöhnlich mit Leuten, die ähnlich alt waren wie sie. Etwa so wie beim Autoskooter, nur in echt. Manchmal sagte sie: »Jetzt geht´s los!« Das bedeutete, dass ich mich zusammenkauern, am Türgriff festhalten und die Augen zukneifen musste. Unser anvisiertes Ziel war für gewöhnlich etwas Rotes: Ein Verkehrsschild oder die Bremslichter eines Wagens. Nachdem sie mit einem anderen Fahrer zusammengestoßen war, sprang sie aus dem Auto und verschwand in der kleinen Gruppe von Menschen, die sich rasch ansammelte.

Ich kletterte aus der offenen Beifahrertür (Grandma war immer so nett, sich über mich zu beugen und sie mir von innen zu öffnen, ehe sie ausstieg) und lief durch die Menschenmenge. Meist gab es irgendeinen Fremden, der entsetzt war, dass ich dort am Unfallort auf der belebten Kreuzung stand, ohne zu wissen, wohin ich gehörte. Ich wurde hochgehoben, und man redete auf mich ein, stellte mir unzählige Fragen, brachte mich in einen Tankstellenshop oder zu einem Laden für Anglerzubehör oder zu sich nach Hause, bis dann irgendwann meine Mutter kam, um mich abzuholen.

Grandma wurde nie ernsthaft verletzt, nie musste sie ins Krankenhaus; sie baute diese Unfälle, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Mitten auf der Straße, ein Bein lässig auf einen Reifen gestützt, durchwühlte sie ihre riesige weiße Kunstlederhandtasche, fischte ihre Geldbörse heraus und zeigte den Leuten Fotos von ihrer vierjährigen Enkeltochter, die sie begleitete – und keinem fiel auf, dass diese Vierjährige verschwunden war.

Obwohl Grandmas Begeisterung angesichts eines Unfalls etwas Ansteckendes hatte, nahm man sie schließlich doch fest. Ein Polizist baute sich vor ihr auf wie eine steinerne Sphinx und hielt ihr einen Vortrag über die Gefahren ihrer unangebrachten Zechtouren. Grandma Madge lächelte nur, segnete ihn und setzte sich dann ohne jeden Widerstand auf den Rücksitz des Streifenwagens, wo sie sich die Bibel auf den Schoß legte und sie streichelte wie ein Perserkätzchen. Auf diese Weise verlor Grandma ihren Führerschein. Man verbot ihr, mich jemals wieder im Auto mitzunehmen und mit mir wegzufahren. Doch nach wie vor kam sie zu uns zum Babysitten, wenn meine Eltern ausgehen wollten.

Während Mom sich anzieht, setzt Dad mich auf sein Knie und lässt mich darauf reiten. »Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er.« Ich schüttele meine lange Mähne. »Aber Dad, ich bin doch kein Reiter! Ich bin doch deine Prinzessin«, erwidere ich kichernd.

Ich liebe meinen Vater heiß und innig. Er fährt mit mir zum Tankstellenshop und schnappt sich einen Schokoriegel aus dem Regal. Er reißt ihn auf, bricht mir eine Hälfte ab und lässt das Einwickelpapier sanft wie eine Feder aus der Hand zu Boden gleiten. Dann gehen wir hinaus, steigen in unseren Kleinwagen und düsen los. Den ganzen Weg bis nach Hause schütteln wir uns vor Lachen.

Wenn Grandma auf mich aufpasst, spielen wir Brettspiele. Wir nehmen ein Schaumbad, und ehe ich zu Bett gehe, gräbt sie in ihrer Handtasche und befördert aus deren unergründlichen Tiefen etwas hervor. Brocken von weichem zusammengeklebtem Zuckerpopcorn mit einem seltsamen Beigeschmack oder komische verklumpte Bonbons, deren Einwickelpapier sich bereits auflöst. Süßigkeiten von seiner Großmutter abzulehnen ist ein Verstoß gegen alle Regeln des guten Benehmens, den selbst eine Vierjährige vermeidet. Also sitze ich am Küchentisch und lutsche mit einem vorgetäuschten »Mmmmh« jedes eigenartige Produkt, das sie mir vorsetzt. Sie beobachtet mich dabei, und wenn ich es geschafft habe, fragt sie mich:

»Geht es dir auch gut, Liebes? Du siehst ein bisschen elend aus.«

Es geht mir gut, während ich auf dem Weg zu meinem Zimmer, wo ich mich ausziehen will, den langen Flur durchquere und dabei die Hand an der schimmernden Tapete entlanggleiten lasse. Grandma Madge folgt mir und denkt laut: »Ach, Süßes, ich mache mir solche Sorgen. Du siehst wirklich krank aus. Komm her, Grandma möchte mal deine Stirn fühlen.« Sie schiebt mir die blonden Strähnen aus dem Gesicht und berührt mit ihren eiskalten Fingern meine Wange.

