Ein Garten voller Sommerkräuter - Julie Leuze - E-Book

Ein Garten voller Sommerkräuter E-Book

Julie Leuze

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Miriam steht mit Anfang vierzig vor den Trümmern ihres Lebens: Ihr Mann hat eine andere, ihre erwachsene Tochter braucht sie nicht mehr, und ihr Haus wurde bei der Scheidung verkauft. Wie soll es jetzt weitergehen? Da Miriam nichts mehr zu verlieren hat, fasst sie endlich den Mut, einen alten Traum zu verwirklichen. Sie lässt alles hinter sich, um im südenglischen Devon einen Neuanfang zu wagen. Im hübschen Reedcombe mit seinen weißen reetgedeckten Häusern spürt Miriam sofort: Hier will sie bleiben. Ihr Weg in ein neues Leben ist voller Hindernisse – aber auch voller Chancen auf ein neues Glück ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 309

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Miriam steht mit Anfang vierzig vor den Trümmern ihres Lebens: Ihr Mann hat eine andere, ihre erwachsene Tochter braucht sie nicht mehr, und ihr Haus wurde bei der Scheidung verkauft. Wie soll es jetzt weitergehen? Da Miriam nichts mehr zu verlieren hat, fasst sie endlich den Mut, einen alten Traum zu verwirklichen. Sie lässt alles hinter sich, um im südenglischen Devon einen Neuanfang zu wagen. Im hübschen Reedcombe mit seinen weißen reetgedeckten Häusern spürt Miriam sofort: Hier will sie bleiben. Ihr Weg in ein neues Leben ist voller Hindernisse – aber auch voller Chancen auf ein neues Glück …

Informationen zu Julie Leuze sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Julie Leuze

Ein Garten

voller Sommerkräuter

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe August 2017Copyright © 2017 by Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagfoto: FinePic®, MünchenRedaktion: Karin BallauffBH · Herstellung: ikSatz: KompetenzCenter, MönchengladbachISBN: 978-3-641-18363-9V003www.goldmann-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Susanne

Prolog

Sommer 1955

Phyllis schritt langsam durch den Garten.

Er stand in voller Blüte, und normalerweise machte dieser Anblick sie glücklich. Doch William war krank und Phyllis von Glücksgefühlen weit entfernt.

Ihre Fingerspitzen strichen über den goldbestäubten Salbei. Er hatte nicht geholfen, ebenso wenig wie die Mädesüß-Blüten oder der Holunder. Nicht einmal die starken Abkochungen der Weide, deren Rinde Phyllis im Frühjahr von den jungen Zweigen geschält und sorgfältig getrocknet hatte, zeigten irgendeine Wirkung: William ging es von Tag zu Tag schlechter.

Phyllis hatte Angst um ihn, und zum ersten Mal, seit sie ihre Gabe entdeckt hatte, fühlte sie sich macht- und hilflos.

»Gib nicht auf«, wisperte es ihr zu. »Hab Geduld.«

Erstickt antwortete Phyllis: »Aber ich habe keine Zeit.«

Zwischen den hohen Purpursonnenhüten, deren kräftige Farben William so liebte, ließ sie sich ins Gras sinken.

»Dann hör genauer hin«, raunte es um sie herum. »Du weißt doch, dass du uns vertrauen kannst.«

Konnte sie das?

Phyllis schluckte.

Die Dorfbewohner hatten Zweifel in ihr Herz gesät.

»Man muss seine Grenzen kennen«, sagten sie beim Bäcker, und »es ist eben doch nicht gegen alles ein Kraut gewachsen«, seufzten sie beim Fleischer. »Bei Schnupfen und Halsweh sind deine Kräuter gut, aber doch nicht bei einer solchen Krankheit«, empörten sie sich nach der Kirche. »Meine Güte, Phyllis. Bring William endlich ins Krankenhaus.« Miss Rosing, die Haushälterin des Pfarrers, hatte ihr gestern sogar zugezischt: »Wenn dein Mann stirbt, ist das ganz allein deine Schuld, du Hexe.«

Phyllis legte sich auf den Rücken und schloss gequält die Augen. Die Grashalme unter ihren Händen kitzelten, als wollten sie Phyllis aufheitern und zum Lachen bringen. Doch wie konnte sie lachen, wenn sie eine solche Entscheidung zu treffen hatte?

»Bitte, lass mich hierbleiben«, hatte William sie angefleht, bevor er wieder in den Fieberschlaf gesunken war, der ihn nun beinahe ständig umfing. »Lass mich nicht im Krankenhaus sterben, Liebste.«

Da war sie aus dem Cottage geflohen. Hatte William der Obhut seiner Mutter Jane anvertraut, die gekommen war, um nach ihrem kranken Sohn zu sehen, und hatte Trost in ihrem Garten gesucht.

»Was soll ich nur tun?«, flüsterte Phyllis. »Bei allem, was mir lieb und teuer ist, was soll ich tun?«

Und da gaben sie ihr endlich die Antwort.

Phyllis atmete stoßartig aus. Sie öffnete die Augen und erhob sich aus dem Gras, und Hoffnung durchströmte sie wie eine warme Welle.

»Danke«, hauchte sie.

Dann ging sie zurück ins Cottage, lächelnd, im unverbrüchlichen Wissen, dass William gesund werden würde. Ihr war nun klar, welche Medizin ihr Mann so dringend für seine Genesung benötigte, und sie wollte nur rasch Korb und Schere holen, um sich sofort ans Sammeln und Verarbeiten der Kräuter zu machen.

Doch da fiel ihr ein, dass sie keinen Alkohol mehr hatte, um die Tinktur anzusetzen. Sie musste ins Dorf, um ein Fläschchen zu kaufen. Nur gut, dass Williams Mutter noch da war und über ihn wachte.

»Ja, geh du ruhig«, sagte Jane zu Phyllis. In ihren Augen lag ein merkwürdiger Schimmer. »Geh nur. Ich passe gut auf meinen William auf.«

Ein mulmiges Gefühl beschlich Phyllis. Doch sie konnte es sich nicht leisten, ihr Unbehagen näher zu ergründen, denn die Zeit drängte. William war zu krank, sie durfte einfach nicht länger warten. Wenn die Medizin helfen sollte, musste er sie noch heute zu sich nehmen.

