Ein Garten voller Bücher - Alba Donati - E-Book

Ein Garten voller Bücher E-Book

Alba Donati

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Beschreibung

"Das Cottage hat zwölf Quadratmeter und ein Fenster, das auf den Prato Fiorito hinausgeht. Auf der Fensterbank, auf einem kleinen schmiedeeisernen Pult, liegen immer abwechselnd drei Bücher: Der Garten der Virginia Woolf, Emily Dickinsons Herbarium und Alice im Wunderland, die Ausgabe mit den Illustrationen von John Tenniel. Es ist ein Damenfenster, und wer hereinkommt, fotografiert es."

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www.berlinverlag.de

Übersetzung aus dem Italienischen von Karin Diemerling

»Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo del Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale Italiano.«

»Die Übersetzung dieses Buches wurde durch einen Übersetzungszuschuss des Italienischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit ermöglicht.«

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel La libreria sulla collina bei Einaudi, Turin

© 2022 Giulio Einaudi editore s.p.a, Turin. Published by arrangement with the Italian Literary Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: mit freundlicher Genehmigung der Autorin und FinePic®, München

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitate

Januar

20. Januar

21. Januar

22. Januar

23. Januar

24. Januar

25. Januar

26. Januar

27. Januar

28. Januar

29. Januar

30. Januar

31. Januar

Februar

4. Februar

5. Februar

6. Februar

7. Februar

8. Februar

9. Februar

10. Februar

11. Februar

12. Februar

13. Februar

14. Februar

15. Februar

16. Februar

17. Februar

18. Februar

19. Februar

20. Februar

21. Februar

26. Februar

März

1. März

4. März

5. März

7. März

11. März

12. März

14. März

15. März

16. März

17. März

18. März

19. März

22. März

23. März

26. März

27. März

28. März

29. März

30. März

April

1. April

2. April

3. April

5. April

6. April

7. April

8. April

9. April

10. April

11. April

12. April

13. April

14. April

16. April

24. April

26. April

27. April

29. April

Mai

1. Mai

14. Mai

16. Mai

17. Mai

20. Mai

24. Mai

25. Mai

27. Mai

28. Mai

29. Mai

31. Mai

Juni

1. Juni

3. Juni

6. Juni

7. Juni

8. Juni

10. Juni

11. Juni

12. Juni

14. Juni

15. Juni

16. Juni

20. Juni

Anmerkung für die deutschsprachige Ausgabe:

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

»Romano, ich möchte in meinem Heimatort eine Buchhandlung aufmachen.«

»Gut, wie viele Einwohner hat er?«

»Hundertachtzig.«

»Okay, hundertachtzigtausend geteilt durch …«

»Nicht hundertachtzigtausend, hundertachtzig.«

»Du spinnst.«

Telefongespräch mit Romano Montroni, dem Gründer der Feltrinelli-Buchhandlungen

Es war einmal eine Königin, die hatte ein Puppenhaus. Ein so wunderschönes Puppenhaus, dass die Leute von überall herkamen, um es sich anzusehen.

Vita Sackville-West, Eine Frau von Geist. Der geheimnisvolle Zauber des Puppenhauses von Königin Mary

Wir kehren langsam zu der ruhigen Leuchtkraft des gesunden Menschenverstands zurück.

George Steiner, Von realer Gegenwart

Januar

20. Januar

Jedes kleine Mädchen ist auf seine Weise unglücklich, und ich war es sehr. Vielleicht lag es an der Heirat meines Bruders, die mich im Alter von sechs Jahren völlig aus der Bahn warf, oder an meiner ziemlich archaischen Mutter, vielleicht auch ein bisschen an provinziellem Mobbing von der Sorte »Heute darfst du mitspielen, morgen nicht«.

Seit ich die Buchhandlung eröffnet habe, hat es kein Interview gegeben ohne die Frage: »Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Buchhandlung in einem gottverlassenen Nest mit hundertachtzig Einwohnern aufzumachen?«

Heute habe ich viele Päckchen gepackt. Eine Frau aus Salerno begeht den Valentinstag so: Der einen Tochter schenkt sie eine Ausgabe der Gedichte Emily Dickinsons, den Emily-Dickinson-Kalender und »Emily«, ein Parfum auf der Basis von Osmanthus Absolue, der anderen Tochter ebenfalls einen Band von Emily Dickinson, den Emily-Kalender und ein handgemachtes Armband aus Rosenblüten und Gipskraut. Damit nicht genug, möchte die Signora für sich selbst das Herbarium der allzeit geliebten Emily sowie den Kalender.

Wie bin ich auf diesen Einfall gekommen? Die Dinge fallen einem nicht plötzlich ein, sie reifen, sie gären, beschäftigen uns im Schlaf. Die Dinge haben Beine und begeben sich auf eine parallele Wanderschaft in einem Bereich, von dem wir nicht mal annähernd wissen, wo er sich befindet, und irgendwann klopfen sie an: Hallo, hier sind wir, deine Ideen, hör uns zu. Die Idee mit der Buchhandlung schlummerte bei mir sicher schon in den Winkeln dieses ebenso düsteren wie fröhlichen Bereichs, den wir Kindheit nennen.

