Ein Sommer voller Sterne - Rebecca Maizel - E-Book

Ein Sommer voller Sterne E-Book

Rebecca Maizel

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Beschreibung

Sarah ist 15 und ein Wissenschaftsfreak. Als sie kurz vor den Ferien von ihrem Freund für die Schul- Beauty verlassen wird, nimmt sie sich vor, mehr wie ihre Schwester Scarlett zu sein: schön, cool, gut gekleidet. Wenn die Jungs wirklich so leicht zu manipulieren sind ... Und tatsächlich – im Urlaub auf Cape Cod hat sie gleich Erfolg mit ihrem neuen Auftreten. Andrew ist schon fast 20 und nicht nur von Sarahs Aussehen fasziniert. Auch ihre Liebe zu den Planeten zieht ihn magisch an und die beiden verbringen romantische Abende unter dem Sternenhimmel. Allerdings hat Sarah noch ein wenig nachgeholfen und vorgegeben, schon 18 zu sein. Ob ihr diese Notlüge am Ende zum Verhängnis wird?

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Seitenzahl: 448

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© Olivia Wilcox

DIE AUTORIN

Rebecca Maizel stammt aus Rhode Island, wo sie Literatur an einer Highschool unterrichtet. Dabei versucht sie, ihren Schülern nicht ihre eigenen Bücher aufzudrängen. Sie veröffentlichte bereits mehrere Jugendbücher und hat einen Master-Abschluss in Schreiben für Jugendliche vom Vermont College of Fine Arts. Sie isst am liebsten Indisch, liebt ihren Hund Georgie und geht gerne joggen.

Rebecca Maizel

Ein Sommer voller Sterne

Aus dem amerikanischen Englisch

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2015 by Rebecca Maizel

Die Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel »Between Us and the Moon«

bei HarperTeen, einem Imprint von HarperCollins Publishers, New York

Übersetzung: Gabriele Burkhardt

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

unter Verwendung eines Bildes von © Philipp Nemenz/cultura/Corbis

jk · Herstellung: ReD

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-15695-4V003

www.cbj-verlag.de

Für Brooke Darcy Nordstrom, Aviva Fink Cantor, Zoe Houldsworth LoPresti, Leigh Ann Razza und Katie Caramiciu, meine Freundinnen aus Kindertagen – jetzt und für immer.

Love hides in the strangest places.

»Love Hides«, The Doors

Terminplan für Juni

WICHTIGE TERMINE:

19. Juni – Letzter Schultag. Bis dann, ihr Loser. Ein Hoch auf das dritte Jahr!

20. Juni – Abreise nach Cape Cod

VORAUSSCHAU:

26. Juni – 16. GEBURTSTAG!

3. Juli – Komet Jolie erreicht Perihelium

TO-DO-LISTE (REIHENFOLGE NACH WICHTIGKEIT):

Alles fürs Waterman-Stipendium organisieren: Termin 8. August

Bewerbung (16 Seiten, handgeschrieben und per Briefpost an Vergabekommission)

Online-Registrierung – Termin: 26. Juni (Geburtstag!)

Kometen-Daten, zusammengestellt in zweifacher Ausfertigung

Empfehlungsschreiben vom East Greenwich Observatorium

Persönlicher Essay (Bäh!)

Dankschreiben an Direktor Winston. Nicht vergessen, ihm für die mitreißende und doch peinliche Rede über mich als Klassenbeste zu danken.

Kapitel 1

»WASSOLLDIEGANZERECHNEREI,NURUMEINENKometen zu verfolgen?«, sagt Scarlett und späht durch die Linse meines Teleskops. »Es ist doch nur ein unscharfer weißer Fleck.«

»Es geht darum, mit Papier und Bleistift das Perihelium des Kometen vorauszuberechnen.«

»Perri-was?«

»Damit ist der Punkt der kürzesten Distanz zwischen dem Kometen und der Sonne gemeint.«

»Aber du hast doch deinen Schulcomputer«, meint Scarlett und deutet auf den geliehenen Laptop der Summerhill Academy, der offen auf einem kleinen Klapptisch steht.