Also eilte Phyllis ins Dorf und kaufte den Alkohol für die Tinktur.

Als sie mit erhitzten Wangen zurückkehrte, war es still im Cottage.

Zu still.

»William?«, rief Phyllis beunruhigt. »Jane?«

Niemand antwortete ihr. Als sie zu ihrem Mann ins Schlafzimmer hasten wollte, entdeckte sie den Zettel auf dem Wohnzimmertisch.

»Phyllis, ich habe deine Abwesenheit genutzt und meinen Sohn ins Krankenhaus bringen lassen. Wenn du nicht vernünftig sein willst, muss ich es eben sein. Jane.«

»Nein!«, flüsterte Phyllis, und ihr wurde schwarz vor Augen.

Die Flasche mit dem Alkohol glitt ihr aus der Hand, zerschellte auf dem Boden und zersprang in tausend Scherben.

März

Die Küchenschelle (Pulsatilla vulgaris) ist die Blüte der Verlassenen und wird seit jeher mit der traurigen, weinenden Frau assoziiert. Gleichzeitig steht die Küchenschelle für den Neuanfang, wohl weil sie zu den schönsten Blumen des Frühlings zählt.

Aus: Devons umfassende Kräuterfibel (vergriffen)

2015

Das Dörfchen Reedcombe lag rund zwanzig Meilen vom Flughafen Exeter entfernt, und da der Überlandbus erst in zwei Stunden fahren würde, leistete Miriam sich ein Taxi. Schweigend saß sie auf dem Beifahrersitz. Draußen ging mit pechschwarzen Wolken und peitschendem Regen die Welt unter, und Miriam zuckte bei jedem Donnerschlag zusammen.

Ihr weißhaariger Chauffeur hingegen schien Kummer gewöhnt zu sein. Stoisch lenkte er das Taxi durch den Sturm. Dass die enge, von Hecken gesäumte Straße teilweise überflutet war und eher an ein Bachbett erinnerte denn an eine Fahrbahn, schien ihm keinen Kommentar wert zu sein.

Devon im März.

Was für eine absurde Idee …!

Miriam seufzte. Sie ärgerte sich über sich selbst. Hätte sie mit ihrer Reise nicht noch ein bisschen warten können, zumindest bis zur Apfelblüte? Aber nein, sie hatte ja unbedingt gleich zuschlagen müssen, als sie das Angebot auf der Website von Ivystone Manor entdeckt hatte.

Es hatte einfach zu verführerisch geklungen. »Feiern Sie mit uns den Frühling und lassen Sie sich verwöhnen – den ganzen März über zu höchst attraktiven Preisen. Genießen Sie entspannt unsere ausgezeichnete Küche, die geschmackvoll eingerichteten Zimmer und den weitläufigen Park. Ivystone Manor und das malerische Dörfchen Reedcombe erwarten Sie!«

Zwölf Regentage pro Monat, kaum vier Sonnenstunden pro Tag und eine Höchsttemperatur von lausigen zehn Grad Celsius. Kein Wunder, dass Ivystone Manor seinen Gästen die Übernachtungen im März hinterherwarf. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, so spontan und unüberlegt zu buchen? Nun würde sie zwei Wochen lang hier festsitzen, allein, in Kälte und Regen, und sie würde sich noch nicht einmal in Ausflüge flüchten können. Denn wegen des Linksverkehrs traute Miriam sich nicht, ein Auto zu mieten, und um wie früher als Studentin zu trampen, fühlte sie sich zu alt.

Sie hätte zu Hause bleiben sollen.

Aber jetzt die Flinte ins Korn werfen, bevor sie auch nur in ihrem Hotel angekommen war? Diese Reise würde toll werden! Schließlich hatte es auch Vorteile, in der Nebensaison unterwegs zu sein. Zum Beispiel beim Sightseeing. Die Museen waren bestimmt wunderbar leer. Diese Vorstellung war ermutigend.

Sie wandte sich an ihren Fahrer. »Sagen Sie, gibt es in Reedcombe ein Museum?«

Der alte Mann warf ihr ein nachsichtiges Lächeln zu. »Selbstverständlich nicht.«

Miriams Lächeln erstarb.

»Aber es gibt die Village Hall«, erklärte er würdevoll. »Dort finden regelmäßig kulturelle Veranstaltungen statt und Yoga und Meditation.«

»Meditation«, wiederholte Miriam schwach, und der Fahrer hob die buschigen Brauen, die wie sein Haupthaar schlohweiß leuchteten.

Miriam fragte sich, ob es eine Altersbegrenzung für den Taxischein gab. Es sah nicht so aus.

»Sie haben’s wohl nicht so mit dem stillen Rumsitzen?«, erkundigte sich der Fahrer. »Ich auch nicht, das können Sie mir glauben. Meine Frau hingegen schwört darauf. Sie ist es, die in der Village Hall diese Kurse gibt, wissen Sie?«

Er zwinkerte ihr zu. »Na ja. Zum Glück haben wir in Reedcombe ja auch noch das Black Horse.«

»Ein Pub?«, riet Miriam.

»Richtig. Und ein sehr gutes noch dazu.« Der Fahrer unterstrich seine Worte mit einem energischen Nicken. »Sie können aber auch reiten, wenn Ihnen das lieber ist als ein gepflegtes Bier. Ihr Hotel hält Araberpferde, wussten Sie das? Oder Sie besichtigen Rebeccas Hundeinternat. Ich kenne niemanden, der davon nicht begeistert ist.«

Ein Internat für Hunde?

Willkommen in England, dachte Miriam schmunzelnd.

