Ein Fliesenleger fugt sich durch - Jan Brechmann - E-Book

Ein Fliesenleger fugt sich durch E-Book

Jan Brechmann

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  • Herausgeber: Knaus
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Die nackte Wahrheit aus Deutschlands Bädern: Ein Fliesenleger packt aus – schonungslos!

Alle Geschichten sind garantiert wahr. Manche werden das nicht glauben.Wäre dieses Buch ein Roman, hätte unser Lektor die Hälfte der Kapitel mit der Begründung wieder herausgeschmissen, dass sie heillos übertrieben seien. Unglaubwürdig überzogen. Vollkommen irrsinnig. Eine reine Satire. Ein Comic. So aber bleibt alles drin. Weil es die Wahrheit ist. Die Wahrheit über Deutschland.

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Seitenzahl: 332

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Knaus

1. Auflage

Copyright © 2014 beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-12323-9

www.knaus-verlag.de

Inhalt

Vorwort von Oliver Uschmann & Sylvia Witt

Der gute Cop

Das Festival der guten Laune

Erstes Quartal

Die Geburtshilfe

Das gelbe Ledersofa

Niemals in die Augen gucken

Der XXL-Ostfriese

Die Säulen der Sünde

Zweites Quartal

Ab in die Grube!

Der Versuch, eine Katze zu erschießen

Wenne meins, ich bin blöd …

Wissen, wo es herkommt

Props für den Checker

Drittes Quartal

Last Christmas

Der meldet sich aber auch nicht

Guck mal, wie die guckt!

Five left, five right

Die Liegenbleiberbude

Viertes Quartal

Immer schon einfach so fertig

Stolz und Temperament

Eine ganze Ecke jünger

Die Nacht der lebenden Toten

Quads und Tauben

Vorwort von Oliver Uschmann & Sylvia Witt

»So was kannst du nicht erfinden!«

Wie oft haben wir das gesagt, wenn wir die Geschichten von Jan Brechmann hörten. Wir, die Profischriftsteller, die seit vielen Jahren davon leben, sich absurde Erzählungen mit skurrilen Charakteren auszudenken. Was dieser fleißige Fliesenleger uns erzählte, übertraf fast jedes Mal alles, was wir uns in Schreiblaune und Übermut ausdenken könnten. Womöglich sollte es so kommen, dass er uns traf. Zwei Kunden, die nicht bloß amüsiert zuhören, sondern eines Tages sagen: Wenn du willst, machen wir gemeinsam ein Buch draus!

Das Jahr 2010: Auf dem Kulturgut Haus Nottbeck in Oelde-Stromberg richten wir die Ausstellung und Veranstaltungsreihe Ab ins Buch! aus. Ein Themenpark aus Kulissen unserer erfolgreichen Romanserie Hartmut und ich, mit WG-Wohnzimmer, Gruselkeller und Barfußerlebnispfad. Das Gartenhaus des Anwesens soll außerdem als Kunst-Rasthof fungieren, samt Kaffeetheke, Zeitschriftenauslage, Tischen in der Sonne vor der Tür und jeder Menge Originalgemälden an den Wänden. Empfindliche Originale, auf Leinwand und auf Papier. Leider ist das Gartenhaus in einem Zustand, der diese schöne Idee beinahe scheitern lässt. Lange nur als Abstellraum genutzt, ist es vollständig feucht und würde den Werken somit üblen Schaden zufügen, ebenso wie den Lungen der Besucher.

Unsere Rettung ist in jenem Sommer der Fußball-WM eine Firma für Bautrocknung und Klimatechnik aus dem Münsterland. Sie sorgt dafür, dass das Gartenhaus zum Rasthof Kunstpause verwandelt werden kann. Damals kümmert sich um die Sache der Chef. Es muss schließlich nichts gefliest werden.

Das Jahr 2012: Aus der Tapete unseres Treppenhauses schießt plötzlich das Wasser. Es ist bei einem Duschgang unbemerkt durch eine undichte Ritze gelaufen und hat die Wand gefüllt. Nun ist sie voll, und die Raufaser bildet Blasen wie ein Kind volle Backen im Baggersee, um jeden Moment die gespeicherte Ladung aus dem Mund zu sprühen. Wir rufen die Firma an, die uns vor zwei Jahren das Gartenhaus gerettet hat. Dieses Mal kommt nicht der Chef, sondern ein heiterer Zeitgenosse mit geschickten Händen und Dauerstrahlen in den Augen. Jan Brechmann. Er rettet uns das Haus und baut uns nach dem Trocknungswahnsinn eine neue Dusche mit Mosaikfliesen. Da er häufig bei uns ist, kommen wir ins Gespräch. Wir erzählen ihm davon, dass wir hauptberuflich lustige Romane über seltsame Menschen schreiben. Er erzählt uns davon, dass er hauptberuflich lustige Hausbesuche bei seltsamen Menschen macht. Fliese für Fliese wird klarer, dass das Leben von Jan Brechmann Stoff für ein Buch hergibt. Nicht nur, weil es unglaublich ist, was er erlebt, sondern auch, weil er es erlebt. Ein faszinierend gut gelaunter, positiver Mensch, der wirklich wahrnimmt, was um ihn herum geschieht, und der eine ganz besondere Art und Weise hat, es im Nachhinein so anschaulich zu erzählen, dass wir als Autoren beim Ausformulieren das Gefühl bekommen, es selber erlebt zu haben. Dieses Buch zu schreiben, war wie ein Körpertausch durch Raum und Zeit. Für die Phasen, in denen die Tastatur klickte, waren wir Jan Brechmann. Und was sollen wir sagen – das macht Laune!

Als Romanschriftsteller, die Jan Brechmanns Geschichten in Form gebracht haben, ist es uns wichtig, an dieser Stelle eines ganz laut und zentral auf die Tafel zu schreiben:

Das ist alles echt!

Selbstverständlich haben wir Namen und Orte verändert, Kontexte durcheinandergewürfelt und Fliesenfarben gemischt, damit alle Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben und niemand damit Erfolg haben wird, die ganzen verrückten Haushalte nach der Lektüre selbst zu besuchen. Wir haben Pointen mit Timing gesetzt und Schnitte nach Rhythmus getätigt, damit das Kopfkino funktioniert und alles süffig fließt.

Aber: Die Geschichten selbst sind Jan Brechmann alle so passiert. Dafür verbürgen wir uns.

Manche werden das nicht glauben.

