Ein Erbe zum Verlieben - Nadine Stenglein - E-Book

Ein Erbe zum Verlieben E-Book

Stenglein Nadine

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Beschreibung

Das Leben der jungen Lehrerin Anna Nash steht von einem Tag auf den anderen Kopf: Ihre Großmutter Rose vermacht ihr ein Erbe, das es in sich hat. Nicht nur eine gigantische Villa wartet auf sie, sondern auch die Aufgabe, dort mit zehn äußerst attraktiven Männern zu wohnen. Dates und Wagnisse stehen auf dem Programm, und erst, wenn Anna ihren Traummann gefunden hat, soll das Erbe voll und ganz ihr gehören. Doch Anna ist gar nicht auf Millionen aus und von Männern hat sie eigentlich auch die Nase voll. Aber das Schicksal zwingt sie praktisch dazu, das Wagnis doch noch einzugehen. Ihr Ex-Mann setzt derweilen alles daran, Anna zu schikanieren. Zudem kreuzt ihr Kollege George permanent ihren Weg. Die schrägste, verrückteste und leidenschaftlichste Zeit ihres Lebens beginnt. Und Anna muss sich entscheiden, wem ihr Herz gehört ...

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Kurzbeschreibung:

Das Leben der jungen Lehrerin Anna Nash steht von einem Tag auf den anderen Kopf: Ihre Großmutter Rose vermacht ihr ein Erbe, das es in sich hat. Nicht nur eine gigantische Villa wartet auf sie, sondern auch die Aufgabe, dort mit zehn äußerst attraktiven Männern zu wohnen. Dates und Wagnisse stehen auf dem Programm, und erst, wenn Anna ihren Traummann gefunden hat, soll das Erbe voll und ganz ihr gehören. Doch Anna ist gar nicht auf Millionen aus und von Männern hat sie eigentlich auch die Nase voll. Aber das Schicksal zwingt sie praktisch dazu, das Wagnis doch noch einzugehen. Ihr Ex-Mann setzt derweilen alles daran, Anna zu schikanieren. Zudem kreuzt ihr Kollege George permanent ihren Weg. Die schrägste, verrückteste und leidenschaftlichste Zeit ihres Lebens beginnt. Und Anna muss sich entscheiden, wem ihr Herz gehört ...

Nadine Stenglein

Ein Erbe zum Verlieben

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Nadine Stenglein

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel “Top Ten”

Ins Deutsche übertragen von Nadine Stenglein

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur

Lektorat: S. Lasthaus

Korrektorat: Christin Ullmann

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-195-9

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Chaotische Verhältnisse

Der Morgen hatte bereits heimtückisch begonnen. Nicht nur, dass Anna Nash mit dem sprichwörtlich linken Fuß aus dem Bett gestiegen war, stolperte sie mit selbigem auf dem Weg ins Bad auch noch über eines von Roberts selbst gebastelten Buddelschiffen und verknackste sich dabei den Knöchel. Robert war Annas Ex-Mann, mit dem sie sieben Jahre verheiratet gewesen war, bis er sie wegen einer Jüngeren verlassen und die Scheidung eingereicht hatte. Er habe es vor allem psychisch nicht mehr mit ihr ausgehalten, sie habe ihn völlig im Stich gelassen – so seine Aussage vor Gericht. Es ärgerte Anna, dass sie ihm in puncto Scheidung nicht zuvorgekommen und früher aufgewacht war. Aber sie hatte den Mistkerl geliebt und glauben wollen, dass sich alles schon noch irgendwann und irgendwie zum Guten wenden würde. Nun war das Licht der Hoffnung erloschen, genau wie der letzte Funke ihrer Liebe für ihn. Das redete sie sich zumindest jeden Tag ein. Laut ihrer Mutter hatte sogar der schlechteste Mensch etwas Gutes in sich. Und dass Robert schlecht war, das glaubten weder ihre Mutter noch ihr Vater. Robert hatte immer gewusst, wie man den Saubermann nach außen kehrte.

Wie dem auch sei, diese Flaschen, in denen die Schiffchen vor Anker lagen, mussten endlich aus ihrem Haus verschwinden, das sich in der englischen Grafschaft Oxfordshire in der kleinen Stadt Wantage befand. An die fünfzig lagen neben einigen anderen von Roberts Sachen verstreut im Haus herum, weil er noch immer keinen Platz dafür gefunden hatte. Jedes einzelne Exemplar erinnerte sie an einsame Zeiten. Robert musste seine Ehe schon lange sattgehabt haben, wenn sie daran dachte, wie viele Stunden seiner sowieso knapp bemessenen Freizeit er im Keller ihres damaligen Hauses im nur wenige Meilen entfernten Wallingford verbracht hatte. Jetzt bewohnte er dort eine winzige Mietwohnung.

Anna band sich das lange kastanienbraune Haar zu einem Knoten am Hinterkopf zusammen, zog eine braune Jeans und eine grüne Bluse über, rief Robert an und hinterließ ihm im ruhigen Ton die Nachricht auf seiner Mobilbox, er möge seine Buddelschiffe abends abholen. Am Ende der Aufzeichnung streikte auch noch der Handyakku. Ihre Pechsträhne verfolgte sie wie ein roter Faden, der sich um sie gewickelt hatte, und er schien nicht abreißen zu wollen.

Durchnässt bis auf die Knochen erreichte sie die Schule eine Minute vor acht. Ihr kleiner roter Käfer hatte den Geist aufgegeben und sie musste einen Sprint durch die verregnete Stadt einlegen.

„Wie konntest du nur vergessen zu tanken, du Schussel?“, schimpfte sie sich selbst. Roberts Hohn wäre ihr sicher gewesen, das wusste sie. Denn das war typisch seine Anna! Hektisch strich sie sich die Strähnen, die sich aus dem Haarknoten lösten, aus der Stirn und warf einen Blick in den Klassenraum. Einige Schüler beobachteten sie schmunzelnd, manche steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Dabei fiel ihr auf, dass Jenny fehlte. Gerade in ihren Stunden kam sie ständig zu spät, meist weil sie mit Freundinnen rauchte oder mit einem Jungen abhing. Anna wusste, sie war eindeutig zu lasch mit den jungen Leuten. Granny Rose würde sich in ihrem frischen Grab umdrehen. Ihr hatte sie versprochen, sich endlich mehr durchzusetzen. Nicht nur bei ihren Schülern, sondern allgemein, und insbesondere bei Männern, von denen sie die Nase gestrichen voll hatte. Sie liebte ihren Beruf als Kunst-, Geschichts- und Deutschlehrerin, wusste aber, dass sie über kurz oder lang auch da untergehen würde, wenn sie weiterhin das zurückhaltende graue Mäuschen war. Die meisten ihrer Kollegen waren von einem deutlich anderen Kaliber, worum Anna sie heimlich beneidete.

Sie rückte ihre Brille zurecht und atmete tief durch. Nicht verzagen, sagte sie sich, was allerdings leichter gesagt als getan war. Erst jetzt nach der Scheidung lichtete sich der Schleier vor ihren Augen, den ihr Robert über all die Jahre ihrer Ehe verpasst hatte. In dieser Ehe hatte sie irgendwann gar nicht mehr gewusst, wer sie wirklich war und was sie wollte. Dauernd war es nur um ihn gegangen, seine Wünsche, sein Leben. Dabei war sie früher völlig anders gewesen, hatte auf sich geachtet und ihre Ziele immer genau im Auge behalten. Ihre beste Freundin Ruby hatte recht. Sie musste irgendwie versuchen, die selbstbewusste, flippige Anna von damals wiederzufinden und aus ihrem Loch zu ziehen. Wie sie das anstellen sollte, war allerdings eine Frage, bei der sie noch völlig im Dunkeln tappte.

Der durchdringende Aufschrei von Nancy Lee Johnson riss sie aus ihrer Gedankenschleife, in der sie sich zu verheddern drohte. Ein Kaugummi klebte in ihren krausen blonden Locken.

„Das wirst du mir büßen, Spargel“, keifte sie mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Tom, der unschuldig dreinblickte.

„Das macht man nicht, das ist gemein“, mischte sich Anna ein, bemüht, ihre Stimme kraftvoll wirken zu lassen.