So wurde sie vielleicht vom Fall Lavorini angeregt, dem ersten Mord an einem Kind, an den ich mich erinnere, ein Junge, gefunden in den Dünen von Viareggio. Nachmittags hörte ich oft eine Hörspielversion des Dramas bei meinem Großvater, der einen Kassettenrekorder besaß. Nicht, dass Nonno Tullio so fortschrittlich gewesen wäre, aber meine Tanten waren es, modern und ausschweifend (so hieß es im Dorf). Zwar war mir ihre Fortschrittlichkeit auch ein bisschen peinlich, aber ich himmelte sie an.

In der anderen Waagschale, was die Tanten betraf, gab es Zia Polda, die Schwester meiner Mutter, Bäuerin von Beruf, eine herzensgute Frau, die nie geheiratet hatte und stolz darauf war. Ich verbrachte Stunden damit, ihre Strickjacke auf- und wieder zuzuknöpfen, ein Vorwand, um auf ihrem Schoß sitzen bleiben und ihren Geschichten zuhören zu können. Dann war da noch Zia Feny, mit vollem Namen Fenysia, Haushälterin bei fremden Leuten, zierlich und stark, schüchtern und klug, die mir ihre von der Herrschaft geschenkten Bücher mitbrachte und mich in die Lektüre von Romanen einführte.

Ihr zu Ehren habe ich die Schreibschule benannt, die ich vor ein paar Jahren zusammen mit meinem Partner Pierpaolo gegründet habe – Fenysia. Bildung und Talent zu pflegen schien mir genauso notwendig zu sein, wie eine gute Minestrone nach ihrer Art kochen zu können.

Die Geschichten dagegen, die meine Mutter erzählte, hätten sogar einen Dinosaurier aus dem Pleistozän umgehauen. Eine ihrer Lieblingsstorys handelte von einem Mädchen, das unter einem Baum einschlief, während seine Mutter auf dem Feld arbeitete. Da kam eine große Schlange und kroch der Kleinen in den Hals … An dieser Stelle verzeichnet mein Gedächtnis einen gesunden Blackout, der wohl retten sollte, was zu retten war und was lange Zeit später Doktor Lucia während einer zehnjährigen Psychoanalyse bearbeiten sollte.

Das Dorf war klein, und ich liebte es. Ich malte den Berg vor unserem Haus im Frühling, Sommer, Herbst und Winter, als wäre es der Kilimandscharo. Das Anderswo, würde ein Philosoph sagen, ist dort, wo du noch nie gewesen bist. Und ich bin bis heute nicht auf dem Berg gegenüber gewesen. Ich liebte den Reif auf den Feldern, er schien mir aus Kristall zu sein wie das Schloss von Dornröschen. Außerdem liebte ich die Ameisen, wie mühselig sie ihr Leben fristeten. Tja, wenn man in einem Haus ohne Heizung und ohne Bad wohnt und einem die Augen, die Hände und sogar die Ohren vor Kälte kribbeln, ist es irgendwann normal, dass man auf seltsame Gedanken kommt.

In diesem einleitenden Familienbild fehlt der Vater. Er fehlte mir tatsächlich sehr, und wenn er sich an mein Bett setzte, das sich oft wie mein Krankenlager anfühlte, hörten meine Augen, meine Hände und die Ohren auf zu kribbeln, und die Welt wurde wieder anschaubar.

Dieses Tagebuch beginne ich zufällig am 20. Januar, dem Datum, an dem Büchners Lenz einsetzt und das Paul Celan, der am 22. Oktober 1960 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde (neun Jahre, fünf Monate und neunundzwanzig Tage, bevor er sich vom Pont Mirabeau in die Seine stürzte), bei der Verleihung in den Mittelpunkt seiner Dankesrede stellte.

Denn Daten sind wichtig, und jeder von uns hat seinen 20. Januar, an dem Lenz alles zurücklässt und aufbricht. Am 20. Januar 1943 brach auch der erste Mann meiner Mutter auf. Er hatte zusammen mit den anderen überlebenden Alpenjägern den Befehl bekommen, die Stellungen am Don aufzugeben und sich zurückzuziehen. Der Epilog des Russlandkriegs, der allein in jenen Tagen 51 000 Soldaten das Leben kostete, Tote und Vermisste zusammengerechnet. Es waren 40 Grad unter null, und viele hatten noch nicht einmal mehr Schuhe. Meine Mutter war vierundzwanzig Jahre alt, ihr Mann achtundzwanzig, mein Bruder sechs Monate. Die Familie, die es nie richtig gegeben hatte, zerbrach in der Nähe von Woronesch, wo der Dichter Ossip Mandelstam in der Verbannung lebte, bevor er in ein sibirisches Lager gebracht wurde und dort starb.

Du lass mich frei, Woronesch, gib mich wieder –

Lässt du mich los oder verpasst mich lieber,

Du lässt mich fallen, nicht? Du Rabennest,

Woronesch – Netz, Woronesch – wahre Pest!

Meine Mutter wartete und wartete, aber es kam keine Nachricht von ihrem Mann, als hätte ihn die Steppe verschluckt. Stattdessen gab es eine Kriegshinterbliebenenrente für die Ehefrauen von Vermissten.

