Du oder der Rest der Welt - Simone Elkeles - E-Book

Du oder der Rest der Welt E-Book

Simone Elkeles

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Beschreibung

Die süchtig machende Bestsellerserie geht weiter!

Das Letzte, was Carlos Fuentes will, als er zu seinem Bruder Alex zieht, ist, es diesem gleichzutun. Denn weder ist Carlos bereit, auf sein Image als »Bad Guy« zu verzichten, noch mag er sich wie Alex und dessen Freundin Brittany in eine feste Beziehung begeben. Und schon gar nicht will Carlos sich auf seine Mitschülerin Kiara einlassen, denn sie ist das exakte Gegenteil der Mädchen, auf die er bislang abfuhr. Auch Kiara hat alles andere im Sinn, als mit einem arroganten Latino-Macho wie Carlos anzubandeln. Und doch ziehen sich Kiara und Carlos magisch an – und riskieren damit mehr, als sie je geglaubt hätten. Denn selbst wenn Carlos Kiara zuliebe sein ganzes bisheriges Leben über den Haufen wirft – in seiner ehemaligen Gang gibt es Leute, die das unter keinen Umständen zulassen wollen…

Romantisch, sexy, voll emotionaler Wucht erzählt garantiert Simone Elkeles absolute Suchtgefahr – wer einmal anfängt, hört unter Garantie nicht mehr auf!

Alle Bände der »Du oder…«-Trilogie:
Du oder das ganze Leben (Band 1)
Du oder der Rest der Welt (Band 2)
Du oder die große Liebe (Band 3)

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Seitenzahl: 476

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DIE AUTORIN

Simone Elkeles wuchs in der Gegend von Chicago auf, hat dort Psychologie studiert und lebt dort auch heute mit ihrer Familie und ihren zwei Hunden. Ihre Romane »Du oder das ganze Leben« und »Du oder der Rest der Welt«, für die sie zum »Illinois Author of the Year« gewählt wurde, wurden zu weltweiten Bestsellern.

Leserstimmen zu »Du oder das ganze Leben«:

»Du oder das ganze Leben« hat einfach das gewisse Etwas. Es knistert beim Lesen. Es zieht einen in seinen Bann. Es ist ein Pageturner, und man will es nicht mehr aus der Hand legen. FAZIT: UNBEDINGT LESEN!«amazon.de

»Diese moderne Romeo-und-Julia-Variante macht süchtig!« Teens Read Too

» GENIAL! Mehr, mehr, mehr!«amazon.de

Inhaltsverzeichnis

DIE AUTORINWidmung1 - Carlos2 - Kiara3 - CarlosCopyright

Für Karen Harris, eine unglaublich tolle Freundin, Mentorin, kritische Partnerin, Autorin und noch so vieles mehr. Ohne Deinen Rat und Deine Freundschaft wäre ich in den letzten sieben Jahren verloren gewesen. Ich danke Dir eine Million Mal dafür, dass Du mich auf dieser Reise begleitet hast.

1

Carlos

Ich träume davon, ein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu führen. Aber ich bin Mexikaner, also wacht mi familia über alles, was ich tue, egal, was ich davon halte. Na ja, von Überwachung zu reden ist im Grunde viel zu harmlos, es ist eher so, als würde man in einer Diktatur leben.

Mi’amá hat mich nicht gefragt, ob ich Mexiko verlassen und nach Colorado zu meinem Bruder Alex ziehen möchte, um dort meinen Highschool-Abschluss zu machen. Sie hat die Entscheidung ganz allein getroffen, mich »zu meinem eigenen Besten« (ihre Worte, nicht meine) zurück nach Amerika zu schicken. Und als dann noch der Rest meiner familia sie darin bestärkt hat, war es beschlossene Sache.

Glauben die wirklich, dass sie damit verhindern können, dass ich sechs Fuß unter der Erde oder im Knast ende? Seit ich vor zwei Monaten in der Zuckerfabrik rausgeflogen bin, habe ich einen auf la vida loca gemacht. Und ich habe nicht vor, das zu ändern.

Ich gucke aus dem kleinen Fenster, während das Flugzeug über die schneebedeckten Spitzen der Rockies schwebt. Ich bin definitiv nicht mehr in Atencingo … aber genauso wenig in den Suburbs von Chicago, wo ich die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, bis mi’amá uns gezwungen hat, unsere Sachen zu packen, um uns nach Mexiko zu verschleppen.

Als der Flieger landet, beobachte ich, wie die anderen Passagiere hektisch ihre Sachen zusammensuchen. Ich bleibe noch etwas sitzen und versuche, das alles auf die Reihe zu kriegen. Gleich werde ich meinen Bruder zum ersten Mal seit fast zwei Jahren wiedersehen. Verdammt, ich bin nicht mal sicher, ob ich ihn überhaupt sehen will.

Das Flugzeug ist beinah leer, also kann ich das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern. Ich schnappe mir meinen Rucksack und folge den Schildern bis zur Gepäckausgabe. Als ich den Sicherheitsbereich verlasse, sehe ich meinen Bruder Alex, der hinter der Absperrung auf mich wartet. Ich habe gedacht, ich würde ihn vielleicht nicht erkennen oder das Gefühl haben, wir wären Fremde statt Familie. Aber mein großer Bruder ist eben mein großer Bruder. Sein Gesicht ist mir so vertraut, als wäre es mein eigenes. Einen kurzen Moment lang spüre ich Triumph darüber, dass ich inzwischen größer bin als er und nicht mehr der halbwüchsige, dünne Spargel, den er zurückgelassen hat.

»Ya estás en Colorado«, sagt er und zieht mich an sich.

Als er mich loslässt, fallen mir die verblassten Narben über seinen Augenbrauen und neben seinen Ohren auf, die noch nicht da waren, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Er sieht älter aus, aber der wachsame Blick, der zu ihm gehörte wie ein Schutzschild, ist verschwunden. Ich glaube, ich trage diesen Schutzschild nun.

»Gracias«, sage ich ausdruckslos. Er weiß, dass ich nicht hier sein will. Onkel Julio ist nicht von meiner Seite gewichen, bis er mich in den Flieger bugsiert hatte. Und er hat gedroht, am Flughafen zu bleiben, bis mein Hintern sich in die Lüfte erhoben hätte.

»Du hast hoffentlich nicht vergessen, wie man Englisch spricht, oder?«, fragt mein Bruder auf dem Weg zum Auto.

Ich rolle mit den Augen. »Wir leben erst seit zwei Jahren in Mexiko, Alex. Oder sollte ich sagen: Mamá, Luis und ich sind erst vor zwei Jahren nach Mexiko gezogen. Du hast uns sitzenlassen. «

»Ich hab euch nicht sitzenlassen. Ich gehe aufs College, um was Sinnvolles aus meinem Leben zu machen. Solltest du auch mal versuchen.«

»Nein, danke. Ich steh auf mein sinnloses Leben.«

Ich schultere meine Tasche und folge Alex nach draußen.

»Warum trägst du das da um deinen Hals?«, fragte mein Bruder mich.

»Das ist ein Rosenkranz«, erwidere ich und fingere an dem Kreuz, das an einer Kette aus schwarzen und weißen Perlen hängt. »Ich bin gläubig geworden, seit wir uns zuletzt gesehen haben.«

»Von wegen gläubig. Ich weiß genau, dass es ein Gangsymbol ist«, sagt er, als wir vor einem silbernen BMW-Sportcoupé stehen bleiben. Mein Bruder könnte sich so einen heißen Schlitten nie leisten; er muss ihn sich von seiner Freundin Brittany geliehen haben.