Wie so oft überhörten ihre Schüler sie. „Und wo ist Jenny? Ist sie krank?“, fragte Anna und legte ihre hellbraune Ledertasche auf das Pult.

Allein der rothaarige, sommersprossige Freddie, den alle Pumuckl nannten, antwortete: „Die ist noch auf dem Campus. Sie flirtet mal wieder.“

„Petze“, rief eines der Mädchen und warf einen Stift in seine Richtung, der ihn am Kopf traf.

„Aua, spinnst du?“, protestierte Freddie und schnitt ihr eine Grimasse.

„Hört schon auf. Wir schreiben in der zweiten Stunde eine Deutscharbeit. Darauf solltet ihr euch konzentrieren“, bemerkte Anna. Schnell half sie Nancy, den Kaugummi zu entfernen, auch weil diese hysterisch zu kreischen begann. Ihre Haare waren ihr heilig. Danach ging Anna zu einem der großen Fenster, von wo aus man einen guten Blick aus dem u-förmigen Backsteingebäude auf den teils grünen, teils gepflasterten großflächigen Schulhof hatte. Zwischen zwei Bäumen entdeckte sie Jenny in ihrer knappen marineblauen Schuluniform, die mindestens eine Nummer zu klein war, was wohl kein Kaufirrtum gewesen war. Jenny war in männlicher Begleitung. Anna legte die Stirn in Falten. Sie sah ihn nur von hinten, aber von der Statur her hätte er ihr Ex sein können. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass er hierherkommen würde. Sie klopfte gegen die Scheibe, doch die beiden rührten sich nicht. Anscheinend hatten sie es nicht gehört, also öffnete sie das Fenster, räusperte sich und rief: „Jenny, kommst du bitte in die Klasse?“

Die Schülerin reagierte sogar sofort, winkte lächelnd zu Anna herauf, gab aber keine Antwort. Kurz wandte sich der Mann um. Annas und sein Blick trafen sich. Er war es doch! Vor Schreck verschluckte sie sich und rang hustend nach Luft. Elisabeth, eine ihrer Schülerinnen, trat zu ihr.

„Ist das nicht Ihr Ex? Doch, doch … das ist er. Roooobert, nicht wahr?“, rief sie. Es war kein Geheimnis, dass Anna und er seit einer Weile geschieden waren. Die Neuigkeit hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Binnen weniger Sekunden war Anna umringt von neugierig dreinblickenden Jugendlichen, die sich gegen den Fensterrahmen drückten.

Sie sah, dass Robert Jenny einen Zettel zusteckte, etwas zu ihr sagte und anschließend verschwand. Die Schülerin blickte ihm nach und winkte, als er weg war, wieder nach oben. „Ich komme ja schon.“

Irritiert und mit tausend wirren Gedanken im Kopf wartete Anna auf sie, während sich die anderen wild durcheinanderredend auf ihre Plätze zurückzogen und ebenfalls zur Tür starrten. Anna beschloss, allein mit Jenny zu reden, also ging sie ihr entgegen. Die Schüler seufzten enttäuscht, einige folgten ihr bis zur Tür. Weiter trauten sie sich nicht. Der Direktor, Mr Greenhorn, lief stetig Streife. Er war ein Mann, den jeder fürchtete und respektierte. Seine Art war oft so rau wie das Meer bei Sturm. Zudem glaubte Anna, dass er sie nicht besonders leiden konnte. Er ignorierte sie meistens. Im Grunde sollte es ihr nichts ausmachen, war es doch von Vorteil, denn so hatte sie ihre Ruhe vor ihm. Daran, dass sie für manche unsichtbar war, hatte sie sich bereits gewöhnt.

Jenny band ihr langes blondes Haar mit einem Gummi im Nacken zusammen, während sie lächelnd in ihrer Schuluniform, bestehend aus einem marineblauen Jackett und fast knielangem Rock, weißem Hemd, schwarzer Krawatte und ebenso schwarzen Schuhen, den Flur entlangeilte, direkt auf Anna zu. Das Mädchen schien ihre Blicke bezüglich des Rocks zu bemerken und nuschelte: „Das Material ist der größte Schund. Er ist beim Waschen eingelaufen.“ Zwischen ihren Lippen steckte der Zettel, den Robert ihr gegeben hatte. „Mmh. Für Sie.“ Stirnrunzelnd nahm Anna ihr den Zettel ab. „Ich konnte ihm nicht widerstehen. Ein toller Mann, Ihr Ex. Kein Wunder, dass Sie auf den reingefallen sind. Robbie ist ja voll der Charmebolzen und sieht dazu noch aus wie Hugh Grant. Traumhaft“, bemerkte Jenny und lief an ihr vorbei.

Ihre Worte trafen Anna wie ein Fausthieb. Es ärgerte sie, dass ihr keine kecke Antwort einfiel und sie stattdessen wie hypnotisiert auf den Zettel starrte. Zeitgleich fragte sie sich, was das Ganze sollte. Warum hatte er ihr den Brief nicht selbst übergeben? Eilig faltete sie ihn auseinander. Vom Zimmer aus hörte sie das Kreischen der Schüler, das für sie plötzlich völlig nebensächlich war. Auf dem Zettel, einem karierten Blatt, das an den Seiten eingerissen war, hatte Robert in seiner üblichen kleinen Krakelschrift ein paar Wünsche vermerkt, die sie bis zum Abend erledigen sollte. Ein Ritual, das er auch früher hin und wieder angewandt hatte.

Na danke schön, dachte sie, während sie las:

Buddelschiffe in große Kiste packen und in deiner Garage unterstellen. Kann sie noch nicht abholen, da, wie du ja weißt, meine Wohnung in Wallingford zu klein dafür ist. Ganz wichtig, wenn du nicht willst, dass ich wegen dir verhungere und noch mehr psychisch absacke: Ich brauche einen Unterhaltsvorschuss.

Den letzten Satz hatte er sogar doppelt unterstrichen. Der ehemals große Makler kam zu ihr, um zu betteln. Niemals hätte sie gedacht, dass sich das Blatt einmal so wenden würde. Klar wollte er ihr seine Wünsche nicht selbst mitteilen. Es musste ihm so schon genug Überwindung abverlangt haben. Typisch Robert! Sein Stolz und falscher Ehrgeiz waren ihm immer noch heilig, selbst ihr gegenüber. Und sie waren es auch, die ihnen beiden am Ende den Ruin bringen würden, davon war sie überzeugt.

Vielleicht hätte er damals doch hin und wieder auf sie hören sollen, als er sich als Immobilienmakler selbstständig gemacht hatte. Sie erinnerte sich, dass ihm ihre Ratschläge in Sachen Geschäftsführung immer zu banal, oberflächlich und zu zaghaft gewesen waren. Dass sie für die Firma mitbürgte, war das Einzige, was er wollte. Letztendlich ließ sie sich dazu überreden. Sie hatten im selben Boot gesessen, bis es gekentert war.

Nun musste sie nicht nur ihren Kopf über Wasser halten, sondern auch seinen. Das Gericht hatte sie dazu verdonnert, mit ihm den Rettungsring zu teilen, da sie noch Grundbesitz hatte und einen mehr oder weniger sicheren Job. Das Geld reichte gerade so, zudem musste sie das geliebte Haus ihrer Eltern in Wantage unterhalten. Hier und da konnte sie es bereits neu renovieren und modernisieren. Den Garten hatte sie schon fast fertig hergerichtet und war stolz auf ihren grünen Daumen, den Robert ihr immer abgesprochen hatte. Die Rosen und Lilien gediehen wundervoll. Selbst die Maulwurfshügel hatte sie, ohne zum Mörder zu werden, endlich unter Kontrolle bekommen.

Ihre Eltern waren vor zwei Jahren nach Mallorca ausgewandert, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Da sie ab und an wieder in die Heimat zurückkehrten, passte es ihnen gut, dass Anna auf ihr Schmuckstück aufpasste. Ihre Probleme hingegen interessierten Annas Eltern merklich wenig, zudem gaben sie vor allem ihr die Schuld für die gescheiterte Ehe. Ihrer Meinung nach hatte Anna sich zu sehr gehen lassen, ihren Mann zu wenig unterstützt. Robert war für sie nach wie vor der Saubermann, den er ihnen immer vorgespielt hatte. In ihren Augen hätte Anna viel mehr um ihn kämpfen müssen.