Mandelstam hatte mich in die Steppe mitgenommen, noch bevor ich wusste, dass es dieselbe Steppe war, wegen der meine Mutter geweint hatte. Die offiziellen Verlautbarungen über die Gefallenenlisten endeten am 23. Januar 1943, danach nichts mehr.

Derweil habe auch ich alles zurückgelassen, eine der schönsten Städte der Welt, eine beneidenswerte Arbeit, eine tolle Wohnung nahe der Biblioteca Nazionale, und bin in mein Heimatdorf aufgebrochen, um nachzusehen, ob die Schlange verschwunden ist und ob das Mädchen unter dem Baum nicht zufällig die gerade eingeschlafene Alice im Wunderland ist.

Bestellungen heute: Der Widersacher von Emmanuel Carrère, Kleine Aussichten. Ein Roman von Mädchen und Frauen von Alice Munro, City Boy von Edmund White, Ein Start ins Leben von Anita Brookner, Zwischen den Akten von Virginia Woolf, Miss Island von Auður Ava Ólafsdóttir.

21. Januar

Die Idee mit der Buchhandlung hat, schon voll ausgereift, eines Nachts an meine Tür geklopft. Es war der 30. März 2019. Ich besaß ein abschüssiges Stück Land vor unserem Haus, auf dem meine Mutter Salat zog und ich an einem zwischen zwei altersschwachen Pfählen befestigten Draht die Wäsche aufhängte. Geld hatte ich wenig, ich musste mir etwas einfallen lassen.

Als Kind hatte ich einen riesigen Dachboden für mich allein. Das Haus spiegelte meine Familie wider, halb heimelig und halb im Chaos versunken. Wenn man hineinkam, war da die Küche und rechts davon ein großes Zimmer, das meine Mutter mithilfe eines grünen Vorhangs mit großen rosa Schleifen (zu der Seite hin, die, je nach Tagesform, mein Zimmer oder mein Krankenlager war) zweigeteilt hatte. Auf der linken Seite außerdem ein kleines Wohnzimmer, originalgetreu im Stil der Siebzigerjahre eingerichtet, mit Tisch, Stühlen und Kommode aus Spanplatten und dermaßen blitzsauber, dass es noch künstlicher wirkte, als es war. Es gab noch zwei Türen: Die eine führte in den Keller, einen Ort, der meine Analyse bei Doktor Lucia um mindestens zwei Jahre verlängert hat und wo vermutlich sämtliche seit grauer Vorzeit existierenden Horrormärchen geschrieben worden waren. Die andere ging auf den Dachboden.

Dabei gab es eine Besonderheit. Der erste Treppenabschnitt bestand aus unverputzten Lochziegeln, eine Arbeit, die mein Vater kurz nach unserem Einzug in das Haus begonnen hatte, doch nach der Kehre war Schluss damit, und es ging über eine jahrhundertealte Holztreppe weiter nach oben. Die väterliche Liebe war abgebrochen. Jedes Mal, wenn ich dort hinaufstieg, betete ich, dass die Stufen halten und ich nicht in den Abgrund stürzen möge, in das Nichts, wo mich gewiss die ewige Schlange erwartete.

Diese zweigeteilte Treppe, Zeichen einer angefangenen und dann aufgegebenen Arbeit, war die Startrampe für meine Träume. Wenn ich um die Ecke gebogen war und diese verdammten fünf baufälligen Stufen hinter mir hatte, befand ich mich in Sicherheit. Ich hatte es geschafft. Ich war in meinem Reich. Dort oben unterrichtete ich eine imaginäre Schulklasse, jedes Kind mit einem Heft vor sich, und korrigierte als Lehrerin meine eigenen Hausaufgaben von vor ein, zwei Jahren. Oder ich las in meiner persönlichen Bibel, dem Wissenslexikon Conoscere aus dem Fabbri-Verlag, zwölf Bände plus vier Anhänge. Von dem ist sogar mein Modegeschmack bis heute geprägt. Es gab allein drei der römischen Fußbekleidung gewidmete Seiten, von denen ich regelrecht besessen war – ich kaufte mir zwei Paar Römersandalen mit bis zum Knie geschnürten Riemen, eines in Gold und eines in Schneeweiß. Ich war ungefähr zwölf, in Lolitas Alter. Ansonsten wurden in der Enzyklopädie sehr ernste Themen behandelt:

Die Carbonari-Bewegung

Der heilige Franziskus von Assisi

Vom Holz zum Papier

Rom erobert Tarent

Giuseppe Mazzini

Reformation und Gegenreformation

Die Rachenmandeln

Leonardos Genie

Dante

Die fünf Tage von Mailand

Textilpflanzen

Japan

Allein zu erfahren, dass die Frauen bei den Carbonari »Base Gärtnerin« genannt wurden, bereitete mir ungeheures Vergnügen. Es war, als hätte ich eine Zeitmaschine, ich schlug eine Seite auf, drückte den Knopf, und weg war ich, anderswo, an meinem Lieblingsort. »Wir fragen sie nicht ab, sie macht uns Angst«, sagten die Lehrerinnen in der Grundschule zu meiner Mutter, die mittlerweile die Geschichte mit dem eingeschlafenen Mädchen und der Schlange durch Bannflüche aller Art ersetzt hatte. Denn mein Vater hatte sich davongemacht.