Es ist aber so.

Wir garantieren Ihnen: Wäre dieses Buch ein Roman, hätte unser Lektor uns die Hälfte der Kapitel mit der Begründung wieder herausgeschmissen, dass sie heillos übertrieben seien. Unglaubwürdig überzogen. Vollkommen irrsinnig. Eine reine Satire. Ein Comic.

So aber bleibt alles drin.

Weil es die Wahrheit ist.

Die Wahrheit über Deutschland.

In Form gebracht von uns. Erzählt von einem Protagonisten, der eine fantastische Romanfigur hergäbe, wäre er nicht ebenfalls in seinem einzigartigen, einmaligen und liebenswerten Charakter tatsächlich genauso, wie er ist.

Denn, wo gilt »So was kannst du nicht erfinden!«, da gilt auch: »So einen kannst du nicht erfinden!«

Wir wünschen Ihnen viel Spaß auf Hausbesuch mit Jan Brechmann!

Herzlichst

Ihre

Sylvia Witt Oliver Uschmann

Der gute Cop

Ich arbeite gerne.

Das irritiert die Menschen.

Außerdem habe ich immer gute Laune. Ich bin da sehr leicht einzuschätzen: Entweder habe ich gute Laune, oder ich rede gar nicht mehr. Da ich nun sogar ein ganzes Buch lang erzähle, habe ich, während Sie das lesen, sehr gute Laune.

Ein Grund dafür, warum ich so gute Laune habe, ist, dass ich in meinem Beruf der »gute Cop« bin.

Ich arbeite für eine Firma, die sich mit Bautrocknung beschäftigt. Schimmel im Haus. Wasserschäden. Rohrbrüche, die über mehrere Etagen die Wände füllen. Wenn so etwas passiert, reist meistens erst mal mein Chef Volker an und analysiert den Schaden. Damit die Versicherung auch alles glaubt und bezahlt. Volker steht also meistens vor den Mietern oder Eigentümern und muss ihnen auf die Frage, ob es wirklich so schlimm ist, wie es scheint, in 90 Prozent der Fälle die Antwort geben: »Schlimmer.« Das ist nicht schön.

Nach meinem Chef kommt dann meistens Ulf. Seine Aufgabe besteht, grob gesagt, darin, zum Besten aller alles kurz und klein zu schlagen. Schließlich muss man an den Schaden erst mal rankommen. Ulf verspritzt ätzendes Wasserstoffperoxid. Ulf stellt Trocknungsgeräte auf, die tagelang in der Lautstärke eines Lastwagens brummen und die Bude dabei aufheizen, als wohne man in einem Handtrockner. Ein Wasserschaden ist immer eine Katastrophe. Er geht im wahrsten Sinne des Wortes an die Substanz. Und damit meine ich nicht nur die Substanz des Gebäudes …

So freundlich und verständnisvoll meine Kollegen also auch sind – sie sind trotzdem die »bösen Cops«. Sie stemmen Menschen die Wände auf und tragen Putz ab, um Rohre freizulegen. Sie bauen Duschwannen aus, sodass die Menschen gar nicht mehr oder nur noch in der Badewanne mit der Handbrause duschen können. In den schönsten Badezimmern bohren sie tennisballgroße Löcher in die teuren Fliesen, um die Schläuche der Trocknungsmaschine hineinzustecken, die daraufhin die heiße Luft direkt unter den Estrich bläst. Nachts können die Bewohner das Gerät selber ausschalten, es dauert dann aber auch länger, bis die nötige Gesamtstundenzahl zur Trocknung erreicht ist. Also versuchen die Menschen, den Punkt herauszufinden, wo die maximale Laufleistung des Geräts und ihre gerade noch abgewendete Einweisung in die Klapsmühle sich treffen.

Kurzum: Nachdem meine Kollegen da waren, sind die Leute fix und fertig. Sie haben wochenlang auf einer Baustelle gewohnt, einer Hölle aus Krach und Hitze.

Und dann.

Dann komme ich.

Der Retter.

Der, der die Fliesen wieder ganz macht.

Der, der dafür sorgt, dass sie bald wieder duschen können.

Der Restaurateur.

Der Wiederaufbauer.

Wenn ich fast fertig bin und gerade die letzten Silikonfugen ziehe, strahlen die Leute, als hätte ich ihnen ein neues Leben geschenkt.

Daher bekomme ich grundsätzlich Trinkgeld und meine Kollegen böse Blicke.

Ich mag es, der Retter zu sein.

Mein Spezialgebiet, die Wiederherstellungsarbeiten, ist unter Handwerkern ein zweischneidiges Schwert. Entweder man hasst es oder man liebt es, wie ich. Es gibt nichts dazwischen. Wiederherstellung kann man nicht halbherzig machen, denn am Ende muss alles perfekt aussehen.

Wie die besagte Feuerwehr muss ich überall hin, wo’s brennt, denn sind die Kollegen fertig und die Trocknungsmaßnahmen beendet, wollen die Leute keine Sekunde länger auf mich oder die Maler warten. Mache ich Urlaub und bin drei Wochen nicht in der Firma, brennt die Hütte. Unter den Aufträgen, die sich dann angesammelt haben, biegt sich der Schreibtisch. Aber das ist es wert. Die Arbeit, bei der man herrichtet, statt zerstört. Die zufriedenen Gesichter.

Während die Leute mit meinen bösen Kollegen kaum sprechen, wenn diese ihre Wände und Böden aufreißen, plaudern sie mit mir unaufhörlich. Das mag ich auch. Ich unterhalte mich gerne. Ich mag Menschen. Und natürlich kriegt jemand, der den Mund aufbekommt, noch mehr Trinkgeld. Man muss das aber auch können – reden und arbeiten. Sorgsam und genau arbeiten, obwohl man dabei redet. Mein guter Kollege Marvin kann das nicht. Ich nenne ihn im Stillen Marvin der Mönch, denn er redet wenig und arbeitet so ruhig und leise wie ein Franziskaner, der in der Kutte den Hof fegt. Marvins Kutte ist ein schwarzer Kapuzenpullover, in welchem er fast vollständig verschwindet. Er kann lautlos gehen. Kommt er die Treppe hinauf, bemerken die Mieter ihn oft erst im letzten Augenblick. Als sei er wie ein Geist hinaufgeschwebt. Außerdem wirkt Marvin sehr jung, viel jünger, als er ist, mindestens zehn Jahre. Alle halten ihn für einen Azubi, dabei ist er längst ein Vollprofi mit eigener Wohnung. Die ist allerdings ähnlich karg eingerichtet wie ein Kloster. Die Kirche eines Junggesellen mit dem Computerschreibtisch als Altar. Allerdings kann er kochen. Egal, wie spät es wird oder ob er kaum geschlafen hat: Marvin bereitet sich selbst etwas zu, in Spitzenqualität und in aller Ruhe. Aufgewachsen ist er auf einem Bauernhof, umgeben von sieben Geschwistern und einem Wald so groß wie halb Finnland, in dem nachts die Eulen rufen. Da er ungern telefoniert, lädt er seine Familie einmal pro Monat zu sich nach Hause in die kleine Wohnung ein. Da sitzen sie dann wie beim Abendmahl und füllen den kleinen Raum. Das Trinkgeld, das ich bekomme, wenn wir gemeinsam arbeiten, teile ich mit ihm, denn es geht ja nicht an, dass meine Arbeit mehr wert ist, bloß, weil ich Sabbelwasser getrunken habe. Oft arbeite ich aber auch alleine.