Nachdenklich steckte sie den Zettel ein und ging in das Klassenzimmer zurück.

Jenny schwärmte soeben von Robbie. Bei seinem Frauenverschleiß hätte es Anna nicht gewundert, wenn er wirklich mit der Schülerin geflirtet hätte. Seine neue Freundin Evie Soundso war schließlich nur ein paar Jahre älter als Jenny.

Mechanisch zog sie den Unterricht durch, den sie sonst so bunt wie möglich zu gestalten versuchte, und war froh, als der Schultag vorüber war. Ihre beste Freundin Ruby wartete auf dem Schulhof auf sie. Ihr Atelier war nicht weit von der Schule entfernt. Ruby McAllister war Malerin für moderne Kunst und Erotik.

Nachdem sie Roberts Zettel gelesen hatte, zerriss sie ihn und warf ihn in den nächsten Mülleimer.

„Nein, warte mal!“, rief Anna.

Ruby hielt sie davon ab, die Teile wieder aus dem Abfall zu fischen, indem sie sich ihr in den Weg stellte. „Der bleibt, wo er ist. Nichts wirst du machen.“

„Dann nervt er wieder ewig. Lieber mache ich es und habe dann meine Ruhe.“

„Bis zum nächsten Zettel. Er wird immer so weitermachen. Der war selbst zu feige, dir seine Liste persönlich zu geben. Lass ihn schmoren. Oder willst du weiterhin das naive graue Piepsmäuschen sein, das ihm alles hinterherräumt und ihm sogar den Hintern abwischen würde, wenn er es wollte? Früher hat er dir auch Listen gemacht, meist mündlich. Ansonsten warst du Luft für ihn. Alles, was in deiner Macht stand, hast du ihm erfüllt. Und was hat es gebracht? Du hast immer weniger auf dich geachtet und die Anna, die du einst warst, tief begraben. Hey, du bist jetzt 32. Wie ich. Wir stehen in der Blüte unseres Lebens. Vergeude es keine weitere Sekunde mit Gedanken an Robert Voss.“

Sie zog die gezupften Brauen nach oben und spitzte die Lippen.

„Stimmt“, sagte Anna leise.

„Also! Wann ist eigentlich die Testamentseröffnung von Rose?“

Anna zuckte mit den Achseln und senkte traurig den Blick. Ruby hängte sich bei ihr ein, zog einen Schokoriegel aus ihrem roten Ledertäschchen und biss herzhaft hinein. „Willst du auch einen? Der ist tierisch lecker.“

„Damit ich noch dicker werde? Nein, danke.“

Ruby seufzte. Sie hatte gut reden, wenn Anna sie so betrachtete. Die wichtigsten Punkte auf ihrem Steckbrief, um sie zu beschreiben, lauteten: schlank, groß, braun gebrannt, grüne Katzenaugen, langes rotes Haar, der Vollständigkeit halber mit Extensions, von denen Anna nicht viel hielt, modern, sportlich, künstlerisch begabt, liebevoll verrückt, selbstbewusst und gern hell und bunt gekleidet. Sie wusste, wie man sich präsentierte, damit es eine Wow-Wirkung hinterließ. Nicht zu hot und billig, aber hip. Früher, vor Robert, hatte Anna das auch gekonnt. Nun besaß sie nur noch zwei linke Hände, die alles falsch machten, sobald sie versuchte, sich aufzuhübschen. Es war wie verhext. Am Ende sah es irgendwie immer seltsam aus, außerdem stand ihr auch der Sinn schon lange nicht mehr danach. Wofür auch? Als Kind hatten ihre Mutter Sophie oder Grandma Rose sie gern in den Schlaf gewiegt, zu Roberts Zeiten waren es Chips, Rotwein oder Heulkrämpfe gewesen und nun zwei Schlaftabletten.

„Du bist nur ein wenig pummlig. Nicht schlimm. Die Betonung liegt auf ein wenig! Außerdem – Schokolade ist gut für die Nerven. Deine sind, entschuldige, so angeknackst, dass sie die paar Kalorien in Nullkommanichts verbrennen. Die haben gar keine Chance, woanders hinzuwandern.“

Anna stupste Ruby an. „Schön wäre es. Und danke übrigens“, bemerkte sie ein wenig keck.

„He, das war gut. Gefällt mir. Hau es raus, Baby. Nun bist du ihn los, jetzt versuch auch endlich, diese Anna loszuwerden, die er dir übergestülpt hat, und such dir einen neuen sexy Typ.“

Anna verdrehte die Augen, auch wenn sie wusste, dass Ruby im Grunde absolut recht hatte.

Diese klopfte ihr auf die Schulter und zeigte ihre strahlend weißen Zähne.

„Rose wäre stolz auf dich. Schritt-für-Schritt-Therapie. Das kriegen wir schon hin.“

„Ich wünschte, Grandma wäre noch hier.“

„Ja! Ich glaube, sie hätte Robert irgendwann den Hals umgedreht“, warf Ruby ein.

Auch wenn die Vorstellung mehr als grotesk war, musste Anna lachen. In Wahrheit aber wünschte sie Robert nicht wirklich etwas Schlechtes, auch wenn er sie am Ende wie einen abgenagten Knochen weggeworfen hatte. Die Worte ihrer Mutter waren fest in ihr verankert. Sie wollte nur Ruhe vor ihm, am besten vor allen männlichen Wesen. Mit denen hatte sie noch nie Glück gehabt. Ihre Gedanken wanderten wieder zu Rose. Sie war die beste Grandma der Welt gewesen, immer für sie da, aber auch sehr direkt in ihrer Meinungsäußerung. Robert hatte sie wie die Pest gehasst und umgekehrt war es nicht anders gewesen.

Ruby überredete Anna dazu, noch ein Glas Wein zusammen zu trinken.

„Hast du vielleicht auch Hunger? Ich koche etwas“, fragte Anna ihre Freundin und putzte die Gläser ihrer Brille, die beschlugen, als sie ins Tiefkühlfach blickte.

„Mit kochen meinst du Tiefkühlpizza, oder?“

Anna presste die Lippen aufeinander. „Ja! Für mich gibt es natürlich nur Salat. Sorry, dass ich dir nicht mehr bieten kann. Ich könnte es aber versuchen. Also …“

„Stopp, stopp. Ich nehme dein Angebot sehr gerne an, Süße. Lass dich nicht ärgern von mir.“

Anna seufzte. Laut Robert war Tiefkühlpizza aufbacken das Einzige, was sie richtig konnte, wenn es um die Essenszubereitung ging. Alles andere war meist ungenießbar für ihn gewesen und reine Zeitverschwendung. Allerdings vermutete sie, dass er das manchmal auch nur als Ausrede benutzte, um sich in ein Restaurant zu verdrücken, das in Wirklichkeit, wie sie im Nachhinein herausfand, Natalie, Anastasia, Lilian oder Betty hieß. Wenn sie zusammen ausgingen, was selten vorgekommen war, hatte er ständig etwas an ihrem Gang, ihrer Kleidung oder ihrem Essensstil zu bemängeln gehabt. Je länger sie zusammen waren, desto mehr liefen alle Bemühungen ihn zufriedenzustellen ins Leere. Zunehmend wurde ihr egal, was sie anzog. Hauptsache, es war bequem. Und irgendwann war es völlig zur Gewohnheit geworden. Robert sah sie ja sowieso kaum noch an. Wie sie es hasste, dieses Selbstmitleid. Schluss jetzt!, sagte sie sich und schob es beiseite. Schließlich brachte es sie kein Stück weiter – im Gegenteil.