Vorerst bekam sie jedoch weder Rebeccas Hundeinternat noch das Black Horse zu sehen. Ivystone Manor lag nämlich etwas außerhalb von Reedcombe, und der schnellste Weg dorthin führte um das Dorf herum. Sie fuhren durch eine sanfte Hügellandschaft. Eichenhaine wechselten sich mit Wiesen und Pferdekoppeln ab, und vor einem schlossähnlichen Gebäude hielten sie schließlich an.

Neugierig öffnete Miriam die Tür, stieg aus und blieb in Wind und Regen neben dem Auto stehen.

Was für ein schönes Hotel! Selbst unter dem schwarzen Gewitterhimmel wirkte Ivystone Manor mit seinen hellen Sandsteinmauern, den efeuumrankten Fenstern und den Rosensträuchern ringsum heiter und romantisch. Wie hübsch musste es erst im Juni aussehen, wenn die Rosen in voller Blüte standen. Doch auch jetzt gefiel es Miriam, und ihre Stimmung hob sich.

Vielleicht war es doch kein Fehler gewesen hierherzukommen.

In diesem Moment bog ein gut aussehender junger Mann mit schwarzem Regenschirm um die Ecke. Er erblickte sie, hielt kurz inne und eilte dann auf sie zu.

»Herzlich willkommen auf Ivystone Manor«, sagte er und hielt den Schirm über sie. »Thomas mein Name. Hatten Sie eine gute Anreise, Mrs …?«

»Weiden. Ja, vielen Dank.« Miriam erwiderte sein Lächeln. »Trotzdem bin ich froh, jetzt angekommen zu sein.«

»Und auch gleich im Warmen«, versprach der junge Mann, bevor er sich an den Taxifahrer wandte. »Bob, würdest du das Gepäck der Dame rasch ins Trockene bringen?«

»Geht klar«, antwortete der Fahrer.

Bob also, dachte Miriam.

»Sie kennen einander?«, fragte sie ihren Chauffeur.

»Sie sind nicht der erste Gast, den ich nach Ivystone Manor fahre«, erklärte der Taxifahrer. »Außerdem arbeite ich zwar in Exeter, weil in Reedcombe kaum jemand mal ein Taxi braucht, aber ich wohne im Dorf, schon seit über sechzig Jahren. Da kennt man sich eben und …«

»Bob, das Gepäck«, unterbrach der junge Mann leise den Redefluss des Fahrers. Er warf einen besorgten Blick auf Miriams nassen Koffer.

»Ja, ja. Bin ja schon unterwegs«, brummte der Taxifahrer.

Erstaunlich leichtfüßig setzte er sich mit dem Gepäck in Bewegung. Miriam folgte ihm, während Thomas weiterhin den Schirm über sie hielt. Ein Mann, der ihren Koffer trug, und einer, der sie vor dem Regen schützte: So viel Zuvorkommenheit war Miriam nicht gewöhnt. Es machte sie verlegen, und fast war sie froh, als sie hinter Bob durch die hohe Haustür eintrat und Thomas den Regenschirm zuklappte.

Nachdem sie Bob entlohnt und er sich verabschiedet hatte, sah Miriam sich in der Hotelhalle um. Der große Raum war mit üppigen Blumenarrangements geschmückt. In einem steinernen Kamin prasselte ein Feuer, und aus goldenen Bilderrahmen blickten vornehme Damen und Herren aus vergangenen Jahrhunderten auf sie herab. Alles wirkte altehrwürdig, aber zugleich behaglich, und hatte Miriam ihre Spontaneität vorhin noch verflucht, so beglückwünschte sie sich nun dazu. Sie hätte es mit ihrem Hotel nicht besser treffen können. Ivystone Manor war ein Schmuckstück.

Die junge Dame an der Rezeption – dem Schildchen am Revers nach hieß sie Carrie – begrüßte Miriam freundlich lächelnd und händigte ihr den Zimmerschlüssel aus.

»Sie wohnen im Lilienzimmer, Mrs Weiden«, sagte sie mit einer glockenhellen Stimme. »Wenn Sie sich noch eine Sekunde lang gedulden wollen? Ich rufe sofort jemanden, der Ihnen das Gepäck trägt und Sie zu Ihrem Zimmer führt.«

»Nicht nötig«, mischte Thomas sich ein, »das kann ich machen.«

Carries große blaue Augen weiteten sich erstaunt. »Sie? Aber …«

»Schon gut«, winkte der junge Mann ab und griff nach Miriams Koffer. »Kommen Sie, Mrs Weiden. Zum Lilienzimmer geht es hier entlang.«

Carrie sagte nichts mehr, wirkte jedoch regelrecht verstört.

Interessant, dachte Miriam, dass die Zuständigkeiten in diesem Hotel so streng geregelt sind. Jedenfalls schien es nicht zu Thomas’ Pflichten zu gehören, den Gästen ihre Koffer zu tragen. Umso netter, dass er ihr trotzdem seine Hilfe angeboten hatte. Miriam beschloss, ihm später ein besonders großzügiges Trinkgeld zu geben.

Über lange Flure und knarzende Holztreppen führte der junge Mann sie durch das Hotel. Als Miriam nach ihm das Zimmer betrat, leuchteten ihre Augen auf. Da stand ein Himmelbett, cremeweiß bezogen. An seinem Fußende befand sich in typisch englischer Manier ein gemütliches Sofa. Vor dem Fenster war ein antiker Sekretär platziert. An den Wänden hingen, passend zum Namen des Zimmers, künstlerische Fotografien von Lilienblüten. Der Gesamteindruck war …

»Hinreißend!«, rief Miriam aus und strahlte Thomas an, der sie lächelnd beobachtet hatte. Ihr fiel ein, dass sie ihm noch ein Trinkgeld schuldete. Rasch kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie und zog einen Schein heraus. Doch bevor sie ihn Thomas in die Hand drücken konnte, wehrte dieser ab.

»Das ist nicht nötig, Mrs Weiden.«

Miriam runzelte energisch die Stirn. »Aber ich bitte Sie, Thomas. Sie haben schließlich meinen Koffer bis hierher geschleppt!«

Die grauen Augen des jungen Mannes blitzten amüsiert auf. Ohne das Geld anzunehmen, wünschte er Miriam einen schönen Aufenthalt, verabschiedete sich und ließ sie allein.