Jetzt packe ich die Päckchen für die Frau aus Salerno und ihre beiden Töchter fertig. Deshalb bin ich auf den Einfall gekommen, eine Buchhandlung in einem Dörfchen in der nördlichen Toskana aufzumachen, inmitten der Berge, zwischen dem Prato Fiorito und den Apuanischen Alpen: damit eine Mutter aus Salerno ihren beiden Töchtern zwei bunte Schachteln voll Emily Dickinson schenken kann.

Bestellungen heute: Petite von Edward Carey, Unsere Seelen bei Nacht von Kent Haruf, Im Hause Longbourn von Jo Baker, All Things Cease to Appear von Elizabeth Brundage, Die Mitford Sisters von Karlheinz Schädlich.

22. Januar

Einer der Vorteile meines neuen Lebens ist es, den Regen aufs Dach trommeln hören zu können. In der Stadt muss man aus dem Bett aufstehen und die Vorhänge aufziehen, um zu sehen, wie das Wetter ist. Hier dagegen sagt es einem der Körper. Das sanfte Geräusch des Regens, wie Diana Athill es in einer ihrer Kurzgeschichten nennt, gleicht in meinem Dorf einer Stimme, mal sanfter, mal kräftiger, die mir etwas zuflüstert. Heute Morgen jedoch hat das Festnetztelefon geklingelt, und eine andere, vollkommen ausdruckslose Stimme hat uns eine Unwetterwarnung mitgeteilt, mit Gefahr von Überflutungen und Erdrutschen. Das ist ein Problem für die Buchhandlung, denn bei schlechtem Wetter haben die Leute keine Lust, sich eine schmale Bergstraße hinaufzuwagen.

Lucignana liegt 500 Meter über dem Meeresspiegel, eine ideale Lage, weil es nie zu kalt oder zu heiß wird. Es wurde um das Jahr 1000 herum gegründet, ist ganz aus Naturstein gebaut und hatte einst eine Wehranlage mit einer Mauer und einer Burg, die wohl eher ein größeres Haus war. Nach dieser Burg heißt ein Teil des Dorfs heute noch Castello.

In Lucignana geht man entweder nach Castello oder auf die Penna, nach Scimone, nach Varicocchi, auf die Piazza, auf den Piazzolo oder nach Sarrocchino, Verschleifungen inklusive. Scimone war ursprünglich San Simone, Sarrocchino San Rocchino.

Heute wohnt Mike in Castello, ein supersympathischer Engländer, Soldat im Ruhestand, der Afghanistan und wer weiß was sonst noch durchgemacht haben muss. Er bringt mich zum Lachen, weil er sich einen Pool im Garten gebaut hat und im Sommer dort rumläuft, wie Gott ihn geschaffen hat, zum Entsetzen der Dorfbewohner. Wenn ich ihn besuche, knotet er sich, bevor er vor einem der schönsten Ausblicke der Welt einen Spritz nach Art des Hauses zubereitet – das heißt Aperol mit jeder Menge Schweppes –, hastig ein Handtuch um und läuft unter lauter »Sorrys« ins Haus, um sich ein Paar Shorts überzuziehen.

Sein Haus hat wirklich den schönsten Blick von allen, direkt auf die Apuanischen Alpen mit ihren feuerroten Sonnenuntergängen, die den Eindruck vermitteln, dass die gerade hinter der Panie-Gruppe versunkene Sonne nun langsam in die Wasser der Versilia-Küste eintaucht.

An diesem Ort wollte ich vor einigen Jahren mal ein Haus für Schriftstellerinnen und Übersetzer aufmachen. Zusammen mit meiner Freundin Isabella, wie ich eine hart arbeitende Frau in der Verlagswelt, fantasierte ich monatelang davon, doch schlussendlich wurde nichts daraus. Das Haus, das einmal Leo und Evelina Menchelli und ihren Kindern Antonio und Roberta gehörte, ging in die Gemeinde der Engländer über. Ich mag die Engländer in der Toskana sehr, um das klarzustellen, denn sie kaufen, restaurieren behutsam und verbessern folglich dort, wo wir in der Vergangenheit nur verschlechtert haben. Mike hat im oberen Stockwerk jede Menge wunderbarer Bücher in englischer Sprache und mir ein paar von Dorothy Parker und Silvia Plath geschenkt.

Das Haus hat er bereits von anderen Engländern übernommen, er hatte es eigentlich für seine Frau gekauft, die jedoch kurz danach starb. Sie war es, die gesagt hatte: »We didn’t buy a house, but a view.« Eines schönen Tages kam Mike in die Buchhandlung, setzte sich hinten im Garten in einen der himmelblauen Adirondack-Stühle und fing an, Jedermann von Philip Roth zu lesen. Er zog das Buch aus seinem Rucksack, zusammen mit einem Aperitifglas, in das er aus einer Thermosflasche seinen Aperol Spritz mit viel Schweppes goss. Eine Art Mary-Poppins-Rucksack mit allem, was man braucht.