Neulich wurde mir meine Redseligkeit überraschend zum Nachteil. Das war so: Ich fliese mit Marvin den ganzen Tag lang das Reihenhaus einer alten Dame. Ein großer Wasserschaden, der den Flur, die Küche und das Gäste-WC betraf. Eine ganze Woche waren wir dort zugange, und in den vielen Stunden kommt man gut ins Gespräch. Als ich erwähne, dass ich aus Sassenberg komme, horcht die Achtzigjährige auf und sagt: »Da liegt doch der schöne Feldmarksee.«

Ich antworte: »Ja, genau. Mein Vater wohnt da sogar, in einem Ferienhaus. Meine Kurzen und ich sind oft da, die Enten füttern.« Sie nickt freudig, wie alte Damen so nicken, und ich erzähle. Als Marvin und ich fertig sind und uns verabschieden, gibt sie ihm zehn Euro Trinkgeld und eine Tafel Schokolade. Ich freue mich schon auf meinen Schein und die schöne Vollnuss für den Heimweg – da drückt sie mir einen riesigen Sack trockener Brötchen in die Hand. Sie strahlt richtig dabei und erwartet, dass ich mich unglaublich freue, weil sie bei der Erzählung von mir und meinen Kindern so gut aufgepasst hat.

»Für die Enten«, sagt sie, »für die Kinder, für die Enten!«

Ich schaue zu Marvin und kann nicht erkennen, ob er sich im Dunkel seiner Kapuze ein Lachen verkneift. Ich bedanke mich artig.

Auf halbem Weg zum Wagen läuft Marvin neben mir und gackert plötzlich unter seiner Kapuze. Ich muss grinsen.

Aber ich hätte auch gerne eine Tafel Schokolade gehabt.

Wobei, oft, sehr oft, ist man bei Menschen, da würde man keine Schokolade annehmen. Nicht mal ein Glas Wasser. Keine lieben Leute wie alte Dame, die es gut meint und schlecht macht. Nein. Das sind dann Leute wie Albträume. Leute wie RTL am frühen Nachmittag. Nur eben in echt. Das kannst du keinem erzählen.

Obwohl, warte, das kann man ja doch …

Das Festival der guten Laune

Ich stehe jeden Morgen um viertel nach fünf auf. Falls ich nicht drei, vier Mal auf die Schlummertaste meines Radioweckers drücke. Pro Drücken erlaubt der Wecker mir weitere neun Minuten. Im schlimmsten Fall stehe ich also um 5.51 Uhr auf. Falls Anja mich vorher nicht aus dem Bett geschubst hat. Sie ist ein Morgenmuffel.

Wenn ich den Tag sofort mit dem ersten Anspringen des Weckers beginne, passt ihr das allerdings auch wieder nicht, denn immer, wenn ich ohne Verzögerung aufstehe, fange ich sofort an zu singen.

Es hängt halt vom Radioprogramm ab.

Springt der Wecker an und es kommt ein gutes Lied, schlage ich in Sekundenbruchteilen die Augen auf und fange ohne Umschweife an. Angenommen, sie spielen um 5.15 Uhr Roger Whitaker – dann geht es für Anja direkt in die Berge: »Albany«, singe ich dann, obwohl ich vor einer halben Sekunde noch geträumt habe, »Albany, hoch in den Bergen von Norton Green /Albany, in deinen Mauern war ich einst zu Hause.« Man muss dazu wissen: Anja hört lieber Bon Jovi. Oder U2.

Ich springe zu Roger Whitaker aus dem Bett, dusche mich, pfeife weiter, ziehe mir zwei Tassen Kaffee rein und lese dabei die Zeitung.

Als Auszubildender auf dem Bau habe ich WDR 4 gehasst.

Die Altgesellen haben nichts anderes gehört. Ich war siebzehn Jahre alt und mochte die damalige Popmusik. Zu was man 1994 auf den Partys eben so tanzte. Dieser Synthie-Pop von Ace Of Base. »Look Who’s Talking Now« von Dr. Alban. Auch ganz gerne Techno und Rave. »Somewhere Over The Rainbow« von Marusha ist mir in guter Erinnerung. Ich war nie ein großer Rocktyp.

Aber Schlager?

WDR 4?

Oder NDR 1, Radio Niedersachsen?

Das habe ich gehasst wie die Pest!

Jeden Morgen diese Kacksender!

Ich hatte schon beim ersten Kaffee die Nase und die Ohren voll. Es nervte einfach volle Sau. Doch mit der Zeit geschah etwas, das so wahrscheinlich noch keiner zugegeben hat, das aber mit Sicherheit sehr vielen meiner Mitmenschen passiert. Ich ging mit den Altgesellen malochen. Ich lernte. Damals war ein Auszubildender nicht einfach bloß eine billige Arbeitskraft, die man ohne große Worte mitschleift wie ein lästiges Übel. In den guten Firmen wie der, für die ich arbeite, ist er das auch heute noch nicht, aber in vielen anderen schon. Die Altgesellen legten jedenfalls sehr großen Wert darauf, dass ich wirklich begreife, was ich da tue. Sie haben mir viel beigebracht. Ich verstand bei ihnen, was es heißt, in der Arbeit aufzugehen. Und während wir da so in der Arbeit aufgingen, war immer das Radio dabei. Mit, natürlich, WDR 4.