Konsterniert blickte Miriam von der Tür, die er hinter sich geschlossen hatte, auf den Geldschein, den sie immer noch zwischen den Fingern hielt. So wunderschön Ivystone Manor auch war, der Chef dieses Ladens musste ein wahrer Sklaventreiber sein. Nicht einmal ein Trinkgeld durften seine Angestellten annehmen? Wo gab es denn so etwas?

Kopfschüttelnd machte sie sich ans Auspacken.

In der Nacht lag Miriam wach.

Am Abend hatte sie im hoteleigenen Restaurant wunderbar gespeist, und sie war zu Bett gegangen mit der Überzeugung, dass das alles doch schon mal sehr gut angefangen hatte.

Nun aber wälzte sie sich schlaflos hin und her, denn allein in ihrem romantischen Himmelbett fielen ihr die vielen schönen Urlaube ein, die sie gemeinsam mit ihrer Familie verbracht hatte, mit Jürgen und Annabel.

Warum war Jürgen nicht bei ihr? Sie gehörten doch zusammen. Sie hatten doch immer zusammengehört …

Miriam hielt die Augen fest geschlossen, wollte Jürgen aus ihren Gedanken vertreiben und den Schlaf herbeizwingen, doch an beidem scheiterte sie kläglich. Also versuchte sie es mit bewusstem Entspannen. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach den Übungen aus der progressiven Muskelentspannung, die sie gelernt hatte, als Annabel im Trotzalter gewesen war. Doch auch das half nicht. Ihr brach der kalte Schweiß aus. Da war sie endlich in ihrem Traumurlaub, und es regnete nicht bloß Katzen und Hunde, sondern sie quälte sich auch noch mit Schlafstörungen herum. Was, wenn sie mal wieder die ganze Nacht nicht zur Ruhe käme, und morgen Nacht auch nicht? Was, wenn sie immer nur daran denken musste, dass Jürgen und seine Patrizia selig schlummerten, glücklich mit der Welt und noch glücklicher miteinander, während es Miriam nicht einmal am Ort ihrer jahrelangen Sehnsucht gut ging? Vielleicht entwickelte sie ja eine Depression, jetzt, wo die Scheidung durch war, ihre Tochter ausgezogen und sie selbst unendlich einsam. Oder steckte sie etwa schon mittendrin?

Miriam hatte sich immer bemüht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie wollte niemanden mit ihren düsteren Gefühlen nerven, und so versteckte sie Resignation und Trauer für gewöhnlich hinter einem Lächeln. Doch jetzt war niemand da, vor dem sie sich verstellen musste, und unter der Last der stummen, nächtlichen Schwärze tapfer zu bleiben war auf einmal zu viel. Die Tränen liefen ihr über die Wangen.

Ach Jürgen. Es hätte niemals enden dürfen mit uns. Wir wollten doch gemeinsam alt werden, erinnerst du dich nicht? Warum musstest du dich verlieben? Nach all der Zeit? Da kann man doch nicht einfach so gehen und sich in eine andere verlieben wie ein hormongesteuerter Teenager!

Leider doch. Jürgen hatte es gekonnt.

Langsam verwandelte Miriams Trauer sich in heiße Wut. Herrgott, dann schlief sie eben nicht. Dann lag sie eben wach, wälzte sich in diesem blöden Himmelbett herum und heulte ihrem Exmann hinterher. Wen kümmerte es, ob sie wachte oder schlief, ob es ihr gut ging oder beschissen? Ihn bestimmt nicht, den Mistkerl.

Verdammter, untreuer Mistkerl!

Sie tastete auf dem Nachttisch nach einem Taschentuch und schnäuzte sich kräftig. Ein weiteres Mal verwünschte sie Jürgen voller Inbrunst, und weil das erstaunlich guttat, machte sie gleich mit Patrizia weiter. Sie zischte Beschimpfungen vor sich hin, kramte in ihrem Wortschatz nach den unflätigsten aller Beleidigungen und schlief schließlich erschöpft und mit einem Fluch auf den Lippen ein.

»Du, ich und das Baby«, hatte Jürgen damals zärtlich zu ihr gesagt, »wir werden ein wundervolles Leben zusammen haben.«

Miriam hatte ihrem Mann ein verliebtes Lächeln geschenkt. Ihrem Mann. Wie schön sich das anhörte!

Seit zwei Tagen waren sie verheiratet, und obwohl Miriams Bauch sich schon kräftig rundete, hatten sie ihre Hochzeitsreise bisher fast ausschließlich im Bett verbracht. Draußen regnete es in Strömen. Venedig war nass, buchstäblich überall.

Sie schauten einander in die Augen. Jürgens waren grün, sie hatten fast dieselbe Farbe wie Miriams. Schon bei ihrer ersten Verabredung hatten sie darüber gescherzt, dass das ein Zeichen sein müsse: Miriam und Jürgen waren füreinander bestimmt.

Ein Jahr zuvor war das gewesen. Hals über Kopf hatten sie sich ineinander verliebt, sie, die 21-jährige Studentin der Anglistik, und er, der fünf Jahre ältere Arzt, der gerade seine erste Anstellung im Krankenhaus hatte. Jürgen brannte für seinen Beruf, war immer für die Patienten da, und das hatte Miriam von der ersten Sekunde an imponiert. Sie selbst hatte ihr Studium mehr aus Verlegenheit gewählt. Sie liebte die englische Sprache, und Lehrerin zu werden erschien ihr als Zukunftsperspektive ganz passabel. Die Leidenschaft jedoch, mit der Jürgen seinem Beruf nachging, war ihr fremd. Sie würde fürs Geld arbeiten, nicht für die Selbstverwirklichung oder gar aus Altruismus.

Wie es aussieht, dachte Miriam und strich sich über ihren Bauch, werde ich vorerst überhaupt nicht arbeiten. Ich kann ja nicht einmal zu Ende studieren … nicht, bis unser ungeplantes Kind aus dem Gröbsten raus ist. Und danach? Ach, mal sehen!

