Ein italienischer Sommer - Francesca Barra - E-Book

Ein italienischer Sommer E-Book

Francesca Barra

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Beschreibung

Caterina kann es nicht erwarten, der Enge ihrer Heimatstadt Matera zu entkommen und endlich etwas von der Welt zu sehen. Ihre Reise führt sie nach Rom, wo sie Pietro kennenlernt, für den sie schon bald mehr als nur Freundschaft empfindet. Immer mit dabei ist das Rezeptbuch ihrer Großmutter, das Caterina keinen Moment unbeaufsichtigt lässt, denn es enthält alles, woran sie sich so gerne erinnert — die Düfte ihrer Kindheit, das Gefühl eines nie endenden Sommers, glückliche Stunden in der heimeligen Küche. Als ihre Großmutter überraschend stirbt und ihr ein altes Strandhaus hinterlässt, muss Caterina eine folgenschwere Entscheidung treffen ...

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Seitenzahl: 276

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Buch

Caterina hatte seit jeher ein besonderes Verhältnis zu ihrer Großmutter. Von ihr hat sie die Liebe zum Kochen geerbt, und wenn die beiden gemeinsam in der Küche stehen, ist es, als wären sie beste Freundinnen, die alles miteinander teilen, Geheimnisse wie Rezepte.

Doch in Caterina keimt der Wunsch, der provinziellen Enge ihres Dorfes zu entfliehen und ein anderes Leben kennenzulernen. Sie will wissen, wie es ist, sich irgendwo fremd zu fühlen, sich in einer Großstadt zu verlieren. Also geht sie zum Studieren nach Rom, wo sie Pietro kennenlernt, einen reichen, gebildeten Studenten, der von ihrer Andersartigkeit angezogen ist. Caterina geht fest davon aus, den Mann fürs Leben gefunden zu haben und will sich gerade so richtig auf das Abenteuer einlassen, als sie eine Nachricht ereilt, die alles verändern wird …

Autor

Francesca Barra wurde in Policoro, einem Ort in der Provinz Matera, geboren. Sie arbeitet als Drehbuchautorin und freie Journalistin für Film, Fernsehen und Radio sowie für diverse Printmedien. Ein italienischer Sommer ist ihr erster Roman auf Deutsch.

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FRANCESCA BARRA

Roman

Deutsch von Esther Hansen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Verrà il vento e ti parlerà di me« bei Garzanti S.r.l., Milano.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Francesca Barra

License agreement made through Sosia & Pistoia

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hanne Hammer

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Getty Images / Verdina Anna

KW · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18453-7V001

www.blanvalet.de

PROLOG

In der Höhlensiedlung Sassi di Matera kursierte das Gerücht, wir müssten alle von hier weggehen. Eher früher als später. Und je fassbarer die Furcht der Erwachsenen wurde, desto öfter überboten wir Kinder uns in wilden Träumereien.

»Ich gehe nach Rom, die Hauptstadt der Welt! In Rom gibt es Häuser, die sind so hoch wie die Berge, die reichen bis in den Himmel!«

»Ach was, Rom! Die echten Wolkenkratzer stehen in Mailand … Da will ich hin, nach Mailand …«

»Und ich will nach Amerika! Wisst ihr, dass es in Amerika Autos gibt, die fliegen können? Mein Onkel hat gesagt …«

»Klar, Amerika … Warum fliegst du nicht gleich zum Mond? Oder in diese andere Stadt … nach Turin?«

Ich hatte nicht das geringste Interesse, mir weitere Ziele auszudenken. Ungerührt spielte ich mit meinem Stock, um den ich eine Radfelge kreisen ließ, aus der mein Vater die Speichen entfernt hatte, und wiederholte, damit auch jeder es hörte: »Niemals verlasse ich die Höhlen!! Nie, nie, nie! Hier bin ich zu Hause, hier gehe ich nicht weg …«

»Von wegen zu Hause. Man muss ja gar nicht bis nach Amerika, in Turin gibt es genug Arbeit für alle … Mein Onkel ist reich geworden dort! Das ist der schönste Ort auf der ganzen Welt! Kommst du mit?«, fragte mich mein Freund, der Nachbarsjunge.

»Niemals verlasse ich die Höhlen«, erwiderte ich.

Und er gekränkt: »Hab ich ja kapiert, aber was willst du hier? Wenn du hierbleibst, bist du nicht mehr meine Freundin. Du willst ja nur hierbleiben, um eine Hexe zu werden. Du glaubst ja sowieso, dass du eine Zauberin bist, mit Zaubertrank und so.«

»Was redest du da?«

»Meinst du etwa, ich sehe das nicht, wenn du die Suppenkelle in der Hand schwingst und mit geschlossenen Augen singst? Alle wissen das … dass es hier Magierinnen gibt, Hexen.«

»Umso besser, sollen sie doch denken, was sie wollen. Dich heirate ich sowieso nicht«, gab ich gereizt zurück, und setzte, um ihn zu ärgern und zu ängstigen, noch hinzu: »Ich habe nämlich im Kessel gesehen, dass du kein Glück haben wirst im Leben.«

Eine Frauenstimme unterbrach unseren Wortwechsel: »Teresì, komm rein, das Essen wird kalt … Teresì …«

Wenn es ums Essen ging, ließ ich mich nicht zweimal bitten.