»Und wenn schon.« Alex war selbst in einer Gang, als wir noch in Chicago gelebt haben. Mi papá war ebenfalls ein Gangster. Ob es Alex passt oder nicht, ein böser Junge zu sein wurde mir in die Wiege gelegt. Ich habe versucht, ein normales Leben zu führen und mich an Regeln zu halten, und habe mich nie beschwert, obwohl ich für lumpige fünfzig pesos jeden Tag nach der Schule wie ein Hund geschuftet habe. Aber dann, nachdem ich rausgeworfen wurde und mich den Guerreros del barrio angeschlossen hatte, habe ich an einem Tag über tausend pesos verdient. Es war vielleicht kein sauber verdientes Geld, aber es hat dafür gesorgt, dass wir was zu essen auf dem Tisch hatten.

»Hast du denn gar nichts aus meinen Fehlern gelernt?«, will er wissen.

Scheiße, als Alex noch ein Latino Blood war, damals in Chicago, da habe ich ihn angebetet. »Meine Antwort auf diese Frage willst du nicht hören.«

Alex schüttelt gefrustet den Kopf, greift sich meine Sporttasche und wirft sie auf den Rücksitz des Wagens. Er hat den Ausstieg aus der Gang geschafft. Na und? Die Tattoos wird er den Rest seines Lebens tragen. Ob er es glauben will oder nicht, die anderen werden in ihm immer das Latino Blood sehen. Es spielt gar keine Rolle, ob er in der Gang aktiv ist.

Ich mustere meinen Bruder ausgiebig. Er hat sich verändert, kein Zweifel. Das habe ich vom ersten Augenblick an gespürt. Er sieht vielleicht aus wie Alex Fuentes, aber ich weiß, dass er den Kampfgeist verloren hat, den er einst besaß. Jetzt, wo er aufs College geht, meint er, die Welt in einen besseren, funkelnden Ort verwandeln zu können, wenn er sich nur schön brav an die Regeln hält. Schon erstaunlich, wie schnell er vergessen hat, dass wir vor nicht allzu langer Zeit im Vorortabschaum von Chicago gelebt haben. Manche Teile der Welt bringst du nicht zum Funkeln, egal wie sehr du versuchst, sie vom Dreck zu befreien und auf Hochglanz zu polieren.

»¿Y Mamá?«, fragt Alex.

»Ihr geht’s gut.«

»Und was ist mit Luis?«

»Dem auch. Unser kleiner Bruder ist fast so schlau wie du, Alex. Er denkt, er wird mal Astronaut wie José Hernández.«

Alex nickt wie ein stolzer Papa, und ich habe den Eindruck, er glaubt allen Ernstes, dass Luis seinen Traum verwirklichen wird. Die zwei haben doch Wahnvorstellungen … sie sind Träumer, alle beide. Alex glaubt, er könnte die Welt retten, indem er Heilmittel gegen die Seuchen der Menschheit findet, und Luis meint, er könne von dieser Welt zu neuen Ufern aufbrechen und ferne Welten entdecken.

Als wir auf den Highway biegen, sehe ich in der Ferne eine Bergkette. Sie erinnert mich an die raue Landschaft Mexikos.

»Die Berge da sind die Front Range«, erklärt Alex mir. »Die Uni liegt am Fuß der Berge.« Er deutet zu seiner Linken. »Die dort drüben werden Flatiron genannt, weil die Steine so platt sind wie Bügelbretter. Ich nehm dich irgendwann mal dahin mit. Brit und ich gehen immer in den Bergen spazieren, wenn wir eine Auszeit von der Uni brauchen.«

Als er mir einen kurzen Blick zuwirft, starre ich meinen Bruder an, als hätte er plötzlich zwei Köpfe.

»Was ist?«, fragt er.

Macht er Witze? ¿Me está tomando los pelos? »Ich frage mich nur, wer du bist und was zum Teufel du mit meinem Bruder gemacht hast. Mein Bruder Alex war ein Rebell, und jetzt redet er über Berge, Bügelbretter und Spaziergänge mit seiner Freundin.«

»Wäre dir eine Geschichte übers Saufen und Abstürzen lieber?«

»Ja!«, sagte ich und tue so, als hätte er damit ins Schwarze getroffen. »Und wenn du mir bitte verrätst, wo ich mich hier besinnungslos betrinken kann, denn ich halte es nicht lange ohne irgendeine illegale Substanz in meinem Blut aus.« Ich lüge ihn an. Mi’amá hat ihm wahrscheinlich erzählt, sie vermute, dass ich Drogen nehme, also kann ich genauso gut so tun, als sei da was dran.

»Alles klar. Spar dir den Mist für Mamá auf, Carlos. Ich falle genauso wenig darauf herein wie du.«

Ich lege meine Füße auf das Armaturenbrett. »Du hast ja keinen Schimmer.«

Alex schiebt sie runter. »Geht’s noch? Das ist Brittanys Auto.«

»Du stehst so was von unter dem Pantoffel, Mann. Wann gibst du der gringa endlich den Laufpass und legst dir einen ganzen Harem zu, wie alle anderen Collegetypen auch?«, frage ich ihn.

»Brittany und ich haben nichts mit anderen.«

»Warum nicht?«

»Es nennt sich miteinander gehen.«

»Es macht dich zu einem panocha. Wenn ein Typ nur ein Mädchen hat, ist das gegen die Natur, Alex. Ich bin völlig ungebunden und frei und plane das auch zu bleiben.«

»Nur damit wir uns verstehen, Señor Harem, in meinem Appartement legst du keine flach.«

Er ist vielleicht mein großer Bruder, aber unser Vater ist seit Langem tot und begraben. Ich brauche seine beschissenen Regeln nicht. Ich will sie nicht. Es ist an der Zeit, dass ich nach meinen eigenen Regeln lebe. »Nur damit wir uns verstehen, ich habe verdammt noch mal vor, zu tun und zu lassen, was ich will, solange ich hier bin.«

»Tu uns beiden den Gefallen und hör auf mich. Du könntest sogar was dabei lernen.«

Ich lache kurz auf. Ja, klar. Was will er mir schon beibringen? Mit dem Chemiebaukasten zu experimentieren? Wie man eine Collegebewerbung schreibt? Ich habe weder das eine noch das andere vor.

Wir schweigen beide, während wir weitere fünfundvierzig Minuten dahinbrausen. Die Berge rücken mit jeder Meile näher. Wir fahren mitten über den Campus der Universität von Colorado. Gebäude aus roten Ziegelsteinen ragen in die Landschaft hinein, und überall sind Studenten mit Rucksäcken unterwegs. Glaubt Alex wirklich, dass er dem Schicksal ein Schnippchen schlagen kann und einen hoch bezahlten Job findet, der ihn davon erlöst, sein Leben lang ein armer Schlucker zu sein? Das wird garantiert nicht passieren. Die Leute werden einen Blick auf ihn und seine Tattoos werfen und ihn schleunigst wieder vor die Tür setzen.

»Ich muss in einer Stunde auf der Arbeit sein, aber ich sorge erst noch dafür, dass du dich bei mir zu Hause zurechtfindest«, sagt er und lenkt den Wagen in eine Parkbucht.

Ich weiß, dass er einen Job in einer Autowerkstatt angenommen hat, um den Schuldenberg abzutragen, der sich durch die Studiendarlehen der Schule und der Regierung angehäuft hat.

»Das hier ist es«, sagt er und zeigt auf das Gebäude direkt vor uns. »Tu casa.«

Diese runde, achtstöckige Augenkrankheit von einem Gebäude, die an einen riesigen Maiskolben erinnert, ist so weit von einem Zuhause entfernt, wie es nur geht, aber egal. Ich ziehe meine Tasche aus dem Auto und schlurfe hinter Alex nach drinnen.