Jürgen legte seine Hand auf ihre, und sie spürten beide, wie das Kind sich bewegte, eine federleichte Welle unter Miriams Bauchdecke.

Ergriffen sagte Jürgen: »Ich werde gut für euch sorgen, Miriam. Mein Leben lang. Das verspreche ich dir.«

»Ich liebe dich«, hauchte Miriam.

»Und ich liebe dich«, sagte Jürgen ernst. »Für immer.«

Knapp zwei Jahrzehnte später, an einem höhnisch sonnigen Tag im Februar, waren Miriam und Jürgen geschieden worden.

Danach hatte Jürgen sich hastig verabschiedet, froh, das Ganze hinter sich zu haben, und auch die Anwälte waren sofort nach dem Termin gegangen.

Nur Miriam blieb auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude stehen, blinzelte in die Wintersonne und wartete darauf, dass sie es begriff. Sie war nicht mehr nur eine betrogene und verlassene, sondern nun auch eine rechtskräftig geschiedene Frau.

Aber Miriam kam es so vor, als passierte das alles gar nicht ihr, und deshalb weinte sie auch nicht. Weder spürte sie Trauer darüber noch Zorn auf Jürgen noch Hass auf seine Neue. Sie verharrte einfach nur auf diesen Stufen – stumm, benommen und vollkommen allein.

Schließlich ging sie langsam die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg nach Hause.

Ihr Zuhause war jetzt eine kleine Zweizimmerwohnung, in der noch immer Umzugskisten herumstanden. In der Küche kochte Miriam sich einen Kaffee, setzte sich auf den Stuhl ans Fenster und starrte hinaus, ihre klammen Finger um die heiße Tasse gelegt.

Der Vorfrühling hatte begonnen, und im Garten der Vermieter blühten Krokusse, weiß, rosa, blassviolett. Schön sah das aus. Ob im Garten ihres Hauses wohl schon die ersten Tulpen aus der Erde spitzten? Miriam schloss die Augen. Es war nicht mehr ihr Haus. Längst wohnte eine andere Familie darin. Nicht daran denken. Am besten überhaupt nichts denken und vor allem nichts fühlen.

Denn nur so war es erträglich.

Es hatte bereits zu dämmern begonnen, als das Telefon die Stille zerriss. Miriam saß mit einem Johanniskrauttee auf der Couch, und immer noch gelang es ihr, so gut wie nichts zu fühlen. Der Tee schmeckte bescheiden, aber Barbara hatte ihn ihr empfohlen, und da Barbara nicht nur ihre Freundin war, sondern auch Apothekerin, trank Miriam gehorsam täglich drei Tassen.

Das Display zeigte Annabels Nummer.

»Du bist ja doch zu Hause!« Miriams Tochter klang besorgt. »Ach Mama. Ich habe dir doch gesagt, du sollst heute Abend ausgehen.«

»Dazu habe ich keine Lust, mein Schatz.«

»Aber wäre es nicht gut, wenn du dich ein bisschen ablenkst? Um auf andere Gedanken zu kommen?«

»Ich bin erst seit vier Stunden geschieden«, antwortete Miriam. »Für andere Gedanken ist es ein bisschen zu früh.«

Annabel zögerte.

Dann sagte sie leise: »Mama … Es geht dir schrecklich, oder?«

Die Traurigkeit in der Stimme ihrer Tochter schnitt Miriam ins Herz.

Annabel war neunzehn, studierte, hatte eine eigene Wohnung und einen festen Freund. Sie war erwachsen. Dennoch hatte Miriam das Gefühl, dass auch Annabel unter der Scheidung litt. Um ihre Tochter nicht noch mehr zu belasten, beschloss sie, die Wahrheit wieder einmal zu beschönigen. Nur ein wenig.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie leichthin. »Mir geht es gut. Ehrlich, das wird schon.«

»Na ja«, meinte Annabel vorsichtig. »Ihr lebt ja auch schon seit zwei Jahren getrennt, du und Papa.«

»Genau«, bekräftigte Miriam.

»Meldest du dich, wenn du mich brauchst? Ich kann auch vorbeikommen, Mama.«

Schon lag Miriam ein »O ja, gleich morgen?« auf der Zunge. Doch sie wollte auf keinen Fall eine dieser bedürftigen Mütter werden, die um die Gesellschaft ihrer erwachsenen Kinder betteln, und rasch winkte sie ab.

»Ach was, das brauchst du nicht.« Miriam bemühte sich, heiter zu klingen. »Ich muss Schluss machen, mein Schatz. Es hat geläutet.«

»Alles klar«, sagte Annabel. »Tschüss, Mama! Schön, dass du Besuch bekommst, dann bist du nicht so allein.«

Seit Jürgen fort war, war Miriam immer allein, ganz gleich in wessen Gesellschaft sie sich befand. Doch das sagte sie ihrer Tochter nicht.

Vor der Tür stand ihre Freundin Barbara. »Ich dachte, du brauchst vielleicht ein offenes Ohr«, sagte sie und hob eine Tüte in die Höhe. »Wein und Knabberzeug habe ich auch dabei.«

»Aber ich wollte doch …«

»… in aller Einsamkeit der Grübelei verfallen. Ja, ja, ich weiß.« Barbara schüttelte ihren rotgelockten Kopf und lächelte. »Lässt du mich trotzdem rein?«

Verdrossen betrachtete Miriam sich im Spiegel des Lilienzimmers.

Ihre fahle Haut erzählte deutlich von der schlechten Nacht, und die Fältchen um die Augen hatten sich schon wieder vertieft. Nun passte ihr Gesicht wenigstens zu ihrem Haar, in dessen Honigblond sich die ersten grauen Strähnen mischten.

Alles an ihr alterte.

Miriam wandte sich ab.

Auf dem Weg zum Frühstückssaal gähnte sie herzhaft, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Es gab schließlich niemanden, der sie dabei sehen konnte. Keinen Mann an ihrer Seite, keine Tochter. Und auch keinen anderen Hotelgast.

