Efeu pflücken - Jürgen Borchert - E-Book

Efeu pflücken E-Book

Jürgen Borchert

4,8

Beschreibung

Efeu pflücken? Den Titel für seine historischen Miniaturen verdankt Jürgen Borchert der Gewohnheit eines Freundes, von Gräbern berühmter Menschen einen Efeuzweig zu pflücken, um sich so in seinem Garten eine immergrüne Autogrammsammlung anzulegen. Auch Borchert lässt Tote wieder lebendig werden. Die Liste der Leute, denen wir in seinen historischen Miniaturen begegnen, ist lang. Dazu gehören Bahnmeister Wilhelm Hansen, der ein spanischer Grande war, und Ritter vom Goldenen Vließ und Ritter der Georgsbrüder und Träger des Roten Adlerordens erster Klasse, ebenso wie der Präsident der Prignitz und Bethke, der unfromme Pastor und der verschwundene Professor Fritz Wachenhusen sowie auch Johann Sebastian Bach – jedenfalls beinahe. Außerdem ist von dem oft Wittenberg verwechselten Wittenberge die Rede, von den Türmen von Bautzen und nicht zuletzt von John Brickman in Amerika. Und hinterher ist man bestimmt nicht nur schlauer als zuvor, sondern auch im besten Sinne des Wortes amüsiert. INHALT: Bahnmeister Wilhelm Hansen, Grande von Spanien. 1840 Karl Wilhelm Liebke - Präsident der Prignitz. 1918 Überflüssige Bemerkungen zu einer mittleren Stadt. 1980 Bethke, der unfromme Pastor. 1945 Abschweifungen bei der Suche nach Wachenhusen. 1925 Ein Denkmal für Franz Giese. 1963 Mein lieber Hennemann! oder Die Ziege als Säugamme. 1837 Brinckman in Amerika. 1839 Bach überquert die Elbe bei Werben. 1705 Bautzens Türme. 1980

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Impressum

Jürgen Borchert

Efeu pflücken

Historische Miniaturen

ISBN 978-3-86394-693-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1982 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.ddrautoren.de

Bahnmeister Wilhelm Hansen, Grande von Spanien. 1840

Ja, Sie haben recht gelesen. Und außerdem war er noch Ritter vom Goldenen Vließ und Ritter der Georgsbrüder und Träger des Roten Adlerordens erster Klasse und was weiß ich noch alles, und eigentlich war er doch nur ein kleiner Brauerbursch, der Wilhelm Hansen aus Wilsnack in Preußen.

Wilsnack, in der westlichen Prignitz inmitten ausgedehnter Wälder gelegen, hat unsere Geschichte durch die bekannte Mär vom Wunderblut bereichert. Allhier, nach einem Brande der vormals hölzernen Dorfkirche, fand ein orthodoxer Eiferer irgendwann im Mittelalter drei Blutstropfen auf einer Hostie. Die Forscher glauben, dass das Altargemälde während des Brandes drei rote Farbtropfen ausschwitzte, die auf die heiligen Hostien fielen und also das Wunder bewirkten. Jedenfalls gab's landauf, landab für zweihundert Jahre ein groß Gedränge, weil alle Welt, die halbe und die ganze, des Segens teilhaftig werden wollte. Tatsächlich werden noch heute Krücken gezeigt, die irgendwelche gebrestigen Pilger von sich warfen nach dem Anblick des Wunderbluts. Luther und Hus haben der Sache ihr verdientes Ende gesetzt.

Heute trägt Wilsnack den stolzen Beinamen »Bad«, das macht, es kuriert mithilfe heilkräftiger Moore unsere Rheumatiker und Gichtkranken, und man sagt, ihre Wirkung auf den Organismus sei im allgemeinen vorzüglich und im besonderen unersetzlich.

Bürgermeister Hinze, gottlob, findet ab und an neben seinen Alltagsgeschäften Zeit, in seinen Archiven zu kramen. Und da findet er nun eines Tages die Geschichte vom Bahnmeister Hansen, dem Ritter vom Goldenen Vließ, Granden von Spanien.

Lieber B., schreibt Hinze, beiliegend sende ich Ihnen die Abschrift einer Geschichte, die ich ausgebuddelt habe. Vielleicht können Sie sie mal verwenden. Gruß Hinze.