Ich betrat die Tuffsteinhöhle, in der mein Vater Antonio mit seinen großen Fingern an einer fußbetriebenen Töpferscheibe den Lehm formte.

Es war eine richtige Töpferwerkstatt, in den Fels gehauen und eingerichtet mit eigenen Werkstücken, die von seiner großen Kunstfertigkeit erzählten: Amphoren, Teller, kleinere Skulpturen von Tieren und Menschen, Vasen, Krüge. Seine neuesten Kreationen standen in Reih und Glied zum Trocknen auf einem Holzbrett: Tonpfeifen, Teller, Schüsseln, ein Hahn mit stolzgeschwellter Brust. Ganz verzaubert betrachtete ich die Gebilde, die wie von selbst unter seinen Händen entstanden.

Mein Vater hob den Blick, fuhr noch einmal glättend über die Vase, an der er gerade arbeitete, wischte sich die Finger ab und bedeutete mir, ihm an den Tisch zu folgen.

»Pà, Mà … ich werde die Sassi niemals verlassen.« Meine Mutter lächelte und reichte mir die Cialledda, altbackenes Brot mit heißer Gemüsebrühe übergossen. Heute schwammen sogar ein paar Zwiebeln und Tomaten darin.

Dieses Gericht gab es bei uns fast immer. Manchmal kamen gefüllte Feigen hinzu, getrocknete Paprika, geröstete Brotreste oder Feldgemüse, außerdem Taralli und Zwiebeln.

Wir hatten Glück, denn meine Mutter war eine gute Köchin, so dass die anderen sie gerne um Hilfe baten für die zahlreichen Festessen oder Hochzeiten. Von diesen Anlässen brachte sie immer einen Korb verschiedenster Essensreste mit nach Hause. So wurde der Tag auch für uns zum Fest. Ich freute mich besonders über frittierte Kürbisblüten. Die mochte ich für mein Leben gern.

»Können die in Turin auch so gut kochen?«

»Was können die schon …«, brummte mein Vater mit vollem Mund.

»Ich wusste es!«, rief ich, bevor ich mich wieder hungrig über meinen Teller hermachte. »Ich will hier nicht weg.«

1. CATERINA

Tomaten einkochen

Der Sommer ist die beste Jahreszeit, um das Obst und Gemüse einzumachen, das man im Laufe des übrigen Jahres verzehren will. Der Vorteil dabei ist, dass man sich Zeit lassen kann, manchmal stundenlang.

Wir hatten uns im Hof meiner Großmutter Teresa versammelt zu einem Ritual, das allein den Frauen gehörte: das Einkochen der Tomaten. Ich, meine Mutter, meine Schwester Mary, Nonna Teresa und ihr Hausmädchen Cettina, die seit ewigen Zeiten bei ihr war.

Das Haus meiner Großmutter erhob sich neben einem alten Wachtturm, in den wir als Kinder immer hineingeschlichen waren, weil wir glaubten, er sei in Wirklichkeit ein Geisterhaus. Eng, feucht und dunkel. So sahen in der kindlichen Fantasie die Orte aus, an die sich die Toten zurückzogen. Doch von ihrem Hof aus, im Halbkreis auf den kleinen Weidenstühlen sitzend, war der Anblick alles andere als Furcht einflößend.

»Komm, wir gehen zur großen Schlange«, sagten wir immer, wenn wir von dem Haus unserer Großeltern sprachen. Für uns Enkel war es stets ein Ort des Rückzugs und der Flucht. Wenn wir mit unseren Eltern Streit hatten, bei Liebeskummer oder einfach, weil wir das Essen meiner Großmutter so liebten.

Jedenfalls hieß das Haus bei uns so, die große Schlange, auch wenn Nonna diesen Spitznamen überhaupt nicht leiden konnte. Doch im Laufe der Jahre hatte es so viele Veränderungen und Anbauten erfahren, als würde ihm ein Schwanz wachsen, Wände waren verschoben, Flure versetzt worden, je nach Anzahl der neugeborenen Enkel, so dass es wirklich an eine Schlange erinnerte.

»Aber eine liebe Schlange, nicht wahr, Nonna?!«, fügten wir hinzu.

Ich und meine Schwester saßen zwischen Schwanz und Rücken der Schlange und pellten Tomaten, die mit kochendem Wasser überbrüht worden waren; mit der Haut entfernten wir gleichzeitig auch die Samen. Meine Mutter zerkleinerte die Früchte, um sie in Flaschen zu füllen und, mit Lappen gegen den Glasbruch geschützt, in einem großen Topf zu kochen, damit sich ein Vakuum bildete. Nonna überwachte die Arbeiten ihrer Nachkommen und bereitete die Verschlüsse vor. Ich mochte es gern, sie in die Flaschenhälse zu schieben. Das Gerät, das ich dafür zu Hilfe nahm, klemmte ich mir zwischen die Beine und betrachtete das Ganze als Trainingseinheit für meine Arme. Faule Frauen wie wir lieben die Vorstellung, Sport zu treiben, wenn wir uns im Haushalt betätigen.