Bestellungen heute: Die Früchte der Gelassenheit: Was ein Garten lehren kann von Pia Pera, Miss Austen von Gill Hornby, alle Holt-Romane von Kent Haruf und Diario delle solitudini von Fausta Garavini.

23. Januar

Die Vorhersage des Zivilschutzes hat sich bestätigt, es hat den ganzen Tag geregnet und gestürmt. Soll heißen, der Regen ist nicht senkrecht vom Himmel auf die Erde gefallen, sondern kübelweise gegen die Fenster geplatscht und häufig auch eingedrungen. Zuerst hatte ich Giovanni die Schuld gegeben, dem Schreiner, der die Fensterläden und -rahmen erneuert hat, aber wie es scheint, kann man gegen Starkregen mit Sturm nichts machen. Ich muss pausenlos an mein kleines Cottage voller Bücher denken. Ich weiß, dass sie unter Kälte und Feuchtigkeit leiden, sie frösteln, und manchmal wellen sich die Umschläge, ein deutliches Zeichen ihres Unwohlseins, ihrer Angst, verlassen zu werden. An sonnigen Tagen dagegen, wenn wir sogar die Tür offen lassen können, sehe ich sie lächeln und mir danken.

Mich um sie zu kümmern ist mein neuer Job. Ich habe rund fünfundzwanzig Jahre in der Buchbranche gearbeitet und mich um viele Autorinnen und Autoren gekümmert, aber das war etwas anderes, sie wurden mir vom Verlag anvertraut, ich suchte sie mir nicht selbst aus. Ich las sozusagen im Auftrag. Tatsächlich hatte ich eine gewisse Karriere gemacht, gekrönt von dem Angebot, die Presseabteilung eines großen Verlagshauses in Mailand zu leiten. Doch das Angebot kam zu spät. Meine Tochter Laura war noch klein, und mir graute davor, in Mailand zu leben. Ich lehnte ab. Der helle Wahnsinn. Dann wurde das Angebot dahingehend geändert, dass ich außerhalb des Verlagshauses arbeiten konnte, und das gefiel mir. Stempeluhren und feste Arbeitszeiten waren nichts für mich, die Anarchistin in mir wollte unregelmäßig leben. Von da an betreute ich die verschiedensten Schriftsteller und fühlte mich vom Glück verwöhnt, unter anderen lernte ich Daša Drndić, Edward Carey und Michael Cunningham kennen.

Michael ist ein unheimlich gut aussehender Mann. Einmal übernachtete er während des Literaturfestivals von Mantua in einem fürstlichen Zimmer direkt an der Piazza delle Erbe. Ich sollte mich mit ihm an einem Morgen für ein längeres Fernsehinterview treffen, doch er erschien nicht. Mithilfe der Putzfrauen gelang es mir, in den Palazzo hineinzukommen. Wir versammelten uns vor seinem Zimmer, doch es war nichts zu hören, vollkommene Stille dort drin. Nach einigem Beratschlagen klingelten wir. Wir warteten, klingelten noch mal, es regte sich noch immer nichts. Selbst ich, die ich immer positiv denke, befürchtete langsam das Schlimmste. Nach weiteren Beratungen beschlossen wir hineinzugehen. Was ich sah, werde ich nie vergessen. Durch das halb offene Fenster fiel ein Sonnenstrahl herein, der Michaels Körper streichelte. Er schlief selig und nackt unter einem weißen Laken in einem, gelinde gesagt, prunkvollen Bett. Ich musste an Giovan Battista Marino denken, an seine Venus, die zum ersten Mal den schlafenden Adonis sieht und sich in ihn verliebt.

Rosa, riso d’amor, del ciel fattura

Rose, Liebeslächeln, Geschöpf des Himmels

Einmal, es muss im Juni 2014 gewesen sein, war Cunningham im Valdarno bei Baronessa Beatrice zu Gast, der Witwe des österreichischen Schriftstellers Gregor von Rezzori. Wir feierten die aktuelle Vergabe des nach von Rezzori benannten Literaturpreises in ihrem schönen Garten mit den weißen Rosenbäumen. Auch meine Tochter Laura und ihre Freundin Matilde waren dabei.

»Komm mit, ich zeig dir den schönsten Schriftsteller der Welt«, sagte Laura.

»Okay, aber macht euch keine Illusionen, ich sag euch gleich, dass er schwul ist!«, rief ich ihnen nach.

Wenn zwei dreizehnjährige Mädchen unbedingt dem schönsten Schriftsteller der Welt begegnen wollen, obwohl der ungefähr vierzig Jahre älter ist als sie, gehört das meiner Meinung nach zu den gelungensten Wundern der Literatur.

In der Buchhandlung habe ich immer eine Ausgabe von Die Stunden, Ein Zuhause am Ende der Welt, Helle Tage und Fleisch und Blut vorrätig. Und in diesem Moment, bei diesem Regen, hoffe ich, dass auch diese Bücher wie Adonis und wie Michael in Mantua selig schlafen, in Erwartung der Sonne, des Frühlings und der Rosen.