»Mit dem Computer programmiere ich das Teleskop. Das ist alles.«

»Ich würde bestimmt schummeln.«

Es hat zehn Minuten gedauert, um Scarlett hierherzulocken, und jetzt soll sie durchs Teleskop schauen und begreifen, wie schwierig es ist, jede Nacht die Koordinaten des Kometen zu berechnen.

»Die Mathematik macht die Berechnung so präzise«, erkläre ich. »Jeder beliebige Computer kann programmiert werden, um grobe Schätzungen vorzunehmen.«

»Ich bin eine totale Niete in Mathe«, sagt Scarlett. Ihr tiefroter Lippenstift sieht so schön aus. Würde ich den heute Abend benutzen, würde ich Tucker und wahrscheinlich meine Klamotten damit vollschmieren. Anders als meine Schwester bin ich überhaupt nicht elegant.

»Wenn er endlich sein Perihelium erreicht und in die nördliche Hemisphäre eintritt, dann habe ich ihn über 64 Millionen Kilometer weit verfolgt.«

»Nördliche …« Scarlett erhebt sich und intoniert das Wort. »Hemissssphäre. Klingt das nicht unglaublich?«

»Na ja, genau genommen hat die nördliche Hemisphäre die meiste Landfläche. Zwei Drittel der Erde sind …«

Scarlett lacht und lacht.

»Du hast null Durchblick, Bean«, meint sie, wirft die Haare zurück und geht in Richtung Haus.

»Dieser Komet ist der hellste, der in hundert Jahren die Sonne passiert«, rufe ich Scarlett hinterher. Obwohl wir heute Nacht zunehmenden Mond haben, eine schmale Sichel, schimmern die blonden Haare auf ihrem Rücken. Ich könnte schwören, dass Scarlett von Jahr zu Jahr hübscher wird, eine Laune der Natur oder so was.

»Ich möchte es auf altmodische Weise machen«, erkläre ich. »Weißt du, so wie Galilei. Okay, nicht ganz so antiquiert, aber mit Stift, Taschenrechner, internem GPS und hochauflösender Optik.«

Scarlett wirft mir noch einen kurzen Blick zu, bevor sie im Haus verschwindet.

»Das ist echt cool«, meint sie, obwohl klar ist, dass sie nur nett sein will. Aber das ist auch leicht für sie zu sagen, ihr Leben dreht sich um Ballett. »Aber hin und wieder musst du die Sterne auch mal Sterne sein lassen.«

»Bean!«, ruft Mom. »Tucker ist da!«

Hat ja auch lange genug gedauert. Laut Wettervorhersage soll es nach elf regnen. Zum Glück sind noch keine Wolken zu sehen. Ich streiche mit der Hand über meinen Stargazer. In weniger als einem Monat zieht der Komet Jolie über den Himmel hinweg und wir können ihn ohne Teleskop sehen.

Ich lege mein nächtliches Koordinatenblatt auf meine Lieblingsdecke. Wenn Tucker kommt, soll er sehen, wie kompliziert es heute war, die Position des Kometen am Nachthimmel zu lokalisieren und zu identifizieren. Ich weiß, wie schwierig es ist, aber es ist schön, dass mein bester Freund, mein fester Freund, der bei den Tests fürs College zufällig sechs Punkte mehr erreicht hat als ich, sieht, wozu ich in der Lage bin.

Darauf habe ich schon gewartet – auf dieses Knarren, als Tucker durchs Wohnzimmer geht. Unser viktorianischer Fußboden hat schiefe Holzdielen. Die meisten sind noch original, das heißt, sie knarren laut.

