Ein Land wird besichtigt - Alexandra Keller - E-Book

Ein Land wird besichtigt E-Book

Alexandra Keller

4,4

Beschreibung

Tirol, dieses Land der Gegensätze, offenbart nicht gern, was es im Innersten zusammenhält. Zwischen atemberaubender Schönheit und atemberaubenden Skandalen tummeln sich Gemeinschaften, Seilschaften und Jagdgesellschaften. Aber was bewegt das Land wirklich - vor allem in Wahlzeiten? Alexandra Keller reist durchs Land, beleuchtet die Hintergründe und klopft die doppelten Böden ab.

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Alexandra Keller

Ein Land wird besichtigt

Essay

Kurz stockt mein Herz. Die Kulisse könnte auch Anlass für diesen Moment sein. Doch die nahen Karwendelgipfel oder die ums Eck zu erahnende Zugspitze sind nicht schuld daran. Nein, ein paar hundert Meter nach Ende der Autobahn, dort, wo aus den vier Spuren zwei geworden sind, rast ein Irrer aus dem Bezirk Landeck an mir vorbei und überholt so, dass es den Entgegenkommenden nicht minder geschockt haben muss. Der Geschockte fährt in Richtung Garmisch. Der Irre in Richtung Tirol. So wie ich.

Ein wenig adrenalingeladen vom gerade Überlebten gestaltet sich meine Annäherung an den Grenzübergang, der eigentlich gar keiner mehr ist. Wer aus dem nördlichen Tiroler Grenzland stammt, schon vor dem EU-Beitritt klare Gedanken fassen konnte und Schilling automatisch in D-Mark umrechnete, weiß, dass vom Grenzübertritts-Adrenalin, das vor dem EU-Beitritt Österreichs den Körper durchfuhr, nicht einmal mehr eine homöopathische Dosis übrig geblieben ist. Schmuggelware im Wert von umgerechnet zwanzig Euro hatte angesichts der Zollbeamten die Herzen höherschlagen und den Mund sich zu einem paranoid-freundlichen Lächeln verziehen lassen. Nicht nur die Aufregung trieb Schweiß auf die Stirn. Beliebt war, in Deutschland gekaufte Kleidung zwiebelartig anzuziehen und illegal in Österreich einzuführen. Wie lächerlich das heute klingt. Jede Fahrt über die Grenze wurde von potenziell krimineller Energie begleitet. Jeder erst mal verdächtigt. Die Ankunft in Österreich beziehungsweise Tirol war aber immerhin spürbar gewesen. Prickelnd auch. Zugegeben. Mit Wehmut denken trotzdem nur Masochisten daran zurück.

Heute sind die Zollhütten längst Geschichte und die Gebäude, in denen im blöden Fall des Erwischtwerdens gegebenenfalls teurer und jedenfalls peinlicher Papierkram stattfand, beherbergen nichts mehr oder anderes.

Ein derartiges Haus beim ehemaligen Grenzübergang Füssen/Pinswang (Allgäu/Außerfern oder eben Bayern/Tirol) bekam den vielleicht bizarrsten neuen Zweck. Eine Sekte aus Füssen zog dort ein, mit vielen Frauen, zahlreichen Kindern und einem enorm übergewichtigen Anführer, der das Oberhaupt des „Stammes der Likatier“ ist, sich als Reinkarnation von Jesus und Bayernkönig Ludwig II. sieht und die Einwohner der Grenzstadt im Allgäu das Fürchten lehrte, weil er reihenweise Immobilien aufkaufte und das Gefüge der Stadt am Lech und nahe der Königsschlösser durcheinanderbringt.

Mit derart Abstrusem kann der Übergang Mittenwald/Scharnitz nicht aufwarten. Viel Wald, dann die natürliche, immer schon leicht gegen Eindringlinge zu verteidigende Engstelle, das große Österreich-Schild mit den europäischen Sternchen. Dann Tirol.

Und neben noch zurückhaltender gebirgiger Alpen-Idylle gleich ein Problem. Der Verkehr. Ein Tiroler Klassiker.

Schon im Mittelalter führte ein beliebter Weg von München nach Verona durch Scharnitz. In Stoßzeiten kann der Ort heute kaum schneller passiert werden als damals. Viele Jahre kämpften die derart geplagten Einwohner für eine entlastende Umfahrung. Im Frühjahr 2012 bekamen sie das Okay des Landes und ihr lokales Problem scheint endlich lösbar geworden zu sein. Schön für sie, doch regional bleibt der Transit wohl so lange ein gordischer Knoten, solange es eben lukrativ ist, Tonnenlasten aus allen Himmelsrichtungen durch Tirol zu karren. Zum Tüpfelchen auf dem i wird angesichts dessen der aufgrund der bekannten Ferientage zumindest erwartbare Urlauberverkehr degradiert.