Da stimme ich vorderhand ein Lob an auf alle die Hinzes, die ab und an Zeit finden, in ihren Archiven zu kramen. Die Hinzes wissen, dass in diesen ihren Archiven, auf den staubigen Dachböden unserer Kleinstadtrathäuser, manches Menschenschicksal seinen Dornröschenschlaf schläft. Und wenn kein Hinze kommt und das Dornröschen wachküsst, wird nie ein Schreibermensch von einem solchen Leben erfahren.

Hinzes Abschrift erweist sich bei näherem Hinsehen als die Abschrift von der Abschrift eines Zeitungsartikels, dessen Verfasser sich unter dem Deckmantel der Anonymität verbirgt - halten Sie es meiner Pedanterie zugute, wenn ich dem Beginn und dem Fortgang solche bibliografischen Hindernisse in den Weg lege. Ich muss es von vornherein sagen: ich stehe für nichts. Der Artikel, den Freund Hinze heranzieht, soll in einem Periodikum mit dem Namen »Bad Wilsnacker Zeitung« am 30. September und am 3. Oktober 1931 in zwei Fortsetzungen erschienen sein, und es nimmt niemanden, höchstens die Bibliothekare, wunder, dass sich in keiner Bibliothek unseres sammelwütigen Ländchens davon ein Blatt erhalten hat. Sollten also unter den geneigten Lesern Personen sich befinden, die ein Original der zitierten Zeitung zu besitzen glauben, so bittet um gefällige Nachricht

der Verfasser.

Genug der Vorrede.

*

Der Brauerbursch Wilhelm Hansen, geboren am 21. Juni 1795 zu Wilsnack, daselbst das edle Handwerk des Bierbrauers erlernt habend, wirft sich Anno zwölf oder dreizehn vorigen Jahrhunderts mit Elan auf den Feind. Leicht hat er's: er steht in einer breiten Bewegung gegen Napoleum, und das kleine Städtgen Wilsnack allein hat mehr als hundert Streiter auf den Plan gestellt.

Der Herr Kommandeur der Bürgergarde, der hochbetagte Leutnant von Klöden, kann alters-und gichthalber nicht mit in den vaterländischen Streit humpeln, er befehligt von Hause aus und ist somit an der Besiegung Napoleons bei Belle-Alliance durchaus beteiligt, denn seine Kürassiere, und unter ihnen der breitschultrige Hansen, tuen ihr Teil. Holdrio!

Nun müssen Sie sich aber vorstellen, wie Wilsnack beschaffen ist. Mitten im Städtchen steht die ungeheuerliche Wunderblutkirche. In den Marken gibt's derlei öfter: ein winziges Gemeinwesen, dörflich fast, fachwerken hingestellt, durchgrunzt und durchblökt von Schwein und Schaf und Ochse, lindenbesäumt, kopfsteingepflastert, und mittendrin ein Koloss von Sakralbau, ein Moloch von Kirche. Verschlang der fast wüste Bau seine Küchlein, fraß der Moloch die Bürger, fraß Gott seine Diener? Jerichow fällt mir ein, Lehnin, Havelberg. In Wilsnack also auch so eine Auftürmung aus Backstein und Gottesfurcht, ein Gesteil aus buntem Glas und Gewölben. Darin hat der Propst irgendwann die Männer im bunten Rock gesegnet, und der Leutnant von Klöden wird mit dem Kopfe genickt und Worte aus seinem Munde getan haben wie Ehre und Treue und Pflicht und Vaterland ...

Vielleicht haben sie gar Körners neuestes Lied gesungen, bevor sie loszogen, dem Feind entgegen.

Das Volk steht auf, der Sturm bricht los! Wer legt noch die Hände feig in den Schoß? Pfui über dich Buben hinter dem Ofen, Unter den Schranzen, unter den Zofen! Ein teutsches Mädchen küsst dich nicht, Ein teutsches Lied erfreut dich nicht, Ein teutscher Wein erquickt dich nicht. Stoßet mit an, Mann für Mann, Wer den Flamberg schwingen kann!

Leier und Schwert, nicht wahr. Körner ist auch in dieser Gegend gewesen, wo war er nicht auf seinem Feldzuge. Aus Wittenberge bei Perleberg schreibt er am 15. Mai 1813:

Ihr Lieben, soeben komme ich aus der Kirche, wir haben communiciert. Der Prediger sprach als ein Mann und teutscher Christ. Die Leute schienen sehr gerührt. Wir marschieren in wenigen Augenblicken von hier nach Lenzen. Was dort geschehen wird, ob wir übergehen werden oder nicht, weiß Niemand. Uns allen brennt es unter den Sohlen ... Glück auf! Theodor - Ich will Weiteres dazu nicht sagen. Sie wollen mein Stillschweigen gefälligst als Einverständnis nehmen.