Anfang März schien auf Ivystone Manor wirklich nichts los zu sein. Im Restaurant war Miriam am Vorabend praktisch allein gewesen. Außer ihr hatten lediglich drei schweigende Ehepaare und ein älterer Herr dort gesessen – nichts im Vergleich zu den vollbesetzten Speisesälen, die Miriam von ihren früheren Urlauben her kannte. Aber Jürgen, Annabel und sie waren auch nie in der Nebensaison verreist, schließlich hatten sie sich nach den Schulferien richten müssen. Wie oft hatte Jürgen sich über die gepfefferten Preise in der Hochsaison geärgert … Ein bisschen geizig war ihr Mann schon manchmal gewesen. Umso verwunderlicher eigentlich, dass er sich ihr gegenüber jetzt so fair verhielt, zumindest in finanzieller Hinsicht.

Miriam runzelte die Stirn. Ob Barbara doch recht hatte, wenn sie sagte, dass …

»Guten Morgen, Mrs Weiden.«

Thomas’ dunkle Stimme riss sie aus ihren Grübeleien.

Sie atmete tief durch, verankerte sich wieder in der Gegenwart und antwortete: »Guten Morgen.«

Thomas sah beneidenswert gut aus, jung, ausgeschlafen und entspannt.

»Ich hoffe, unser Hausgespenst hat Sie nicht wachgehalten?«

Trotz ihrer trüben Stimmung musste Miriam lachen. »Was für eine nette Art, mir zu sagen, dass ich übernächtigt aussehe.«

»Aber nein, so meinte ich das nicht!« Er hob abwehrend die Hände. »Sie sind schön wie der junge Morgen.«

Na klar. Miriam verzog den Mund zu einem bemühten Lächeln und schwieg.

»Vielleicht hätten Sie ja Lust auf einen kleinen Gang durchden Park?«, fragte Thomas. »Ich könnte Ihnen die Narzissenwiese zeigen. Sie steht in voller Blüte, und das Wetter ist heute sehr schön.«

Das war Miriam noch gar nicht aufgefallen. Doch nun flog ihr Blick zum Fenster. Durch die noch kahlen Bäume blitzte verheißungsvoll die Sonne.

Thomas sah sie fragend an.

»Das ist ein sehr freundlicher Vorschlag«, sagte Miriam zurückhaltend. »Aber Sie werden doch bestimmt am Empfang gebraucht.«

Er grinste. »Oh, machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich bin sicher, dass meine Angestellten ganz gut ohne mich zurechtkommen.«

»Ihre … Angestellten?« Miriam starrte ihn an. »Dann arbeiten Sie gar nicht an der Rezeption oder … als …?«

»Nein, tut mir leid, Mrs Weiden. Ich bin der Geschäftsführer dieses Hotels. Verzeihen Sie bitte den Irrtum.«

Dieser Jungspund hier war der Geschäftsführer?

Miriam schluckte, als ihr die Szene vom Vorabend wieder einfiel. Sie hatte dem Geschäftsführer von Ivystone Manor ein Trinkgeld geben wollen … Kein Wunder, dass er so seltsam reagiert hatte.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht in Verlegenheit gebracht«, sagte Thomas höflich.

»Ich … nein, nein.« Miriams Wangen brannten. »Aber warum haben Sie denn meinen Koffer getragen, wenn Sie gar nicht …? Und Sie haben sich doch mit Ihrem Vornamen vorgestellt, Mr …?«

»Thomas. Dylan Thomas, wie der Dichter. Wobei ich es nicht so mit der Poesie habe, muss ich gestehen.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Bleiben wir doch einfach beim Vornamen, was meinen Sie? Ich bin Dylan, und du bist …«

»Miriam«, sagte Miriam schwach und schüttelte seine Hand. Erst gerade auf Ivystone Manor angekommen, und schon duze ich den Geschäftsführer, fuhr es ihr durch den Kopf.

»Nachdem das geklärt wäre, erlaubst du mir nun sicher, dich zur Narzissenwiese zu führen. Wann wäre es dir angenehm?«

»Ja, natürlich, danke«, stotterte Miriam. Sie war immer noch verwirrt, zumal Dylan ihr keine Antwort auf die Frage gegeben hatte, warum er ihren Koffer getragen hatte. »Hm, also … wie wäre es nach dem Frühstück?«

»Perfekt. In einer Stunde an der Rezeption?«

Miriam nickte, und Dylan Thomas schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, ganz so, als würde er sich tatsächlich darauf freuen, seinen neuen Gast durch den Park führen zu dürfen.

Ob das alles zum normalen Service von Ivystone Manor gehörte?

Wenn ja, musste der Arme Tag und Nacht beschäftigt sein.

Seite an Seite schlenderten sie durch den Park.

Miriam merkte, wie sie sich langsam entspannte, während Dylan sie mit seiner Plauderei unterhielt. Sie erfuhr, dass das Buchsbaumlabyrinth nach einem Plan aus dem 18. Jahrhundert angelegt worden war und dass der Rosengarten nur Sorten beherbergte, die besonders stark dufteten.

»Und was wächst hier?«, fragte sie, als sie an langen Beeten mit graugrünen Stauden vorbeikamen. »Ist das Lavendel?«

»Lavendel und Heiligenkraut«, nickte der junge Geschäftsführer. »Im Sommer strahlen diese Beete über Wochen in Gelb und Violett.«

»Das stelle ich mir schön vor.«

»Oh, das ist es! Du solltest einmal im Juni herkommen.« Dylan deutete auf eine Gruppe kahler Bäume. »Und natürlich im Oktober. Allein der Fächerahorn ist eine Reise nach Ivystone Manor wert. Sein Laub leuchtet im Herbst in einem unvergleichlichen Rot.«

»Dann bleibe ich am besten gleich ganz hier, was?« Miriam grinste. Dieser Dylan verstand es, seinen Gästen Lust auf Urlaub in seinem Hotel zu machen. Wobei das auch nötig zu sein schien, bedachte man, wie wenige Zimmer im Moment belegt waren.