Es kam die Zeit, in der ich in die Welt hinaus musste und meine Aufträge vollständig allein erledigte, ohne Altgesellen als Babysitter. Ich arbeitete am jeweiligen Auftragsort, hatte ein Radio dabei, schaltete einen Popsender ein … und wurde schon nach zehn Minuten unglaublich nervös. Diese hektischen Zwischenmoderationen. Diese Jingles, die einen alle paar Minuten daran erinnern, welchen »besten Mix von Niedersachsen« oder »dem Sektor« man gerade hört. Die Lieder, die mir nichts sagten und von denen mich jedes zweite bei der Konzentration störte.

Ich stand also auf, beobachtete mich dabei selbst … und schaltete das Radio auf WDR 4 um.

Vollkommen freiwillig.

Ruhe kehrte in mich ein, und die Laune stieg, denn da waren eben die Lieder, die ich früher mit den Altgesellen gehört hatte und ich musste mir eingestehen, dass diese Lieder nun mein Zuhause sind.

Aber zurück in die Gegenwart.

Wenn ich daheim gefrühstückt, die zwei Tassen Kaffee getrunken und Anja sowie meinen drei Kurzen einen Abschiedskuss gegeben habe, steige ich in den Dienstwagen, drehe den Wendler oder eine neue Ballermann Hits auf und fahre die zwanzig Minuten weiterhin bester Stimmung ins Büro oder direkt zu einem Auftrag. Ich höre die Musik im Wagen alles andere als leise. Ich drehe voll auf und singe mit, voller Inbrunst, das Fenster unten, bis tief in den Herbst hinein. Marvin macht das wahnsinnig, wenn er mal mit mir fährt. Er schimpft dann aus seiner schwarzen Kapuze heraus heiser gegen meine Fröhlichkeit an. Ab und zu erlaube ich ihm, eine CD von sich in den Player zu schieben, und da kann man dann hören, wie unnötig schwer man sich das Leben gestalten kann. Marvin hört vor allem Heavy Metal der ganz melodiefreien Sorte, das Geschrei und Gegröle grimmiger Männer, von dem ich augenblicklich schlechte Laune kriege. Und wie gesagt – es muss viel passieren, damit ich schlechte Laune kriege. Es mag sein, dass Leute, die in dieser Musik Übung haben, von ihr sogar aufgebaut werden, aber so sehr ich Marvin, eine Seele von Mensch, auch schätze – ein Festival der guten Laune ist er nicht. Ich hingegen bin immer gut zufrieden.

Wenn ich an der Bushaltestelle vorbeikomme, an der die Schulkinder warten, hupe ich jeden Morgen den Nachbarsjungen an. Da gibt es keine Ausnahme. Ich hupe und winke aus dem Fenster. Es ist ihm peinlich, dass ich jeden Morgen so gute Laune habe, denn auch er hat wohl von seinen Eltern, Lehrern und Mitschülern beigebracht bekommen, dass man vor 10 Uhr morgens schon mal gar keine gute Laune haben darf und am besten sowieso nur im Urlaub. Im Winter ist seine Zeit, dann versteckt er sich, sodass ich ihn nicht sehen kann und muss mich nicht vor allen zurückgrüßen.

Meine Kollegen sind ganz ähnlich drauf, wenn ich um 6.45 Uhr im Büro erscheine. Nur Chef Volker ist ähnlich seltsam veranlagt wie ich und auch meistens gut zufrieden. Und sein Bruder, Klaus. Wir drei können uns schon am frühen Morgen kaputtlachen. Marvin sitzt dann meistens schweigend in seinem schwarzen Pulli am Tisch und meditiert, den Blick tief in der Tasse, als schaue er in einen Brunnen. Und Ulf, älter, rustikaler, bärtiger, im Grunde zwei Mal Marvin, steht völlig fertig am Schrank, lehnt den Hinterkopf ans Holz und seufzt, als habe man ihn um vier aus dem Bett geholt. Er wohnt nicht wie ich zwanzig, sondern bloß zwei Minuten von der Firma entfernt, aber er steht grundsätzlich so spät auf, dass sich die Abdrücke vom Kopfkissen auf seiner Wange immer noch nicht ausgedellt haben. Im Grunde kann man sagen, dass er ohne weitere Maßnahmen aus dem Bett und daraufhin bis vor die Firmentür rollt, um erst auf der Treppe aufzustehen und ins Büro zu torkeln. Dort will er dann am liebsten überhaupt nichts oder wenn, dann nur die allernötigsten Informationen hören.

Einen solchen Morgenmuffel begrüßt man am besten, indem man bereits beim Reinkommen lautstark ein Karnevalslied singt. Oder, ohne auch nur einmal eine Pause zu machen, lauter Scheiß erzählt, der von den »allernötigsten Informationen« sehr weit entfernt ist.

Die wirklich allernötigste Information, die wir morgens brauchen, steht in den Auftragsmappen, die wir nachdenklich in den Händen halten, während Volker die Einweisung macht. Während Ulf sich dazu die Schläfen reibt und Marvin einfach nur unergründlich guckt, sieht man mir bereits an, dass ich auf alles, was da kommt, Lust habe. Auch, wenn es mit Fliesenlegen selber nicht mal etwas zu tun haben sollte. Nach einem Rohrbruch und der entsprechenden Trocknung muss die Wand wieder geschlossen werden? Streckmetall davor, Isolierung, Mauern, Verputzen? Mache ich alles gerne. Es mag nicht so schön und herausfordernd sein, wie Mosaikfliesen zu verlegen, aber ich sehe es schon vor mir, wie es aussieht, wenn die Wand, die meine »bösen« Kollegen so ramponiert haben, wieder geschlossen ist.

Am Feierabend arbeite ich dann weiter. Freiwillig. Mit meinen besten Kumpels Sven und Rüdiger baue ich zurzeit ein neues Haus. Komplett. Von Grund auf. Eine Doppelhaushälfte zum Vermieten, mit moderner Warmwassersolaranlage, hochwertiger Isolation und natürlich den schönsten Fliesen. Sven ist von Haus aus Elektriker, Rüdiger Installateur und ich habe eine abgeschlossene Lehre als Maurer. Wir machen alles selbst. So kann ein Haus entstehen, auch bei nur drei bis vier Stunden Tätigkeit pro Tag. Jeden Abend treffen wir uns auf der Baustelle. Der Rohbau steht längst, und wie drei glückliche Urmenschen haben wir schon zwei Feuerstellen. Den Kamin im Wohnzimmer neben dem Klapptisch mit Bierbänken und Campingstühlen, und den Grill auf der Terrasse vor dem blanken, matschigen Boden, der eines Tages mal der Rasen des Gartens sein wird. Da sitzen wir dann und erzählen uns Geschichten nach der freiwilligen Arbeit, ein Bier dabei, die Würste auf dem Rost. Der Weg heim ist ja nicht weit. Anja und die Kinder warten eine Straße weiter. Trotzdem ist diese Baustelle unsere kleine Männeroase. Und die meisten der Geschichten, die ich gleich erzähle, haben Sven und Rüdiger auch schon gehört.