Jedenfalls, Anno sechzehn wird der turmlosen Wunderblutkirche zu Wilsnack wieder eine hohe Ehre zuteil: Es findet statt der Dank- und Gedenkgottesdienst zur Heimkehr der siegreichen Krieger. Wie viele kehren heim? Und warum erst Anno sechzehn?

Der Sieg war teuer, der Krieg war teuer, das Städtchen Wilsnack zahlt sechstausend Taler Kriegslasten. Und der kluge Bürgermeister, meines Freundes Hinze Vorvorvorvorvorgänger, verteilt die Steuer auf die Ländereien, auf die Grundstücke, aufs Vieh, auf Kauf und Gewerbe.

Folge: die große Pleite. Wilsnacks Bierbrauer machen dicht, Hansens Chef desgleichen, was bleibt übrig. Eben noch hat unser Wilhelm die feierliche Predigt des Propstes vernommen, hat gläubig den Kopf in den Nacken gelegt und die Gewölbe der Wunderblutkirche von unten angestaunt und gedacht: Krieg vorbei, jetzt geht's los. Anderentags wird sein Meister ihn eines Besseren belehrt haben. Jedenfalls nimmt Hansen den Wanderstock, denkt sich, in Braunschweig, in Soltau, in Lüneburg, jedenfalls jenseits der Elbe, wo Bier getrunken wird wie anderswo Wasser, wird schon Arbeit zu finden sein, holdrio. Und zieht fürbass.

Mit ihm und auch fürbass ziehen der Maurergeselle Arndt und der Krugbauernsohn Jennrich, und da schreiben wir 1817, und Hansen ist also zweiundzwanzig Jahre alt, und das Leben kann beginnen. Das Ziel heißt: Holland.

Wenn man nach Holland will und aus Wilsnack kommt, so muss man erst einmal über die Elbe. Körner, in einem Brief an die Eltern: Die Elbe ist hier sehr breit, die Ufer aber sehr niedrig und nur durch die vielen Abwechslungen in den Farben der Gebüsche und der freundlichen Dörfer angenehm. Die Elbe also fließt breit und mächtig wenige Kilometer südlich des Städtchens dahin, sie trennt säuberlich Altmark und Prignitz und hat keine Ahnung, was sie im Verlaufe der nächsten hundertfünfzig Jahre noch alles trennen wird. Wer heute von Wilsnack aus über die Elbe will, der kann wählen. Entweder begibt er sich nach Wittenberge und quert dort den Strom. Er benutzt die alte Eisenbahnbrücke, die Hans Victor von Unruh vor fast hundertfünfzig Jahren über den Wasserlauf spannte, oder die brandneue Straßenbrücke. Er kann aber auch nach Havelberg fahren und dort die Gierfähre nach Werben nehmen, wie es zum dritten allerdings auch möglich ist, die Straße von Havelberg nach Süden zu wählen und erst in Fischbeck über die Brücke zu gehen: Das bringt einem den unvergleichlichen Anblick der alten Stadt Tangermünde ein. Hansen hingegen und Arndt und Jennrich pfiffen auf Anblicke, ihnen war's um Arbeit zu tun und darum, Geld zu sparen. So gingen sie also nach Sandkrug, pfiffen dort auf zwei Fingern den alten Fischer Schulz herbei, der ruderte sie flugs übers Wasser, und er hatte auch nicht im Sinn, den Burschen einen Fährgroschen abzuverlangen, dazu waren seine Schulden bei Arndts Vater im Krughof von Wilsnack zu groß. Eine Hand wäscht die andere. Und wie sie drüber war'n, drüber war'n, da gingen sie zu Fuß weiter, wie gehabt und wie geübt, immer Richtung Westen, über Seehausen gemächlich auf Lüneburg zu, und immer so weiter. Holdrio. Und kamen nach Münster eines Tages, da ließen sie den Arndt zurück, denn der hatte dorten zu mauern gefunden: Nach einem Kriege haben die Maurer immer bessere Chancen als die Bierbrauer und die Gastwirtssöhne.

Drei kleine Negerlein, / die wanderten - juchhei! / Da kamen sie nach Münster rein, / da waren's nur noch zwei.