»Solltest du dich jemals davonschleichen wollen«, sagte Scarlett einmal zu mir, »dann trete nicht auf den roten Orientteppich. Original-Fußboden. Er knarrt, wenn du weißt, was ich meine?« Damals hielt sie inne und schüttelte den Kopf. »Aber was rede ich da eigentlich«, sagte sie und warf das Haar nach hinten. »Unsere kleine Sternenguckerin und sich davonschleichen?«

Im Vorbeigehen sagt Scarlett zu Tucker: »Sag Trish, sie soll mich anrufen, wenn sie nach Hause kommt. Keine Ausreden.« Scarlett deutet mit dem Finger auf ihn und Tucker nickt. Trish ist Tuckers Schwester und Scarletts beste Freundin. Die beiden sind unzertrennlich – bis jetzt.

Tucker muss einem Haufen brauner und roter Koffer ausweichen, die sich neben dem Küchentisch stapeln. Es sind sechs: einer von Mom, einer von Dad, einer von mir und drei von Scarlett. Auf Scarletts Koffer liegen zwei Paar Ballettschuhe. Die dicken Satin-Schnürbänder hängen auf den Boden. Tucker geht an Dad vorbei, der, wie üblich, in seinem Ledersessel vor dem Fernseher sitzt. Er sieht sich eine Show auf Discovery Channel an. Die grauen Strähnen seiner Einstein-Frisur stehen nach allen Seiten ab.

»Ihr nehmt jedes Jahr mehr Zeug mit nach Cape Cod«, bemerkt Tucker und kommt über die Veranda zu mir in den Garten. Mit seiner Singsang-Stimme klingt alles, was er sagt, wie ein Witz, den er noch nicht ganz zu Ende erzählt hat.

»Erzähl das mal unserer Ballerina«, sage ich. »Juilliards Tanzprogramm wird nie wieder so viele Haargummis, Parfümfläschchen und rosa Tanktops zu sehen kriegen. Der Ansturm beginnt.«

»Du würdest dich wundern«, meint Tucker, aber sein Ton bekommt auf einmal eine gewisse Schärfe. Er sieht heute Abend so anders aus. Ich kann es nicht erklären. Ich beuge mich vor und er gibt mir einen Kuss auf den Mund. Aber bevor ich meine Hand in seinen Nacken legen und ihn leidenschaftlicher küssen kann, weicht Tucker zurück. Dabei hatte er mich letzte Woche wie aus heiterem Himmel umarmt, ganz fest an sich gedrückt und so leidenschaftlich geküsst, dass wir für einen Moment nicht mehr einfach nur Tucker und Bean waren, seit neun Jahren beste Freunde und seit einem Jahr fest zusammen. Ich wollte mehr als einen höflichen Kuss.

Als Tucker jetzt zurückweicht, vergräbt er die Hände in den Taschen seiner Jogginghose. Hmm. Hände in den Hosentaschen, krummer Rücken, gesenkter Blick. Ich kenne Tucker schon zu lange – irgendwas ist los. Keiner von uns ist begeistert, dass ich nach Cape Cod fahre, obwohl es sein muss.

»Du fährst in zwei Wochen!«, sage ich, um ihn aufzuheitern. »Das ist besser, als bis August warten zu müssen, wenn Scarlett ihre Abschiedsparty feiert.«

Ich lege meine Arme um seine Taille und er lehnt sich an mich. Es ist so vertraut, unsere Körper ganz nah zusammen.

»Ich weiß nicht, ob sie mir das Auto geben werden«, meint er leise.

»Willst du dich etwa drücken? Ich nehm es dir nicht übel. Ich würde auch nicht im selben Haus oder gar im selben Bundesstaat wie Tante Nancy leben wollen, wenn ich es nicht müsste.«

Tucker lacht, aber so leise, als handele es sich um einen Insiderwitz.

»Deine Großtante ist gar nicht so schlimm.«

Ich ziehe die Augenbraue hoch.

»Okay, sie ist sehr schlimm«, gibt er zu.