»Wenn ich das mache, flattert der Schmetterling«, kommentierte meine Mutter lachend die schlaffe Haut an ihren Oberarmen, die aufgrund ihres Alters hin und her schwang.

Signora Cettina wischte inzwischen auf Geheiß der Nonna jeden Tropfen auf, der danebenfiel. Für meine Großmutter musste der Ort, wo man »zu Werke« ging, peinlichst sauber sein, weil nichts die Arbeit beeinträchtigen durfte. Sie zwang uns, kleine Kopftücher zu tragen, nachdem sie uns die Haare mit gelben Gummis zurückgebunden hatte, die die Haare kaputt machten. Haushaltsgummis, wohlgemerkt, mit denen man sonst Tüten verschloss.

»Wenn eure Mutter einmal daran denken würde, sie euch zu Hause zusammenzubinden, müsste ich euch nicht damit quälen«, pflegte sie zu sagen, wenn wir uns unter dem Ziepen wanden.

Doch dabei erzählte sie die besten Anekdoten aus ihrer Vergangenheit.

»Könnt ihr euch vorstellen, dass meine Mutter für meine Schwiegermutter gekocht hat? Und sie, die ›Signora‹, hat vor anderen immer behauptet, sie habe alles selbst gekocht. Meine arme Mutter. Auch wenn wir dank ihrer Mühe die Arbeit auf dem Gut von Torremozza bekommen haben.«

»Aber Nonna, ist das denn nie aufgeflogen, dass sie gar nicht kochen konnte, deine Schwiegermutter?«

»Nie! Und ihr zwei Enkelinnen werdet das Kochen von mir lernen, so wie ich von ihr. Die Tradition muss weiterleben. Hauptsache, du setzt dir keine Flausen in den Kopf«, sagte Nonna an mich gewandt und sah mir dabei so fest in die Augen, als könne ihr Blick selbst das Brillengestell aus Schildpatt zu Staub zerfallen lassen.

»Was für Flausen fürchtest du denn?«

»Caterina, hör mir mal ganz genau zu! Denn eins will ich dir sagen: Dir wird doch nicht etwa einfallen, nach der Schule wegzugehen zum Studieren und nicht mehr zurückzukommen? Denn hier, hier in der Basilikata, gibt es Öl. Erdöl! Die jungen Leute, die hierbleiben, werden reich werden, viel reicher als die, die weggehen … Ich weiß gar nicht, wohin sie alle gehen. Man geht nicht weg von zu Hause. Und man lässt seine Eltern nicht einfach im Stich. Als die Sassi geräumt wurden, bin ich bei ihnen geblieben. Das habe ich immer gesagt, schon als Kind: Meine Grotten wollte ich nicht verlassen. Ich bin nicht in den Norden gegangen oder nach Amerika wie meine Freunde.«

»Aber aus der Felssiedlung bist du doch weg, nicht wahr, du bist von den Sassi nach Policoro gezogen …«, wandte meine Mutter zu meiner Verteidigung ein, während sie weiter Flaschen abfüllte.

»Aber ich bin in der Basilikata geblieben! Und habe dort meinen Liebsten gefunden … oh, was für ein Mann! Und das alles, weil ich mein Versprechen gehalten habe, nicht wegzugehen. Aber versuch du ruhig wegzugehen. Geh nur, geh, du kommst ja doch wieder zurück.« Dann stand sie auf und forderte mich auf, mit ihr ins Haus zu kommen. Als ich neben sie trat, sagte sie: »Caterì, ich muss dir ein Geheimnis verraten. Wenn du wirklich gehen willst, musst du diesen Sommer bei mir bleiben. Wir müssen ihn zusammen verbringen. Ich habe etwas für dich.«

Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und zog die Schublade der Anrichte auf, dann reichte sie mir einen Taschenkalender von 1990, uralt, mit dem aufgedruckten Logo einer Bank. Auf meine erstaunte Miene hin sagte sie: »Was macht es schon, dass er alt ist? Da sind so viele leere Seiten drin, sogar mit Datum. Von morgen an diktiere ich dir meine Rezepte, und du schreibst sie dort hinein.«

»Aber morgen will ich ans Meer, Nonna!«

»Ja, genau, und danach kommst du zu mir. Ich habe schon mit deiner Mutter gesprochen, diesen Sommer wohnst du bei mir, dann hast du es auch ein bisschen näher zum Strand.«

»Aber, Nonna …«

Doch sie sah mich so ernst an, als wolle sie mich mit ihrem Blick erschlagen. »Caterina, das ist kein Witz. Ich sage es dir im Guten, aber ich kann auch streng werden. Ich habe jahrelang viel für euch getan, jetzt bitte ich dich, etwas davon zurückzugeben.« Und dann fügte sie schnell hinzu, in der Hoffnung, mich zu überzeugen: »Du solltest dich geehrt fühlen, dass ich dich auserwählt habe und niemand anderen.«

Ich schwieg einen Moment, da ich tatsächlich nicht auf die Idee gekommen war, dass diese Bitte keine Pflicht, sondern eine Ehre sein könnte.

