Ein Fingerhut voll Zuversicht - Christa Grasmeyer - E-Book

Ein Fingerhut voll Zuversicht E-Book

Christa Grasmeyer

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Beschreibung

Durch den plötzlichen Tod der Mutter wird die sechzehnjährige Fanny Schill vor die Aufgabe gestellt, deren Platz in der Familie zu übernehmen. Der Vater ist völlig hilflos. Er will die drei jüngeren Geschwister trennen — zwei sollen in ein Heim und der jüngste zu seiner Schwägerin. Fanny möchte die Familie erhalten, sie will für Volker, Rüdiger und Rainer sorgen, obwohl sie selbst durch den nicht erfüllten Berufswunsch, Fotografin zu werden, erhebliche Konflikte hat. Die Lehre an der Nähmaschine, die Arbeit im Haushalt, alles droht dem Mädchen über den Kopf zu wachsen, und der Fingerhut voll Zuversicht leert sich täglich mehr und mehr, auch wenn Sascha ihr hilft. Aber liebt er Fanny wirklich? LESEPROBE: Nach diesem Erlebnis hielt Sascha es für angebracht, öfter bei den Schills nach dem Rechten zu sehen. Er tat es mit einer Selbstverständlichkeit, als sei er ein älterer Vetter. Manchmal brachten ihn die Jungen von draußen mit, sie hatten ihn irgendwo getroffen. Manchmal klingelte er an der Tür und kam herein, ohne nähere Erklärungen abzugeben. ,,Hallo, wie geht’s?“ Er ließ Fannys Erstaunen an sich abprallen, fragte nach den Brüdern, alberte mit ihnen herum, hörte interessiert auf ihre belanglosen Reden und gab ihnen Ratschläge und Hinweise, und Volker und Rüdiger lauschten auf jedes seiner Worte. Was er anordnete, wurde prompt befolgt. Streitereien, die er schlichtete, flammten nicht wieder auf. Keineswegs war er immer freundlich. Wenn er entdeckte, dass die Jungen bloß Unsinn getrieben hatten, anstatt im Haushalt zu helfen, fauchte er sie an. Er fragte Fanny: „Kommst du klar?“ Und wehe, sie hatte Grund zu Klagen! Es machte ihm gar nichts aus, eine freche Bemerkung mit einer Ohrfeige zu beantworten, pädagogische Grundsätze hatte er nicht. Er handelte spontan und bedenkenlos autoritär. Gleichzeitig aber war er ein Kumpel, der sich balgte und Sinn hatte für Eulenspiegeleien jeder Art. Was immer man ihm erzählen mochte, er hatte Zeit, hörte zu, und zwar nicht wie ein Erwachsener, der sich von seiner Warte auf die Warte halbwüchsiger Jungen begibt, um sie zu verstehen, sondern als einer von ihnen, der alles verstand, der sich brüllend vor Lachen hintenüber auf die Couch warf, der beim Kartenspiel mogelte, der über Schweinigeleien grinste und Verstöße gegen die Schulordnung normal fand.

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Impressum

Christa Grasmeyer

Ein Fingerhut voll Zuversicht

ISBN 978-3-95655-027-0 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1980 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Ein Spatz kam geflogen und setzte sich auf die Regenrinne. Leute stiegen in Busse ein, Kinder liefen zur Schule.

Seufzend wandte Fanny sich vom Fenster ab. An den Wänden ihrer Mansarde hingen Fotografien, die besten, die sie bisher gemacht hatte. Da war der Baum am Ufer, eine Gegenlichtaufnahme, hängende Zweige vor flimmernder Wasserfläche. Da waren ihre Eltern an einem Sommertag auf sandigem Weg, Hand in Hand gehend, über ihnen ein hoher Himmel mit Wolken. Als der Fotozirkel der Schule seine besten Arbeiten ausstellte, war diese Aufnahme dabei gewesen.

Heute war der erste September, heute sollte Fanny die Lehre beginnen, nicht als Fotografin, sondern als Kleidungsfacharbeiter. Alle hatten ihr zugeredet, die Eltern, die Lehrer, sogar Herr Kühn, der den Fotozirkel leitete und sie so oft gelobt hatte. Auf einmal hieß es: „Fanny, nimm Vernunft an. Fanny, versteife dich nicht. Das Fotografieren bleibt dir ja, auch wenn es nicht dein Beruf wird. Begreife endlich, die wenigen Lehrstellen sind vergeben!“

Fanny wollte es nicht begreifen. Vielleicht trat einer zurück, vielleicht gab es im letzten Augenblick doch eine Chance. Sie füllte die Bewerbungskarte nicht aus. Erst als gar keine Hoffnung mehr war, als alle Schüler schon Lehrstellen hatten, erst da gab sie auf und nahm, was sich bot. Der VEB Mädchenmode suchte Lehrlinge. Fanny schickte die Bewerbungskarte hin. Sie hatte eigentlich den Abschluss der zehnten Klasse mit „gut“ machen wollen. Daran hatte sie kein Interesse mehr. Fanny schloss mit „befriedigend“ ab.

Sie setzte sich aufs Bett und neigte den Kopf. Ein Pechvogel war sie. Besser, sie dachte nicht darüber nach. Besser, sie nahm es leicht wie ihre Freundin Bettina. Die ging heute zum ersten Mal als Lehrling in die große Kaufhalle West, auch nicht freudig. Gestern hatte sie zu Fanny gesagt: „Du bist viel zu grüblerisch. Du erwartest immer wer weiß was! Von den Jungs, vom Beruf, vom Leben überhaupt, und wirst natürlich dauernd enttäuscht. Nimm’s doch, wie’s kommt!“

Hatte Fanny kein Recht, was zu erwarten? Sie warf das Haar zurück und stand auf. Wehleidigkeit nützte gar nichts. Man musste den Rücken steif machen. Es gab Dinge, die ließen sich nicht umgehen. Jetzt war’s die Nähmaschine. Aber ein Recht, mehr zu erwarten als die Nähmaschine, hatte Fanny trotzdem, und bis ans Ende ihrer Tage würde sie bestimmt nicht an der Nähmaschine sitzen. Achtzehn Monate Lehrzeit bedeuteten schließlich keine Ewigkeit.