Ach ja, bei uns im Baustellenmännerhaus läuft abends übrigens auch WDR 4. Ab 20 Uhr spielen die sowieso eher Elvis Presley oder die Beatles. Da können alle mit leben. Ja, guck.

Die Geburtshilfe

Das steht es.

Schwarz auf weiß in meiner Auftragsmappe.

»Kundin ist hochschwanger.«

Ich reibe mir die Augen. Nicht, weil ich müde wäre wie Ulf, sondern weil ich sichergehen will, dass da steht, was da steht.

Es steht da.

Und Volker hat noch mehr notiert: »Wenn sie nicht da ist, klebt ein Zettel an der Tür. Dann ist sie im Kreißsaal.«

So schwanger ist sie sogar.

Ich staune.

Als Anja schwanger war, hätte sie sich eher ins Knie geschossen, als den Lärm und Stress zuzulassen, den es bedeutet, wenn ein Fliesenleger kommt, um beschädigte Kacheln auszuwechseln. Doch diese Dame hier lässt mich sogar antanzen, wenn das Kind schon lautstark am Ausgang klopft.

Das Haus ist ein alter Putzbau, angeschlossen an einen Steinmetzbetrieb. Hinter dem gusseisernen Zaun sind Grabsteine ausgestellt. Es regnet in Strömen und ist eiskalt. Der Wind treibt bleiche Blätter in den Matsch, und die Tropfen prasseln auf die Grabsteine. Marvin würde das gefallen. Manche CD-Hüllen von ihm sehen so aus. Aber heute arbeite ich allein, an diesem finsterfeuchten Januarmorgen. Weihnachten ist erst dreieinhalb Wochen her, aber es fühlt sich länger an. Kein Schnee, keine weiße Winterwunderwelt, nur graue Kälte. Das Jahr ist noch jung, aber es sieht alt aus.

Der Steinmetzbetrieb, hat Volker mir erzählt, gehört den Eltern der Schwangeren. Die Kinder haben an den elterlichen Betrieb angebaut und bekommen nun selber Kinder. Die Zeit rast. Ich denke an Lara und Peer. Meine Zwillinge. Als sie zur Welt kamen, war es für Till, unseren »Großen«, eine Attraktion. Obwohl es für seine fünf Jahre normal wäre, war er überhaupt nicht eifersüchtig. Trotzdem kratzte ihn der doppelte Neuzugang mächtig auf. Vollgas, jeden Tag, denn auch wenn er die Kleinen nicht als »Konkurrenz« betrachtete, galt trotzdem: Die Konkurrenz schlief nicht. So wie ich. Acht Wochen lang. Das sind 56 Tage, 1344 Stunden. Ich glaube, ich habe in der Zeit bloß vierzig davon die Augen geschlossen. Ich liebe meine Kurzen, aber nach der Elternzeit war ich auch froh, wieder arbeiten gehen zu dürfen. Gleichzeitig ist es komisch, wie man sich fühlt, wenn man morgens wieder aus der Tür geht. Man vermisst die Schreihälse, sobald es ruhiger wird. Und nun stehe ich vor einem Haus, in dem eine Hochschwangere neues Leben in sich trägt, während ihr eigener Herr Papa täglich Namen in Grabsteine meißelt. Jetzt nicht sentimental werden, denke ich, bevor ich klingele.

»Hallo, ich bin Nadine, die Hebamme«, sagt die Freundin der Kundin, welche die Tür aufmacht. Ich erfahre, dass sie tatsächlich von Beruf Hebamme ist, was nicht bedeutet, dass die Kundin das Baby zu Hause bekommen möchte. Die Freundin bereitet sie nur vor. Die Kundin sitzt in der Küche, die ich gleich bearbeiten werde, am Tisch und grüßt mich fröhlich. Vor ihr stehen zwei langstielige Gläser. Die Freundinnen haben ein Sektchen getrunken. Das soll helfen. Die Kundin heißt Frau Strickwald, aber ich soll sie Monika nennen.

»Heute ist Stichtag!«, sagt Monika, steht auf und schleppt sich nach oben, wo Nadine ihr gerade ein Bad einlässt. Das soll auch helfen.

»Sind Sie sich wirklich sicher, dass ich heute hier arbeiten soll?«, frage ich noch mal vorsichtig, aber Monika winkt auf der Treppe ganz souverän ab. »Aber sicher. Es muss immer vorangehen. Immer zügig voran.«

Sie betont das voran auf der zweiten Silbe.

Ich zucke mit den Schultern und hole mein Zeug. Was ich heute hier zu tun habe, ist so ziemlich das Lauteste, was ich als Wiederhersteller machen kann. Der Estrich in der Küche ist getrocknet worden. Von der Höllenmaschine, die längst abtransportiert wurde, zeugen nur noch die runden Bohrlöcher in den Fliesen. Es gibt zwei Möglichkeiten, das wieder schön zu machen. Entweder man setzt in die Löcher runde Einleger aus Keramik ein, auf die sich eine Partnerfirma spezialisiert hat und die es mittlerweile in Dutzenden von Farben und Motiven gibt – von antiken Mustern bis hin zu Delfinen und Fußbällen. Oder man geht »klassisch« vor und wechselt einfach die gesamte, durchbohrte Fliese aus. Wobei »klassisch« übersetzt »staubig« heißt und »einfach« bedeutet »laut«. Die alte Fliese muss präzise ausgeflext werden, was bedeutet, dass die Säge kreischt. Der Staub wird dabei von meinem großen Sauger entfernt, was bedeutet, dass der Luftsog röhrt. Die ausgeflexte Fliese muss rausgeschlagen werden, was bedeutet, dass Meißel und Hammer krachen. Und als wäre das noch nicht genug, muss ich den darunter befindlichen, alten Fliesenkleber abschälen, was bedeutet, dass das große Schleifgerät ein Geräusch macht, für das mir überhaupt kein Wort einfällt. Und das alles, während oben eine hochschwangere Frau in ihre Vorbereitungsbadewanne steigt.