Heute wurden bestellt: Tagebuch eines Buchhändlers von Shaun Bythell und Die Weisheit meines Gartens: Wie die Natur mich lehrte, worauf es am Ende ankommt im Leben von Pia Pera.

24. Januar

Heute habe ich meinen Vater zum Augenarzt gebracht. Er wohnt allein, geht auf die neunzig zu, und sein Hobby ist es, La Nazione zu lesen. Die Vorstellung, er könnte bald nicht mehr sehen, bedrückt mich so sehr, dass ich ihn bei der ersten Gelegenheit zur Kontrolle geschleift habe. Das Problem ist der Sehnerv des linken Auges, den er bei der letzten Ischämie verloren hat. Er müsste rosa sein, ist aber weiß, sagt der Arzt. Ich würde am liebsten einen Elektriker rufen wie Luigi, der die Elektrik im Cottage neu installiert hat, und ihn bitten, diesen Sehnerv auszutauschen, ein Verbindungsstück aus einem seiner kleinen Drähte einzusetzen, denn es sollte doch wohl möglich sein, einen Sehnerv zu reparieren, oder? Nein, ist es anscheinend nicht. Papa aber hat sich nicht entmutigen lassen, meinte sogar, der Arztbesuch sei gut verlaufen. Er bekommt eine neue Brille, und dann kann er wieder die Zeitung lesen.

Mein Vater hat viel mit der Buchhandlung zu tun. Er ist es, der mir mit fünf Jahren das Schreiben beigebracht hat, sodass ich mit sechs schon kurze Briefe an Tante Feny schreiben konnte, die damals als Haushälterin in Genua arbeitete. Papa ist wie alle hierzulande in eine arme Familie hineingeboren worden, als ältestes von sechs Kindern: Rolando, Valerio, Aldo, Maria Grazia, Valeria und Rina. Einer exzentrischer als der andere.

Mein Vater ist Jahrgang 1931 und war während des Kriegs aktiv wie ein erwachsener Partisan. Er hörte Radio London und bezeichnete sich als Antifaschist. Im Dorf waren alle Antifaschisten, da ist Lucignana eine rühmliche Ausnahme. Keinerlei Ehrerbietung gegenüber den Mächtigen, wer auch immer sich aufgeblasen in irgendeiner Rolle präsentiert, steht letztlich da wie die gelehrten Ärzte in Pinocchio. Als Volltrottel. Es heißt, Lucignana sei weit und breit der einzige Ort gewesen, in dem während des Faschismus niemand in der Partei war. Einmal kamen kleine Parteibosse aus der Stadt in ihren Faschistenmänteln, doch trafen sie im Dorf niemand an. Alle hatten sich auf den Feldern, in den Hütten und Scheunen versteckt, und nix war’s mit Parteibuch.

Papa ist sehr stolz auf diesen Wesenszug von uns und strahlt immer, wenn er seine Erzählungen mit dem 8. September beendet, mit der Verkündung des Waffenstillstands durch General Eisenhower über die Mikrofone von Radio Algerien und wenig später durch Maresciallo Badoglio über die Mikrofone des italienischen Staatssenders EIAR. Der Waffenstillstand mit den Alliierten besiegelte die Abkehr vom deutschen Nazismus, und das war für ihn, den damals Zwölfjährigen, eine wunderbare Nachricht. In Lucignana liefen alle zusammen und zündeten ein großes Freudenfeuer auf dem Canovaglio-Hügel an, damit die unten im Tal, wo sie scharenweise in die Partei eingetreten waren, es auch sahen.

Doch für den kleinen Rolando sollte das Schlimmste noch kommen. Es sollte der Moment kommen, in dem eine Geschichte aufhört, Geschichte zu sein, und zur offenen Wunde der eigenen Familie wird.

Es war Anfang September, kurz nach Badoglios Bekanntgabe des Waffenstillstands, als die evakuierten Familien begannen, nach Hause zurückzukehren. In Lucignana gab es eine Familie aus Terzoni mit vielen Kühen und Kochtöpfen, die alles zusammenpackte, um wieder ins Tal hinunterzuziehen. Sie baten Aurelio Moriconi um Hilfe, einen Dörfler um die fünfzig. Der Moriconi, wie er allgemein genannt wurde, willigte ein, und wie es sich so ergab, nahm er den kleinen Rolando und den noch kleineren Valerio mit. Die beiden Brüder waren bestimmt glücklich, sich nützlich machen und wie Erwachsene fühlen zu können. Im Tal angekommen, stieß die Gruppe auf ein Hindernis. Der Fluss Serchio musste überquert werden, doch es gab keine Brücken mehr. Zum Glück waren da die brasilianischen Soldaten, die nicht nur Zigaretten und Kaugummi verschenkten, sondern auch überall mit anpackten. Sie bauten ein Floß aus Baumstämmen und begannen als Erstes, die Kühe überzusetzen, die immer abrutschten und wieder hinaufgeschoben werden mussten, verängstigt wie die Hühner beim Anblick des Fuchses. Kurzum, es war kein Ausflug, wie ihn der kleine Rolando und der noch kleinere Valerio sich vorgestellt hatten.