Allmählich gelangten sie in den hinteren Teil des Parks. Er war wilder, da er im Stil eines Landschaftsgartens gehalten war. Ein blaugrünes Flüsschen mäanderte durch weite Wiesen, auf einem Hügel in der Ferne grasten schwarze und dunkelbraune Pferde. Miriam kniff ihre Augen zusammen. Das mussten die Araber sein, von denen der Taxifahrer gesprochen hatte.

»Magst du Pferde?«, erkundigte sich Dylan, der sie beobachtet hatte.

»Ja, ich bin sehr viel geritten. Allerdings ist das schon ewig her, ich weiß gar nicht, ob ich es noch könnte.«

»Möchtest du es ausprobieren, während du hier bist? Wir bieten Reitstunden an.«

»O nein, nein, nein!« Miriam lachte. »Ich bin nicht nach Devon gekommen, um mir den Hals zu brechen.«

»Mit dem richtigen Lehrer wirst du das auch nicht.« Dylan sah sie aufmunternd an. »Überleg es dir einfach.«

Es reizte Miriam schon, wieder einmal auf ein Pferd zu steigen. Zugleich aber hatte sie Angst, und so erwiderte sie bloß vage: »Mal sehen.«

Die Märzsonne hatte bereits Kraft, die Luft war frisch und klar, und beim Weitergehen atmete Miriam tief durch. Wie gut das tat! Sie sollte viel mehr hinausgehen in die freie Natur.

Zu Hause hockte sie manchmal von morgens bis abends in ihrer Wohnung, ohne mit irgendjemandem zu sprechen, sogar ohne irgendetwas zu tun. Stattdessen grübelte, grübelte und grübelte sie. Kein Wunder, dass Barbara ihr Johanniskraut empfohlen hatte! Miriam bemühte sich zwar nach Kräften, frohsinnig zu wirken, doch nicht immer mit Erfolg.

»Nur noch diese Anhöhe hinauf«, hörte sie Dylan sagen, »dann sind wir da.«

Neugierig folgte Miriam ihm die letzten Meter. Oben angekommen blickte sie in eine Senke hinab, und ihre Augen weiteten sich. Das ganze Tal wogte zitronengelb im Morgenwind – ein Meer aus Narzissen.

»Ich hoffe, ich habe dir nicht zu viel versprochen«, meinte Dylan zufrieden.

»Absolut nicht.« Miriam schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

»Die Seele atmet auf, wenn man in dieses Tal schaut, nicht wahr?«, fragte er.

Miriams Lächeln erstarb.

Spürte dieser junge Mann etwa, wie düster es in ihrer Seele aussah? Hatte er sich deshalb die Zeit genommen, sie hier hinaufzuführen?

Sie wandte sich ab und blickte wieder auf das Narzissenmeer.

Und wenn schon, fuhr es ihr durch den Kopf, dann spürt er es eben.

Langsam nickte sie.

Die Nacht nach ihrer Scheidung war lang geworden.

Miriam saß im Schneidersitz auf dem Sofa. Ihren Tee hatte sie gegen ein Glas Shiraz eingetauscht, und mittlerweile war sie ganz froh, dass Barbara sie zu später Stunde überfallen hatte, auch wenn ihr das zuerst überhaupt nicht recht gewesen war. Aber war es nicht lieb von der Freundin, dass sie sich Miriam zuliebe die Nacht um die Ohren schlug? Zumal Barbara unter chronischem Zeitmangel litt. Sie führte eine gutgehende Apotheke und war oft bis spätabends beschäftigt. Selbst ihr Freund bekam sie nur selten zu Gesicht, worüber er sich regelmäßig beschwerte, denn zu allem Überfluss pflegte Barbara diverse Hobbys. Dass sie daneben Zeit für Miriam fand, grenzte an ein Wunder.

Wenn Miriam sich mit Barbara verglich, musste sie zugeben, dass sie ihre Freundin beneidete. Sie schämte sich dafür, denn es war schließlich nicht Barbaras Schuld, dass bei ihr alles wie am Schnürchen lief, während Miriam vor den Trümmern ihrer Existenz stand.

Rasch trank sie einen Schluck Wein.

»Warum hast du nicht vorher angerufen?«, wandte sie sich an Barbara. »Dann hätte ich den Wein und das Knabberzeug besorgt. Aus dem Alter, in dem die Gäste sich ihre Chips und Cracker selbst mitbringen, sind wir ja eigentlich schon raus.«

»Wenn ich angerufen hätte, dann hättest du mich abgewimmelt. Ich kenne dich doch, Miri. Wenn es dir schlecht geht, verkriechst du dich.«

Damit hatte Barbara leider recht.

»Ich will halt niemandem zur Last fallen«, verteidigte sich Miriam.

»Mensch, Miri.« Barbara verdrehte die Augen. »Wann wirst du endlich begreifen, dass ich immer für dich da bin? In guten wie in schlechten Zeiten.«

Miriam seufzte. »Das ist beruhigend. Wenn mein Ehemann dieses schöne Versprechen schon nicht halten konnte, dann wenigstens du.«

»Wenigstens? Das habe ich jetzt aber mal überhört«, meinte Barbara entschieden. »Im Übrigen möchte ich dich doch sehr darum bitten, dass du mich nicht mit deinem Ex vergleichst.«

»Wieso nicht?«

»Wieso nicht? Weil er dich fallen gelassen hat wie eine heiße Kartoffel! Der benimmt sich wie aus einem Lehrbuch zur Midlife-Crisis. Mit so einem will ich nicht verglichen werden. Jürgen ist ein Arschloch.«

Miriam zuckte zusammen.