»Ich hoffe, wir sind hier im Armeleuteviertel der Stadt, Alex«, sage ich. »Von reichen Leuten kriege ich Pickel.«

»Ich lebe nicht im Luxus, wenn du das gemeint hast. Das hier ist subventionierter Wohnungsbau.«

Wir nehmen den Aufzug in den dritten Stock. Auf dem Gang riecht es nach kalter Pizza, und der Teppich hat etliche Flecken vorzuweisen. Zwei heiße Bräute in Sportklamotten kommen an uns vorbei. Alex lächelt sie an. So verträumt wie sie zurückgucken, wäre ich nicht überrascht, wenn sie plötzlich auf die Knie fielen und den Boden küssten, über den er wandelt.

»Mandi und Jessica, das ist mein Bruder Carlos.«

»Hal-lo, Carlos …« Jessica mustert mich von oben bis unten. Auf einmal bin ich mitten im siebten Collegehimmel. Und es fühlt sich geil an. »Warum hast du uns nicht gesagt, dass er so scharf ist?«

»Er geht noch auf die Highschool«, warnt Alex sie.

Was glaubt er, wer er ist? Mein Schwanzwärter? »Abschlussklasse«, platze ich heraus und hoffe, damit die Enttäuschung abzumildern, dass ich kein Collegestudent bin. »In ein paar Monaten werde ich achtzehn.«

»Wir schmeißen eine Geburtstagsparty für dich«, verspricht Mandy.

»Cool«, sage ich. »Kann ich euch beide als Geschenk haben? «

»Wenn Alex nichts dagegen hat«, flötet Mandy.

Alex geht davon und fährt sich mit der Hand durch das Haar. »Ich kann nur verlieren, wenn ich dazu einen Kommentar abgebe.«

Die Mädchen lachen. Dann joggen sie den Flur runter, aber nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und zum Abschied zu winken.

Wir gehen in Alex’ Appartement. Er lebt wirklich nicht im Luxus. Ein Bett mit einer dünnen schwarzen Fleecedecke darauf steht an der einen Wand, ein Tisch mit vier Stühlen rechts gegenüber, und neben der Wohnungstür geht eine Küche ab, die so klein ist, dass kaum zwei Leute gleichzeitig hineinpassen würden. Das ist noch nicht mal ein Einzimmerappartement. Es ist ein Studio. Ein kleines Studio.

Alex deutet auf die Tür neben seinem Bett. »Das Badezimmer ist da. Dein Zeug kannst du in den Schrank gegenüber der Küche tun.«

Ich schmeiße meine Tasche in den Schrank und gehe weiter in den Raum hinein. »Mm, Alex … wo soll ich eigentlich schlafen?«

»Ich habe eine Luftmatratze von Mandy geliehen.«

»Está buena – sie ist süß.« Ich sehe mir das Zimmer genauer an. In unserem Haus in Chicago habe ich mir ein viel kleineres Zimmer mit Alex und Luis geteilt. »Wo ist der Fernseher?«, frage ich.

»Ich hab keinen.«

Scheiße. Das ist nicht gut. »Was zum Henker soll ich machen, wenn mir langweilig ist?«

»Lies ein Buch.«

»Estás chiflado, du spinnst doch. Ich lese nicht.«

»Ab morgen wirst du es tun«, sagt er, während er gleichzeitig ein Fenster öffnet, um etwas frische Luft hineinzulassen. »Ich habe deine Zeugniskopien schon eingereicht. Sie erwarten dich morgen an der Flatiron High.«

Schule? Mein Bruder fängt von der Schule an? Mann, das ist das Letzte, worüber man als Siebzehnjähriger nachdenken will. Ich hatte angenommen, er gibt mir mindestens eine Woche, um mich wieder in den Staaten einzuleben. Zeit, einen anderen Gang einzulegen. »Wo hast du dein Gras versteckt?«, frage ich und bin mir bewusst, dass ich damit seine Geduld auf eine harte Probe stelle. »Du solltest es mir lieber verraten, damit ich nicht in deiner Wohnung rumschnüffeln muss, um es zu finden.«

»Ich hab keins.«

»Okay. Und wer ist dein Dealer?«

»Du kapierst es einfach nicht, Carlos. Ich mach diesen Scheiß nicht mehr.«

»Du hast gesagt, dass du arbeiten gehst. Verdienst du da kein Geld?«

»Doch, und damit kaufe ich ein, gehe aufs College und überweise, was immer übrig bleibt, an Mamá.«

Während ich noch versuche, die News zu verarbeiten, öffnet sich die Wohnungstür. Ich erkenne seine blonde Freundin sofort. In der einen Hand hat sie den Wohnungsschlüssel und ihre Handtasche, in der anderen hält sie eine große braune Papiertüte. Sie sieht wie eine zum Leben erweckte Barbiepuppe aus. Mein Bruder nimmt ihr die Papiertüte ab und küsst sie. Sie könnten genauso gut verheiratet sein. »Carlos, du erinnerst dich doch bestimmt noch an Brittany.«

Sie öffnet die Arme weit und zieht mich in eine Umarmung. »Carlos, es ist so schön, dass du da bist!«, zwitschert Brittany fröhlich. Ich hatte ganz vergessen, dass sie an der Highschool Cheerleaderin war, aber sobald sie den Mund aufmacht, fällt es mir wieder ein.

»Für wen?«, sage ich abwehrend.

Sie tritt einen Schritt zurück. »Für dich. Und für Alex. Er vermisst seine Familie.«

»Na klar.«

Sie räuspert sich und wirkt ein bisschen verunsichert. »Hm … okay, also ich hab euch Jungs was vom Chinesen geholt. Ich hoffe, ihr seid hungrig.«

»Wir sind Mexikaner«, erzähle ich ihr. »Warum hast du kein mexikanisches Essen geholt?«

Brittanys perfekt geformte Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Das soll ein Witz sein, oder?«

»Eigentlich nicht.«

Sie wendet sich der Küche zu. » Alex, kannst du mir hier mal helfen?«

Alex erscheint mit Papptellern und Plastikbesteck in den Händen. »Carlos, was ist dein Problem?«

Ich zucke mit den Achseln. »Ich hab kein Problem. Ich habe deine Freundin nur gefragt, warum sie kein mexikanisches Essen gekauft hat. Sie ist diejenige, die so ein großes Ding draus macht.«

»Denk an deine Manieren und bedank dich, anstatt sie blöd anzumachen.«

Es ist glasklar, auf welcher Seite mein Bruder steht. Einmal hat Alex zu mir gesagt, er sei der Latino Blood nur beigetreten, um unsere Familie zu beschützen – und damit Luis und ich nicht in die Gang müssten. Aber jetzt zeigt sich, dass ihm die Familie einen Scheißdreck bedeutet.

Brittany hebt abwehrend die Hände. »Ich möchte nicht, dass ihr zwei meinetwegen streitet.« Sie schiebt den Riemen ihrer Handtasche auf der Schulter weiter nach oben und seufzt. »Ich denke, ich geh dann mal besser, damit ihr euch wieder aneinander gewöhnen könnt.«

»Geh nicht«, sagt Alex.

Dios mio. Ich befürchte, mein Bruder hat seine Eier irgendwo zwischen Mexiko und hier verloren. Oder vielleicht trägt Brittany sie ja auch in ihrer schicken Handtasche mit sich herum.» Alex, lass sie gehen, wenn sie gehen will.« Es ist Zeit, die Leine zu kappen, die sie ihm angelegt hat.

»Ist schon okay, wirklich«, sagt sie und küsst meinen Bruder. »Lasst euch das Mittagessen schmecken. Ich seh dich dann morgen. Ciao, Carlos.«

»Hm, hm.« Sobald sie weg ist, schnappe ich mir die braune Tüte von der Anrichte und bringe sie zum Tisch. Ich lese die Beschriftung der einzelnen Boxen laut vor. Hühnchen Chow Mein … Rind Chow Fun … Pu-pu-Platte. »Pu-pu-Platte?«

»Das sind gemischte Vorspeisen«, erklärt Alex.