Letzter Wille

Eine Woche später saß Anna tatsächlich bei einem Notar im noblen Stadtteil Mayfair. Ruby begleitete sie. Die Kanzlei befand sich in einer schneeweißen Villa und war umgeben von einer gepflegten kleinen Grünanlage mit elektrischem, schmiedeeisernem Gartentor. Wie Anna mitgeteilt wurde, wollte Grandma Rose, dass sie und Ruby gemeinsam zur Testamentseröffnung erschienen. Rose kannte Ruby gut, die beiden hatten oft stundenlang gequatscht und Schach gespielt. Ruby, die sonst nie lange still sitzen konnte, machte für Rose jedes Mal eine Ausnahme. Was Robert betraf: Der war in den vergangenen Tagen ein paarmal wie eine Katze um Annas Elternhaus geschlichen, hatte sogar dreimal Sturm geklingelt und ihr mehrere Forderungszettel vor die Tür gelegt, die sie mit gemischten Gefühlen ignorierte. Es musste ihm wirklich nicht gut gehen, durchfuhr es sie hin und wieder. Ruby pochte darauf, dass sie nicht reagierte. Sie war sicher, dass er so irgendwann aufgeben würde.

„Dein Wort in Gottes Gehörgang“, hatte Anna daraufhin zu ihr gesagt.

„Und wenn er nicht schwerhörig ist, und davon gehe ich aus, wird er es vernehmen und dir ein Engelchen schicken. Und hör bloß auf, dir Sorgen um deinen Ex zu machen.“

„Ich mache mir keine Sorgen.“

Nach dieser Äußerung warf Ruby ihr einen skeptischen Seitenblick zu und schwieg.

Der Notar, Dr. Maximilian Eugene, ein älterer Herr mit Brille in grauem Anzug, weißem Hemd und dunkelblauer Seidenkrawatte, begrüßte sie mit einem offenen Lächeln. Anna kam es vor, als würde er sich wirklich freuen, sie und Ruby zu sehen. Seine grauen buschigen Augenbrauen hatten die gleiche Farbe wie sein lichtes Haar und erinnerten sie an eine Eule aus einem ihrer Kindheitsbücher. Er wies sie zu seinem massiven Eichenschreibtisch und bat sie, auf den Ledersesseln davor Platz zu nehmen. In den Räumen mit den hohen Stuckdecken roch es leicht modrig. Das Inventar bestand größtenteils aus Biedermeiermobiliar. Gemächlich ließ er sich ihnen gegenüber nieder und kramte in einigen Unterlagen. Seine gepflegten Hände zitterten ein wenig, als er einen neongrünen Umschlag aus einem Papierstapel zog und ihn öffnete. Währenddessen betrat eine schwarzhaarige schlanke Dame in rotem Businesskostüm, bewaffnet mit Block und Stift, den Raum. Sie begrüßte Anna und Ruby kurz und stellte sich als Dr. Eugenes persönliche Sekretärin vor.

„Marie wird das Protokoll der Testamentseröffnung führen“, erklärte der Notar und spähte über den Rand seiner Brille zu ihnen herüber. Anna und Ruby nickten artig. Ein bisschen kam Anna sich vor, als würde sie vor Greenhorn sitzen, wenn er zur Lehrerkonferenz erschien, um seine Schäfchen, wie er sie und ihre Kollegen zu gerne höhnisch nannte, unter die Lupe zu nehmen. Mit ihrem Kollegen George William Lancaster schien er sich jedenfalls prächtig zu verstehen. So wie jeder andere auch. Besonders die Frauen schmachteten den Kollegen an, als wäre er ein Pop- oder Filmstar. Anna fragte sich, warum sie gerade jetzt an diesen offensichtlich selbstverliebten Snob dachte.

„Nun, dann wollen wir mal, meine Damen.“

Grandma Rose war die Mutter von Annas Vater Michael gewesen und hatte bescheiden in ihrer kleinen Wohnung gelebt. Zuletzt war sie, wenn auch schweren Herzens, in eine betreute Wohngruppe gezogen, obwohl Anna ihr damals anbot, sie zu sich nach Hause zu nehmen. Etwas, das Rose genauso strikt ablehnte wie das ihr verhasste Krankenhaus. Sie wollte niemandem aus der Familie zur Last fallen, sagte sie, dabei hatte Anna sie sehr gerne um sich gehabt und so oft besucht, wie sie konnte. Ruby ähnelte Rose in so manchen Dingen – stark, ein wenig verrückt und schillernd. Selbst zum Zeitpunkt ihres Todes trug Rose eine bunte Federboa um den Hals, ein pinkfarbenes Nachtkleid und silberne lange Ohrringe. Mit ihrer Kurzhaarperücke aus braunem Echthaar und Make-up hatte sie stets versucht, ihre Krebserkrankung zu vertuschen. Die anderen Familienmitglieder, einschließlich Annas Eltern, fanden Rose eher seltsam und mieden sie. Sie hatte den Tod ihres Mannes Louis, den Anna ebenso geliebt hatte wie ihre Granny, nie verwunden. Anna war sicher, dass dieser der Auslöser der schweren Krankheit war, die Rose heimgesucht hatte. Anna vermisste ihre Großmutter von ganzem Herzen und musste schlucken, sobald Dr. Eugene deren letzten Brief aus dem Kuvert nahm. Es fiel ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten, während Ruby ihre linke Hand drückte. Dr. Eugene räusperte sich und begann dann, Roses letzte Worte vorzutragen.

„Mein letzter Wille. Ich, Rose Nash, bin trotz meiner 85 Jahre, gefühlt höchstens 25, völlig bei Verstand. Auch wenn die Ärzte nach wie vor behaupten, dass mein Gehirn langsam verkalkt wie meine alte verdammte Waschmaschine. Entschuldigung fürs Fluchen. Aber ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Rausstreichen sieht nicht schön aus und einen Tintenkiller habe ich gerade nicht zur Hand. Außerdem ist dies das vorletzte vorrätige Briefpapier. Den letzten Bogen brauche ich noch für einen anderen Brief. Und zum Einkaufen habe ich keine Lust mehr.“

Annas Augen weiteten sich. Der Ton war unverkennbar. So war Rose. Immer geradeheraus. Ruby musste leise lachen, während der Notar und Anna sich einen verdutzten Blick zuwarfen. Erneut räusperte er sich und las schließlich weiter.

„Ich verfasse dieses Testament mit höchster Erwartung und Freude. Ich bin so gespannt, was du, meine geliebte Anna, dazu sagen wirst. Ich glaube, ich werde es hören. Wo auch immer ich dann sein werde. Um es kürzer zu machen: Ich bin reicher, als du denkst. Grandpa Louis hat mir mehr hinterlassen, als ihr alle wisst. Er hat kurz vor seinem Tod im Lotto gewonnen. Du weißt, er starb an einem Herzinfarkt. In seinem Lieblingssessel vor dem Fernseher bei der Ziehung der Zahlen der National Lottery. Was du aber nicht weißt und auch kein anderer aus der Familie – er starb, als ihm klar wurde, dass er sechs Richtige mit Zusatzzahl hatte. Ich bin sicher, sein Herz hat die Aufregung nicht verkraftet. Ehrlich gesagt hasse ich das Lottogeld dafür. Er wäre vielleicht noch bei mir, wenn dieser Gewinn nicht gewesen wäre. Aber kürzlich träumte ich von ihm. Er saß auf einer Wolke und flüsterte mir diese Idee für dich ins Ohr. Außerdem riet er mir davon ab, den anderen aus der Familie etwas von dem Geld abzugeben, da sie sich nie wirklich für uns interessiert haben und nur auf sich bedacht sind. Es ist also gut, dass ich den Gewinn vor ihnen verheimlicht habe. Sie wären sonst mit Sicherheit wie die Aasgeier um mich herumgeschwirrt. Also, Grandpa und ich möchten, dass das ganze Geld an dich geht, liebe Anna. Aber nicht nur das Geld. Dein Grandpa und ich machen uns auch Sorgen um Princess. Die alte Bernhardinerdame und du habt euch doch immer so gut verstanden. Sie gehört mit zum Erbe. Sie darfst du auf jeden Fall behalten. Ich hoffe du freust dich.“

Annas Mund öffnete sich. Dr. Eugene lugte erneut über seine Brillengläser und fuhr Sekunden später fort. „Mir tun die Finger weh vom Schreiben. Aber es war noch nicht alles. Hier im Haus gibt es einen knackigen jungen Mann, Landen, der mir helfen wird, ein Video zu drehen. Das ist einfacher. Also sieh es dir an. Ich hoffe, du wirst die richtige Entscheidung treffen. Ruby wird dir helfen. Nicht wahr, meine Liebe? Ich danke dir von Herzen, du verrücktes Huhn. Küsschen, eure Rose.“

Der Notar faltete den Brief langsam zusammen und gab seiner Sekretärin ein Zeichen, woraufhin sie im Nebenraum verschwand.