Die geografische Lage des Landes ist Segen wie Fluch und vor dem europäischen Hintergrund wird spätestens aus der Vogelperspektive logisch, dass die Transit-Thematik nicht im Nadelöhr Tirol gelöst werden kann. Aus der Perspektive wird auch die jüngste Blockade der Autobahn – im Herbst 2012 fand diese statt – zu einem recht kümmerlichen Mucks. Der Verdacht, dass sich der ehemals verdiente und zwischenzeitlich zahnlos gewordene Anti-Transitkämpfer Fritz Gurgiser damit als wahlkämpfender Politiker eine vierspurige Plattform schuf, hielt sich länger als der Protest-Effekt. Gurgiser, der bärtige Rächer, hat seit seinem Engagement in der Landespolitik alle Glaubwürdigkeit verloren. Nicht nur, weil er Ämter- und Gagenkaiser des Landes ist, sondern auch, weil er in der Auseinandersetzung mit der Liste Fritz, von der er sich im Laufe der Legislaturperiode abspaltete, in die untersten Schubladen griff. Offenbar aus purer Rachsucht setzte er im Herbst 2012 dazu an, die größte Oppositionspartei im Tiroler Landtag zu zerstören. Mit der Liste Fritz war Gurgiser 2008 in den Landtag gekommen, um dort aber rasch klarzumachen, dass seiner Teamfähigkeit Grenzen gesetzt sind. Der kauzige bis giftige Einzelkämpfer entfernte sich schneller von seinen Mitstreitern, als er sich möglicherweise selbst gedacht hatte. Und er tat es mit großem Zorn. Diese Ureigenschaft hatte ihn zu einem harten Gegner in allen Fragen des transeuropäischen Verkehrs gemacht, und nun richtete Gurgiser seine spitzen Speere ausgerechnet gegen jene, die ihm die Chance geboten hatten, seine Straßenpolitik auf dem Landtagsparkett zu testen. Die quantitativ wie qualitativ eher kümmerliche Landtagsarbeit Gurgisers und der von ihm inszenierte Rosenkrieg gegen Fritz Dinkhauser zeigte aber, dass der zahnlos gewordene Transitrebell dieser Form der Veredelung nicht gewachsen war. Dass er sich im Krieg gegen das Bürgerforum ein Stück weit von der ÖVP instrumentalisieren ließ, der die Liste der größte Dorn im bürgerlichen Auge ist, ist dabei ebenso bitter wie die Tatsache, dass er seinen ehemaligen Kollegen Parteigelder abzwacken wollte und damit wohl seine wahre Triebfeder offenbarte. In einer diesbezüglich entlarvenden E-Mail seiner Anwältin an das Bürgerforum war als Bedingung für die Streitbeilegung festgehalten worden, dass Gurgiser unter anderem zwei Siebtel der Parteiförderung des Bürgerforums verlangte, was 1,14 Millionen Euro entspricht. Dabei hatte er selbst stets behauptet, es gehe ihm nicht ums Geld. Tja. Dieser Kampf war wie ein Abgesang in Moll für den Landtagsabgeordneten Gurgiser. Den Kampf gegen den Transit, den er vor 2008 personifizierte, opferte er auf dem Altar seines eigenen Egoismus. Schade eigentlich. Doch die Transitzahlen steigen weiter – mit oder ohne ihn. Und wie die steigen. Fast 1,8 Millionen Transit-Lkw sind 2012 an der Mautstelle Schönberg gezählt worden.

Jemand hatte mal die Idee, die Autobahnen kontrolliert zu privatisieren. Aus den Autobahnen würden dann Privatstraßen und auf Privatstraßen könne der Eigentümer sagen, wie viele sie benützen dürfen und um welchen Preis. Eine verlockende Vorstellung. Verlockender irgendwie als die Rettungsmaßnahme, der sich die Tiroler Politik mit Haut und Haaren verschrieben hat: der Brennerbasistunnel.

Selten wird derart mit Milliardensummen jongliert wie bei der Aussicht auf den Tunnel, von dem niemand sagen kann, wie viel er wirklich kosten und ob er wirklich die Laster schlucken wird, die vor allem den Anrainern des Wipptales den letzten Nerv rauben. Mal legen sich die Wiener quer, mal die Deutschen, und von den fast staatsbankrotten Italienern ist in näherer Zukunft kaum zu erwarten, dass sie sich groß für das Monsterprojekt so fern von Rom engagieren. Zusagen hin, EU her.

Die genannten Zahlen machen auch nie wirklich Sinn. 2006 waren die geschätzten Kosten für den Tunnel mit zwischen 4,5 und 12 Milliarden Euro angegeben worden. Lässig. Allein in der Differenz steckt zweieinhalbmal das gesamte Budget, das dem Land Tirol in einem Jahr zur Verfügung steht. Ab gewissen Summen bekommt der Kopf Blähungen und die Bürger schalten so schmerzgeplagt wie ohnmächtig ihr Hirn aus. Und sparen. Und staunen. Auch über die 190 Millionen Euro, welche das Land Tirol freiwillig in den Brennerbasistunnel steckt. Eine nach wie vor eigenartige Geste. Großzügig. Irgendjemandem gegenüber.