Ich werde nichts anrühren, dass als Pu-pu bezeichnet wird. Mich nervt, dass mein Bruder überhaupt weiß, was eine Pu-pu-Platte ist. Ich lasse die Box in Ruhe, schaufle mir etwas von dem identifizierbaren chinesischen Essen auf meinen Teller und beginne zu kauen. »Isst du nichts?«, frage ich Alex.

Er guckt mich an, als sei ich ein völlig Fremder.

»¿Qué pasa?«, frage ich.

»Brittany wird nirgendwohin gehen, verstehst du.«

»Das ist ja das Problem. Warum siehst du das denn nicht?«

»Was ich sehe, ist mein siebzehnjähriger Bruder, der sich aufführt, als sei er fünf. Zeit, erwachsen zu werden, mocoso.«

»Damit ich so scheißlangweilig werde wie du? Nein, danke.«

Alex schnappt sich seine Schlüssel.

»Wo willst du hin?«

»Ich gehe mich bei meiner Freundin entschuldigen und dann zur Arbeit. Fühl dich wie zu Hause«, sagt er und wirft mir die Wohnungsschlüssel zu. »Und mach keinen Ärger.«

»Wenn du sowieso mit Brittany reden willst«, sage ich und nehme einen Bissen von einer Frühlingsrolle, »warum fragst du sie bei der Gelegenheit nicht gleich, ob sie dir deine Eier zurückgibt?«

2

Kiara

»Kiara, ich kann nicht glaube, dass er per SMS mit dir Schluss gemacht hat«, sagt mein bester Freund Tuck, während er die drei Sätze auf meinem Handy liest. Wir sind in meinem Zimmer, und Tuck sitzt an meinem Schreibtisch. »Das m uns lft nich. Sry. Don’t h8 me.« Er wirft mir das Handy wieder zu. »Das Mindeste wäre gewesen, alles auszuschreiben. Don’t h8 me? Der Typ ist ein Witz. Natürlich hasst du ihn jetzt.«

Ich liege auf dem Rücken auf meinem Bett und starre die Decke an, und ich denke an das erste Mal zurück, als Michael und ich uns geküsst haben. Es war beim Open-Air-Sommerkonzert in Niwot hinter der Eisbude. »Ich hatte ihn gern.«

»Hm. Ich konnte ihn noch nie leiden. Man sollte niemandem trauen, den man im Wartezimmer seines Therapeuten kennenlernt.«

Ich drehe mich auf den Bauch und stütze mich auf meine Ellbogen. »Ich war beim Logopäden. Und er hat nur seinen Bruder hingebracht.«

Tuck, der bisher noch keinen Jungen leiden konnte, mit dem ich gegangen bin, zieht ein pinkfarbenes Notizbuch aus meinem Schreibtisch, auf dem ein Totenkopf prangt. Er wackelt mahnend mit dem Zeigefinger. »Vertrau niemals einem Kerl, der dir beim zweiten Date erzählt, dass er dich liebt. Ist mir mal so gegangen. Die Beziehung war für’n Arsch.«

»Warum? Glaubst du nicht an Liebe auf den ersten Blick?«

»Nein. Ich glaube an Lust auf den ersten Blick. An Begehren. Aber nicht an Liebe. Michael hat dir nur gesagt, dass er dich liebt, damit du ihn ranlässt.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich bin ein Kerl, daher weiß ich es.« Tuck runzelt die Stirn. »Du hast es nicht mit ihm gemacht, oder?«

»Nein«, sage ich und schüttle den Kopf, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Wir haben nur so rumgemacht, aber ich wollte den nächsten Schritt nicht gehen. Ich war … ach, ich weiß auch nicht. Ich war einfach noch nicht so weit, schätze ich.

Ich habe Michael weder gesprochen noch gesehen, seit vor zwei Wochen die Schule wieder angefangen hat. Klar, wir haben ein paar SMS hin- und hergeschickt, aber er hat die ganze Zeit behauptet, er habe viel um die Ohren und würde sich melden, wenn er eine freie Minute hätte. Er ist Senior in Longmont, das sind zwanzig Minuten von hier, und ich gehe in Boulder zur Schule, also habe ich gedacht, er sei einfach mit Schulkram beschäftigt. Aber jetzt weiß ich, dass der Grund für die Funkstille nicht der Hausaufgabenoverkill war. Der Grund war, dass er Schluss machen wollte.

Ist es, weil er eine andere kennengelernt hat?

Ist es, weil er mich nicht hübsch genug findet?

Ist es, weil ich nicht mit ihm schlafen wollte?

Es kann nicht daran liegen, dass ich stottere. Ich habe den ganzen Sommer geübt und seit Juni nicht einmal mehr gestottert. Jede Woche bin ich zum Logopäden gegangen, jeden Tag habe ich vor dem Spiegel sprechen geübt, in jeder Minute achte ich darauf, die Worte ganz bewusst auszusprechen, die aus meinem Mund kommen. Früher war es eine Tortur, etwas zu sagen. Ich wartete auf den verwirrten Blick der Leute und die »Oh, sie hat ein Problem«-Erkenntnis. Dann kam der mitleidige Blick. Und dann die »Sie ist bestimmt zurückgeblieben«-Annahme. Für einige Mädchen an meiner Schule war ich mit meinem Stottern die perfekte Lachnummer.

Aber ich stottere nicht mehr.

Tuck weiß, dass ich entschlossen bin, allen meine selbstbewusste Seite zu zeigen – die Seite, die ich den Leuten von der Schule bisher nicht präsentiert habe. Die ersten drei Jahre auf der Highschool war ich schüchtern und introvertiert, weil ich eine ungeheure Angst davor hatte, dass die Leute sich über meine Stotterei lustig machen. Von heute an werden sie statt Kiara Westford der Schüchternen Kiara Westford die Selbstbewusste kennenlernen, die keine Angst davor hat, ihre Meinung zu sagen.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Michael mit mir Schluss machen würde. Ich war fest davon ausgegagenen, wir würden zusammen zum Homecoming-Ball gehen und zum Abschlussball …

»Hör auf, an Michael zu denken«, befiehlt mir Tuck.

»Er war süß.«

»Das sind haarige Frettchen auch, aber ich würde trotzdem nicht mit einem ausgehen wollen. Du findest etwas Besseres als ihn. Verkauf dich nicht unter Wert.«

»Sieh mich an«, sage ich zu ihm. »Blick der Realität ins Auge. Ich bin nicht Madison Stone.«

»Und dafür danke ich Gott. Ich hasse Madison Stone.«

Madison katapultiert den Ausdruck »gemeine Schlampe« auf ein völlig neues Level. Diesem Mädchen gelingt alles, was es anpackt, und es würde die Wahl zum beliebtesten Mädchen der Schule locker gewinnen. Alle Mädchen wollen mit ihr befreundet sein, damit sie mit den coolen Leuten abhängen können. Madison Stone entscheidet, wer zu denen gehört. »Alle mögen sie.«

»Das liegt nur daran, dass sie Angst vor ihr haben. Insgeheim hassen sie alle.« Tuck beginnt, etwas in mein Notizbuch zu kritzeln, dann reicht er es mir. »Hier«, sagt er und wirft mir einen Stift zu.

Ich starre auf die Seite. Ganz oben steht Rezept fürs Verlieben, und ein fetter Strich teilt die Seite von oben bis unten in zwei Felder.

»Was soll das?«

»Wir notieren erst mal die Zutaten, die du mitbringst. In die linke Spalte schreibst du alles, was toll an dir ist.«

Will er mich verarschen? »Nein.«

»Komm schon, leg los. Betrachte es als Selbsthilfeübung und als Weg zur Erkenntnis, dass Mädchen wie Madison Stone überhaupt nicht attraktiv sind. Beende den Satz: Ich, Kiara Westford, bin toll, weil …«

Ich weiß, dass Tuck nicht lockerlassen wird, also schreibe ich irgendwas Blödes und gebe ihm das Buch zurück.