Schließlich kommen sie an die Reihe, der Moriconi will mit den beiden an der Hand auf das Floß steigen und hört auf einmal ein Getöse. Es ist weder ein Flugzeug noch ein Panzer, es ist Wasser. Wasser, das mit irrsinniger Geschwindigkeit heranströmt und alles mit sich reißt. Die Deutschen haben einen Deich weiter nördlich gesprengt, und die Wassermassen wälzen sich auf die Flussmündung zu. Der kleine Rolando weicht zurück und sieht alles mit an. Die Soldaten springen ins Wasser, bekommen etwas zu fassen. Es ist Aurelio Moriconi. Seine Hand ist leer, die Hand des noch kleineren Valerio ist fort.

Man fand ihn drei Monate später bei Diecimo, etwa zehn Kilometer flussabwärts, aufgehalten von einer Panzersperre. Der kleine Rolando ging in jener Nacht nicht nach Hause, und es gab keine Nächte mehr für ihn ohne Schmerz und Trauer.

Deshalb denke ich, dass der kleine Rolando das Augenlicht nicht verlieren darf: Er muss stets die Tagesnachrichten lesen und nach einer Lösung suchen. Die Geschichte wiederholt sich, und wenn er zur Stelle und bereit ist, kann er vielleicht für ein anderes Ende sorgen.

Heute gab es keine Bestellungen, und ich habe die Zeit genutzt, um Warum das Kind in der Polenta kocht von Aglaja Veteranyi zu Ende zu lesen.

25. Januar

Heute nach der Sonntagsmesse sind die Kinder von Lucignana in die Buchhandlung gekommen. Sie als Gruppe kommen zu sehen ist immer eine besondere Freude. Für sie machen wir das alles letztendlich, für diese unsichtbare Brücke, die unsere Kindheit mit ihrer verbindet. Ich bin damals die halb steinerne, halb hölzerne Treppe hinaufgestiegen, um zum Dachboden zu gelangen, wo ich mich von einem kleinen, aus Schlamm und Ängsten bestehenden Geschöpf in einen freien Menschen verwandelte, der in den Büchern sich selbst suchte. Ich glaube, wenn ich den Dachboden nicht gehabt hätte, wäre ich gestorben, vielleicht unter einem Baum mit einer Schlange im Hals.

An diesem Ort bewahrte ich die Schätze meiner Kindheit auf: Mäntelchen, Hefte, Märchenbücher, Schulbücher, Kleider, geschickt von Verwandten in Amerika (die ich nicht kannte), und auch einen Talisman. Das war der Koffer meines Vaters, in den meine Mutter, wie ich vermute, wutentbrannt seine im Haus verbliebenen Sachen geworfen hatte. Ich öffnete ihn jeden Tag, untersuchte die Schuhe, die Baumwollunterhemden, die Hemden. Ich wusste nicht, ob dieser Koffer mir meinen Vater zurückbringen würde, aber ich wusste, dass er den Schmerz fernhielt. Papa war da, und er beschützte mich.

Lucignana sucht noch nach seinem Dachboden. Die Eröffnung der Buchhandlung am 7. Dezember 2019 war ein Ereignis. Die Lehrerinnen an den Schulen im nahen Ghivizzano haben mir erzählt, welchen Stolz plötzlich sogar schwierige Kinder wie Alessio und Matteo an den Tag legten. »Wir haben eine Buchhandlung!« Dieses kleine Dorf, das bis vor Kurzem sogar vielen Bewohnern der Nachbarorte nichts sagte, war auf einmal im Fernsehen, in den Zeitungen, in aller Munde. Es wurden Busfahrten organisiert, die Leute kamen von weither, aus Reggio Emilia zum Beispiel oder Vicenza, manche sogar mit dem Camper, jedenfalls kamen sie scharenweise aus der ganzen Toskana und den angrenzenden Regionen. Covid gab es noch nicht, das heißt, es gab es, aber wir wussten nichts davon.

Heute haben wir die Kinder, eingemummelt in Schals und Mützen, durch den Garten herbeiströmen sehen. Sofia, eine kleine Blonde mit blauen Augen, hat Little Women gekauft, das sie ihrer Freundin zum Geburtstag schenken will, ihr Bruder Paolo, ebenfalls blond und blauäugig, ein Buch über Piraten, die kleine Anna Wanda Walfisch von Davide Calì und Sara Alice im Wunderland mit den Zeichnungen von Tenniel. Wenn sie mit ihren Büchern unterm Arm wieder hinaushüpfen, bin ich jedes Mal gerührt.

Unter ihnen sind auch Emma und Emily. Sie Seite an Seite durchs Dorf gehen zu sehen, macht auf mich immer den Eindruck, als hätten sie im Vergleich zu den Übrigen einen anderen Schritt. Emily weiß das und kauft jedes Jahr den Emily-Dickinson-Kalender. Sie hat das Märchenschloss betreten.

Dann ist da Angelica, zwölf Jahre alt. Angelica ist Leserin. Angelica ist pure Leidenschaft. Sie macht Rhythmische Gymnastik, ist ein Strich in der Landschaft. Und sie kommt oft in die Buchhandlung, um auszuhelfen. Eines Tages hat sie den Kinderbuchklassiker Sussi e biribissi gekauft, geschrieben von Carlo Collodis Enkel.