„Ist das nicht toll?“, jubelte Ruby und umarmte Anna.

Die drückte ihre Freundin eine Armlänge von sich. Ruby schien mehr zu wissen als sie. „Träume ich? Aber die Obhut für Princess nehme ich liebend gerne an, auch wenn sie sabbert wie zehn Kamele“, sagte sie mehr als erstaunt.

In diesem Moment kam Dr. Eugenes Sekretärin zurück und schob einen Fernseher mit DVD-Player neben den Schreibtisch. Sie schaltete ihn an und eilte auf ihren Platz zurück, um sich weiter um das Protokoll zu kümmern. Auf dem Film war Rose zu sehen. Sie saß in ihrem grünen Lieblingssessel, auf dem Schoß eine Packung Trüffelpralinen, für die sie wohl sogar getötet hätte. Das Laster musste Anna von ihr geerbt haben. Rose war süchtig danach gewesen. Taff winkte sie in die Kamera und rückte ihre Perücke zurecht.

„Wenn du mich hier siehst, dann weile ich hoffentlich schon bei den Engeln und deinem Grandpa Louis. Mein Schätzchen, ich werde dich nie vergessen. Es tut mir nur weh, dass ich dich so zurücklassen muss.“

Anna schlug die Hände vor den Mund. Rose zu sehen, zu hören, war wie ein Geschenk für sie. Sie rückte näher an den Bildschirm heran.

„Du musst etwas ändern, Anna. Kämpfe! Erinnere dich an dich selbst. Deine Eltern waren früher immer stolz auf ihr keckes, kluges Mädchen. Ich bin es noch! Sie hätten jedoch immer hinter dir stehen müssen, nicht nur, als du ihnen Freude bereitet hast. Wirklich traurig, dass sie das nicht mehr tun. Keine Sorge, auch sie werden ein Video, besser gesagt eine DVD, bekommen. Oder doch nur einen Brief? Ich weiß es noch nicht genau. Und Robert – dieser elende Schweinebraten hat dir dein Selbst gestohlen, dein wahres Selbst. Du hast vergessen zu leben, wirklich zu leben. Und daran ist größtenteils er schuld. Basta! Ich will, dass du aufwachst, wieder Spaß hast, Liebe findest und den Mut, darum zu kämpfen. Riskiere etwas! Deshalb habe ich diese Überraschung für dich. Mein Erbe!“

Sie begann zu husten, woraufhin ein junger Mann erschien, der ihr ein Glas Wasser reichte und dann wieder aus dem Bild verschwand. Wahrscheinlich war es dieser Landen, den sie in ihrem Brief erwähnt hatte.

„Was hat sie bloß vor?“, stammelte Anna ungläubig.

Im Gegensatz zu ihr schien Ruby die Ruhe selbst. „Hör weiter zu.“

„Wenn du auf meinen Vorschlag eingehst, folgendes Spiel durchhältst und glücklich daraus hervorgehst, dann … meine Liebe … bekommst du Louis' und mein ganzes Vermögen. Ich bin sicher, dass du das schaffen wirst und es dich vorrangig wachrütteln sowie zu deinen Wurzeln zurückbringen wird.“ Nach diesem Satz holte sie tief Luft.

Anna kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Bisher hatte sie tatsächlich gedacht, Rose hätte nicht mehr als einige tausend Pfund zurückgelegt.

Ihre Grandma kramte in ihrer Tasche nach einem Foto und hielt es in die Kamera. Darauf zu sehen war eine schneeweiße Villa mit Veranda, seitlichem Balkon und einem parkähnlichen Garten.

„Die habe ich wenige Monate vor meinem Tod gekauft. Sie gehört zum Spiel. Wenn du es schaffst und sie dir gefällt, darfst du sie neben dem restlichen Vermögen behalten. Nun zu den Spielregeln, mein Schatz. Ruby kann dir im Nachhinein gerne noch mehr dazu erklären.“

Anna tauschte einen Blick mit Ruby. Ihre beste Freundin steckte mit ihrer Grandma also wirklich unter einer Decke. Sie wollte etwas sagen, aber konnte nicht. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, während Rose fortfuhr. Die Worte überschlugen sich in Annas Ohren.

„Ich vererbe dir, sozusagen auch im Namen von Louis, neben der Villa zehn interessante, sexy Traummänner! Guck nicht so. Du hast richtig gehört!“

„Was?“, stieß Anna heiser aus und konnte förmlich spüren, wie sie bleicher wurde.

„Nachdem du in die Villa gezogen bist, wirst du sie kennenlernen. Sieh sie dir genau an, unternehmt etwas, habt Spaß, redet offen. Nach ungefähr einer Woche solltest du einen nach Hause schicken, eine Woche später den nächsten, bis am Ende nur noch der Mann übrig ist, der deiner würdig ist, der dein Herz erreicht hat, mit dem du glücklich wirst. Das wünsche ich dir. Ruby hat mir übrigens bei der Auswahl geholfen. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn keines von diesen Schmuckstücken ein Diamant ist, der auch dich wieder zum Strahlen bringt.“

„Du hast was?“, fragte Anna Ruby, die nur abwinkte.

„Wir haben ausgewählten Teilnehmern ein Foto von dir zugesandt und ihnen eine kleine Summe zukommen lassen. Alles Weitere wird dir Ruby erzählen. Jedenfalls sind sie gespannt darauf, dich kennenzulernen“, erzählte Rose und warf Anna eine Kusshand zu.

„Ja, das war im Grunde schon alles. Das Ganze wird von Ruby und Doktor Eugene überwacht. Habe nur Mut! Sie stehen dir bei. Außerdem haben Louis und ich ein Auge auf dich. Ich bin sicher, dass uns ab und zu ein Blick nach unten gewährt wird. Keine Angst – bei den Du-weißt-schon-Szenen sehen wir weg. Versprochen! Und kein Wort zu deinen Eltern!“

Sie lächelte, während Anna leicht schwindlig wurde.

„So, meine liebe Anna. Nun muss ich mich verabschieden. Ich umarme dich in Gedanken und wäre so stolz auf dich, wenn du mir meinen letzten Willen erfüllen würdest und das Spiel mitmachst, aus dem am Ende hoffentlich etwas Wundervolles hervorgeht. Ich liebe dich.“

Rose zwinkerte und flüsterte dem jungen Mann hinter der Kamera etwas zu, das Anna nicht verstand. Kurz darauf endete die Aufnahme.

Kalter Schweiß kroch aus sämtlichen Poren und legte sich wie ein feuchtes Tuch auf Annas Haut. „Moment … das muss ich erst sacken lassen.“

„Wollen Sie das Erbe oder sagen wir besser die Herausforderung annehmen?“, fragte Dr. Eugene. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne, während Grandma Roses Worte in Annas Kopf hämmerten: Zehn Männer! Eine Villa! Princess und sie mittendrin! Die Bernhardinerhündin war bereits zwölf Jahre alt. Grandma und Grandpa hatten sie über alles geliebt. Sie waren Princess' Hofstaat und Familie gewesen, was Anna nun übernehmen sollte und auch wollte, wenngleich Princess die allermeiste Zeit nur herumlag, gekrault und gefüttert werden wollte.

„Wann kann ich Princess haben?“, fragte Anna und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn.

Ruby rückte näher an sie heran und suchte ihren Blick, dem sie auswich. „Sie wohnt bereits in der Villa.“

„Wie bitte?“

Ruby nahm Annas Gesicht sanft, aber bestimmt zwischen ihre Hände und hob ihren Kopf an, bis sie auf Augenhöhe waren. Ihre Blicke trafen sich.

„Was denkt ihr euch nur dabei? Zehn Männer … Das kann ich nicht“, stieß Anna aus.