Sie schloss die Mansarde ab und ging die Treppen hinunter zur Wohnung ihrer Eltern in der ersten Etage. Als sie den Vater in der Küche sah, lächelte sie. Er hatte Spätschicht gehabt. Normalerweise müsste er um diese Zeit noch schlafen. Heute war aber kein normaler Tag. Nicht nur, dass ein neues Schuljahr begann, für Volker das achte, für Rüdiger das siebte. Rainer, der Jüngste, erlebte heute seinen ersten Schultag, und Fanny, die Älteste, gehörte ab heute zu den Werktätigen. Grund genug für die Eltern, normale Gewohnheiten zu durchbrechen.

Der größte Frühstückstrubel war schon vorbei. Den hatte natürlich die Mutter bewältigt, bevor sie selber zur Arbeit gegangen war. Sich um Fanny zu kümmern, war nun Sache des Vaters. Er tat es, indem er auf seine rührend unbeholfene Weise Brot röstete und Eier kochte. Er wischte mit einem Lappen auf dem Tisch herum. Wieder war ihm irgendein Malheur passiert. Entweder verschüttete er sprudelndes Wasser beim Teeaufgießen, oder er zerbrach die zartschaligen Eier, wenn er sie vor dem Kochen mit dem Eierpick anstach, oder er riss ein Loch in die Milchtüte.

Fanny, die wusste, dass ihm Pannen in der Küche peinlich waren, übersah sein Missgeschick. Sie rief ihm einen Morgengruß zu und ging ins Bad. Als sie zurückkehrte, hatte er den Frühstückstisch leidlich hergerichtet. Es roch nach verbranntem Toast.

Mit betonter Munterkeit sang der Vater: „Spinn, spinn, meine liebe Tochter, ich kauf dir ein Kleid ...“

„Ach ja, lieber, lieber Vater, nicht zu eng und nicht zu weit ...“, sang Fanny und hoffte, er würde diesen Ton beibehalten.

Aber da sagte er: „Wenn wir heute noch spinnen würden oder die Zeitungen im Handsatz herstellen ...“

„Du hast recht, Vati.“

„Überall geht’s heutzutage nach der Norm, oder es wird am Band gearbeitet. Wenn das keiner machen wollte ...“

„Du machst es, und ich werd’s auch machen.“

Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar, das zu ergrauen begann. „Vielleicht hätte ich mal mit Leuten sprechen sollen, die Einfluss haben.“

„Kennst du denn solche Leute?“

„Nicht direkt. Aber es sind doch immer Redakteure in der Setzerei, und die kennen solche Leute. Durch Beziehungen wären wir vielleicht an eine Fotografenlehrstelle rangekommen.“

„Wär dir das nicht peinlich gewesen?“

„Was heißt ,peinlich‘, wenn's um die Kinder geht. Viele Eltern rennen umher, bloß um die Kinder an die richtigen Stellen zu bringen. Der Start ist so verdammt wichtig. Rainer ist vorhin losgezogen ... Hurra, ich bin ein Schulkind! Der lacht und singt. Und du bist geknickt.“

Fanny schüttelte den Kopf. Bestimmt hatte die Mutter ihm eingeschärft, Fanny an diesem Morgen aufzuheitern, ihren ersten Tag etwas leichter zu machen, und das hatte er auch redlich versucht mit seinem Lied von der spinnenden Tochter. Aber nun war er es wieder, der getröstet werden musste.

„Ich bin nicht geknickt", beteuerte sie, „ich hab mich mit der Nähmaschine abgefunden.“

„Abgefunden: Das ist nicht gut. Mein Vater, dein Opa, wollte mich als Nachfolger für seine Gaststätte, und ich mochte nicht. Ich bin geworden, was ich mir vorgenommen hatte: Schriftsetzer. Hinter dem Bierhahn hätte ich nie was getaugt. Und jetzt sollst du hinter die Nähmaschine und magst nicht."

„Ach, Vati, wenn sie bei den Fotografen nun mal so wenig Nachwuchs brauchen? Später kann ich immer noch Fotografin werden.“

„Später … und jetzt?"

„Du bringst mich fast zum Heulen, Vati.“

„Weißt du was?", fragte er schnell, „wir bummeln durch die Stadt. Wir gucken ein bisschen in die Geschäfte, und dann gehe ich zur Schicht, und du gehst auch zur Schicht, wir zwei Schichtarbeiter.“

Fanny bummelte gern durch die Stadt, und sie ging lieber mit dem Vater als mit der Mutter, weil er dazu neigte, seiner Tochter diesen oder jenen Wunsch zu erfüllen, während die Mutter jede Ausgabe genau berechnete.

„Hast du denn Zeit?“, fragte sie, „Hat Mutti gar nichts aufgeschrieben zum Einholen?"

„Nein, nein. Heute bin ich nur für dich da."

Fanny blickte auf die Uhr und entschied: „Dann setzen wir uns zusammen auf den Balkon. Ein Stadtbummel lohnt sich nicht mehr. Wir müssen früh Mittag essen.“

Der Balkon ging vom Zimmer der Jungen nach hinten hinaus. Man sah auf Höfe und Spielplätze und kleine Gärten. Die Blumen in den Balkonkästen blühten, auf den Höfen hing Wäsche, eine Katze strich vorbei, und der Verkehr vom Wendenring war nur gedämpft zu hören.