»O Gott, Schätzchen, du glühst ja! Ich glaube, ich muss den Krankenwagen rufen.« Grandmas ernstes, vor Sorge verzerrtes Gesicht schwebt nur wenige Zentimeter vor meinem. Sie zieht meine Augenlider auseinander und sucht nach Krankheitsanzeichen, die sie den Ärzten berichten kann. Vielleicht habe ich ja doch ein komisches Gefühl im Bauch. Womöglich habe ich auch Fieber. Bin ich krank, Grandma?

»Oh, meine Kleine, du bist ja so krank. Aber wir warten lieber, bis deine Mutter nach Hause kommt. Dann fahren wir alle zusammen ins Krankenhaus. Ich würde dich ja jetzt gleich hinbringen, aber dein Daddy möchte das nicht. Du wirst schon nicht sterben, bis sie heimkommen. Wenigstens hoffe ich das, Kleines.« Sie tätschelt mir kopfschüttelnd die Wange.

»Und jetzt lass uns beten!« Grandma legt ihre Hand in die meine und senkt den Kopf. Ich beginne zu schluchzen. Ich will nicht sterben. Aber Grandma weiß nicht, ob ich es überleben werde. Mein Magen hat sich verknotet wie ein geflochtener Zopf. Sie steckt mich ins Bett und türmt am Kopfende Kissen auf, so dass ich daliege wie die Neunzigjährige weiter unten an der Straße, die lange dahinsiechte, ehe sie im letzten Jahr starb.

Erneut fragt mich Grandma nach den heftigen Schmerzen in meinem Bauch, und um selbst nachzutasten, lasse ich die Hand unter die Decke gleiten. Ich traue mich nicht mehr, normal zu atmen. Grandma geht im Zimmer auf und ab, zwischen mir und dem Telefon hin und her. Sie nimmt den Hörer hoch, wählt die Nummer der Ambulanz, legt aber wieder auf, als sich jemand meldet. Stattdessen wickelt sie sich die Spiralen der Telefonschnur um den Finger, löst sie wieder, späht aus dem Fenster, fühlt meine Stirn, geht noch einmal zum Telefon, nimmt den Hörer ab, lauscht dem Freizeichen und legt dann wieder auf.

Irgendwann gleitet sanftes Scheinwerferlicht über die Auffahrt. Ein Auto rollt in die Garage, der Motor wird abgestellt. Mom und Dad kommen leise durch die Haustür. Madge schaltet resolut das Deckenlicht an, treibt sie zur Eile, erklärt ihnen hastig, dass ich etwas Komisches gegessen habe, dass ein fremder Mann gekommen sei und ihr Zuckerpopcorn geschenkt und sie gedacht habe, es sei in Ordnung, weil der Schwarze so nett gewesen sei und nicht so ausgesehen habe, als könnte er etwas Gefährliches tun wie das mit den Rasierklingen, wovon man heutzutage so viel hört.

Die Hände gleich einer Gottesanbeterin vor der Brust gefaltet, zwitschert Grandma Madge wie ein Vogel, höher und immer höher.

Meine Eltern stehen blinzelnd da. Sie brauchen einen Augenblick, ehe sie das Gesagte begreifen. Als es ihnen endlich klar wird, platzt Mom los: »Du meine Güte! Wie konntest du nur, Madge! Was ist los mit dir? Sie ist doch noch so klein. Wie konntest du zulassen, dass sie Süßigkeiten isst, die ihr ein Schwarzer gegeben hat?«

Stumm lässt Dad den Blick zwischen den beiden Frauen hin- und herpendeln, als würde er ein Tennisspiel verfolgen. Dann lässt er das Kinn auf die Brust sinken, seufzt tief auf und trottet an uns vorbei, um sich zu Bett zu legen. Er war damals fünfundzwanzig.

Mom hingegen ist außer sich. Sie rennt durchs Haus und sucht Dinge zusammen, die sie mitnehmen will, für den Fall, dass ich im Krankenhaus bleiben muss, für den Fall, dass ich es nicht schaffe. Dabei ruft sie Grandma Madge Anweisungen zu.

Und dann werde ich plötzlich hochgenommen, in Decken gewickelt und im Laufschritt zum Auto getragen. Auf dem Weg zum Krankenhaus jagen wir schleudernd um Kurven und rasen über rote Ampeln. Hin und wieder wendet sich Mom an Madge: »Wie geht es ihr?« Die reckt einen schlaffen Arm nach hinten und lässt ihn auf meiner Brust ruhen, um zu ertasten, ob sie sich noch mit meinem Atem hebt und senkt.

Als wir auf dem Parkplatz vor der Notaufnahme anhalten und Grandma, deren Sitz im Dunkeln liegt, nach ihrer riesigen Handtasche tastet, dreht sich Mom zu mir auf dem Rücksitz um. Im gelben Schein der Straßenlaterne scheint ihr Gesicht zu leuchten, als würde sie von innen glühen. Sie greift nach hinten und streicht die Falten an meinem Schlafanzug glatt, dann nimmt sie mich fest ins Visier.