„Das hast du doch gehört. Sie hat es dir gesagt.“

„Das ist doch verrückt, Ruby. Außerdem habt ihr sie mit Geld gelockt? Über wie viel sprechen wir denn eigentlich bei dieser kleinen Summe, die jeder von denen bekommt?“

Ruby schien ihr ausweichen zu wollen. „Diese Männer ziehen für dich in eine Villa. Außerdem weißt du ja, wie großzügig Rose immer war.“

„Es ist ja auch schrecklich, dass zehn angebliche Traummänner vorübergehend in eine Villa ziehen müssen! Und dann auch noch wegen mir. Nur, um mich kennenzulernen. Ja, ihr habt recht. Dafür muss man ihnen schon eine Entschädigung zahlen.“ Anna konnte sich den spitzen Ton nicht verkneifen.

Ruby winkte ab. „Nein, nein. Du verstehst das völlig falsch. Sie lassen größtenteils ihren Alltag zurück für dich …“

Anna verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie viel?“

„Es sind nur dreitausend Pfund.“

„Nur?! Das kann doch nicht euer Ernst sein. Wegen mir braucht niemand seinen Alltag aufgeben. Weder größtenteils, noch ganz.“

Ruby senkte den Blick und atmete tief durch. „Wir meinen es doch nur gut. Es gab sogar welche unter den Männern, die das Geld abgelehnt haben. Lerne sie erst einmal kennen und …“

Seufzend legte sich Anna eine Hand auf die glühende Stirn. „Was soll ich denn mit zehn wildfremden Männern anfangen?“

Ihre Freundin blickte auf. „Also da brauche ich nicht lange überlegen, Schatz.“

Anna wich zurück und hörte, wie Dr. Eugene sich räusperte. „Dann nehmen Sie das Erbe also nicht an? Sie haben noch Zeit, um sich zu entscheiden.“

„Nein!“, erwiderte Anna prompt.

Energisch, als ginge es um Leben und Tod, trat Ruby neben sie. „Doch, das wird sie!“

In Anna tobte noch immer ein Krieg der Gedanken. Das Ganze wirkte zu surreal, einfach komplett irre.

„Wie viel hat sie bekommen … ich meine, wie viel hat Grandpa gewonnen?“, fragte Anna, stand auf und ging wenige Schritte. Als Dr. Eugene den Betrag nannte, kippte sie beinahe um.

„Sechseinhalb Millionen“, antwortete er knapp und monoton, als wäre es das Normalste auf der Welt.

„Wa… was?“ Anna bekam den Mund nur schwer wieder zu.

„Sie meint es nur gut mit dir“, sagte Ruby. „Und ich auch! Du wirst hin und weg sein von den Männern. Glaube mir. Ich … wir haben die Crème de la Crème für dich ausgesucht.“

Ungläubig starrte Anna sie an. „Und die Crème de la Crème soll gerade auf mich stehen?“

„Aber klar doch! Jetzt gib dir mal einen Ruck. Mensch, freu dich. Denk alleine an Roberts blödes Gesicht.“

Spiegelbild

Ruby weigerte sich vehement, Anna zu verraten, wer die zehn angeblichen Traummänner waren. Nicht einmal ihre Vornamen wollte sie nennen. Um es ihr zu entlocken, ging Anna auf das Angebot, an einer Weinprobe in ihrem Atelier teilzunehmen, ein. Ihr Plan war, dass Ruby vielleicht in angeheitertem Zustand ein wenig redseliger werden würde, denn sie schien schon jetzt beinahe vor Aufregung zu platzen. Anna dachte an Grandma Rose, ihre verrückte, geliebte Rose. Die hatte sich das Ganze definitiv gut durch den Kopf gehen lassen.

Mit zusammengezogenen Brauen betrachtete Anna sich im Spiegel. Das konnte doch niemals gutgehen! Außerdem, welches Foto hatten Rose und Ruby diesen Männern bloß gezeigt? Zudem gefiel ihr diese Sache mit der Bezahlung noch immer nicht, auch wenn Granny es mit Sicherheit gut gemeint hatte.

Ruby empfing Anna mit einem verschmitzten Lächeln.

„Ich weiß, was du gleich fragen wirst, Ruby. Die Antwort lautet nein, ich habe mich noch nicht entschieden.“ Anna ging an Ruby vorbei ins Atelier, das verändert aussah. Die Vorhänge vor der großen Fensterfront waren verschwunden, sodass das Licht der Stadt in den großen, mit hellem Marmorboden ausgelegten Ausstellungsraum fallen konnte. Zuvor hatten Neonlichter Rubys Bilder und die einiger Kollegen, die mit ihr hier gelegentlich ausstellten, angestrahlt. In den Ecken und vor zwei Marmorsäulen, in die kleine Brunnen eingelassen waren, gediehen Palmen und Orchideen in weißen Töpfen. Erstaunt sah Anna ihre Freundin an.

„Das war einst deine Idee. Erinnerst du dich? Du hast mir von Anfang an gesagt, ich sollte auf Natürlichkeit setzen. Das würde dem Ganzen einen besonderen Zauber verleihen.“

„Ja, ich erinnere mich. Meine Güte, das ist doch Jahre her.“

Ruby breitete die Arme aus und drehte sich einmal im Kreis.

„Du hattest recht. Du weißt, was es braucht, um etwas zum Leuchten zu bringen. Natürliches Licht, angenehme Geräusche wie das Plätschern des Wassers, und Leben – die Blumen.“

Anna rührte sich nicht, und auch Ruby hielt inne und sah sie an. „Ich will dieses Leuchten auch wieder an dir selbst sehen, Anna. Vor allem in deinen Augen.“

Anna seufzte und zuckte mit den Schultern, woraufhin Ruby um sie herumging, sie von hinten packte und vor den großen ovalen Wandspiegel schob, der am anderen Ende des Raumes hing.

„Sieh dich an. Deine Augen sind matt, du bist … entschuldige, zu einem Schwarz-Weiß-Gemälde geworden. Hol dir die Farben zurück, den Glanz. Ich weiß, dass da drunter eine Schicht voller Farben liegt, die jeden Betrachter in den Bann ziehen wird. Du musst sie nur rauslassen, es wirklich wollen. Öffne deinen Mantel, lass sie explodieren, Anna.“

„Ich kann nicht. Es ist nicht wichtig im Moment für mich“, murmelte Anna und wollte einen Schritt zur Seite gehen. Doch Ruby ließ nicht locker und hielt sie weiter fest.

„Du glaubst also wirklich nicht, dass du die alte Anna wiederfinden, daran anknüpfen kannst?“

„Ich fürchte, sie ist zu tief begraben, Ruby. Erstickt. Irgendwann in den Jahren mit Robert“, erwiderte Anna. Was redet sie da für einen Schwachsinn?, fragte sie sich sogleich. Aber im Grunde war es wahr. Bei Rubys Worten wurde ihr erst richtig klar, dass Robert, ein einziger Mensch, es tatsächlich geschafft hatte, sie lebendig in sich selbst zu begraben. Anna hatte keine Ahnung, woher sie die Kraft nehmen sollte, sich wieder auszubuddeln. Wenn sie es nicht schaffte, wer dann? Zehn fremde Männer? Das kam ihr völlig absurd vor.

„Ich glaube an Wunder und du bist eins, verdammt. Du bist nicht tot, nur dein Kopf ist es. Wach auf, tu was! Du hast dich so lange vernachlässigt, bis du dich selbst vergessen hast. Lass uns dir helfen“, protestierte Ruby.

Kurz darauf hörte Anna das Klacken der Eingangstür, dann eine männliche Stimme, die sie von der ersten Silbe an anzog wie ein Magnet. Sie klang weich, obwohl sie so tief schien wie ein Ozean. Zeitgleich mit Ruby wandte Anna sich um und blickte einem jungen Mann entgegen, der wie ein Rockstar gekleidet war. Sonnenbrille, lässiges rotes Jackett, weißes Hemd, dunkelblaue Jeans und schneeweiße Sneakers. Er strich sich durch sein braunes, leicht lockiges Haar und nahm dann die Brille ab.

„Da bist du ja“, begrüßte ihn Ruby und streckte ihm strahlend eine Hand entgegen.