„Das ist der Vorteil der Schichtarbeit“, sagte der Vater behaglich. „Im Winter zum Beispiel kommen normal arbeitende Menschen fast gar nicht ans Tageslicht. Natürlich muss man sich an die Schicht erst gewöhnen. Dann wirst du merken, dass das Leben irgendwie mehr Abwechslung hat. Mal hast du morgens frei, mal nachmittags und mal abends zum Ausgehen und Fernsehen.“

Fanny schwieg.

„Oder hätten wir nicht zustimmen sollen?“, fragte der Vater. „Aber alle Eltern haben zugestimmt Dein Betrieb hat eine Sondergenehmigung vom Ministerium, dass die Lehrlinge in Schicht arbeiten dürfen.“

„Es ist ganz egal, wann ich acht Stunden an der Nähmaschine hocke, früh oder spät. Und dann hab ich auch noch Schule, im ersten Lehrjahr immer zwei Wochen Schule und eine Woche Frühschicht und eine Woche Spätschicht. Da sind unheimlich viele Lehrlinge.“

„Neulich stand in der Zeitung, das Durchschnittsalter im VEB Mädchenmode beträgt neunzehn Jahre. So was hab ich überhaupt noch nicht gehört. Wie wollen die bloß in den Kindergarten ohne einen Stamm von Facharbeitern Disziplin und Arbeitsmoral reinbringen? Ihr habt eine echte Aufgabe, ihr baut einen großen Betrieb auf, und später könnt ihr mal sagen: Wir sind hier die erste Generation gewesen! Dann richten sich die Lehrlinge nach euch. Aber jetzt sind es Lehrlinge und eben Ausgelernte, die den Ton angeben.“

Er lachte. Er konnte sich wohl nicht recht vorstellen, wie das funktionieren sollte.

„Meinst du, dass man davon was merkt, wenn man am Band sitzt, als Schräubchen im Getriebe?

Der Vater reckte sich im Klappstuhl auf. „Ich zum Beispiel fühle mich nicht als Schräubchen. Ohne mich steht die Linotype still.“

„Die Linotype wird doch sowieso bald ausrangiert. Die Zukunft gehört dem computergesteuerten Lichtsatz. Das sagst du oft genug.“

„Neue Technik schreckt uns nicht. Menschen lernen, sie stellen sich immer wieder um. In Frankreich haben die Druckereiarbeiter auch nicht gegen die Technik protestiert, sondern gegen die Art und Weise, wie man mit ihnen umspringt.“

„Ja, ich weiß, Vati“, warf Fanny schnell ein, damit er nicht, einmal ins politische Gleis geraten, einen Vortrag über die Macht der Arbeiterklasse hier und anderswo hielt. „Du magst eben deinen Beruf. Mutti schimpft eher mal über die Reklamationsabteilung im Möbelkaufhaus, wo sie sich dauernd mit unzufriedenen Kunden rumärgern muss.“

„Trotzdem bleibt sie da, allein schon wegen der Kollegen. Weißt du, Fanny, man braucht die Kollegen.“

„Wozu?“

„Man braucht sie eben.“

„Und die Kollegen können einen mit dem Beruf aussöhnen?“

Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Dann sagte er: „Fang erst mal an, Fanny. Fang an und schau dich um, und setz keine schwarze Brille auf.“

„Eine rosarote?“

„Gar keine. Manch einer verspricht sich wer weiß was von seinem Traumberuf und wird enttäuscht. Vielleicht ergeht es dir umgekehrt.“

Fanny glaubte es nicht. Aber der Vater hatte sie doch etwas zuversichtlich gestimmt. Das war ihm gelungen, obwohl sie wusste, dass er nicht anders gesprochen hätte, selbst wenn sie in ein Kohlebergwerk hätte einfahren sollen.

Sie hörte ihn gern „wir zwei Schichtarbeiter“ sagen. Eine Sonderstellung nahm sie als Älteste und als einziges Mädchen in der Familie ohnehin ein. Für sie war die Mansarde eingerichtet worden, während die drei Brüder ein gemeinsames Zimmer hatten. Schwere Arbeiten wie Fensterputzen oder Kohlen aus dem Keller holen wurden ihr nie zugemutet. Pflichten hatte sie natürlich, aber auch Rechte. Die Mutter meinte, Jungen dürften sich gar nicht erst angewöhnen, im Mädchen die willige Arbeitskraft zu sehen, sonst würden sie später mit ihren Frauen ebenso erfahren. Höchstens Rainer erfreute sich ähnlicher Privilegien, er war ja der Kleine, der erst geboren wurde, als die drei Älteren schon die Großen waren. Und nun hatte Fanny die Schule beendet, nun ging sie arbeiten, und der Vater stellte sie sich selber gleich. Sie durchschaute zwar seine Absicht, aber stolz machte es sie trotzdem.

Sie musste eine halbe Stunde mit der Straßenbahn fahren, und je näher sie ihrem Ziel, der Südstadt, kam, desto mehr sank ihre Stimmung. Zum Trost hatte sie, versteckt in der Schultertasche, ihre Exa mitgenommen. Sie führte eine Art Fototagebuch, ein Album mit viel mehr Bildern als Texten. Die letzten Aufnahmen stammten aus den Ferien und zeigten die Eltern und Brüder auf einem Fahrgastschiff und Bettina mit dem Fahrrad. Diese Aufnahmen hatte Fanny nicht selbst entwickeln und vergrößern können, weil der Fotozirkel bei Herrn Kühn wärend der Ferien ausgefallen war. Zu Fannys Ärger waren sie in einem Fotogeschäft ohne besondere Kunstfertigkeit hergestellt worden, Abzüge, die gar keinen Vergleich aushielten mit den sorgfältigen Ausschnittvergrößerungen, wie Herr Kühn sie Fanny gezeigt hatte. Sie wusste nicht, wo sie in Zukunft selbst entwickeln könnte. Herr Kühn hatte ihr angeboten, bei ihm im Zirkel in der Schule zu bleiben, aber die Zirkelnachmittage fielen möglicherweise mit ihrer Schicht zusammen, und schließlich konnte sie doch nicht bis in alle Ewigkeit in einem Schulzirkel mitarbeiten.