»Jetzt übertreib mal nicht«, sagte sie schwach. »Er hat sich schließlich weder ein Motorrad noch eine Freundin zugelegt, die seine Tochter sein könnte. Seine Neue ist immerhin Mitte dreißig, und abgesehen davon, dass er mich verlassen hat, benimmt Jürgen sich sehr anständig. Er zahlt mir jeden Monat eine ordentliche Summe, obwohl er das wirklich nicht müsste.«

»Na klar, weil er ein schlechtes Gewissen hat«, sagte Barbara verächtlich. Sie tippte Miriam mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Und du, meine Liebe, solltest das Arschloch nicht auch noch verteidigen.«

»Bitte nenn ihn nicht so«, sagte Miriam leise. »Sein einziges Verbrechen besteht darin, dass er sich verliebt hat. Findest du wirklich, dass ich ihm das zum Vorwurf machen kann?«

»Nachdem du für euer Kind dein Studium abgebrochen, auf eine eigene Karriere verzichtet und Jürgen fast zwei Jahrzehnte lang den Rücken freigehalten hast? Ja, Miri. Unbedingt.«

Miriam schwieg. Plötzlich wurde sie sehr müde. Barbara legte ihr den Arm um die Schulter, und Miriam lehnte sich an sie.

»Komm schon«, sagte Barbara sanft, halb mitleidig, halb aufmunternd. »Er hat es einfach nicht verdient, dass du seinetwegen jahrelang Trübsal bläst.«

Tu ich doch gar nicht, wollte Miriam widersprechen, mir geht es doch gut. Aber sie sagte es nicht. Stattdessen schloss sie die Augen.

»Mal ehrlich«, drängte Barbara nun, »findest du die Vorstellung nicht auch ein bisschen reizvoll? Neu anzufangen? Bei null zu starten, noch einmal ganz und gar frei zu sein? Das hat doch was, oder?«

»Nein«, flüsterte Miriam kläglich.

Sie wollte nicht von vorne anfangen, sie wollte ihr altes Leben zurück! Was Jürgen und sie sich aufgebaut hatten, hatte ihr vollkommen genügt. Miriam war zufrieden gewesen mit ihrer Ehe, sie war vernarrt in ihre kluge, hübsche Tochter, und sie hatte sich wohlgefühlt in ihrem Haus. Das Haus mit dem großen, wundervollen Garten, in dem Pfingstrosen und Rittersporn geblüht hatten, Fliederbüsche und Lavendel. Ihr ganzer Stolz war dieser Garten gewesen, ihre ganze Leidenschaft.

Sie begann zu weinen. Barbara schenkte ihr Wein nach, und Miriam trank das Glas in einem Zug leer. Doch nicht einmal das half. Die Welt blieb düster, und Jürgen liebte eine andere, und der Rotwein konnte daran nichts ändern, ebenso wenig wie Barbaras Umarmung oder ihre hilflosen Durchhalteparolen. Einem untreuen Schwein wie Jürgen dürfe man nicht nachweinen, sagte Barbara, schon gar nicht, wenn man eine so bezaubernde Frau sei wie Miriam, warmherzig und hübsch, was gäbe Barbara nicht alles für Miriams schöne grüne Augen und ihr seidiges honigblondes Haar …

Miriam glaubte ihrer Freundin kein Wort. Sie fühlte sich hässlich, alt und verbraucht, und deshalb trank sie weiter. Was sollte sie auch sonst tun? Als sie gegen vier Uhr morgens mit verquollenen Augen ins Bett fiel, schlief sie wenigstens auf der Stelle ein.

Doch keine Stunde später wachte Miriam wieder auf, mit bohrenden Kopfschmerzen, einem pelzigen Geschmack im Mund und geplagt von fürchterlichem Durst.

Stöhnend stieg sie aus dem Bett und goss sich in der Küche ein großes Glas Wasser ein. Im Gegensatz zu ihr hatte Jürgen sich bestimmt nicht mit Rotwein betrunken oder gar eine Träne vergossen, sondern mit Champagner angestoßen und gefeiert, seine Patrizia zuerst im Arm und später unter sich. Denn klar, mit der hatte er Sex!

Miriam wankte ins Wohnzimmer. Starrte auf die leeren Rotweinflaschen, die schmutzigen Gläser, die Flecken auf dem Sofa, die Krümel auf dem Couchtisch. Sah das dicke Buch auf dem Boden, das sie vor Monaten angefangen und noch immer nicht beendet hatte. Sah die braunblättrige Topfpflanze, die eingegangen war, weil Miriam vor lauter Kummer das Gießen vergessen hatte.

Und plötzlich begriff sie, dass sie so nicht weiterleben konnte.

Am nächsten Tag hatte Miriam sich ungeachtet ihres miserablen Zustands aufgerafft und die Wohnung verlassen.

Ziellos streifte sie durch die Stadt, trank Coffee to go gegen den Kater, was nicht half, und ging eine Runde um den See im Park, der zu dieser Jahreszeit einen eher trostlosen Anblick bot. Sie wartete auf eine Eingebung. Auf ein Zeichen.

Da beides ausblieb, versuchte sie es mit Vernunft. Wie sollte ihr Leben weitergehen, was könnte sie ändern? Denn dass sie etwas ändern musste, war ihr in der vergangenen Nacht klar geworden.

Sich bei einer Partnerbörse anzumelden, was Barbara nach dem vierten Glas Wein vorgeschlagen hatte, kam für Miriam nicht infrage. Aber vielleicht konnte sie sich endlich einen Job suchen. Dank Jürgens monatlicher Unterstützung war sie zwar nicht auf ein eigenes Einkommen angewiesen. Doch auf Dauer von ihrem Exmann abhängig zu bleiben war eine beklemmende Vorstellung.

Wobei sie, beruhigte Miriam sich, auch ohne Jürgens Zuwendungen nicht völlig mittellos war. Im Zuge der Scheidung hatten Jürgen und sie das Haus verkauft, und Miriam war die Hälfte des Erlöses zugesprochen worden. Außerdem hatte sie geerbt, denn ihre Eltern waren bereits tot. Sie starben kurz nacheinander, ihr Vater an Lungenkrebs, ihre Mutter an einem Schlaganfall. Es war keine geringe Summe, die nun auf Miriams Konto lag.

Doch dieses Geld war ihre Rücklage für später, deshalb hatte sie beschlossen, es nicht für Lebenshaltungskosten anzutasten.