Ich habe einige Fliesen geschafft, als Nadine, die Hebammenfreundin, die Treppe herunterkommt und sich verabschiedet. Bis eben haben die Frauen sich oben im Bad unterhalten und kaputtgelacht, aber auf diese nervöse Art, in der man lacht, wenn man eigentlich ein wenig Angst bekommt. Monika hat bereits drei Kinder, erzählt mir die Hebamme, aber es sei trotzdem jedes Mal wie der erste Auftritt.

»Ich muss jetzt selber zum Dienst«, sagt Nadine und ist schon aus der Tür. Ich bin allein, im Haus einer Steinmetztochter, die schwanger in der Badewanne liegt.

Ich horche.

Leises Plätschern.

Ich rufe: »Alles gut da oben?«

»Ja, sicher! Machen Sie weiter. Immer voran!«

Ich werfe die Flex wieder an.

Gegen Mittag kommen die Kinder heim. Sie sprechen nicht viel, wie Teenager so sind. Nehmen sich was aus dem Kühlschrank, verschwinden auf ihre Zimmer. Dass ihre Mama schwanger in der Badewanne liegt, regt sie nicht sonderlich auf. Es scheint in diesem Haushalt zur Gewohnheit zu gehören. Aus einem der Zimmer ertönt ein Handygespräch. Im anderen klirren ein paar Computerspielschwerter.

Der Mann kommt wenig später als die Kinder und begrüßt mich mit einem Handschlag, gegen den selbst der Schraubstock meines Chefs Volker watteweich ist. Sofort beginnt er mit mir ein Gespräch.

»Mein Vater hätte gerne gesehen, dass ich in seine Fußstapfen trete«, sagt er, »aber irgendwie tue ich das ja auch.«

Er schmunzelt.

Er erwartet wohl, dass ich von selbst begreife, was er meint.

»Na ja, mein alter Herr meißelt Grabsteine und ich finde heraus, wer die Leute unter die Erde gebracht hat.«

Ich runzele die Stirn.

»Ich arbeite bei der Kriminalpolizei«, sagt er. »Mordermittlung.«

Er lacht.

»Aber ich habe größten Respekt vor Ihrem Beruf«, sagt er. »Das Handwerk ist das Beste, was wir in Deutschland haben.«

»Polizeiarbeit ist auch schön«, sage ich, obwohl »schön« bei Mordermittlungen wahrscheinlich nicht der passende Begriff ist.

Er schnäuzt sich und schaut sich an, was ich bislang gemacht habe.

»Matthias!!!«, ruft plötzlich die Frau aus dem Badezimmer im Obergeschoss.

»Ja, ich komm gleich, Schatz.«

Er steht auf, macht aber noch keine Anstalten, die Treppe hinaufzugehen. Seine Bewegungen sind ruhig wie bei einem Sonntagsspaziergang auf dem Flohmarkt. Er verschränkt kurz die Arme hinter dem Körper, schürzt die Lippen, holt einen Arm wieder nach vorn und zeigt auf meine Baustelle, die nun schon seit geraumer Zeit ruhig ist.

»Sie müssen ein anderes Silikon nehmen. Tut mir leid, aber damit kenne ich mich ein wenig aus. Habe früher bei meinem Vater ausgeholfen.«

Er räuspert sich.

Die Frau ruft: »Matthiaaaaas!!!«

Es bewirkt wenig. Womöglich liegt es daran, dass er Mordermittler ist. Die haben die Ruhe weg.

»Bei dem Granitboden geht’s nicht mit normalem Silikon.«

»Ich weiß«, sage ich, »ich habe das Natursteinsilikon noch im Auto. Keine Sorge. Ich muss nur nachsehen, ob ich die richtige Farbe dabeihabe.«

»Matthiaaaaaas!!!«

Ich kenne diesen Tonfall. Die Frau bekommt Wehen.

»Ich komme hier alleine nicht aus der Scheißwanne raus!«

»Einen Augenblick, Süße. Ich muss dem Herrn hier unten noch eben sagen, welche Fugen er machen soll.«

Ich frage mich, was Anja mit mir gemacht hätte, wenn ich kurz vor der Geburt der Zwillinge erst noch in Ruhe was mit dem Handwerker im Erdgeschoss besprochen hätte.

»Sind Sie so gut«, sagt Mordermittler Matthias und deutet mit dem Zeigefinger an einer anderen Wand entlang, »diese Fuge hier auch neu zu machen? Sie ist nur ein wenig angewetzt, aber es wäre gut …«

Ich unterbreche ihn, da ich mir langsam Sorgen um seine Frau mache.

»Alles wird gut«, sage ich, »kein Problem. Ich mache euch das alles wieder schön fertig.« Es hilft, Kunden in der Mehrzahl zu duzen. Bei den einzelnen Menschen bleibe ich im Zweifel erst mal beim »Sie«, aber ein herzliches »euch« für den ganzen Haushalt schafft Vertrauen. Davon abgesehen, liebe ich es, in aller Ruhe neue Fugen zu ziehen.

Die Frau schreit, jetzt richtig, keine Worte mehr, nur noch Geräusch.

Matthias begreift, dass es tatsächlich ernst wird und huscht nun doch in angemessenem Tempo die Stufen hinauf.

»Schatz, Schatz …«

Er bringt sie durch die Wehe. Ich höre Plätschern und das dunkle Geräusch von Füßen, die unter Wasser über den Wannenboden rutschen.

»Jetzt geht’s los«, keucht sie, »es geht richtig los.«

Matthias ruft in den Flur hinunter: »Kinder! Es geht los! Wir fahren ins Krankenhaus!«

Die Türen der Kinderzimmer öffnen sich und die jungen Menschen strecken die Köpfe heraus.

»Ich brauche meine Tasche, bevor wir wegfahren!«, sagt seine Frau, während er sie aus der Wanne wuchtet.

»Meine rote Tasche!«

»Welche Tasche?«, fragt Matthias.

»Mein Gott, verdammt, die Handtasche! Meine Handtasche! Die rote Handtasche eben.«

»Die kann doch jetzt nicht so wichtig sein«, sagt Matthias, dem es selber vor ein paar Minuten sogar noch wichtiger war, die korrekte Auswahl des Fugensilikons anzuleiten.