Fanny stieg aus und ging langsam durch die besonnten breiten Straßen im Neubaustadtteil. Sie war extra früh losgefahren, um Zeit zu haben für Aufnahmen. Eine Gruppe von Schulkindern kam ihr entgegen. Ein kleines Mädchen hielt sich abseits. Wenn die anderen stehen blieben, blieb es ebenfalls stehen, den Kopf zur Seite geneigt. Die Kinder riefen Schmähworte und drohten.

Fanny hatte die Exa schon zur Hand. Aufregung befiel sie wie immer, wenn sie eine Momentaufnahme machen wollte. Sie konzentrierte sich, sie stellte die Entfernung ein, wählte die Blende und hielt die Kamera schussbereit. Sie wusste sogar schon einen Titel für das Foto: „Die Petze“. Aber sie musste das Gesicht des Mädchens erwischen, sonst sagte das Foto gar nichts aus. Und da machte die Kleine plötzlich eine Kehrtwendung und rannte weinend die Straße entlang, weg von Fanny und weg von den Kindern.

Enttäuscht ließ Fanny die Kamera sinken. Es war schwer, solche Fotos zu verwirklichen, wie sie ihr vorschwebten. Man brauchte Fantasie und einen Blick für die besondere Situation, und schnell musste man sein und sicher in der Handhabung der Kamera. Gerade damit haperte es. Ich muss mehr üben, dachte Fanny, viel mehr in den Straßen unterwegs sein und üben. Besäße ich ein eigenes Vergrößerungsgerät, wären die Kosten auch nicht so groß. Vom Lehrlingsgeld werde ich mir wohl kaum eine Ausstattung zusammensparen können.

Sie ging weiter, noch immer gespannt und aufgeregt unter dem Eindruck der Aufnahme, die ihr eben entgangen war. Wäre ihr das Bild gelungen, hätte es sogar für die Zeitung getaugt. Ja, ganz bestimmt!

An einer Kreuzung, wo die Straße einmündete, stand auf freier Fläche die Berufsschule des VEB Mädchenmode, ein zweistöckiger heller Typenbau mit großen Fenstern. Breite Zufahrtswege umgaben einen Rasenplatz und Blumenrabatten vor der Frontseite. Hinter dem Schulgebäude befanden sich ein gepflasterter Hof und Flachbauten, in denen die Verwaltungsräume des Betriebes untergebracht waren. Fanny stand still und betrachtete die Anlage. Von hier aus aufgenommen, mit der Grünfläche im Vordergrund, würde die Schule, die nun ihre Ausbildungsstätte sein sollte, freundlich und optimistisch wirken. Fanny überlegte, wie sie Grauen und Bedrohung zum Ausdruck bringen könnte. Sie ging um das Gebäude herum auf den Hof. Leider war hier ebenfalls kein finsterer Blickwinkel auszumachen. Alles war sauber und gepflegt, die großen Fensterscheiben blank geputzt, zum Teil, besonders im Obergeschoss, mit orangefarbenen Vorhängen gegen die Sonneneinstrahlung versehen. Fanny machte zwei Aufnahmen, eine vom Hof und eine von der Frontseite. Sie nahm sich vor, eine Bildunterschrift zu wählen, die von zwiespältiger Bedeutung war und im Betrachter Misstrauen auslöste, zum Beispiel „Die schöne Fassade“.

Vor der Eingangstür hatten sich inzwischen einige Mädchen eingefunden. Es kamen immer mehr. Fanny steckte die Kamera in die Schultertasche und gesellte sich zu ihnen. Bereits vor zwei Tagen, am Sonnabend, hatten eine Begrüßung und Einführung durch den Betriebsleiter und den Direktor der Betriebsberufsschule für alle zweihundert Lehrlinge stattgefunden. Da hatten sie unter anderem erfahren, dass jeweils hundert Mädchen zum Unterricht und hundert zur berufspraktischen Ausbildung in zwei Schichten eingeteilt worden waren, und auch, dass der Wechsel wochenweise vonstattenging. Jede wusste, zu welcher Klasse und zu welchem Lernaktiv sie gehörte, und kannte die Namen der Klassenleiterin und der Lehrausbilderin. Untereinander kannten sie sich noch nicht. Das nutzten einige, um sich gleich ins rechte Licht zu setzen.

Ein Mädchen fiel Fanny besonders auf, eine Große von kräftiger Statur, die sich unter den etwa fünfzig zur Spätschicht erschienenen Mädchen prüfend umsah und laut verkündete, sie heiße Dan, ja Dan wie ein Junge, und gehöre zum Lernaktiv 5 c. „Wer außerdem?“

Zehn Mädchen meldeten sich, manche zögernd, andere bereitwillig, als letzte Fanny, weil sie in Gedanken schon wieder fotografierte. Menschen regten ihre Fantasie am meisten an, mehr als Landschaften oder Blumen oder Tiere.

Pünktlich drei Viertel zwei betraten die Mädchen das Schulgebäude? Auf dem Flur im Erdgeschoss wurden sie von Lehrausbilderinnen in Empfang genommen. Ein kurzes Gedränge entstand, als sie sich zu den fünf Lernaktivs gruppierten. Dann sahen sie von oben die Mädchen der Frühschicht kommen, alle erhitzt und abgespannt und erleichtert.

Die Lehrausbilderin des Aktivs 5 c hieß Elsa Zickhus. Sie war eine Frau in mittlerem Alter, untersetzt, etwas füllig. Ihre Aussprache verriet sie sofort als Fremde. Die Mädchen wussten bereits, dass der Betrieb fast alle Facharbeiter erst ausbilden musste und dass dies durch Zugereiste geschah, durch Lehrer, Meister und Lehrausbilder aus den südlichen und mittleren Bezirken, wo die Konfektionsindustrie seit Jahrzehnten heimisch war.