Und die beiden marschierten weiter und kamen nach Köln. In dieser schönen Stadt sitzen gewiefte Burschen, die von holländischen Kriegskommissären und Kolonialgouverneuren bezahlt werden, die kennen sich aus. Die wissen genau: Die Deutschen haben den Krieg gewonnen, aber sonst alles verloren.

fryheit do ik ju openborn hebben den krigk gewonnen und unsre got verlorn,

so geht ja wohl das alte Lied, das haben die Deutschen in ihrer Geschichte dann noch öfter singen müssen, nur dass sie da nicht nur nicht gewonnen, sondern auch immer noch alles verloren hatten, wie gehabt, das wissen diese Leute aus Holland, und wissen auch: Die tapferen Streiter wider Napoleon laufen nun dutzenderweis im deutschen Lande herum und haben keine Arbeit, die Meister schlagen ihnen die Türen vor den Nasen zu. Was? Brauer? Wir trinken Wasser, stolz und frei, aber zu mehr langt's nicht. Und einige werden auch bemerkt haben, dass zu Napoleons Zeiten genug Bier, wenn auch weniger fryheit zu haben war. Und ein paar zitieren gar den berühmten Dichter Ludwig Theobul Kosegarten aus Greifswald, der Anno nullneun eine Rede gehalten hat auf den Kaiser der Franzosen, und sie erinnern sich eines Satzes besonders gut:

Es hat der Mensch der Freyheit des Raubthieres entsagt, um unter dem Schutz der Gesetze eine geregelte genussreiche Freyheit wieder zu finden.

Und die holländischen Werber wissen ferner: Die da umherwandern im deutschen Lande auf der Suche nach Brot, die haben das Kriegshandwerk gründlich gelernt, haben studiert bei Blüchern, bei Schill, bei York und Gneisenau, die können die Klinge führen, die Büchse richten, die können, wenn's sein muss, sterben wie Männer, ja. Weil sie das alles wissen, die holländischen Werber, lauern sie mit gespickter Börse in den Schenken und Herbergen, und sie lauern auch auf Hansen und Co., und Hansen und Co. kommen von ganz allein.

Fremdenlegionen gibt es seit alten Zeiten. Nicht nur die berüchtigte Légion Etrangère, die in den fünfziger Jahren auch in Westberliner Grenzkneipen ihre Menschenfallen ausgelegt hatte, um die neugierigen Ostburschen zu kidnappen, soll hier als Beispiel stehen. Schon hundert und wieder hundert Jahre zuvor verkauften deutsche Landesherren ganze Regimenter für blanke Gulden nach Holland und Amerika. Dem Landesherren war's recht, es klingelte in den Kassen, und die ewig vergrämten Staatsminister für Finanzen machten endlich einmal wieder freundliche Gesichter beim Morgenempfang. Und dem Landsknecht war's egal: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Hansen und Jennrich kommen also nach Köln, wie gesagt, setzen sich müde und hungrig und mit ihren letzten Kupfern in eine armselige Herberge, bestellen den miesesten Wein und das schlechteste Brot dazu und den fauligsten Strohsack, und nun können wir einen Film drehen.

Szene: Interieur einer lumpigen Herberge in einer lumpigen Gasse Kölns, nebenan das lumpigste Bordell der Domstadt.

Personen: Hansen, Brauerbursch; Jennrich, Krugbauernsohn;

Mynheer van den Dicken, Major der holländischen Krone.

van den Dicken: Ihr gestattet, dass ich mich zu Euch setze? jennrich (brummt)

Hansen Wie beliebt.

van den Dicken (in der Totale, breites, rotes Gesicht, kleine Augen, wohlhäbige Kleidung): Die Herren sind fremd in Köln?

Hansen: Was geht's Euch an ...

van den Dicken: Ich seh Euch an: Ihr habt Sorgen!

Jennrich: Kiek mal an, wat de Kierl all markt!

van den Dicken: Oh, Sie reden plattdeutsch? Da verstehn Sie wohl auch holländisch?

Hansen: Aber sicher, Herr. Ihr kommt aus Holland? Da wollen wir hin!

van den Dicken: Arbeit suchen?

Hansen: gewiss! Wat süß?

van den Dicken: Ich hätt Arbeit voor de Heeren! Hej, Mejsje, Wijn! Voor mi ond de Heeren!

Jennrich: Hansen, der Mensch ist mir unheimlich!

Hansen: Ach, Jennrich, halt's Maul. Wenn er Arbeit hat! van den Dicken: Proosit, de Heeren! Op Ehr Gezondheet!

Hansen: Tja, prost. Und Eten!? Ick hebb Hunger, Mynheer!

van den Dicken: Hej, Mejsje, bring Sie Schinken! Und Kees van den besten hollandschen!