Ich spüre, wie seine Brust vor Lachen bebt, so dicht hat er sich an mich gepresst.

»Ich habe keine Lust, dich fast zwei Monate nicht zu sehen«, sage ich.

»Letztes Jahr war es doch auch so.«

»Ja, aber das war, bevor du dich in mich verliebt hast.«

Ich gebe ihm einen Kuss auf die Nase und löse mich von ihm, um meine Koordinaten bereitzulegen und ihm die verschiedenen Gleichungen und Berechnungen zu zeigen, die ich angestellt habe, um den Kometen heute Nacht zu verfolgen.

»Wie auch immer, ich werde dich auf Scarletts Party sehen«, füge ich hinzu. »Nancy spricht seit Monaten von nichts anderem mehr.«

Tucker nickt. Irgendetwas an ihm ist anders. Ich kann es nicht erklären.

Ich sollte besser zur Sache kommen. Das wird ihn aufmuntern. Ich brauche mehr Zeit als du, um meine Gefühle auszudrücken, hat Tucker dieses Jahr bestimmt ein Dutzend Mal erklärt. Ich sollte nicht vergessen, dass einige Leute manchmal länger brauchen, um ihre Gefühle in Worte zu fassen.

Ich werfe mein Haar zurück und wedele mit dem Koordinatenblatt. Das müsste seine Stimmung heben. Normalerweise zaubert der Anblick von mathematischen Gleichungen ein Lächeln in sein Gesicht und hebt die Augenbrauen über den dunkeln Rand seiner Brille.

»Meinen Berechnungen zufolge wird der Komet der Sonne erst am 3. Juli am nächsten kommen«, erkläre ich. »Aber ich sage dir, es ist erstaunlich. Trotz Lichtverschmutzung ist dieser Komet der hellste, den ich je gesehen habe.«

Ich gebe die Koordinaten in meinen Schulcomputer ein.

Wie Vanna White lasse ich die Hand über das Teleskop gleiten und gebe dabei acht, seine Position nicht zu verändern. »Sieh dir dieses Baby an. 20-Zentimeter-Spiegel. Höchstmögliche Vergrößerung.«

Tucker nickt schweigend.

»Bereit?«, frage ich.

»Bereit«, erwidert Tucker, aber unser üblicher Austausch klingt irgendwie hohl. Ich habe diese Information absichtlich geheim gehalten. Das weiß er. Spaßverderber.

Egal. Ich mache weiter; ich werde mich nicht von seiner schlechten Laune anstecken lassen. Tucker wollte es sehen. Jedenfalls hat er das heute Morgen gesagt, als wir in der Schule unsere Schließfächer leer geräumt haben.

Der Computer piept und beginnt, die Bilder des Stargazers zu speichern.

»Dieses Schätzchen ist so viel wert wie 7562 Pizzen«, sage ich über das Teleskop hinweg. »Aber jetzt heißt es für fast zwei Monate, bye, bye, Pizza Palace.« Ich setze mich auf die Decke, schlage die Beine übereinander und hole ein Pfefferminz hervor. Ich habe nichts dagegen, den ersten Schritt zu tun.

Tucker späht durch die Linse.

Ich rutsche auf der Decke zur Seite, um ihm Platz zu machen.

»Du hast es geschafft«, sagt er und seine Stimme hebt sich etwas. Sein Ton ist sanft, als wolle er nicht zu laut sprechen. »Du wirst das Stipendium bekommen.« Die Mondsichel über seinem Kopf lässt seine Umrisse perlmuttfarben schimmern.

»Du siehst echt gut aus, wie du da neben meinem Stargazer stehst«, sage ich. »Richtig sexy.«

Ich lache, aber im selben Moment summt Tuckers Handy. Er langt in seine Hosentasche und stellt das Summen ab.

»Also, was meinst du? Du bist so still.«

Ich weiß, ich bin ungeduldig, aber das ist alles so grotesk.