Frau Zickhus begann, als sie sich vorstellte, zunächst einmal mit einem Loblied auf diese Stadt, in der die Mädchen geboren und aufgewachsen waren. Frau Zickhus erzählte, wo sie den Beruf erlernt und in welchen Betrieben sie ihn ausgeübt hatte, warum sie mit ihrer Familie dem Ruf in den Norden gefolgt war und wie sie nun hier lebte, in einer neuen Wohnung, einem neuen Betrieb und in einem Landstrich, dessen Schönheit sie entzückte. Die Mädchen nahmen es wohlgefällig zur Kenntnis. Dass ihre heimischen Gefilde für andere ein Land der Sehnsucht darstellten, fanden sie völlig einleuchtend.

Sie folgten Frau Zickhus durch das Schulgebäude. Im Erdgeschoss befanden sich die Unterrichtsräume, die würden sie später kennenlernen. Jetzt ging es eine Treppe hinauf zu den Wasch- und Umkleideräumen und zu den Lehrwerkstätten. Der Betrieb, sagte Frau Zickhus, produziere bereits auf vollen Touren, obwohl noch alle Bedingungen provisorisch seien, auch hier in der Schule. Die Stauräume reichten nicht. Kästen mit Halbfertigprodukten und Zuschnitten lagerten in Fluren und auf Treppenabsätzen. Die große Werkhalle, die sie bei der allgemeinen Begrüßung schon besichtigt hatten, sollte später den Nahverkehrsbetrieben übergeben werden. Später, das hieß in zwei Jahren, wenn der VEB Mädchenmode in die noch im Bau befindlichen Werkhallen umziehen würde. Dann gäbe es eine den Bedürfnissen angepasste Schule, eine moderne Kantine, Dusch- und Aufenthaltsräume, Kinderkrippe und Kindergarten, Bibliothek und Verkaufsstellen, alles betriebseigen.

Die Lehrwerkstatt war etwa so groß wie ein Klassenzimmer. Darin standen zehn Nähmaschinen und an der Stirnseite ein Arbeitstisch für die Lehrausbilderin. Durch zwei einander gegenüberliegende Fensterfronten waren die Lichtverhältnisse, wie Fanny sofort feststellte, sehr gut, besser als in der großen Werkhalle. Dort wurde hei künstlichem Licht gearbeitet. Im Vergleich zur Werkhalle wirkten die Lehrwerkstätten intimer, in sich geschlossen und gar nicht furchterregend. Aber furchterregend, dachte Fanny, wirkt vielleicht auch ein modernes Gefängnis nicht, und außerdem ist das hier nur die Vorstufe. Man wird ja nicht so dumm sein und uns gleich mit der Wirklichkeit vor den Kopf stoßen.

Frau Zickhus übergab jedem Mädchen einen Kittel, eine Schere, Fingerhut und Bandmaß als persönliches Arbeitsmaterial, für das sie Sorge zu tragen hätten. Sie verlas den Tagesplan: Frühschicht von fünf bis vierzehn Uhr, Spätschicht von vierzehn bis dreiundzwanzig Uhr. Das war schon bekannt. Dann die Pausen mit genauer Uhrzeit. Dann den Tagesplan für heute: Einstellungsbelehrung. Arbeitsschutzbelehrung, Unterweisung über Aufbau und Bedienung der Nähmaschine, erste Nähübungen auf Papier, Wiederholung der Unterweisungen und Übungen, Abschlussgespräche. Exakte Tagespläne gab es für die ersten zehn Arbeitstage, für die praktische Ausbildung im September. Ab Oktober begann die Produktion, und zwar mit fünfzehn Prozent Normanteil der Facharbeiterleistung, im November mit zwanzig Prozent und so fort mit fünf Prozent Steigerung in jedem Monat. Die Mädchen machten große Augen.

Aha! dachte Fanny, fast befriedigt, dass sie recht behielt und der Pferdefuß so schnell zum Vorschein kam.

Frau Zickhus erklärte: „Sie wissen, wir haben von Anfang an mit Lehrlingen produziert. Unsere Jungfacharbeiter wurden bei uns ausgebildet. Der Betrieb hatte und hat noch immer große Probleme zu bewältigen. Die Schichtarbeit für Lehrlinge ist eine Ausnahme. Für Sie ist aber die Lehrausbildung unter den Bedingungen der Produktion interessanter und verantwortungsvoller, als wenn wir Ihnen monatelang nur wertlose Flicken zur Bearbeitung anvertrauen würden. Nein, Sie werden gutes Material haben, und Ihr Ehrgeiz muss es sein, gute Qualität zu liefern. Natürlich steht Ihre Ausbildung im Vordergrund. Jedes Mädchen wird jeden Arbeitsgang erlernen. Im dritten Lehrhalbjahr werden Sie sich dann auf Ihre Spezialisierung vorbereiten, nicht mehr hier in den Lehrwerkstätten, sondern schon drüben in der Produktionshalle.“

Und zum Schluss, dachte Fanny, macht eine ihr Leben lang Knopflöcher. Frau Zickhus hatte sich offenbar gewissenhaft vorbereitet. Ab und zu, besonders bei den Hinweisen über Brandschutz und Unfallverhütung, warf sie einen Blick in ihre Unterlagen auf dem Tisch. Sie hob beim Sprechen gern lehrhaft und Aufmerksamkeit heischend den Finger, aber wenn es ihr bewusst wurde, steckte sie die Hand schnell in die Kitteltasche. Sie bemühte sich auch, dialektfrei zu sprechen. Dadurch wirkte ihre Rede gehemmt. Vielleicht war sie noch nicht lange als Lehrausbilderin tätig. Unter den prüfenden Blicken der Mädchen war sie nicht gelassen genug.