»Die Tasche, die Tasche, die Tasche!«, brüllt seine Frau so laut, dass das ganze Haus erbebt.

Ich kenne das.

Das ist die Raserei, die kurz vor der Geburt einsetzt.

Da muss man(n) durch und sollte einfach nur reagieren, anstatt auch noch Diskussionen anzufangen oder gar Rückfragen zu stellen.

»Die Tasche!!!!!!!!!!!!!!!!!«

»Ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Arrgh!!! Bin ich denn nur von Idioten umgeben?«

Ich stehe vom Boden auf, da ich ohnehin seit gefühlten zwei Stunden nicht mehr arbeite, gehe zum Fuß der Treppe und rufe hinauf: »Die Tasche liegt hier unten!«

Ich kenne mich aus im Erdgeschoss, ich gehöre ja seit heute Morgen quasi zum Inventar.

Der älteste Sohn des Mordermittlers ruft auf dem Handy die Oma im Haus nebenan an, die eine Minute später vor der Tür steht, um die drei Kids in ihr Auto zu laden, damit sie mit ins Krankenhaus können. Aber was heißt hier »Oma«? Der Kommissar ist in meinem Alter und seine Mutter gerade mal Mitte fünfzig.

»Hallo, ich bin die Mutter der Mutter«, sagt sie, als ich öffne.

»Und ich bin die Hebamme. Äh, der Fliesenleger.«

»Könnten Sie mir vielleicht, womöglich …?«, ächzt Matthias oben am Kopf der Treppe und ich laufe hinauf und hake seine Frau auf der anderen Seite unter, die sich flüchtig ein paar Klamotten übergeworfen hat und sich krümmt, sodass wir sie zu zweit kaum halten können. Gemeinsam schaffen wir die Schwangere die Stufen hinab.

Vor der Tür steigen die Kinder in das Auto der »Oma«. Ich bringe derweil mit Matthias die Frau in seinen Volvo. Ein paar Nachbarn sind auf der Straße herbeigelaufen gekommen und rufen: »Viel Glück!«

Der Regen hat nachgelassen. Ein Hund steht trotzdem recht bedröppelt pfotentief in einer Pfütze.

Matthias hüpft hastig und nun überhaupt nicht mehr gelassen um den Wagen, öffnet die Fahrertür und sieht noch mal zu mir, als ob er mir am liebsten noch in Ruhe eine letzte Sache zum Natursteinsilikon erklären würde.

»Faaaaaaahrrrr loooooooooos!!!«, brüllt seine Frau.

Matthias’ Gedanke verschwindet aus seinem Gesicht. Er schüttelt kurz den Kopf und sagt: »Okay, okay. Wir müssen. Ziehen Sie selbst hinter sich zu!«

Eine Minute später herrscht herrliche Ruhe im Schwangerenhaus.

Ich lehne mich an die Wand der Küche, atme tief durch, sammele mich. Bevor ich weiterarbeiten kann, klingelt es.

Ich öffne.

Eine junge Frau mit langem schwarzen Haar steht vor mir.

»Keiner hier?«, fragt sie.

»Die sind alle im Kreißsaal«, antworte ich.

»Ach, geht es schon los?«

»Sie sind …?«

Ich muss ja fragen. Kann ja nicht jeder hier an die Tür kommen und Auskunft zur Geburtslage verlangen.

»Corinna. Die Schwester.«

»Ach so.«

»In welches Krankenhaus sind die denn?«

»Das weiß ich nicht. Hier war Nadine, die Hebamme, der Matthias ist wiedergekommen, die Kinder sind mit der Oma weg, wir haben ihr gerade noch ins Auto geholfen, und dann sind sie ab.«

»Gut, gut …«, sagt Corinna.

»Ja, guck«, sage ich.

Dann mache ich bis 19 Uhr abends die Küche fertig. So lange es eben dauert. Ich könnte den Auftrag auch auf zwei Tage strecken, aber die Familie soll es schön haben, wenn sie wieder heimkehrt.

Am nächsten Morgen komme ich ins Büro und singe Andrea Berg vor mich hin. »Du bist wie ein Herztattoo, wie ein Zeichen für die Ewigkeit/ Alles was ich will bist du, bis der letzte Stern vom Himmel fällt.«

Ulf stöhnt.

Marvin liegt mit dem Kopf auf den Oberarmen auf dem Tisch.

Volker stürmt hinein, ein Salamibrötchen kauend, und sagt schmatzend: »Jan, du großer Held!«

»Wieso?«

»Hier, hör dir das an!«

Er lässt seinen Finger auf den Anrufbeantworterknopf niedersausen. Auf dem Gerät spricht Mordermittler Matthias: »Ja, hallo, das ist eine Nachricht für Herrn Brechmann! Wir wollten Ihnen nur sagen, dass unsere kleine Anita gesund und proper zur Welt gekommen ist. Vielen, vielen Dank für Ihre Hilfe, von meiner ganzen Familie!«

Im Hintergrund jubeln Menschen. Die ganze Großfamilie.

»Astrein!«, sagt Volker und klopft mir auf die Schulter.

Ich winke bescheiden ab und schaue nach meiner Auftragsmappe für den Tag.

»Warte«, sagt Volker. »Da ist noch ein Spruch.«

Er spielt ihn ab.

»Ja, noch mal für Herrn Brechmann. Äh, meine Frau, die sucht ihr kleines Brillenetui. Das war nicht in der roten Tasche. Wissen Sie vielleicht, wo es ist? Sie kennen sich doch bei uns so gut aus.«

Ich weiß es tatsächlich, lege die Auftragsmappe weg und greife zum Telefon.