So geht das eine Weile weiter, wir lassen ein paar Stunden aus. Hansen und Jennrich essen und trinken, ihre ausgemergelten Wanderburschenknochen werden langsam warm, und Mynheer van den Dicken redet und redet.

van den Dicken: Die holländische Krone, meine Herren, benötigt kriegserfahrene Leute. Jaja, nicht gleich für den Krieg. Aber glauben Sie nicht auch, dass unsere Kolonien in Übersee verständige Fourageoffiziere dringend benötigen? Das arme Preußen kann Ihnen dergleichen nicht bieten! Batavia! Die Molukken! Die große, weite Welt! Jaja, Sie wären Offiziere seiner Majestät, des Königs von Holland, aber Sie wären Herren! Herren, sag ich! Mejsje! Wejn! Ich zahl Ihnen Vorschuss, bitte sehr, ich seh ja, dass Sie's brauchen ...

Hansen: Batavia? Molukken? Nicht schlecht! Ein Fourageoffizier ... Offizier! Nee, Jennrich, du hast recht. Ist doch was faul. Offizier! Hast du schon mal in der preußischen Armee einen Offizier ohne Adel gesehen?

van den Dicken: Hahahaha! Adel! Hohohoho! Holland ist ein Land der Bürger! Bei uns kann jeder Schusterbengel Offizier werden. Hauptsache: Er hat Mut und kann fechten und hat Ehre im Leib!

Jennrich: Will Er sagen, wir hätten keine Ehre im Leib? Will Er sagen, wir hätten nicht gefochten gegen den französischen Satan? (Er erregt sich.) Seh Er her! Ist das nicht das Eiserne Kreuz? Blücher selbst verlieh es mir! Blücher! Versteht Er?

van den Dicken: Ich sag's ja: Ihr seid die Rechten für uns! Ich zahl Euch den Kopf sechzig Dukaten auf die Hand, gleich hier, und wir machen Kontrakt auf zehn Jahre, dreihundert Dukaten im Jahr, Uniform frei, Nahrung frei, Schiffsreise nächste Woche ab Rotterdam, mein Agent bringt Euch hin!

Genug der Filmszene, so ungefähr wird's gelaufen sein. Und Jennrich und Hansen malen krakelig und besoffen ihren Wilhelm auf den Kontrakt, van den Dicken knallt die Goldstücke auf den Tisch, dass die Nutten aus dem Nachbarhaus lange Hälse kriegen und das Mieder um zwei weitere Knöpfe öffnen, und bei Gott, ich will nicht dafür einstehen, dass unsere beiden wackeren Prignitzer die offenherzigen Angebote der Damen nicht sogleich nutzen, denn was ist besser als ein Bauch voll Fleisch und Wein, ein warmes Bette und ein heißes Weib darin, und das alles für ein halbes Goldstück, wo man doch sechzig davon im Beutel hat?

Was sie sich an diesem Abend noch nicht träumen lassen, erfahren sie ein halbes Jahr später in den Dschungeln von Java. Sie müssen wieder tun, was sie gelernt haben: töten. Aufständische töten, Häuptlinge töten, Frauen und Kinder töten. Und es mag ihnen vielleicht bewusst geworden sein, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, ob man als Grenadier tötet oder als Lieutenant. Der Fouragelieutenant Jennrich hat ohnedies keine Möglichkeit mehr, dies zu bedenken, denn ein Eingeborener rennt ihm eines Tages einen Speer durch den Hals, ehe der Krugbauernsohn sein Terzerol auf ihn anlegen kann.

Zwei kleine Negerlein, /die gingen auf die Molukken, / der eine fing 'ne Speerspitz' ein, / er konnt' nicht mal mehr zucken.

Hansen, befördert zum Cornet, kehrt irgendwann nach Europa zurück. Seine zehn Jahre sind vorüber. Und weiter zu dienen, schlägt er aus. Wer will ihm das verdenken. Nun will er endlich nach Wilsnack, vielleicht hat der Brauer jetzt Arbeit für ihn. Ewig Leute umbringen, denen man nicht einmal vorgestellt worden ist, kann doch kein Lebensinhalt sein, wird er gedacht haben, und das ist löblich so. Sein Schicksal ist für einige Jahre dunkel, jedenfalls hat Bürgermeister Hinzes Material keine Anhaltspunkte zu bieten. Die Geschichte geht also erst so um 1830 weiter, das ist ja überhaupt ein Phänomen der Geschichte, dass sie an Zahlen gebunden ist. Zwischendurch scheint sie stillgestanden zu haben. Stillgestanden! Und dann, nach ein paar Jahren: Völker, rührt euch!