»Und warum ausgerechnet ich?«

»Weil du mir von allen am ähnlichsten bist. Und weil das vielleicht die letzten Worte sind, die ich hinterlasse.«

»Nonna, du machst mir Angst.«

»Ich höre die Stimmen. Sie kommen immer näher. Sie sprechen immer eindringlicher zu mir. Und sollte meine Stunde nahe sein, möchte ich, dass du meine Rezepte hast.«

»Welche Stimmen? Was sagen sie? Wovon redest du?«

»Sie rufen mich, flüstern meinen Namen. Und ich verjage sie. So, mit der Hand. Aber es hilft nichts. Es ist wie ein Summen. Du weißt, wie die Fliegen heute. So. Das muss man erst einmal aushalten. Und jetzt stell dir vor, sie könnten auch noch sprechen.«

Da gab ich meinen Widerstand auf und begann zu weinen.

Meine Großmutter drehte sich um und sagte: »Ich habe gleich ein Rezept mit Gemüse. Willst du es bitte aufschreiben?«

Ich gehorchte. Ich setzte mich hin und schrieb.

Die Vorahnungen meiner Großmutter habe ich immer ernst genommen.

Sie begann, mir das erste Rezept zu diktieren. Und verlor sich dabei in ihren Erinnerungen.

Falaoni lucani –Gefüllte Teigtaschen aus Lukanien

ZUTATEN

Für den Teig:

1 kg Mehl, 1 gestrichener TL Salz, 100 g Schweineschmalz (alternativ Olivenöl), Wasser

Für die Kartoffel-Salami-Füllung:

1 kg gekochte Kartoffeln, 100 g Parmesan, 1 Bund Petersilie, 3 Eier (eins hart gekocht und zwei verschlagen), 100 g Salami, Öl, Salz

Für die Hackfleischfüllung:

500 g gemischtes Hackfleisch, 2 Eier, 50 g Parmesan, 1 Bund Petersilie, Öl, Salz (alles am Vortag vermischen und würzen)

Für zwei Gemüsefüllungen:

1 kg Mangold, 1 EL scharfes Paprikapulver

1 kg Zucchini, 150 g gekochter Schinken, 100 g Provola

ZUBEREITUNG

Mehl, Salz und Fett zu einem glatten Teig verkneten, kleine Kugeln abtrennen und zu Teigplatten ausrollen. Die Füllung darauf verteilen und zu schmalen Teigtaschen zusammenklappen, die etwa die Länge einer Hand haben. Mit der Gabel mehrmals einstechen. Mit dem verschlagenem Ei bestreichen und im Ofen bei 180 Grad zwanzig Minuten backen.

Für die Gemüsefüllungen den Mangold einige Stunden in Salzwasser einweichen, dann ausdrücken und mit Paprikapulver und Öl würzen. Dasselbe gilt für die dünn geschnittenen Zucchini, die statt mit Paprikapulver mit dem Schinken und dem milden Provolakäse vermengt werden.

2. TERESA

Die Puppe an der Wäscheleine

Domenico, den alle nur Don Mimì nannten, war zehn Jahre älter als ich. Als er mich zum ersten Mal ansprach, spielte ich noch mit meiner Stoffpuppe an einem Brunnen, der zum Grundstück seiner Familie in Torremozza gehörte, einem Örtchen am Meer kurz vor Policoro, das nach der Trockenlegung aufgeblüht war.

Wir wohnten schon eine ganze Weile hier, seit der Evakuierung aus den Sassi di Matera und einer kurzen Zwischenstation in den ärmlichen Hütten von Policoro.

Nach einem Jahr richtete Domenico zum ersten Mal das Wort an mich. Und es war eine ziemlich lustige Situation. Ich stand mit einem Bindfadenknäuel in der Hand da und versuchte, eine Wäscheleine zu spannen, um die Schürze meiner Stoffpuppe zum Trocknen aufzuhängen. Das eine Ende hatte ich bereits befestigt, wusste nun aber nicht weiter. Leise vor sich hin brummelnd kam Domenico heran und pinnte mühelos die Schnur mit einem Nägelchen an einen Baumstamm. Es war nicht schwer gewesen, und ich fand es nett von ihm.

»Wofür brauchst du die?«

Stimmt, wofür eigentlich? Wie sollte ich ihm gestehen, dass ich seine Zeit für eine Puppe gestohlen hatte, aus einer Laune heraus. Also blickte ich zu Boden und versteckte die Puppe hinter meinem Rücken. Er lächelte mich an und zeigte mir seine weißen, vollkommenen Zähne, wie ich noch nie welche gesehen hatte. Er begriff alles auf der Stelle, auch meine Verlegenheit. Um sie mir zu nehmen, tat er so, als hätte er die Puppe gar nicht gesehen.

»Du hast da was«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf meine Lippen.

Ich streckte die Zunge heraus und ärgerte mich sofort über mich und meine schlechten Manieren. Mit dem Handrücken machte ich alles noch schlimmer und rannte schließlich davon. Meine Mutter hatte zu Mittag Falaoni lucani gemacht, die ich mir im Laufen in den Mund geschoben und mit denen ich mich bekleckert hatte, ohne es zu merken.

»Es gibt nichts Schlimmeres als ein unachtsames Schleckermäulchen«, hatte Mamma mir hinterhergerufen, bevor ich verschwunden war.

Dank Don Mimì wurde ich schlagartig älter. Ich setzte meine Puppe zwar gut sichtbar auf meine Kommode, nahm sie aber nie mehr zum Spielen mit nach draußen.