Aber als dann die Schutzhauben von den Maschinen genommen wurden, verließ die Frau den Tisch, an dem sie sich mit einer Hand festgehalten hatte. Die vertrauten Maschinen zogen sie an, und sie vergaß, dialektfrei zu sprechen. Ihr Ton wurde klar und bestimmt, ihre Miene entspannte sich. Ihre Hände deuteten auf die einzelnen Teile, deren Funktion die Frau, ohne hinzusehen, einfach und verständlich erklärte.

Fanny betrachtete die Maschine vor sich mit Widerwillen. Fadenspannung, Nähfüßchen, Handrad, Fußschalter und Kniehebel der elektrischen Nähmaschine stießen sie ab. Trotzdem musste sie aufpassen und sich alle möglichen uninteressanten Bezeichnungen merken.

Halb vier ordnete Frau Zickhus eine Pause von fünf Minuten an, eine Stunde später eine Pause von fünfzehn Minuten und kurz vor sechs eine Gymnastikpause. Da hatten die Mädchen auf Papier die ersten Nähte zu nähen versucht, schnurgerade Nähte, und sie hatten gedacht, das müsste einfach sein. Aber es war schwierig gewesen. Sie reckten sich und merkten, dass ihnen der Rücken steif geworden war. Erlöst verließen sie die Lehrwerkstatt. Eine Treppe tiefer war ein Korridor behelfsmäßig als Imbissraum eingerichtet. Dort gab es Getränke, heiße Würstchen und belegte Brote. Die meisten hatten sich Abendbrot von zu Hause mitgebracht. Die Mädchen saßen dicht beieinander auf den Bänken und aßen schnell, damit sie nach draußen gehen und rauchen konnten.

Fanny rauchte nicht. Sie brauchte ihr Geld für Filme und Fotopapier. Sie sah die Mädchen im schräg auf den Hof fallenden Abendsonnenschein, nahm die Exa aus der Schultertasche und suchte eine günstige Position. Die Mädchen wurden aufmerksam. Sie wandten sich ihr zu und beobachteten sie erstaunt.

„Nicht alle hergucken!“, rief Fanny. „Das sieht zu gestellt aus.“

„Wozu soll das gut sein?“, fragten sie.

„Ihr fragt, als wär ich zu euch in den Urwald gekommen. Wisst ihr nicht, wozu eine Kamera gut ist?“

„Ach so!“, sagte das Mädchen Dan mit seiner tiefen Stimme. „Du bist wohl eine Übereifrige, fängst gleich am ersten Tag ein Brigadetagebuch an. Hat dich einer darum gebeten?“

Ein schlankes, durch unruhige Bewegungen nervös wirkendes Mädchen, das Ute hieß, schaltete sich ein. „Lass sie doch“, sagte sie. „Dich hat auch keiner gebeten.“

„Worum gebeten?“, fragte Dan.

„Hier gleich den Ton anzugeben.“

„Genau“, stimmte ein anderes Mädchen zu, „ich mag nämlich gern fotografiert werden.“ Dieses Mädchen hieß Irina und war Fanny schon aufgefallen, weil es einen dichten, wuschligen, mähnenhaft vom Kopf abstehenden Haarschopf hatte, auf den es offensichtlich stolz war. Irina kämmte sich in jeder Pause und drehte sich mit den Fingern Löckchen. Sie ging auf Fanny zu und zupfte sich Löckchen in die Stirn. „Machst du von mir ein Bild, ja?“

„Gut, aber bleib so.“

„Wie soll ich bleiben?“

„Mit den Händen am Haar.“

„Nein, das ist nicht hübsch.“ Sie ordnete den Blusenkragen, reckte das Gesicht in die Sonne und lächelte.

Der Klügere gibt nach, dachte Fanny. Hatten sich die Mädchen erst mal an die Kamera gewöhnt, würde später immer noch Gelegenheit sein für bessere Aufnahmen. Deshalb duldete sie, dass sich die Mädchen an der Hoftür des Schulgebäudes zu einer Gruppe zusammenstellten und alle lachend in die Kamera blickten.

Gerade wollte sie abdrücken, als ein Junge durch die Hoftür trat. Er geriet unter die Mädchen und zog verblüfft die Brauen hoch. Fanny hatte die Aufnahme im Kasten und gleich darauf noch zwei, denn die Mädchen, nicht weniger verblüfft, schubsten ihn aus ihrer Mitte hinaus und pufften ihn beiseite. Da stand er und schaute um sich, verwundert über die grobe Behandlung.

Fanny freute sich. Das war eine drollige Situation gewesen. Sie musterte den Jungen, so wie sie immer alle Menschen mit Fotografenblick musterte. Er hatte eine gute Figur, aber sein Gesicht sah verwegen aus. Über sein Kinn lief eine Narbe mit Nahtstellen, und die Nase überragte nur wenig den schwarzen Schnurrbart, sodass er ein stumpfes Profil hatte. Schwarz waren auch seine Augen und das in der Mitte gescheitelte, nackenlange, hinter die Ohren gekämmte Haar.

Die Mädchen hatten sich inzwischen wieder zum stereotypen Gruppenbild formiert, und da sie es nun einmal wünschten, machte Fanny die Aufnahme. Danach hatten die Mädchen an Fanny kein Interesse mehr. Sie besannen sich auf den Jungen. Es tat ihnen leid, ihn weggeschubst zu haben. Sie wollten wissen, wo er herkam und was er hier zu suchen hatte.

Fanny steckte ihre Exa ein und setzte sich ein Stück entfernt auf den Rand einer steinernen Blumenschale. Sie hörte nicht, was gesprochen wurde, aber sie sah genug. Der Junge stand, umringt von den Mädchen, und ließ wie ein Pfau sein Gefieder schillern. Andauernd strich er sich eitel das Haar hinter die Ohren und lächelte und gab nur zu bereitwillig Auskunft. Und die Mädchen schnatterten. Fanny verzog das Gesicht. Aus den Augenwinkeln stellte sie fest, dass er öfter zu ihr hinsah. Sollte er nur sehen, dass nicht jede ihn bewunderte. Er war anscheinend der einzige Junge in dieser Schule, und bloß deshalb hatte er Erfolg. Fanny konnte sich nicht vorstellen, was Jungen hier zu arbeiten hatten. Sie lächelte geringschätzig vor sich hin. Am Ende war er Toilettenreiniger!