Er liest meine Worte und verzieht das Gesicht. »Ich, Kiara Westford, bin toll, weil ich weiß, wie man einen Football wirft, das Öl von meinem Wagen wechselt und einen Viertausender besteigt. Pah, daran sind Kerle nicht interessiert.« Er schnappt sich meinen Stift, setzt sich zu mir auf die Bettkante und beginnt wild zu kritzeln. »Lass uns mit den Basics anfangen. Man braucht Zutaten aus drei Bereichen.«

»Wer hat sich dieses Rezept ausgedacht?«

»Ich. Das hier ist ein Rezept aus der Sterneküche von Tuck Reese. Zuerst geht es um deine Persönlichkeit. Du bist klug, witzig und sarkastisch«, sagt er und listet die Eigenschaften der Reihe nach in meinem Notizbuch auf.

»Ich bin nicht sicher, ob das alles was Gutes ist.«

»Vertrau mir, das ist es. Doch halt, das ist noch längst nicht alles. Du bist außerdem eine Freundin, auf die man sich verlassen kann, du liebst Herausforderungen mehr als die meisten Jungs, die ich kenne, und du bist eine tolle große Schwester für Brandon.« Als er mit Schreiben fertig ist, guckt er hoch. »Beim zweiten Teil geht es um deine Fähigkeiten. Du weißt, wie man Autos repariert, du bist sportlich, und du hältst im richtigen Moment die Klappe.«

»Das Letzte ist keine Fähigkeit.«

»Süße, vertrau mir. Es ist eine.«

»Du hast meinen speziellen Walnuss-Spinat-Salat vergessen. « Ich kann nicht kochen, aber dieser Salat ist der Hit.

»Du machst einen Wahnsinnssalat«, sagt Tuck und schreibt es auf die Liste. »Okay, jetzt kommt der letzte Teil: körperliche Vorzüge.« Er sieht mich von oben bis unten abschätzend an.

Ich stöhne und frage mich, wann diese Demütigung endlich ein Ende nimmt. »Ich fühle mich wie eine Kuh, die versteigert werden soll.«

»Ja, ja, was immer. Du hast reine Haut und eine hübsche Vorwitznase, die perfekt zu deinen wohlgeformten Titten passt. Wenn ich nicht schwul wäre, käme ich vielleicht in Versuchung …«

»Iih.« Ich schlage seine Hand vom Papier. »Tuck, könntest du bitte dieses Wort nicht sagen oder schreiben?«

Er schüttelt sich die langen Haare aus dem Gesicht. »Welches denn? Titten?«

»Ugh. Ja, genau das. Sag einfach Busen oder Brüste, bitte. Das T-Wort klingt so … vulgär.«

Tuck schnaubt und rollt mit den Augen. »Okay, wohlgeformte … Brüste.« Er lacht sich schlapp. »Tut mir leid, Kiara, das klingt wie etwas, dass man auf den Grill schmeißt oder im Restaurant bestellt.« Er tut so, als sei mein Notizbuch eine Menükarte, und trägt mit gestelltem britischen Akzent vor: »Ober, ich hätte gern die gegrillten wohlgeformten Brüste mit Krautsalat.«

Ich werfe ihm Mojo, meinen großen blauen Teddybären, an den Kopf. »Nenn sie einfach Oberweite und mach weiter.«

Mojo prallt an ihm ab und landet auf dem Fußboden. Mein bester Freund lässt sich davon nicht irritieren. »Wohlgeformte Titten, weg damit. Wohlgeformte Brüste, weg damit.« Er macht großes Aufheben draus, beides durchzustreichen. »Ersetzen durch … wohlgeformte Oberweite«, sagt er und schreibt die Worte auf, während er sie sagt. »Lange Beine, lange Wimpern.« Er wirft einen Blick auf meine Hände und rümpft die Nase. » Krieg das nicht in den falschen Hals, aber du könntest eine Maniküre gebrauchen.«

»War ’s das?«, frage ich.

»Keine Ahnung. Fällt dir noch was anderes ein?«

Ich schüttle den Kopf.

»Okay, jetzt, wo wir wissen, wie unglaublich toll du bist, müssen wir festhalten, was für einen Typ Kerl du gern hättest. Wir schreiben es auf die rechte Seite. Es sind sozusagen die Zutaten, die du für das perfekte Verliebtsein noch brauchst. Lass uns mit seinem Charakter anfangen. Du willst einen Kerl, der … füll die Lücke.«

»Ich will einen Kerl, der Selbstvertrauen hat. Viel Selbstvertrauen. «

»Gut«, sagt er und schreibt es auf.

»Ich will einen Freund, der nett zu mir ist.«

Tuck schreibt weiter. »Netter Typ.«

»Einen, der klug ist«, füge ich hinzu.

»Lebensklug oder die Bücher verschlingende Sorte?«

»Beides?«, sage ich fragend, da ich nicht weiß, ob es die richtige oder falsche Antwort ist.

Er streicht mir über den Kopf, als wäre ich ein kleines Kind. »Also gut. Lass uns zu den Fähigkeiten kommen.« Er bedeutet mir zu schweigen und hindert mich so daran, noch etwas beizutragen. Womit ich gut leben kann. »Ich schreibe diesen Teil für dich auf. Du willst einen Kerl, der dasselbe drauf hat wie du und noch ein bisschen mehr. Jemand, der gern Sport macht, der zumindest Achtung davor hat, dass du diese dämliche alte Karre, die du ein Auto nennst, indstand setzen kannst und …«

»Mist.« Ich springe vom Bett auf. »Das hätte ich beinah vergessen. Ich muss in die Stadt, um etwas in der Werkstatt abzuholen.«

»Bitte sag mir, dass es keines dieser komischen Duftbäumchen ist, die man an den Rückspiegel hängt.«

»Es ist kein Duftbäumchen. Es ist ein Radio. Ein altes.«

»Oh, Wahnsinn! Ein altes Radio, das perfekt zu deiner alten Karre passen wird!«, sagt Tuck ironisch und klatscht ein paar Mal gespielt aufgeregt in die Hände.

Ich rolle mit den Augen. »Willst du mit?« »Nein.« Er schlägt mein Notizbuch zu und schiebt es zurück in meine Schreibtischschublade. »Ich habe keinen Bock, danebenzustehen und zu lauschen, während du mit Leuten, die sich ernsthaft dafür interessieren, über Autos redest.«

Nachdem ich Tuck zu Hause abgesetzt habe, brauche ich fünfzehn Minuten bis zu McConnells Autowerkstatt. Ich biege mit meinem Auto in die Werkstatt und entdecke Alex, einen der Mechaniker, der über den Motor eines VW Käfers gebeugt dasteht. Alex war im letzten Jahr einer von Dads Studenten. Mein Vater hat irgendwann nach einer Unterrichtsstunde herausgefunden, dass Alex Autos repariert. Er hat ihm von dem 1972er Monte Carlo erzählt, den ich restauriere, und Alex hat mir von da an geholfen, Teile für mein Auto zu bekommen.

»Hey, Kiara.« Er wischt sich die Hände an einem Tuch ab und bittet mich zu warten, während er das Radio holt. »Hier ist es«, sagt er und öffnet den Karton. Er zieht das Radio heraus und wickelt es aus seiner Luftpolsterfolie. Die Drähte auf der Rückseite stehen ab wie dürre Beinchen, aber es ist genau richtig. Ich weiß, ich sollte wegen eines Radios nicht so aus dem Häuschen sein, aber mein Armaturenbrett wäre ohne es nicht vollständig. Dasjenige, das ursprünglich in meinem Auto war, hat nicht funktioniert, und seine Plastikfront hatte Sprünge. Deshalb hat Alex im Internet nach einem authentischen Ersatz gesucht.

»Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, es auszuprobieren«, sagt er und wackelt an jedem Draht, um sicherzugehen, dass keiner lose ist. »Ich musste meinen Bruder vom Flughafen abholen, deswegen konnte ich nicht eher kommen.«

»Ist er zu Besuch aus Mexiko?«, frage ich.

»Er ist nicht zu Besuch. Er wird ab morgen Senior an der Flatiron sein«, sagt er, während er mir eine Rechnung schreibt. »Auf die gehst du doch auch, oder?«

Ich nicke.

Alex legt das Radio zurück in den Karton. »Brauchst du Hilfe beim Einbau?«

Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich es allein schaffen würde, aber nachdem ich es gesehen habe, bin ich mir da nicht mehr so sicher. »Vielleicht«, erwidere ich. »Als ich letztes Mal Drähte löten wollte, waren sie danach hin.«

»Dann zahl heute noch nicht«, sagt er. »Wenn du morgen nach der Schule Zeit hast, komm vorbei, und ich bau es dir ein. Auf diese Weise kann ich es auch in Ruhe ausprobieren.«

»Danke, Alex.«

Er sieht von der Rechnung auf und klopft mit seinem Stift auf den Tresen. »Ich weiß, das hört sich bestimmt loco an, aber kannst du meinem Bruder helfen, sich in der Schule zurechtzufinden? Er kennt noch niemanden.«

»Wir haben ein Buddy-Programm für solche Fälle«, sage ich, stolz, helfen zu können. »Ich kann euch morgen im Büro des Direktors treffen und mich als sein Buddy eintragen lassen. « Die alte Kiara wäre zu schüchtern dafür gewesen und hätte dieses Angebot nie gemacht, aber das gilt nicht für die neue Kiara.

»Ich muss dich warnen …«

»Wovor?«

»Mein Bruder ist manchmal nicht leicht im Umgang.«

Meine Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen, denn wie Tuck gesagt hat: »Ich liebe die Herausforderung.«

3

Carlos

»Ich brauche keinen Buddy.«

Das sind die ersten Worte, die meinen Mund verlassen, als Mr House, der Direktor der Flatiron Highschool, mir Kiara Westford vorstellt.

»Wir sind sehr stolz auf unser Buddy-Programm«, sagt Mr House zu Alex. »Es sorgt für ein leichteres Eingewöhnen.«

Mein Bruder nickt. »Mich müssen Sie nicht davon überzeugen. Ich finde die Idee klasse.«

»Ich nicht«, murmle ich. Ich brauche kein dämliches Buddy-Programm, weil es (1.) offensichtlich ist, dass Alex Kiara kennt, so wie er sie vor ein paar Minuten begrüßt hat, und das Mädchen (2.) nicht besonders heiß ist. Sie hat ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, trägt lederne Wanderstiefel zu einer Dreiviertelstretchhose von irgendeinem Sportlabel und ist vom Hals bis zu den Knien von einem überdimensionalen T-Shirt bedeckt, auf dem das Wort Mountaineer prangt. Außerdem brauche ich (3.) keinen Babysitter, insbesondere keinen, den mein Bruder für mich ausgesucht hat.

Mr House sitzt in seinem großen braunen Ledersessel und reicht Kiara eine Kopie meines Stundenplans. Na toll, jetzt weiß das Mädel, wo ich in jeder verdammten Minute des Tages zu sein habe. Wenn die Situation nicht so demütigend wäre, wäre sie zum Totlachen.

»Das hier ist eine große Schule, Carlos«, sagte House, als könnte ich die Karte nicht ohne Hilfe lesen. » Kiara ist eine unserer vorbildlichsten Schülerinnen. Sie wird dir den Weg zu deinem Spind zeigen und dich während deiner ersten Woche zu allen Stunden bringen.«

»Fertig?«, fragt das Mädchen mit einem breiten Grinsen. »Es hat schon zum letzten Mal zur ersten Stunde geläutet.«

Könnte ich bitte einen anderen Buddy bekommen? Einen, der es nicht so geil findet, um sieben Uhr dreißig in der Schule zu sein?

Alex winkt mir zum Abschied, und ich bin versucht, ihm den Finger zu zeigen, aber ich bin nicht sicher, ob der Direx das begrüßen würde.

Ich folge der Vorbildschülerin auf den leeren Gang und habe den Eindruck, in der Hölle angekommen zu sein. Im Flur steht ein Spind neben dem anderen, und die Wände sind mit Plakaten gepflastert. Auf einem steht: Yes, we Kahn! Wählt Megan Kahn zur Schülersprecherin. Auf einem anderen: Jason Tu. Euer Tu-was-Typ. Schatzmeister Schülervertretung! Solche Plakate hängen neben denen von Leuten, die tatsächlich verlangen: Macht gesünderes Schulessen zur Norm! Stimmt für Norm Redding.

Gesünderes Schulessen?

Scheiße, in Mexiko hat man gegessen, was man von zu Hause mitgebracht hatte, oder das Zeug, das einem vorgesetzt wurde. Man hatte gar keine andere Wahl. Da, wo ich in Mexiko gelebt habe, hasst du gegessen, um zu überleben, und dir keine Sorgen um Kalorien oder Kohlenhydrate gemacht. Das heißt natürlich nicht, dass einige Leute in Mexiko nicht wie die Könige leben. Wie in Amerika gibt es definitiv in jedem der einunddreißig mexikanischen Staaten reiche Gegenden … aber meine Familie hat nicht dort gelebt.

Ich gehöre nicht an die Flatiron High, und so sicher wie das Amen in der Kirche möchte ich diesem Mädchen nicht die ganze Woche hinterherdackeln. Ich frage mich, wie viel die Vorbildschülerin einstecken kann, bevor sie aufgibt und den Job hinschmeißt.

Sie führt mich zu meinem Spind, und ich schiebe mein Zeug hinein. »Mein Spind ist nur zwei von deinem entfernt«, verkündet sie, als wäre das was richtig Gutes. Als ich so weit bin, studiert sie meinen Stundenplan und marschiert gleichzeitig los, den Flur hinunter. »Mr Henneseys Klasse ist ein Stockwerk höher.«

»¿Dónde está el servicio?«, frage ich sie.

»Hä? Ich kann kein Spanisch. Je parle français – ich spreche Französisch.«

»Warum? Leben viele Franzosen in Colorado?« »Nein, aber ich möchte ein Semester in Frankreich studieren, wenn ich auf dem College bin, wie meine Mutter.«

Meine Mutter hat noch nicht mal die Highschool abgeschlossen. Sie wurde schwanger mit Alex und heiratete meinen Dad.

»Du lernst eine Sprache, die du nur ein Semester brauchen wirst? Hört sich bescheuert an.« Ich bleibe stehen, als wir an einer Tür vorbeikommen, auf die eine männliche Strichfigur gemalt ist. Mit meinem Daumen zeige ich auf die Tür. »Servicio heißt Toilette. Ich habe gefragt, wo die Toilette ist.«

»Oh.« Sie sieht etwas verwirrt aus, als könne sie mit einer Abweichung vom Stundenplan nicht umgehen. »Ich werde einfach hier auf dich warten.«

Zeit, ein bisschen Spaß zu haben, indem ich meinen Buddy verarsche. »Du könntest natürlich auch mit reinkommen und mir alles zeigen. Ich meine, ich weiß ja nicht, wie weit du dieses Buddy-Ding treiben willst.«

»Nicht so weit.« Sie schürzt die Lippen, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen, und schüttelt den Kopf. »Geh schon. Ich warte.«

In der Toilette stütze ich mich mit den Händen am Waschbecken ab und hole tief Luft. Aus dem Spiegel guckt mir ein Typ entgegen, den seine Familie für einen kompletten Versager hält.