Bis zu diesem Moment hatte ich geglaubt, unsichtbar für ihn zu sein. Doch scheinbar nicht unsichtbar genug, um in ihm nicht die Neugierde und den Wunsch zu wecken herauszufinden, was aus mir in ein paar Jahren werden würde.

Dies war die erste Begegnung mit dem Mann, der einmal mein Ehemann werden sollte; im Garten seines Elternhauses, der mir riesig vorkam gemessen an dem, was ich gewohnt war. Doch nach den Grotten von Matera kam mir ohnehin jedes Haus wie der Palast eines Königs vor. Selbst die elenden Hütten in Policoro hatten mir gefallen, obwohl sie winzig waren. Ich dachte, ich würde mein Leben lang so wohnen, in einem Zimmer mit meinen Eltern: in diesen niedrigen Häuschen, am Fuße des Schlosses von Baron Berlingieri, über den immer alle redeten und vor dem ich ein wenig Angst hatte.

»Hat ihn denn schon mal jemand gesehen? Gibt es ihn überhaupt?«, fragte man sich.

Die einen beschrieben ihn als eine Art Weihnachtsmann, andere als ein dreiköpfiges Monster. Wieder jemand verglich ihn mit einem Kinohelden. Und noch andere sagten über ihn: »Ein großer Schürzenjäger und Freibeuter, das ist dieser Baron.«

Aber zu Gesicht bekam ich ihn nie.

Was ich an der Hütte so gar nicht ertrug, war das Geräusch, das die mit Maisblättern gefüllten Matratzen schon bei der kleinsten Bewegung machten, so dass ich davon aufwachte. Ich hatte einen leichten Schlaf und es klang, als prasselte der Regen auf die Matratze. Jede Nacht.

Doch manches war auch besser als in den Sassi. Endlich hatten wir ein Badezimmer und elektrisches Licht. Es gab eine Küche, die nicht in Tuffstein gehauen und rußgeschwärzt war. Endlich eine richtige Küche. Mit Herdplatten, einer Dunstabzugshaube und Schränken, in die man Pfannen und Töpfe einräumen konnte, damit sie nicht an wackeligen Nägeln an der Wand verstaubten.

Ein entfernter Cousin meiner Mutter war es gewesen, der meine Eltern nach der Räumung überredet hatte, nicht in den Wohnblöcken in Matera zu bleiben, sondern in ein Häuschen nach Policoro umzusiedeln. Und er war es auch, der eines Tages hereingestürmt kam mit dem Vorschlag, eine Arbeit auf dem Hof des Cavaliere Terranova anzunehmen, Don Mimìs Vater. Wir würden ans Meer ziehen, für mich ein reines Gottesgeschenk.

»Dann hat es wenigstens einen Sinn, dass wir Matera verlassen haben, denn ich liebe das Meer!«, hatte ich meiner Puppe verraten.

Obwohl ich es noch nie gesehen hatte. Das Meer war mir einfach vertraut.

Mein drittes Leben sollte nun also in Torremozza stattfinden, in einem weißen Bauernhaus mit unverputzten Schmuckziegeln unweit der Ställe. Dort hatte man Unterkünfte für Gäste und die Dienerschaft eingerichtet. Der zentrale Platz war von einem Säulengang gesäumt, an dem sich Bouganvilleen entlangrankten. Doch das umliegende Terrain war sonnenverbrannt, verwildert und staubig und schrie geradezu danach, gezähmt zu werden, und genau dafür suchten die Gutsbesitzer nun einen Gärtner.

Im Rücken des Besitzes thronte wie zur Wache ein Turm aus dem sechzehnten Jahrhundert, der wie so viele in der Gegend zur Verteidigung des Königreiches entlang der Küste erbaut worden war. Seinetwegen hieß der Bezirk auch Torremozza, der abgeschlagene Turm.

Der Cavaliere stammte ursprünglich aus Sant’Arcangelo. Er war von der Regierung damit beauftragt worden, die Grundstücke des Amts für Bodenreform zu verteilen. Kraft seines Amtes erlangte er binnen kürzester Zeit Zutritt zu den Eliten des Dorfes und hielt sich auch lange dort. Er war ein drahtiger Mann mittleren Alters mit einem etwas plumpen Gang, der, wo er ging und stand, einen Hauch von Aftershave zurückließ. Und er war wie besessen von Hosenträgern. Er liebte sie. Niemand hatte ihn je ohne gesehen. Im Mund die Pfeife, eine Hand unter den rechten Hosenträger geklemmt, immer etwas gesetzt aufgrund seiner Stellung, und dazu der Geruch von Gewürznelken. Er redete nicht viel. Er kaute lieber Tabak. Und wenn er doch sprach, verstand man ihn nur anhand seiner Mimik.

Über siebenhundert Höfe waren bereits zugeteilt worden, und viele Familien aus der ganzen Provinz zogen hierher, um ein paar Hektar Land zu beackern. Unter den zugeteilten Bauernhäusern war auch das des Cavaliere. Das größte.