Die Pause war vorüber. Ute hatte sich eine zweite Zigarette angesteckt. Die schob sie, bevor sie mit den anderen ins Haus ging, dem Jungen zwischen die Lippen. Fanny sah es im Vorbeigehen. Nie würde sie sich von einem Fremden etwas in den Mund stecken lassen! Aber der Junge hatte die Zigarette angenommen.

Irina hakte sich vertraulich bei Fanny ein und sagte: „Der heißt Sascha, der Typ, Sascha Kahlbom. Wir haben ihm versprochen, nächstes Mal darf er mit aufs Bild.“

„Warum?“, fragte Fanny kurz.

„Na ja, nur so, zum Spaß.“

„Zum Spaß fotografiere ich nicht.“

„Das ist wohl dein Hobby?“

„Mehr. Ich wollte eigentlich Fotografin werden.“

„Und ich Säuglingsschwester, aber meine Zensuren haben nicht gereicht.“ Bekümmert schüttelte Irina den Wuschelkopf. „Immer hab ich mir kleine Geschwister gewünscht. Ich bin zu Hause die einzige, weißt du.“

„Kleine Geschwister sind meistens eine Plage“, sagte Fanny, ohne recht bei der Sache zu sein. Sie hielt Irinas Arm fest und zog sie mit ans Fenster der Lehrwerkstatt, als wollte sie noch einmal frische Luft schnappen. Unten auf dem Hof stand der Junge und rauchte Utes Zigarette. „Was macht der hier eigentlich?“, fragte sie beiläufig.

„Das ist ein Mechaniker.“

Fanny ging an ihren Platz. Die zweite Hälfte der Schicht fiel ihr schwer. Sie wurde müde, und der Rücken schmerzte, obwohl Frau Zickhus um acht und halb zehn nochmals Pausen einlegte. Als die Neonröhren aufflammten, schloss Fanny die Augen. Sie sehnte sich nach Hause. Sie mochte nichts mehr hören und sehen. Es war sehr still geworden im Raum.

Frau Zickhus kämpfte gegen eine allgemeine Teilnahmslosigkeit. Mit der Zeit, sagte sie tröstend, würden sich die Mädchen gewöhnen, an das lange Sitzen, an die Bewegung der Arme und Hände und auch an die frühen oder späten Arbeitsstunden. War das ein Trost? Im Gegenteil. Fanny hatte Angst, durch Gewöhnung zum Automaten zu werden.

2. Kapitel

„Dreh dich mal um“, sagte Bettina leise. „Wie findest du den mit der Sonnenbrille? Ich wette, der ist garantiert schon zwanzig.“

Fanny drehte sich nicht um. Unlustig antwortete sie: „Wozu braucht er bei Regenwetter die Sonnenbrille, noch dazu hier drin in der Eismilchbar? Er schielt wohl.“

„Das ist ein Hirsch, sag ich dir. So was seh ich gleich. Garantiert hat er eine Maschine.“

Motorradfahrer hatten es Bettina besonders angetan. Sie starrte über Fannys Kopf hinweg. „Schon erledigt“, stellte sie fest, „er ist raus, wegen des blöden Schildes da: ,Rauchen unerwünscht!‘ Das vertreibt jeden. Hier komm ich nicht wieder her.”

„Mich stört’s nicht. Bei uns in der Schule rauchen viele. Eine hat mal dem Mechaniker eine Zigarette in den Mund gesteckt, Ute, so eine Dünne, Zapplige, aber nähen kann sie! Sie hat den Arbeitsgang schon kapiert, wenn alle anderen noch murksen. Sie braucht sich gar nicht anzustrengen. Deshalb ist sie Aktivistin geworden.“

„Und hat sie sich den Mechaniker geangelt?“, fragte Bettina, denn solche Sachen, interessierten sie.

„Was weiß ich! Der mit seiner platten Nase.“

„Du bist viel zu kritisch. Besser einen Plattnasigen als gar keinen.“

„Und so eitel! Vor lauter Eitelkeit trägt er keinen Arbeitskittel. Lieber saut er sich die Jeans ein.“

„Er weiß eben, dass alle ihn angucken. Garantiert lebt er bei euch wie die Made im Speck.“

„Klar. Gelernt hat er woanders. Dann hat er sich bei uns anheuern lassen, bloß deswegen, das ist klar. Alle anderen Mechaniker sind älter.“

„Wie alt?“

„Uralt, mit Familie.“

„Die kommen nicht infrage. Meine Schwester ist mal auf so einen reingefallen ...“ Und nun folgte eine verworrene Geschichte mit allerlei lehrreichen Konsequenzen. Als jüngste von drei Schwestern hatte Bettina immer Geschichten bei der Hand.

Fanny hörte ihr gar nicht zu. Es war so gekommen, wie sie befürchtet hatte. Sie konnte den Fotozirkel der Schule nicht mehr besuchen. In frühen Nachmittagsstunden hatte sie keine Zeit. Herr Kühn hatte ihr angeboten, den Arbeitsraum in der Schule auch allein zu benutzen, wenn keine Zirkelarbeit war, oder sie sollte kommen, wenn er für sich selber Bilder machte, gegen Abend zum Beispiel. Aber das war selten.

„Träumst du?“, fragte Bettina.