Vielleicht hätte ich mi’amá die Wahrheit erzählen sollen: dass ich gefeuert wurde, weil ich die kleine, fünfzehnjährige Emilie Juarez davor beschützen wollte, von einem der Aufseher begrapscht zu werden. Schlimm genug, dass sie die Schule schmeißen musste, um arbeiten zu gehen und mitzuhelfen, ihre Familie zu ernähren. Als unser Boss meinte, er könnte sie mit seinen schmutzigen Finger betatschen, bloß weil er el jefe war, bin ich ausgerastet. Ja, es hat mich meinen Job gekostet … aber das war es wert, und ich würde es jederzeit wieder tun, sogar, wenn die Konsequenzen dieselben wären.

Ein Klopfen an der Tür katapultiert mich in die Realität zurück und erinnert mich daran, dass ich von einem Mädchen zum Unterricht begleitet werde, das so angezogen ist, als wolle es gleich den Mount Everst besteigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mädchen wie Kiara je für irgendwas einen Kerl brauchen wird. Sollte jemand es wagen, sie zu bedrohen, würde sie ihn einfach mit ihrer Zeltplane von einem T-Shirt ersticken.

Die Tür geht einen winzigen Spalt auf. »Bist du immer noch da drin?« Kiaras Stimme hallt von den Wänden der Toilette.

»Yep.«

»Bist du bald fertig?«

Ich rolle mit den Augen. Als ich eine Minute später aus der Toilette komme und auf die Treppe zugehe, bemerke ich, dass meine Begleiterin mir nicht folgt. Sie steht auf dem leeren Gang und hat immer noch den angefressenen Ausdruck im Gesicht. »Du musstest nicht mal«, sagt sie und klingt angepisst. »Du hast nur rumgetrödelt.«

»Du bist ein Genie«, sage ich ausdruckslos, dann springe ich zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch.

Erster Punkt für Carlos Fuentes.

Ich höre ihre Schritte hinter mir auf dem Flur, sie versucht mich einzuholen. Während ich den Flur im ersten Stock entlanggehe, denke ich darüber nach, wie ich sie am besten loswerden könnte.

»Danke, dass du mich ohne Grund mit einer Megaverspätung zum Unterricht kommen lässt«, sagt sie und ist wieder hinter mir.

»Gib mir dafür nicht die Schuld. Das mit dem Babysitter war nicht meine Idee. Und um das klarzustellen: Ich finde mich auch allein bestens zurecht.«

»Ach, tatsächlich?«, sagt sie. »Du bist gerade an Mr Henneseys Zimmer vorbeigelatscht.«

Mist.

Ein Punkt für die Vorzeigeschülerin.

Jetzt steht es eins zu eins. Die Sache ist, Unentschieden ist nicht mein Ding. Ich will gewinnen, und zwar mit deutlichem Vorsprung.

Die Augen meiner kleinen Fremdenführerin blitzen amüsiert auf, was mich echt ankotzt.

Ich stelle mich dicht vor sie, extrem dicht. »Hast du schon mal geschwänzt?«, frage ich sie mit einem vielsagenden, flirtenden Unterton. Es ist der Versuch, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, damit ich wieder die Oberhand gewinne.

»Nein«, sagt sie langsam. Sie sieht nervös aus.

Gut. Ich beuge mich noch näher zu ihr. »Wir sollten es irgendwann mal zusammen machen«, sage ich sanft, dann öffne ich die Tür des Klassenzimmers.

Ich höre, wie sie geräuschvoll Luft holt. Mal ehrlich, ich habe nicht um einen Körper gebeten, der jede Braut schwachmacht. Aber dank der DNA-Kombi meiner Eltern habe ich ihn, und ich schäme mich nicht, das auch auszunutzen. Praktischerweise habe ich dazu noch ein Gesicht, um das Adonis mich beneiden würde. Beides sind Vorzüge, mit denen ich vom Leben beschenkt wurde, und ich werde das mir verliehene Potential voll ausschöpfen, sei es nun zum Guten oder Schlechten.

Kiara stellt mich hastig Mr Hennesey vor und verschwindet dann ebenso hastig aus der Tür. Ich hoffe, mein Flirten hat sie ein für allemal vertrieben. Falls nicht, muss ich mich beim nächsten Mal mehr anstrengen. Ich sitze im Matheunterricht und checke die Leute im Raum. Die Kids hier sehen alle aus, als kämen sie aus Wohlstandsfamilien. Kein Vergleich zu Fairfield, dem Vorort von Chicago, in dem ich gelebt habe, bevor wir nach Mexiko gegangen sind. An der Fairfield High gab es reiche Kids und arme Kids. Die Flatiron High wirkt eher wie eine dieser teuren Privatschulen in Chicago, wo alle Schüler Designerklamotten tragen und dicke Autos fahren.

Wir haben uns immer über diese Typen lustig gemacht. Jetzt bin ich von ihnen umzingelt.

Die Mathestunde ist kaum vorbei, da steht Kiara schon vor der Tür und wartet auf mich. Ich fass es nicht.

»Na, wie war’s?«, fragt sie so laut, dass ich sie trotz des Gewusels um uns herum verstehen kann. Alle hasten zu ihrem nächsten Unterricht, als gäbe es kein Morgen.

»Darauf willst du doch keine ehrliche Antwort!«

»Eigentlich nicht. Komm schon, wir haben nur fünf Minuten. « Sie bahnt sich ihren Weg durch die Menge. Ich folge ihr, den Blick auf ihren Pferdeschwanz gerichtet, der bei jedem ihrer Schritte auf und ab wippt. »Alex hat mich gewarnt, dass du ein Rebell seiest.«

Wenn die wüsste. »Woher kennst du meinen Bruder?«

»Er war einer von Dads Studenten. Und er hilft mir mit dem Wagen, den ich wieder zum Laufen bringen will.«

Diese chica ist nicht von dieser Welt. »Was weißt du denn schon über Autos?«

»Mehr als du«, sagt sie über ihre Schulter.

Ich muss lachen. »Wollen wir wetten?«

»Vielleicht.« Sie bleibt vor einem Raum stehen. »Hier ist dein Biounterricht.«

Eine heiße Braut geht an uns vorbei in die Klasse. Sie trägt enge Jeans und ein noch engeres T-Shirt. »Wow, wer war das?«

»Madison Stone«, brummt Kiara.

»Stell mich ihr vor.«

»Warum?«

Weil ich weiß, dass du es zum Kotzen fändest. »Warum nicht?«, sage ich nur.

Sie umklammert ihre Bücher, die sie schützend vor der Brust hält, als wären sie ein Schild. »Ohne nachdenken zu müssen, fallen mir da gleich fünf Gründe ein«, erwidert sie schnippisch.

Ich zucke die Achseln. »Okay. Lass hören.«

»Wir haben keine Zeit, es wird jeden Moment läuten. Meinst du, du kannst dich Mrs Shevelenko selbst vorstellen? Mir ist gerade eingefallen, dass ich meine Französischhausaufgaben in meinem Spind vergessen habe.«

»Du beeilst dich besser.« Ich werfe einen Blick auf mein Handgelenk, an dem keine Uhr ist, aber ich glaube nicht, dass ihr das auffällt. »Es wird jeden Moment läuten.«

»Wir treffen uns nachher hier wieder.« Sie rennt davon.

In der Klasse warte ich darauf, dass Shevelenko von ihrem Pult hochguckt und mich zur Kenntnis nimmt. Sie ist mit ihrem Laptop zugange. Wie es aussieht, verschickt sie private E-Mails.

Ich räuspere mich, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie wirft mir einen Blick zu und schließt das Mailprogramm. »Such dir einen Platz, ich gehe gleich die Anwesenheitsliste durch.«

»Ich bin neu hier«, erkläre ich ihr. Darauf hätte sie eigentlich von allein kommen müssen, schließlich war ich die letzten zwei Wochen nicht in ihrem Unterricht, aber egal.