Herzhaft wird trotz der berechtigten wie erdrückenden Fragen weiterjongliert und Sand gestreut. Dass Baukosten nicht gleich Finanzierungskosten sind, weiß aber jeder Hausbauer, der einen Kredit aufnehmen musste. Da werden aus zehn Milliarden geschwind zwanzig Milliarden oder über die Jahre und bergtechnische Verzögerungen und Finanzkollapse hinweg noch viel mehr. Ein schweres Erbe für kommende Generationen. Obwohl unklar ist, ob die Zulaufstrecken je gebaut werden oder ob die Verlagerung von der Straße auf die Schiene mit dementsprechenden, die bärbeißige Transitlobby folternden Maßnahmen durchgedrückt werden kann, wird der Tunnel weiterhin als Heilsbringer angebetet. Sinn macht das nur im politischen Kalkül. 2026 soll der Tunnel fertiggestellt sein. Wenn’s denn klappt.

Mit Blick in die Schweiz, wo sich der Gotthard-Tunnel über die Jahre zum finanziell wie zeitlich unberechenbaren Gottseibeiuns entwickelte, ist das unwahrscheinlich. So gut wie alle derzeit Verantwortlichen sind 2026 in mehr oder weniger verdienter Polit-Pension. Der derzeit amtierende Tiroler Landeshauptmann Günther Platter wird in diesem fernen Jahr seinen 72. Geburtstag feiern. Dass er vor der Landtagswahl 2013 den Brennertunnel als Erfolg seiner ersten Amtszeit nennt, wirkt angesichts der zeitlichen und faktischen Unmöglichkeit doch recht mutig. Oder ist es Verzweiflung?

Die Legislaturperiode, die im Hochsommer 2008 mit einer personellen Runderneuerung der Tiroler ÖVP gestartet hatte, endet für sie in einer Art Endzeitstimmung. Zerfleddert und zermürbt und zerstückelt ist die einst so stolze Tiroler Volkspartei. Der schwarze Faden, mit dem ihre Mitglieder und Anhänger zusammengehalten werden sollten, ist nicht mehr zu erkennen.

Der Bund der Arbeiter und Angestellten (AAB) scheint irgendwohin verschwunden zu sein. Er existiert zwar noch – die spärlich bestückte und in ihrer Aufmachung an einen ambitionierten Kegelclub erinnernde Homepage mag als Beweis dafür gelten –, doch in der täglichen politischen Arbeit ist jene Teilorganisation der Tiroler ÖVP, die theoretisch die Mehrheit der Bevölkerung vertreten könnte oder müsste, schlichtweg nicht spürbar. Der AAB wurde zu einem puren Funktionärsstadel degradiert, zu einer Organisation, die fast ausschließlich als Sprungbrett oder Pipeline für ehrgeizige Parteigänger herhalten muss. Die klassischen Themen der Arbeiter und Angestellten werden lange schon von der Tiroler Arbeiterkammer bearbeitet beziehungsweise weit glaubhafter vertreten. Und Arbeiterkammer-Präsident Erwin Zangerl gelingt es – trotz seiner VP-Mitgliedschaft –, selbst die Tiroler Sozialdemokraten links zu überholen, wenn es darum geht, auf Missstände hinzuweisen oder Verbesserungen zu fordern. Sein Gegenüber im Ring der Tiroler Sozialpartnerschaft ist Wirtschaftskammer-Präsident und Wirtschaftsbund-Obmann Jürgen Bodenseer. Bodenseers Bund hat im politischen Alltagsgeschäft des Landes oder der Partei auch nicht allzu viel mitzureden. Möglich, dass die Unternehmer, die er vertritt, einfach ihr Ding machen, und das eher an für sie relevanten Nebenschauplätzen denn in den beobachteten politischen Gremien. Der Seniorenzweig der Tiroler VP wirkt ebenso kümmerlich wie die Jugendorganisation, und die Frauenorganisation der VP ist womöglich das Highlight der bündischen Tristesse.

Zumindest lieferte der Frauen-Bund mit dem Superwoman-Clip einen echten Höhepunkt. Unfreiwillig. Der Sieben-Minuten-Film der Tiroler VP-Frauen schaffte es im Frühjahr 2011 in kürzester Zeit in die Tageszeitungen Österreichs und erntete in deren Online-Foren rekordverdächtige Posting-Werte. Sogar die biedereZIBdes heimischen Staatsfunks widmete dem Streifen einen Beitrag, selbst die deutsche Tageszeitungtazberichtete. Bis Mitte April 2011 waren die auf YouTube „geretteten“ Versionen des Films, der in Windeseile von der VP-Homepage gelöscht worden war, rund 137.000 Mal angeklickt worden. Zigfach öfter waren Bilder der halbnackten Superfrau im roten BH gedruckt worden. Die Szene eben, in der die fröhliche Multibelastete ihrem biertrinkenden Mann die Füße massiert. Allein, dass dieser Ausschnitt des Clips mitDie Erotische