Wir müssen uns nun nach Spanien wenden; Brauerbursch Hansen, das letzte der drei Negerlein, ist noch lange nicht wieder in Wilsnack, erst einmal kommt Spanien.

König Ferdinand VII. von Spanien war lange Jahre kinderlos. Ja, auch so ein rein familiengeschichtliches Ärgernis kann Kriege hervorrufen!, kann Völker rühren (lassen), Staaten entfesseln. Also, endlich bringt es Ferdinand der Siebente fertig, augenscheinlich unter Aufbietung seiner letzten Potenzen, seine vierte Gemahlin Maria Christine zu schwängern, doch zu seinem großen Leide gebiert die junge Mutter ein Mädchen. Es bekommt den Namen Isabella und wird seinem Vater den Rest gegeben haben, denn sohnlos und von sich keineswegs überzeugt sinkt der siebente Fernando Anno dreiunddreißig ins Grab. Und nun kommt Hansens Stunde. Denn Maria Christine muss also, da Töchterchen Isabella noch munter die Windeln nässt, widerwillig ans Ruder, was den Bruder des verblichenen Fernando, einen gewissen Don Carlos, aber nicht jenen Schillerschen, bitte zu beachten, mächtig fuchst, denn er meint, er wäre jetzt der rechtmäßige King und nicht die Daumen lutschende Nichte Isabella. Also lässt er sich zum Gegenkönig ausrufen und regiert kräftig gegen an. Was heißt das? Das heißt Bürgerkrieg. Da werden Leute gebraucht wie Hansen, erfahren im Umgang mit Untertanen, eigentlich selbst einer, nur verlegen um Obrigkeit. Jaja, Hansen kann inzwischen mehr als Bierbrauen. Und deshalb lässt er sich irgendwann (Hinze und die Akten schweigen) anwerben für Isabellens Mami Christine. In Kastilien und Katalonien wirft sich Hansen, wie er's gelernt, in die Bresche wie Urias, wie ein Wisent aus den nördlichen Wäldern, ficht wie ein Löwe und wird eines Tages zur Königin-Regentin Christine befohlen, die nicht nur seine Prignitzer Heldenbrust mit dem Orden eines Ritters vom Goldenen Vließ ziert, sondern auch die kräftigen Muskeln des rotbärtigen Kerles und seine angenehmen Gesichtszüge mit Wohlgefallen mustert. Meines Wissens ist Hansen der einzige Prignitzer, der jemals eine solche doppelte Auszeichnung erfuhr.

Und es ist sein Glück, dass nun gerade der Krieg ein wenig nachlässt; Carlossen geht die Puste aus. Hansen wird an den Hof gezogen und dient der Regentin, so gut er kann. Wie gut dient er ihr? Hinze und die Akten schweigen. Fernando ruht im Grabe, Christine, so bei fünfundzwanzig Jahre alt, jung, sicher ansehnlichen Baus, Spanierin!, kein Mann in der Nähe, nur Hansen mit dem Goldenen Vließ ... Und damit er auch bei Hofe vertretbar ist, fällt der jungen Mami ein, den Brauerburschen aus Wilsnack zum Granden von Spanien zu erheben. In den Papieren steht (ich bezweifle es zwar, aber es steht in den Papieren), man habe ihm eine junge und reiche Dame des spanischen Hochadels angetraut, die sich zwar nicht durch besondere Schönheit auszeichnete, jedoch eine Hofdame war. Auf diese Weise war Hansen immer in königlicher Reichweite. Und wie ich die Wilsnacker Brauerburschen kenne, wird Hansen sich schon erkenntlich gezeigt haben.

Wer hätte das gedacht? Wer, der heute über den stillen Wilsnacker Friedhof spaziert, vielleicht auch jene Ecke besucht, in der Hansens Grab sich befunden haben soll, wer, der heute in den kleinen Läden auf der Thälmannstraße seine Einkäufe tätigt, wer schließlich, der sich im Städtchen kurend einen Schatten besorgt, wer denkt wohl daran, dass ein Grande von Spanien diesen Mauern entspross, dass ein Wilsnacker Brauerbursch der Bettgenoss einer spanischen Königin war?

Wie sagt doch der Volksmund: Heute noch auf stolzen Rossen, / morgen durch die Brust geschossen.