»Das Buch erinnert mich an meine Nonna«, hat sie gesagt.

Sie liebt alles aus dem Florentiner Schreibwarengeschäft Elinor Marianne, die Hefte, Notizbücher, das Vademecum der Leserin. Von Elinor Marianne gibt es zwei wunderbare Notizbücher: Bücher, die ich gelesen habe und Bücher, die ich lesen möchte. Angelica hat sie natürlich beide.

Angelica, das bin ich, die ich endlich ohne Angst in meine Kindheit zurückkehre. Denn die Kindheit ist eine Falle, sie hat Hässliches und Schönes, man muss eben den Zauberstab finden, um das eine in das andere zu verwandeln. Jetzt habe ich meine Kutsche voller Bücher, mir geht es gut.

Dabei fällt mir die Nachricht ein, die mir Vivian Lamarque, eine meiner Lieblingslyrikerinnen, geschickt hat: »Wie schön! Was für eine tolle Idee von Dir! Wie die Schreibhütte der Woolf auf dem Land, aber der Woolf als kleinem Kind, vier oder fünf Jahre alt …«

Heute wurden bestellt: Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann von Sylvia Townsend Warner und Wetter von Jenny Offill.

26. Januar

Die ausdruckslose Stimme vom Zivilschutz hat sich wieder gemeldet. Sie kündigt einen Temperatursturz für die Nacht an, mit Glatteis auf den Straßen als Folge. Ich komme mir vor wie in David Lynchs Twin Peaks, irgendwo zwischen den USA und Kanada. Doch hier in Lucignana ist Laura Palmer in Sicherheit und hat eine Buchhandlung eröffnet. Sie hat sie aus Holz gebaut, wie das zweite Haus bei den drei Schweinchen.

Vor einigen Jahren ist ein Buch des damals ganz jungen Emanuele Trevi mit dem Titel Istruzioni per l’uso del lupo – Gebrauchsanleitung für den Wolf – erschienen. Ein Büchlein von wenigen Seiten, aber einzigartig gehaltvoll. Ich könnte die Buchhandlung damit tapezieren. Im Grunde, schreibt er, kann man gegen den Wolf nichts machen. Der Wolf kommt und verwüstet unser Haus in jedem Fall. Ein Hoch also auf das erste Schweinchen, das dem Atemstoß der Angst nichts als zerbrechliche Strohhalme entgegensetzt.

Die Buchhandlung allerdings konnte ich nun wirklich nicht aus Stroh bauen. Also habe ich Valeria angerufen, eine befreundete Architektin aus Florenz mit englischem Lebenspartner in Lucca, die schon meine anderen Behausungen restauriert und wieder zum Leben erweckt hat. Ich habe sie gebeten, einen Holzbau zu planen.

Valeria ist zu uns hinaufgekommen, und als sie sah, wo ich diese kleine wolfssichere Festung bauen wollte, fing ihr Gesicht an zu leuchten. Sie liebt Herausforderungen, ist eine Architektin, die immer eine Lösung findet. Ich habe mich vor einer Wand mit Probeanstrichen in sie verliebt, uns gefiel immer derselbe Farbton. Drei meiner Domizile gingen daraufhin durch ihre Hände, und wir waren uns immer einig. Gedeckte Farben, Unfarben-Farben, Schönheit auf den zweiten Blick und sehr viel Licht.

Hier aber gab es ein abschüssiges Grundstück von zweieinhalb Metern Breite, das zu einem Hang mit weiteren lawinenartig aufeinanderfolgenden Terrassengärtchen voll schiefer Olivenbäume abfiel. Darauf sollten ein Cottage und ein Garten entstehen. Wir hatten starke Verbündete: Liebe und Träume.

Ich postete Fotos von Ecken in englischen, französischen, holländischen Buchhandlungen, Gartenwinkel mit provenzalischen Liegen, ich postete Gartentörchen, Türgriffe, Stühle, Lampen, Espressotässchen, Teelichter, Treppen voller Blumentöpfe, ich postete Blumen und Schachteln, glaubte fest an die Kraft des Details. Während die arme Valeria es mit Geologen, Ingenieuren, Eisenträgern zu tun hatte, schickte ich ihr um drei Uhr nachts Bilder von blumengesäumten Pfaden und Elfenhäuschen.

An dem Tag, als der Schreiner auf der Eisenplattform, die das Fundament des entstehenden Buchladens erweitern sollte, die Holzpfeiler aufpflanzte und man die Wände und die Decke erahnen konnte, waren wir glücklich wie die Kinder. Das zweite Schweinchen war also gar nicht so faul, und außerdem hatte es Sinn für Ästhetik, denn das Holzhaus ist das schönste. Das hat Emanuele Trevi nicht geschrieben. Ich muss es ihm sagen.

Mit dem anderen aber hatte er recht, der Wolf kommt früher oder später, und auch zu der Hütte am Hang sollte er bald kommen.

Bestellungen heute: Diese schönen Tage. Ausgewählte Gedichte von Patrizia Cavalli. In comode rate von Beatrice Zerbini.

Ende der Leseprobe