Er lächelte, ergriff ihre Hand und drückte sie. „Aber klar doch. Für dich immer, Süße.“

Sie zeigte auf Anna. „Das ist sie – Anna Nash, vorher Voss. Aber das vergessen wir wieder ganz schnell.“

„Christian Blake … interessant.“

Während er sich vorstellte, sah er Anna tief in die Augen. Sie konnte nicht verhehlen, dass dieser Blick sie faszinierte. Es war, als würde er durch seine marineblauen Augen tief in ihre Seele sehen. Plötzlich trat er noch näher, als wollte er sie hypnotisieren. Anna wich zurück, doch er bat sie mit einer Geste, ihn weiter anzusehen.

„Ja, sogar sehr interessant“, murmelte er.

„Was?“, fragte Anna ihn leise.

„Hör ihm einfach zu!“, bat Ruby.

War das der Typ, der uns die Weine vorführen wollte? Oder gar einer der zehn versprochenen Traummänner? Annas Gedanken überschlugen sich.

„Es ist da. Ja, ich sehe es, ich kann es deutlich spüren“, sagte er und entließ Anna schließlich. Ruby kannte seltsame Typen, das war keine Neuigkeit, aber der hier war mehr als seltsam, wenngleich auch verdammt anziehend.

„Das habe ich doch gesagt. Zeig es ihr“, erwiderte Ruby.

Anna riss sich aus ihrer kleinen Trance, in die sie gefallen war. „Moment. Was zeigen?“

„Er sieht dich, wie du wirklich bist. Christian ist ein Meister darin. Er kehrt die innere Schönheit nach außen. Er kann dir zeigen, was du aus dir machen könntest, wenn du nur wieder den Mut dazu finden würdest“, erklärte Ruby, die ihm eindeutige Blicke zuwarf. Anna war sicher, dass ihre Freundin sich in den Maler verguckt hatte.

Das, was Ruby über seine Arbeit sagte, klang durchaus interessant und wiederum verrückt. Dennoch wollte Anna nicht sein neues Projekt werden. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch fünf Stunden, bis sie unter die Decke schlüpfen und mithilfe zweier Schlaftabletten dieser Welt für eine Weile entfliehen konnte. Der Unterricht würde für den Rest der Woche zum Glück erst um neun beginnen.

„Denk nicht einmal dran, jetzt zu gehen“, sagte Ruby, nahm sie an der Hand und führte sie in eines ihrer Arbeitszimmer. In einer Ecke war ein Tisch mit Gläsern und verschiedenen Rotweinflaschen gedeckt. Mitten im von Kerzenschein erfüllten Raum stand eine grüne Couch, über deren Lehne ein weißes Seidentuch hing. Anna schwante nichts Gutes.

„Bist du bereit?“, fragte Christian und stellte sich dicht neben sie. Sie roch sein Parfum. Es duftete würzig, herb und dennoch süßlich nach Erdbeeren und Schokolade.

„Er malt dich, wie Gott dich geschaffen hat“, erklärte Ruby und zwinkerte Anna zu. Dieses Zwinkern gefiel ihr ganz und gar nicht.

„Du meinst … nackt?“

Christian zog von dannen, wahrscheinlich, um seine Malutensilien zu holen.

„Das geht nicht. Bist du verrückt, Ruby?“

Schon zog Ruby sie Richtung Couch. „Es wird dir gefallen. Außerdem wird Robert es sehen und glaube mir, er wird blass werden vor Staunen.“

„Robert? Wie meinst du das, er wird es sehen?“

„Ich habe morgen eine Ausstellung und ihm eine Einladung geschickt. Der Champagner ist umsonst, die Häppchen auch. Du weißt doch, dass er bei so etwas nie widerstehen kann.“

„Vor allem konnte er deinen Kolleginnen nie widerstehen. Wenn ich da an diese Sue denke. Die hat er doch buchstäblich ausgezogen mit seinen Blicken. Ich wollte es nur nicht sehen … wie so vieles nicht.“

„Du bohrst schon wieder in der falschen Vergangenheit und drohst, in einer Endlosschleife stecken zu bleiben, die dich wieder nach unten ziehen wird. Erinnere dich lieber an die Zeit vor Robert, hol einen Teil davon ins Jetzt und kreiere damit eine neue Zukunft, eine neue Anna. Na komm schon. Hab Mut!“

Ruby zerrte sie geradezu in eine Umkleidekabine, die sich in einem angrenzenden Raum befand. Dann warf sie ihr ein Badetuch und ein weißes Spitzennachthemd zu, in das, wie Anna fand, wohl nicht einmal Barbie gepasst hätte, und zog den Vorhang zu.

„Vergiss es! Außerdem passe ich da nicht hinein. Es wird aus allen Nähten platzen.“

„Dann halt die Luft an, bis du auf der Couch liegst.“

Kaum hatte sie das gesagt, kam Christian zurück. Anna hörte, wie er seine Sachen auspackte, bereit zum Angriff.

„Wo ist die Leinwand, Ruby?“, fragte er.

„Momentchen noch.“

Ruby schob den roten Vorhang der Umkleide zur Seite, in der sich sonst ihre Aktmodelle um- beziehungsweise auszogen, und reichte Anna eine geöffnete Flasche Wein sowie ein Glas. Anna dachte noch einmal nach. Nun gut, vielleicht würde das Bild wirklich gut werden, so gut, dass Robert doch aufwachen und sehen würde, dass sie keine Nullachtfünfzehn-Frau war – oder gar weniger. Vielleicht konnte Christian wirklich Wunder vollbringen. Sie stellte das Glas zur Seite und trank aus der Flasche. Beim Überziehen des Kleides knackste es verdächtig an ein paar Stellen.

„Bist du so weit?“, fragte Ruby.

Der Alkohol benebelte bereits Annas Kopf, in ihr stieg eine wohlige Wärme auf. Mit jedem weiteren Schluck sank zudem ihre Hemmschwelle, über die sie schließlich trat, direkt auf die Couch zu. Als sie sich drauf niederließ, riss eine Seitennaht des Kleides. Den Rotwein hielt sie fest mit den Händen umklammert.

„Ups“, sagte sie und musste sogar lachen.

Ruby lächelte zufrieden und Christian zückte eine seiner schwarzen Kreiden.

„Du liegst zu unbequem. Lass dich fallen“, sagte er.

Bedeutete das, dass sie selbst angetrunken noch zu steif wirkte? Ruby half ihr und massierte ihre Schultern, was gut tat. Anna sank tiefer in die Couch und konzentrierte sich auf Rubys Worte.

„Gleichmäßig atmen, Anna. Ein und aus … ein und aus … ein und aus … denk an etwas Schönes.“

Anna brauchte noch einen Schluck und merkte kaum, wie Ruby ihr die Brille von der Nase zog. Die Umgebung begann langsam immer mehr vor ihren Augen zu verschwimmen und die Zeit schien stehen zu bleiben. Sie spürte die Enge des Kleides nicht mehr, genauso wenig wie ihre Scham. Von Minute zu Minute fühlte sie sich freier.

„Genau so, genau so“, hörte sie Christians Stimme wie von weit her.

Er streichelte ihren Körper und zugleich auch ihre Seele mit seinen Worten.

„Deine Augen leuchten wie mystische Nordlichter über einem glitzernden Wintersee, der langsam auftaut. Wow. Du bist schön, Anna Nash. Ich sehe dein Leuchten. Deine Haut ist so weich und frisch wie das Gras einer Sommerwiese und deine Grübchen, wenn du lachst, wirken betörend. Ja, ich sehe jede Kleinigkeit, auch die unter der Oberfläche. Ich tauche in dich ein, immer tiefer, ich habe dich gefunden, da bist du, nur du, ungeschminkt …“

Anna hatte keine Ahnung, wie lange sie so dalag und sich fühlte, als befände sie sich an einem wunderschönen Strand unter Palmen, völlig frei von sich selbst und allem, was ihre alte Welt ausmachte. Irgendwann nickte sie sogar ein und träumte davon, wie sie mit den zehn Traummännern im Meer schwamm. Allesamt trugen sie sie auf Händen, lachten mit ihr und nicht über sie, während sie sich von den Wellen tragen ließen. Doch plötzlich wurde der Traum zum Albtraum, als Anna erkannte, dass jeder von ihnen Roberts Gesicht besaß. Schreiend schreckte sie auf. Ruby und Christian befanden sich in der Nähe. Annas Schläfen pochten. Robert war noch zu sehr in ihrem Leben verankert, er hielt sie weiterhin in Besitz. Wie sie es hasste. Fakt war – der schöne Trip war vorbei.