„Ja, von früher, vom Zirkel.“

„Von früher träumen alte Leute. Was gestern war, ist vorbei für mich. Und morgen, da hab ich vielleicht einen Haufen Kinder und hetz mich ab. Ich lebe heute!“

Fanny schwieg. Sie fragte sich manchmal, ob nicht Bettina recht hatte, wenn sie nahm, was sich bot, und damit zufrieden war. Sie lernte Verkäuferin. Ebenso gut hätte sie Näherin werden können wie Fanny, es hätte ihr nichts ausgemacht. Sie wünschte sich einen Freund. Wollte es der nicht sein, der ihr am besten gefiel, dann eben ein anderer, und wenn sie von einem verlassen wurde, suchte sie sich den nächsten. Fanny hatte ihr gesagt, dass sie nicht suchen, sondern aussuchen müsse. Bettina hatte erwidert, davon verstehe Fanny nichts, sie habe ja noch nie einen Freund gehabt und werde womöglich nie einen haben, weil sie viel zu kritisch sei. Fanny aber dachte, dass Bettina, wäre sie anspruchsvoller, nicht so oft sitzen gelassen würde.

Die beiden Mädchen gingen durch die Stadt. Mit zischendem Geräusch glitten Autoreifen über den nassen Asphalt. In den roten Tatrabahnen standen die Menschen dicht gedrängt. Sie fuhren nach Hause in die Außenbezirke. Tagsüber waren die Straßen der Innenstadt überschwemmt von Menschen. Das Zentrum konnte ja nicht wachsen, es wuchsen nur die Wohnviertel und die Industriegebiete.

Fanny liebte diese alte Stadt, die alles aus den vergangenen Jahrhunderten bewahrte, Schönes und Hässliches. Doch selbst noch das Hässliche hatte seine Würde. Ganze Straßenzüge verschwanden hinter Gerüsten. Wenn die Gerüste fort waren, staunten die Leute. Fanny hätte die Häuser gern in Farbe fotografiert, aber sie musste sparen. Sie beschränkte sich auf Schwarz-Weiß-Filme, auf die Wirkung von Licht und Schatten. Später würde sie Farbfotos machen, später sollte alles anders werden.

„Diese Näherei macht mich krank", sagte sie zu Bettina. „Ich weiß nicht, wie ich die Lehre durchhalten soll. Ich bleib da bestimmt nicht. Ich möchte die Monate überspringen, ich möchte zwei Jahre älter sein.“

„Meine Schwester hatte mal einen, der bei der Fahne war“, sagte Bettina, „jeden Tag schnitt er vom Zentimetermaß ein Stückchen ab. Die können da auch nicht einfach aufhören, die müssen auch achtzehn Monate durchhalten.“

Fanny seufzte. Achtzehn Monate betrug ihre Lehrzeit, und erst ein Monat war herum. Andere hatten sich schon eingewöhnt, Fanny nicht.

Zu Hause fing sie wieder davon an. Bei ihrem Vater beklagte sie sich nie. War sie niedergeschlagen, wurde er es auch, und zum Schluss, anstatt Tröstliches zu hören, musste sie ihn trösten. Vor ihrer Mutter redete sie, wie ihr zumute war.

„Ich freu mich immer, wenn ein Tag vorbei ist“, sagte sie, als sie nach dem Abendbrot mit der Mutter zusammen die Küche aufräumte. „Ich möchte wie Dornröschen einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn achtzehn Monate vergangen sind oder genau genommen siebzehn, einer ist ja rum.“

„Lebenszeit verschenken!“, rief die Mutter in gespieltem Entsetzen. „Siebzehn kostbare Monate einfach verschenken?“

„Zeit, die nichts taugt.“

„Die gibt es nicht. Von meinen achtunddreißig Jahren wüsste ich keins, das ich hätte verschenken mögen. Manchmal denke ich auch, andere haben es besser als ich, müssen sich nicht so plagen, haben mehr Geld als wir. Meine Schwester, Tante Lisa, hat sich ihr Leben anders eingerichtet, hat studiert, hat keine Kinder. Möchte ich tauschen?“

Nachdenklich hängte sie das Geschirrtuch an den Haken. Dann setzte sie sich zu Fanny an den Tisch. Fanny half ganz gern in der Küche. Hier hatte sie die Mutter für sich allein.

„Der Beruf, meine kleine Fanny ... Du bist nicht die einzige, die irgendwo gelandet ist und sich fragt: Soll das nun die Erfüllung sein? Ich hab immer im Büro gearbeitet, jetzt arbeite ich nur noch halbtags und ausgerechnet in einer Reklamationsabteilung, wo die Kunden vom Möbelhaus ihre Beschwerden vortragen. Hör dir mal dauernd Beschwerden an und mache ein freundliches Gesicht dazu! Es ist aber nötig, und wenn die Kunden einigermaßen befriedigt weggehen, hab ich was erreicht.“

„Blöd muss das sein.“

„Ist es auch, das streite ich gar nicht ab. Trotzdem bleib ich da.“

„Wegen des Geldes.“

„Wenn uns, meinen Kolleginnen und mir, das Geld ohne Arbeit gegeben würde, zum Beispiel als Arbeitslosenunterstützung. was meinst du, wie wir murren würden!“

„Ihr dürftet zu Hause bleiben.“

„Dürfen? Das ist ein Muss. Man versteht es erst, wenn man mal längere Zeit nur die eigenen vier Wände gesehen hat. So wie ich damals, als kurz hintereinander Volker und Rüdiger geboren wurden.“

Als wäre das sein Stichwort gewesen, stand Volker in der Tür.

„Ich geh jetzt schlafen.“

Fanny ärgerte sich. Sollte er doch schlafen gehen, anstatt sich störend einzumischen. Schließlich wurden hier Probleme besprochen, von denen er mit seinen dreizehn Jahren noch keine Ahnung hatte.

Aber die Mutter sah Volker aufmerksam an. „Was hast du in der Hand?“

Volker hatte die Hand auf dem Rücken gehalten. Er zeigte sein Hausaufgabenheft.

„Wieder eine Eintragung?“