Anfangs zählte das Dorf kaum mehr als achthundert Einwohner, doch die Zahl verdoppelte sich mit jedem Jahr. Policoro wurde eine eigenständige Gemeinde und damit eine Baustelle. Durch die Trockenlegungen starb niemand mehr an Malaria, und wir würden nicht weit vom Meer entfernt wohnen.

Als Allererstes, noch bevor ich den Pappkarton mit meinen wenigen Habseligkeiten auspackte, erkundigte ich mich, wie man zu dieser großen blauen Fläche kam: Ich musste das ganze Grundstück überqueren, ein Gatter öffnen, das normalerweise mit einem einfachen Draht verschlossen war, und dann einem schmalen Pfad zwischen Agaven und Wildwuchs hindurch folgen. Nach etwa zwei Kilometern lag das Meer vor mir. Es war als hätte man einen Privatstrand, denn diese Seite des Dorfes war ziemlich ungepflegt und halbwegs abgelegen.

Das genügte mir, um mich wie eine Königin zu fühlen. Die Königin von Torremozza. Ich glaubte felsenfest daran, dass sich meine Geschichte irgendwann in die einer Königin verwandeln würde.

»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, sagte meine Mutter Bernardina immer.

Papà bereute die Entscheidung am meisten. Er musste sein Talent für das Töpfern ruhen lassen und sich ganz diesem heruntergekommenen Garten widmen und außerdem zur Ernte auf den Feldern helfen. Mamma kümmerte sich um den Haushalt. Vor allem ums Kochen. Signora Damiana, die Gattin des Cavaliere Terranova, war untauglich am Herd, doch anstatt ihr Unvermögen zuzugeben, brüstete sie sich regelmäßig mit den von meiner Mutter zubereiteten Speisen.

Ich hatte ein eigenes Zimmer und, was noch besser war, eine Wollmatratze. Endlich konnte ich schlafen, ohne mich wie in einem Hagelsturm zu fühlen.

Ich war glücklich in Torremozza, auch weil es hier Don Mimì gab.

Jahre nach unserer ersten, peinlichen Begegnung wurde ich in den Salon seiner Eltern gerufen. Meine zukünftigen Schwiegereltern waren in Tränen aufgelöst.

»Was hab ich getan?«, fragte ich.

Monatelang hatte er ihrem Willen getrotzt. Er wollte mich heiraten, mit oder ohne ihren Segen, und berief sich sogar auf die Willensfreiheit, was sie zutiefst verwirrte. Er war gebildet, las viel und verteidigte sich unter Ausnutzung ihrer beschränkten intellektuellen und logischen Fähigkeiten mit Begriffen, deren Bedeutung sie nicht einmal kannten. Was hieß denn bitte schön »Liberum Arbitrium«?

Doch an diesem Punkt weinten sie bereits. Und ich auch, denn ich hatte Angst. Vor dem offiziellen Heiratsantrag, vor den erschrockenen Gesichtern meiner Eltern, die, sollte ich Nein sagen, schnurstracks auf der Straße sitzen würden, und vor den zukünftigen Schwiegereltern, die mir mit ihren Blicken alles Übel dieser Welt an den Hals wünschten. Ihr Leben lang würden sie sich für das rechtfertigen und schämen müssen, was wie eine Zwangsehe aussah. Auch der Himmel hatte sich dunkel verhüllt und weinte an diesem Nachmittag eines alltäglichen Tages.

»Aber ihr müsst mindestens ein Jahr warten, bevor ihr Kinder bekommt«, sagte meine Schwiegermutter und ließ mich nicht aus den Augen.

»Kinder?«, war das Einzige, was mir daraufhin einfiel.

»Tèn la facc’ com’ ar pret’ lesc’, jetzt guckt sie wie die Unschuld in Person«, kommentierte meine Schwiegermutter.

Und dann floh ich, zugegeben ein bisschen hysterisch. Ich verabschiedete mich recht unpassend mit »Auf Wiedersehen« und rannte unter Oliven- und Feigenbäumen in meinen Holzklotschen mit den vom vielen Tragen ganz ausgeleierten Riemen davon, so dass ich wiederholt stolperte und mir die Knie aufschürfte.

Es schickt sich nicht für ein junges Mädchen zu rennen wie ein Bursche, sagte Mamma immer zu mir. Doch ich rannte und rannte. Ich tat es, um mir die Gefühle auszutreiben, die sich nicht unterdrücken ließen. Um die Einsamkeit zu bekämpfen, um Antworten zu finden. Ich weinte zuerst vor Schreck und dann vor Glück. Und als ich schließlich das Meer erreichte, schrie ich: »Es lebe das Liberum Arbitrium!« Was ja so eine Art Liebesgott sein musste, denn Don Mimì hatte ich vom ersten Tag an geliebt.

Obwohl ich noch nie Radio gehört, nie einen Fotoroman gelesen oder ein Märchen erzählt bekommen hatte, schien mir dies die Urgeschichte zu sein. Die Geschichte der Geschichten.

Ich betrachtete ein letztes Mal meine Stoffpuppe, die ich in Sassi di Matera gebastelt und der ich geschworen hatte, niemals meine Heimat zu verlassen, um wie meine Freunde nach Turin oder Amerika auszuwandern. Die ich mit den Worten getröstet hatte, dass es uns am Meer besser gehen würde, als spräche ich mit einer Freundin.