Christian kam auf sie zu, beugte sich über sie, streckte ihr verwirrt dreinblickend eine Hand entgegen und zog sie hoch.

„Alles in Ordnung?“

„Ich bin eingenickt und habe geträumt. Sorry!“

„Ach, für was denn? Komm, ich zeige dir dein Bild. Dein wahres Spiegelbild.“

Seine Augen glänzten voller Erwartung. Ruby schob die Leinwand näher. Anna hielt die Luft an. Die Frau darauf war tatsächlich sie – aber doch so anders. Ihre Züge wirkten weicher, sie trug ein Funkeln in den Augen, hatte die Lippen sinnlich geöffnet, der Körper sah anziehend weich aus und lag in perfekter Position. In Anna begann es zu kribbeln. Langsam stand sie auf und ging auf die Leinwand zu. Ihre Schritte waren ein wenig unsicher, es kam ihr vor, als würde sie auf Wolken gehen.

„Sie ist wunderschön“, flüsterte Ruby.

Anna staunte. „Das soll wirklich ich sein?“

Christian nickte. Die Ernsthaftigkeit in seinem Blick verriet ihr, dass er es wirklich so meinte, wirklich so sah. Ihr stiegen Tränen in die Augen. „Danke!“

„Gern geschehen – sehr gern“, erwiderte Christian, sichtlich gerührt. Während Anna das Bild betrachtete, fühlte sie sich ein Stück weit wie früher – schön, begehrenswert, frei.

Die Entscheidung

Wieder zu Hause, brachte Anna das eigene Spiegelbild allerdings wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Und nicht nur dieses. Auch Robert! Der folgte Rubys Einladung am nächsten Abend tatsächlich. Anna versteckte sich in dem Raum, in dem sie auf Leinwand verewigt worden war, und lugte durch den Türspalt. Auch Christian war anwesend und wie sie und Ruby gespannt auf Roberts Gesicht. Robert war gekleidet wie so oft – cremefarbener Anzug, die zwei obersten Knöpfe des roten Hemdes leger geöffnet, dazu braune Lederschuhe. Lächelnd plauderte er mit den anderen Gästen. Besonders für die Damen nahm er sich Zeit. Anna fiel jedoch auf, dass er dünner und bleicher geworden war. Was Ruby in Wirklichkeit von ihm hielt, schien ihm egal zu sein. Wenigstens kam er ohne Begleitung und ohne weitere Zettel. Dafür hatte er Anna gestern eine SMS geschickt, wenngleich er wusste, dass sie das Handy nur selten nutzte. Nun, wo sie ihn sah, kribbelte es ihr in den Fingern, ihm doch zu antworten und den Vorschuss zu gewähren. Vielleicht war seine neue Liebschaft bereits in die Brüche gegangen und er sah deshalb so bleich aus. Sie biss sich auf die Unterlippe, als er näherkam, ohne sie zu bemerken. Anna zog die Tür ein bisschen weiter auf, als Robert noch einen Meter von ihr entfernt stand. Sie konnte den herben Duft seines Parfums wahrnehmen.

Nein, verdammt, nicht wieder weich werden, ermahnte sie sich und war dankbar, als er weiterging und die Gemälde an den mit warmem Licht bestrahlten Wänden betrachtete. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie er sich ihrem näherte. Zwei Bilder davor stoppte er und starrte auf eine Leinwand, auf der eine barbusige Schönheit ihren in Rot- und Goldtönen gemalten Körper lasziv räkelte. Langsam fuhr er sich mit der Zunge über die Oberlippe und nippte anschließend genüsslich an seinem Champagner. Anna seufzte, halb wehmütig, halb wütend. Sie erinnerte sich, dass er sie vor ihrer Hochzeit und danach in ihren Flitterwochen auf den Fidschi-Inseln auch so angesehen hatte, als alles noch neu gewesen war, voller Leidenschaft und Fantasie. Da war sie noch frisch und unverbraucht für ihn gewesen.

Sie hatten sich in einer Bar in London kennengelernt. Anna dachte daran, wie er sie mit seinen Blicken und Worten gestreichelt und es merklich genossen hatte, dass sie nicht gleich auf ihn angesprungen war. Natürlich wollte er das verheimlichen, aber sie hatte ihn durchschaut und das Spiel weitergetrieben, so lange sie konnte. Es hatte ihn schier wahnsinnig gemacht. Zwei Monate vergingen, bis sie ihm dann ihre bedingungslose Liebe gestand. Danach ging alles unwirklich schnell und sie heirateten nur drei Wochen später. Sein Antrag im London Eye war wortwörtlich himmlisch gewesen. „Du hast mich ganz schön hingehalten. Aber nun will ich dich fest an mich binden, damit du mir nicht mehr entkommst. Ich fühle mich endlich angekommen.“

Anna schüttelte den Kopf über sich selbst. Ja, Robert liebte das Jagen und Erlegen. Am Ende war sie ihm in die Falle gegangen. Sie hatte es romantisch sehen wollen, in der Hoffnung, er würde genau wie sie fühlen, wäre tatsächlich angekommen und brauchte keine Spielchen mehr. Nach der Hochzeit war er sich immer sicherer geworden und sein Interesse begann zu schwinden.

Ruby löste sich von einer Traube junger Gäste und stellte sich demonstrativ vor Christians Gemälde. Robert zögerte sichtlich, zu ihr zu gehen, überwand sich dann jedoch. Ruby lächelte verkrampft und er tat es ihr gleich. Oberflächliche Freundlichkeiten wurden ausgetauscht. Anna sah, dass sein Blick urplötzlich an Christians Gemälde hängen blieb und seine Stirn sich in tiefe Falten legte, als Ruby etwas sagte. Ihre Worte gingen in den Stimmen der übrigen Anwesenden unter, sodass Anna nichts verstehen konnte. Plötzlich begann Robert zu schmunzeln und letztendlich herzhaft zu lachen, während Ruby genervt den Mund verzog und kurz in Annas Richtung blickte, ohne dass er es bemerkte. Er trank sein Glas aus und schüttelte den Kopf. Dann sagte er noch etwas und ging. Für einen Moment glaubte Anna, ihr Herzschlag würde aussetzen. Kein Zweifel, er lachte über sie – wieder einmal. Ihr wurde heiß und kalt zugleich, als stünde sie mitten in einer Gewitterfront. Ruby kam in ihren bunten High Heels zu ihr und schloss die Tür hinter sich.

„Dieser Mistkerl“, schimpfte sie.

„Was hat er gesagt?“

Ruby winkte ab. „Dass der Maler wohl eine Brille bräuchte.“

Jetzt war auch Anna nach etwas zu trinken zumute. Sie fühlte sich so nackt wie auf dem Gemälde und ärgerte sich über sich selbst, weil der Stachel seiner Reaktion immer noch mitten ins Ziel traf – ihr Herz. Verdammt, es sollte ihr egal sein.

„Komm mit raus“, sagte Ruby und schob Anna Richtung Tür.

„Ganz sicher nicht. Ich habe ja gleich gewusst, dass das ein Reinfall wird. Ich werde ihm nun nicht auch noch unter die Augen treten. Außerdem … sieh mich an.“

Anna blickte an sich hinunter. Das grüne knöchellange Abendkleid, das sie weit hinten im Schrank gefunden hatte, klebte an ihr wie eine zweite Haut und setzte ihr Hüftgold, wie sie nun fand, perfekt in Szene. Niemals würde sie Robert damit unter die Augen treten. Ruby überlegte nicht lang, kramte nach einer Schere und stellte Anna vor den Spiegel.

„Dir gefällt es so also nicht. Richtig?“

„Absolut richtig!“

Ruby kniete sich neben ihre Freundin. „Gut. Dann vertrau meiner genialen Kreativität.“

„Was wird das?“

„Ein sexy Schnitt. Das Ding ist doch sowieso schon so alt, als stammte es aus einem anderen Leben.“

„Stopp! Meine Beine sind …“, protestierte Anna.

„… toll. Verdammt, Anna. Jetzt halt still.“