»Bist du der Austauschschüler aus Mexiko?«

Nicht wirklich. Es nennt sich Schulwechsel, aber ich glaube nicht, dass die Frau sich für solche Details interessiert. »Ja.«

Obwohl ich nicht scharf darauf bin, fallen mir die Schweißperlen auf ihrem pfirsichfarbenen Oberlippenbärtchen auf. Ich bin ziemlich sicher, dass es Leute gibt, die sich um so was kümmern. Meine Tante Consuelo hatte das gleiche Problem, bis meine Mom sie sich geschnappt und sie mit etwas Heißwachs in einen Raum gesperrt hat.

»Sprichst du zu Hause Spanisch oder Englisch?«, fragt Shevelenko.

Ich bin noch nicht mal sicher, ob die Frage legal ist, aber gut. »Beides.«

Sie reckt den Hals und sucht die Klasse ab. »Ramiro, komm her.«

Ein Latino-Junge kommt nach vorn zu uns. Der Typ ist eine größere Ausgabe von Alex’ bestem Freund Paco. Als sie Seniors waren, wurden sie angeschossen, und unser ganzes Leben geriet aus dem Lot. Paco starb. Ich weiß nicht, ob wir je über das hinwegkommen werden, was damals geschah. Mein Bruder war kaum aus dem Krankenhaus, da zogen wir auch schon zu Verwandten nach Mexiko. Seit der Schießerei ist nichts mehr, wie es war.

»Ramiro, das ist …« Shevelenko sieht mich fragend an. »Wie heißt du?«

»Carlos.«

Sie sieht Ramiro an. »Er ist Mexikaner, du bist Mexikaner. Sorgt dafür, dass ihr zwei Spanischsprecher bei Partnerarbeiten ein Team bildet.«

Ich folge Ramiro zu einem der Labortische. »Hat sie sie noch alle?«

»Ich fürchte, nein. Wie ich gehört habe, hat Nazi-Schatzi letztes Jahr diesen Typen namens Iwan sechs Monate lang ›den Russen‹ genannt, bevor sie sich seinen Namen gemerkt hat.«

»Nazi-Schatzi?«, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Sieh mich nicht so an, Mann«, sagt Ramiro. »Der Spitzname ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Sie hat ihn schon seit über zwanzig Jahren.«

Es läutet, aber alle quatschen weiter. Nazi-Schatzi hat sich wieder ihrem Computer zugewandt, sie ist immer noch mit ihren E-Mails beschäftigt.

»Me llamo Ramiro, aber der Name ist viel zu mexikanisch, deshalb sagen alle Ram zu mir.«

Mein Name ist auch typisch mexikanisch, aber ich sehe keinen Sinn darin, meine Herkunft zu dizzen und mich ab sofort Carl zu nennen, nur um dazuzugehöhren. Es braucht nur einen Blick, und du weißt, dass ich Latino bin. Also warum sollte ich so tun, als sei ich jemand anders? Ich habe Alex immer vorgeworfen, ein Weißer sein zu wollen, weil er seinen Geburtsnamen Alejandro ablehnt.

»Me llamo Carlos. Du kannst mich Carlos nennen.«

Jetzt, da ich ihm mehr Aufmerksamkeit widme, fällt mir auf, dass Ram so ein Golfshirt mit einem Designerlogo trägt. Er hat vielleicht Familie in Mexiko, aber ich wette, su familia lebt in einer vollkommen anderen Welt als meine.

»Also was geht hier so ab?«, frage ich ihn.

»Die Frage ist eher, was hier nicht abgeht«, sagt Ram. »Wir hängen in der Pearl Street Mall ab, gehen ins Kino, wandern, snowboarden, raften, bergsteigen und amüsieren uns mit den Chicks aus Niwot und Longmont.«

Nichts davon entspricht meiner Vorstellung von Spaß, mal abgesehen vom Allerletzten.

Uns gegenüber sitzt die heiße Schnecke Madison. Abgesehen von ihren engen Klamotten hat sie langes blondes Haar mit Strähnchen, ein breites Lächeln und ungeheuer große Titten, die sogar Brittany Konkurrenz machen. Nicht, dass ich ein Auge auf die Freundin meines Bruders geworfen hätte, sie sind einfach nur schwer zu übersehen.

Madison beugt sich vor. »Ich hab gehört, du bist neu hier«, sagte sie. »Ich bin Madison. Und dein Name ist …«

»Carlos«, platzt Ram heraus, bevor ich etwas erwidern kann.

»Ich bin sicher, er kann sprechen, Ram«, zischt sie. Dann streicht sie ihr Haar hinter das Ohr und lässt Diamantenohrringe aufblitzen, mit denen sie allen Ernstes jemanden blenden könnte, wenn die Sonne im richtigen Winkel darauf trifft. Sie lehnt sich zu mir und beißt sich auf die Unterlippe. »Du bist der neue Typ aus Meh-hi-ko?«

Es irritiert mich jedes Mal, wenn weiße Kids versuchen, so zu klingen, als wären sie Mexikaner. Ich frage mich, was sie noch so über mich gehört hat. »Sí«, sage ich.

Sie wirft mir ein sexy Lächeln zu und lehnt sich noch näher zu mir. »Estás muy caliente.«

Ich glaube, sie hat mich gerade scharf genannt. In Meh-hi-ko drücken wir es anders aus, aber ich verstehe, was sie mir sagen will.

»Ich könnte einen guten Spanischnachhilfelehrer gebrauchen. Mein letzter hat sich als totaler Loser herausgestellt.«

Ram räuspert sich. »¡Qué tipa! Falls du es noch nicht erraten hast, ich war ihr letzter Nachhilfelehrer.«

Ich beobachte noch immer Madison. Wie es scheint, hat sie es echt drauf und kein Problem damit, ihr Vorzüge zur Schau zu stellen. Auch wenn ich normalerweise auf exotische, mexikanische chicas mit honigfarbener Haut stehe, weiß ich hundertpro, dass kein Typ Madison widerstehen kann. Und sie weiß es auch.

Als ein Mädchen sie zu ihrem Tisch rüberruft, drehe ich mich zu Ram. »Warst du ihr Nachhilfelehrer oder ihr Freund?«, frage ich ihn.

»Beides. Manchmal gleichzeitig. Wir haben vor einem Monat Schluss gemacht. Hör auf meinen Rat und halt dich von ihr fern. Sie ist bissig.«

»Soll ich das wörtlich verstehen?«, frage ich grinsend.

»Ernsthaft, du willst ihr nicht nah genug kommen, um das herauszufinden. Lass uns einfach sagen, gegen Ende unserer Beziehung war ich der Schüler und sie die Nachhilfelehrerin. Und ich rede nicht über Spanischunterricht.«

»Está sabrosa. Das Risiko gehe ich ein.«

»Dann versuch dein Glück, Mann«, sagt Ram mit einem Achselzucken. »Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Ich plane nicht, der Freund von irgendwem zu werden, aber ich hätte nichts dagegen, ein paar Mädchen von der Flatiron High mit in Alex’ Appartement zu nehmen. Nur um zu beweisen, dass ich das komplette Gegenteil von ihm bin. Ich werfe Madison einen Blick zu, und sie lächelt, als wäre noch viel mehr für mich drin. Mmh, sie wäre genau die Richtige, um Alex zu schocken. Sie ist wie Brittany, nur ohne den Heiligenschein.

Nachdem ich mich durch den morgendlichen Unterricht

cbt ist der Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Dezember 2011

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2010 für den Originaltext Simone Elkeles

© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbt, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Rules of Attraction« bei Walker Publishing Company, New York Übersetzung: Katrin Weingran Lektorat: Kerstin Kipker

st · Herstellung: AnG

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

eISBN 978-3-641-06520-1

www.cbt-jugendbuch.de

www.randomhouse.de

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