Don Mimì streifte mir einen Granatring mit weißen Perlen, Brillanten und Gold über den Finger. Er tat es mit scheinbarer Gleichgültigkeit, doch seine schwieligen Hände zitterten, als er mir ins Gesicht sah.

»Er ist zu groß«, sagte er.

»Er ist perfekt. Comm’ nasc’ se mètt’«, erwiderte ich. Ja, man muss nehmen, was kommt. Das war mein Lebensmotto.

3. CATERINA

Der Duft der Frittata

Es war September. In Wahrheit beginnt das Jahr mit dem Ende des Sommers.

In diesem Monat habe ich Geburtstag. Genauer gesagt am 24.

Der Monat, in dem Mamma, Mary und ich immer die Sommer- gegen die Wintergarderobe tauschten. In dem Papà mich während der Traubenlese zu einem Rundgang durch die Weinberge mitnahm und wir beide beschwipst vom Most nach Hause kamen. In dem Feigenkirmes und Waldfest waren. In dem man wieder zunahm, weil man nicht mehr auf seine Bikinifigur achten musste.

Die Sonne strahlt weicher, die Natur ist gereinigt von den Gewitterregen Ende August. Die Blätter glänzen und glitzern lebendiger, als erlebten sie einen zweiten Frühling vor der Herbstruhe. Natur und Mensch bereiten sich auf den Winter vor.

Der September war schon immer mein Lieblingsmonat.

Doch dieser war anders. Es lag an mir, dass die üblichen Tagesabläufe, wie wir sie kannten, durchkreuzt wurden.

Denn ich verließ die Basilikata. Einen Tag, nachdem ich das Kochbuch meiner Großmutter beendet hatte. Die Rezepte in dem Taschenkalender gesammelt hatte, verbunden mit den Erinnerungen, die ich für immer in meinem Innern bewahren würde. Ich ging zum Studium nach Rom und hinterließ in meinem Policoro einen freien Platz an der Essenstafel sowie reichlich Verwunderung bei meiner Familie.

Es war nicht leicht, ihnen meine Entscheidung verständlich zu machen. Zu erklären, warum ich ein so fernes Ziel gewählt hatte, warum dies keine Ablehnung meiner Heimat oder ihrer Menschen war. Anfangs hielten sie es schlicht für Verrat.

»Aber es ändert sich doch nichts. Ich werde oft zurückkommen«, wiederholte ich den Sommer über immer wieder. Während ich die Rezepte aufschrieb, die Nonna mir diktierte, während ich die Koffer packte, die ich vorausschicken würde, und während meine Eltern das Apartment auswählten, in dem ich mit zwei Mädchen aus dem Dorf wohnen sollte.

Deren Eltern sie zu meiner größten Schande fragten: »Seid ihr euch sicher, dass wir sie nicht lieber in einem Mädchenpensionat unterbringen sollten, ist die Stadt nicht zu gefährlich?«

Denn die anderen Eltern hatten diese feindselige Stadt schon besichtigt, dieses Rom, und sie waren begeistert. Doch die unsicheren Fragen meiner Eltern weckten auch in ihnen Zweifel. Und sie riefen in ein paar Pensionaten an, für die man aber glücklicherweise Empfehlungen brauchte, zumindest vom Dorfpfarrer, woraufhin Papà meinte: »Dann eben nicht.«

»Aber es ist doch gar keine richtige Empfehlung, eher eine Art Garantie über die ernsten Absichten der Mädchen«, hatte die Antwort gelautet.

Und noch dickköpfiger hatte er erwidert: »Was ist das für ein Haus, wo es von Pfaffen-Garantien nur so wimmelt?«

Er wusste, wenn er die Kirche und ihre Unzulänglichkeiten anprangerte, war ihm wenigstens einmal die Zustimmung des Großvaters als glühendem Kommunisten gewiss.

Nachdem ich der Lösung mit der Wohnung zugestimmt hatte, bekam ich ein ganzes Verhaltenseinmaleins vorgetragen, das ich auswendig lernen sollte. Keine Fremden einladen. Immer schön die Tür abschließen. Niemandem sagen, wo ich wohne. Sich am ersten Tag beim Gemüsehändler unten im Haus und bei der Portiersfrau vorstellen, ein paar Augen mehr können nicht schaden. Einkaufen auf dem Markt und nicht im Supermarkt. Nicht rauchen. Im Badezimmer immer den Wasserhahn aufdrehen, wenn du auf die Toilette gehst, damit die anderen nicht mitbekommen, was du tust und du stets als wohlerzogen giltst.

Dieser letzte Rat stammte von Mamma. Und er rührte mich. Denn sie selbst tut das tatsächlich. Aus Scham.

»Wir reden doch nicht von New York. Ich komme häufig nach Hause«, wiederholte ich. »Es ist ja nur fünf Stunden von Policoro entfernt!«

Doch ihr Misstrauen wuchs parallel zu meiner Aufregung.

Ich wollte mein Blickfeld erweitern. Wollte wissen, was es sonst noch gab. Außer meinen Gewohnheiten, meinen eingelaufenen Wegen, den von Kindesbeinen an bekannten Gesichtern der Leute, mit denen ich zu tun hatte. Immer denselben, seit Jahren. Ich wollte Fremden begegnen. Mich ganz neu zeigen. Wissen, wie ich auf jemanden wirkte, der meine Geschichte nicht kannte, meine Wurzeln. Fremden Blicken begegnen. Sie vielleicht sogar fürchten. Misstrauen spüren statt vorausgesetztem Vertrauen.