Das gelbe Ledersofa

Heute Morgen bin ich nicht zum Frühstücken gekommen. Der Radiowecker hat seinen Dienst versagt. Womöglich hat Anja ihn auch heimlich ausgestellt, um mich zu ärgern, weil ich die letzten Tage jedes Mal vier Mal auf die Schlummertaste gedrückt hatte. Es kam halt kein gutes Aufstehlied. Außerdem ist Februar und die Natur kann sich nicht entscheiden, ob sie schon mit dem Frühling anfangen oder doch noch mal ein paar Frostnächte nachholen soll. Im Ergebnis sprießen schon die ersten Weidenkätzchen und fragen sich, was sie unter diesem trüben Himmel zu suchen haben. Jedenfalls reichte die Zeit heute Morgen gerade, um einen Kaffee herunterzustürzen und die Auftragsmappe in der Firma abzuholen. Gott sei Dank habe ich bis zu meinem ersten Kunden noch etwas Zeit. Also stehe ich nun beim Bäcker vor der goldgelb erleuchteten Theke und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Wenn Anja und ich ins Ausland reisen, was mit den kleinen Zwillingen erst mal nicht mehr der Fall ist, vermissen wir von Deutschland am allermeisten das Brot. Die Brötchen. Die Nussecken. Die Rosinenschnecken. Die Bäckereien sind das Beste, was wir haben, zusammen mit den Brauereien, natürlich. Und morgens, wenn der Magen knurrt, dieser Anblick, dieser Duft. Herrlich. Ich will gerade ein belegtes Schinkenbrötchen und eine Mohnschnecke ordern, als mein Handy klingelt.

»Brechmann?«

»Ja, Rasche hier. Wo bleiben Sie denn?«

»Ich komme um halb acht, wie verabredet.«

»Was? Verabredet war um Punkt sieben. Ich muss zur Arbeit!«

Frau Rasche ist die Eigentümerin des Gebäudes, in dem ich heute arbeite. Eigentümerinnen sollte man nie widersprechen.

»Okay, ich bin jeden Augenblick da.«

Die Bäckereifrau sieht mich fragend an. Ich zucke bedauernd mit den Schultern. Wenn Eigentümerinnen so hektisch klingen, darf ich keine Sekunde vergeuden. Unsere Firma ist gut, aber sie kämpft wie alle anderen auch um jeden Kunden. Und bei diesem Kampf kommt es auf Konsequenz an. Oder, wie Volker sagen würde, der gerne Fußballmetaphern benutzt: »Nur die Mannschaften, in denen jeder Spieler wirklich sofort reagiert, bleiben am Ende oben.«

Das schöne, schöne Schinkenbrötchen, da geht es hin …

Das Gebäude, vor dem ich halte, ist ein dunkler, großer Industrieklotz in einem Gewerbegebiet. Eine Werkhalle oder Spedition. Es ist so groß, es könnte auch ein Hangar für Sportflugzeuge sein. Da drin soll sich eine Privatwohnung befinden? Ich muss hier, so sagt es meine Mappe, eine Dusche neu untermauern und verfliesen. Eine einzelne Dusche, keinen Duschraum für zwanzig Arbeiter.

Frau Rasche steht vor dem großen Eingangstor und raucht. Ich entschuldige mich, aber sie ist schon gar nicht mehr vorwurfsvoll. Im Gegenteil. Irgendwie wirkt sie verschämt. Sie wirft die Zigarette auf den Asphalt, tritt sie aus, öffnet die Tür und durchschreitet mit mir die große, dunkle Halle. Es stehen Lieferwagen herum. Paletten. Links gibt es zwei Hebebühnen. Im letzten Drittel der Halle, genau mittig, schlängelt sich eine Wendeltreppe nach oben. Hier ist ein zweiter Boden eingezogen, eine kleine Wohnung.

»Ich muss mich im Vorfeld bei Ihnen entschuldigen«, sagt Frau Rasche. Meine Verspätung ist vergessen.

»Der Mieter hier, wie soll ich sagen?« Sie verschiebt ihr Gesicht, ganz seltsam, als wüssten die Muskeln gar nicht wohin. »Er ist … Sie müssen selbst sehen. So eine Bude vermietet man ja nicht leicht. Da ist man froh, wenn überhaupt einer dafür zahlt. Aber trotzdem. Ich kann mich wirklich nur in aller Form vorher entschuldigen. »

Sie steigt vor mir die Wendeltreppe hinauf. Sie ist aus Gitterblech. Unsere Schritte hallen. Als Frau Rasche die Tür öffnet, schlägt uns sofort ein Gestank wie toter Hund entgegen. Toter Hund und Fußschweiß. Toter Hund und Fußschweiß und Bahnhofsklo. So, wie das Bahnhofsklo früher war, als es noch nicht von einer privaten Firma betrieben wurde und einen Euro Eintritt kostete. So, wie das Bahnhofsklo in den Händen des Staates war. Mit beige gefliesten Pissrinnen, in deren Abflüssen ein und derselbe Urinstein von 1989 bis 1993 lag.

»Es tut mir unendlich leid«, sagt die Vermieterin und klatscht ihre Handflächen mit hängenden Armen links und rechts vor ihre Beine wie ein junges Mädchen, das doch auch nicht mehr weiterweiß.

Ich stehe vor ihr im Flur. Neben einer flachen Kommode, von der die weiße Beschichtung abbröckelt, stehen ausgelatschte Maurergaloschen, die mindestens Größe 50 haben. Ich trage 45 und diese Treter sind locker eine halbe Hand länger. Von der Einrichtung und Kleidung in einer Wohnung kann man gut auf den Bewohner zurückschließen. Wie ein Profiler in den Krimis, die ich gerne lese. In den siebzig Quadratmetern hier oben wohnt ein Bauarbeiter, aber einer von der ganz schmerzfreien Sorte.

An der Garderobe hängen verdreckte Arbeitsklamotten und Handschuhe, in deren einzelnen Fingern man Hundewelpen über die Grenze schmuggeln könnte. Der Playboy-Kalender über dem Telefontisch stammt aus dem Jahr 2004. Überall liegen Klamotten. Auf dem Boden. Auf der Kommode. Im Wohnzimmer steht ein aufgeklappter Kleiderständer neben einem weißen Ledersofa. Besser gesagt: Es war mal ein weißes Ledersofa. Die Lehne lässt ganz genau darauf schließen, wie groß und breit der Bewohner dieser Bude ist, denn sein Rücken zeichnet sich schmottengelb auf dem Leder ab. Es ist jetzt schon heiß hier drin, in einem wechselhaften, unentschlossenen Februar, der den Weidenkätzchen nach einem 10-Grad-Tag mit Frost auf den Schädel kloppt. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was für eine Brutstation diese Dachwohnung in einer Werkhalle im Sommer sein muss. Und wie viele Liter der haarige Rücken des Riesen ausgeschwitzt hat, um das weiße Leder komplett gelb zu färben.

»Es tut mir so leid«, sagt die Vermieterin, immer wieder, wie ein Gebet.

»Sie können ja nichts dafür«, sage ich.

Sie geht zum Badezimmer, öffnet die Tür und macht das Licht an.