Menschen kennenlernen, die nicht wussten, zu wem ich gehörte. Die mich nur für das wahrnahmen, was sie von mir sahen. Nicht für das, was sie wussten.

Menschen, die keine Ahnung hatten, dass mein Vater ein ehrenwerter Mann war, meine Mutter eine Heilige. Die nichts von den Heldentaten meines Großvaters gehört hatten. Und nie von meiner Großmutter hypnotisiert worden waren.

Ich wollte wissen, welche Wirkung Caterina hatte. Ich, ja ich, nur ich allein. Ich wollte ein eigenes Zimmer haben. Niemandem Rechenschaft ablegen müssen über meine Schritte. Ich wollte frei sein, das war es. Was nicht hieß, dass ich mich in der Basilicata auch nur einen Tag unfrei gefühlt hätte.

Das alles würde ich erfahren, ich spürte es. Auch wenn ich erst wenige Tage in Rom war und noch niemanden getroffen hatte, der mich wirklich wahrgenommen hätte. Weder draußen noch in den Literatur- und Philosophievorlesungen, für die ich mich eingeschrieben hatte. Vielleicht um einmal Lehrerin zu werden, und ganz sicher weil mich die Fächer faszinierten.

Anfangs jedoch überkamen mich immer wieder das Heimweh und eine leichte Traurigkeit, denn wenn ich die Fenster meiner Wohnung an der Piazza Bologna öffnete und die Augen schloss, roch ich keine Düfte, die ich in neue Sinneserfahrungen umwandeln konnte oder die mich an zu Hause erinnerten.

Ich zwang mich, es immer wieder zu versuchen, denn jeder von uns hat seine Madeleine, irgendeine Kleinigkeit, die in ihm die schönsten Düfte und Geschmäcker von früher wachruft, die alten geliebten Traditionen.

Schon als Kind hatte ich die Angewohnheit entwickelt, wie besessen Listen zu schreiben. Ich weiß nicht, woher der Tick kommt, doch er grenzt schon fast an Aberglauben. Wenn ich keine Listen schreibe, fühle ich mich wie eine Spinne, die ihr Netz nicht zu Ende weben kann. Listen aller Art: über Filme, Bücher, Gerichte. Das ist mein Spleen. Dinge sortieren und in eine Rangordnung bringen. Und als wäre das nicht genug, sammle ich sie auch noch in einer Mappe mit Monets Seerosen darauf. Zu Hause lagen mehr als ein Dutzend solcher Mappen.

Also begann ich auch in Rom, Listen zu verfassen, wie zum Beispiel über die Dinge, die mir von zu Hause fehlen würden, und die, die mir nicht fehlen würden.

Meine Brüder werden mir fehlen. Typische Jungs. Also die meiste Zeit nicht anwesend. Massimo, der älteste, der hinter einer Frau herrennt, seiner Immer-und-ewig-Freundin, die jetzt ebenfalls studiert. Und Mimmo, der jüngste, der in die Grundschule geht und stets einen Ball am Fuß hat. Und für Juve schwärmt. Und für Videospiele.

Meine Schwester Mary wird mir fehlen mit ihren Eifersuchtsszenen, die sie ihrem Freund Nicola macht.

Das Meer wird mir fehlen, im Winter oder immer, wenn ich es gerade brauche. Das Maulen meines Vaters mit meinem Großvater. Meine Mutter, die schon frühmorgens unter Nonnas Aufsicht kocht.

Und Nonna wird mir fehlen, natürlich. Sie mehr als alle anderen, muss ich gestehen. Wir zwei, wie wir auf der Bank vor der Schlange sitzen und reden, während der Wind uns durchs Haar fährt. Wir zwei, wie wir schweigend kochen, der Duft ihrer Seifen, ihres Ragùs, das leise Rollen des Nudelholzes. Ihr Tuch, das sie mir reicht, wenn ich frierend mit nackten Armen bei ihr ankomme.

Der Duft der Frittata wird mir fehlen. Er ist meine Madeleine.

Und ganz unerwartet fand ich ihn in dem Liebsten, das ich mit nach Rom gebracht hatte: im Rezeptbuch der Nonna. Im ersten Rezept, das sie mir zusammen mit den Falaoni diktiert hatte. Diesen Duft, der den Seiten entstieg, hätte ich unter tausend Gerüchen wiedererkannt, den Duft des Omeletts. Wie oft hatte ich ihn aus der Küche gerochen, war er durch Ritzen, so eng wie Schießscharten und Mauern so dick wie Festungen, in mein Zimmer gekrochen.

Jeden Stein unserer glücklichen Behausung hatte mein Vater eigenhändig verbaut, einen auf den anderen. Denn er meint, Häuser seien Metaphern des Lebens. Wenn du wirklich glücklich sein willst im Leben, musst du es dir selbst Stück für Stück zusammensetzen. Diese Theorie war ihm eine Art Festung, um die, die er liebte, zu schützen.