»Kommst du mit vors Haus?«, fragt er, und irgendwie versagt seine Stimme. Mist.

Tuckers leise Stimme ist kein gutes Zeichen. Er spricht in demselben Tonfall wie damals, als wir zwölf waren und Trish mit einem motorisierten Barbie-Auto über meinen Steinschleifer fuhr. Und im selben Tonfall erzählte er mir, dass seine Großmutter Patrick gestorben sei. Er sprach zwei Wochen lang kaum ein Wort, außer im Mathe-Kurs, wenn er Gleichungen aufsagen durfte. »Bitte«, fügt er hinzu.

»Hast du bei einer Abschlussprüfung nur eine Zwei bekommen oder was?«, frage ich.

Tucker schüttelt den Kopf.

Eigentlich hätte er mich nach den neuen Koordinaten fragen sollen, welche Sternbilder der Komet auf seiner Laufbahn passiert und in welcher Mondphase optimale Sichtverhältnisse herrschen. Was meint er damit, ich solle ihn vors Haus begleiten?

Tucker trägt seine Summerhill-Academy-Jogginghose und ein blaues T-Shirt. Er bohrt seinen großen Zeh ins Gras. Irgendjemand sollte das dokumentieren. Mister Ich-habe-meinen-Terminkalender-immer-dabei hat das Haus ohne Converse-Sneakers verlassen? Stattdessen trägt er Flipflops. Tucker schiebt seine Brille auf den Nasenrücken.

Er tritt einen Schritt zur Seite, weg von den Gläsern für unseren Eistee und der flauschigen Decke, auf der er mich vor drei Tagen geküsst hat, bis mir der Kiefer wehtat.

»Ich möchte hier nicht darüber reden«, sagt er.

»Worüber?«

Er seufzt.

Beim genaueren Hinsehen kommen mir seine Sandalen bekannt vor. Es sind dieselben, die die Jungs vom Baseballteam der Summerhill Academy tragen. Die sportlichen Typen, über die sich Tucker beim Mittagessen immer lustig macht.

Mit hochgezogenen Schultern geht er ums Haus in den Vorgarten.

»Kannst du mir nicht einfach sagen, was los ist?«, sage ich und folge ihm.

Tucker steht auf der Straße vor dem Haus und hat immer noch die Hände in den Taschen.

»Ich …«, murmelt Tucker.

»Was ist los mit dir?«

»Ich … ich will Schluss machen«, bringt er schließlich heraus.

Mir wird flau im Magen, wie wenn wir mit sechzig Sachen über die riesige Kuppe am Overlook Drive brettern. Ich und Tucker. Mit seinem Volvo machen wir das ständig.

»Es ist aus, Bean.«

Ich schüttele ungläubig den Kopf.

»Ich will es so«, sagt Tucker und es hört sich an, als würde er mich anflehen.

»Tut mir leid«, sagt er und schiebt sich die Brille auf die Nase. »Aber ich will es.«

»Nein, willst du nicht«, sage ich, dann versagt mir die Stimme.

Ich starre auf Moms Eiche, auf die Tucker und ich als Kinder immer geklettert sind. Mich interessieren seine Knubbelknie und seine zerzausten blonden Haare nicht. »Das willst du nicht«, wiederhole ich. »Wir haben grünes Gras, eine sternenklare Nacht – verdammt, ich kann sogar Ras Algethi sehen. Dies ist ein romantischer Moment, Tucker, kein Moment, um sich zu trennen. Du sollst doch noch meine Koordinaten checken.« Ich hasse es, wie meine Stimme gerade klingt.

»Schrei mich bitte nicht an, Sarah«, sagt er.

Oh mein Gott. Dieser Ton; er ist nicht bittend oder flehend – er ist bemitleidend.

Ich balle die Faust, und meine Fingernägel graben sich in meine Handfläche. Dann öffne ich die Faust und balle sie erneut.

Tucker hat den Blick immer noch gesenkt.

»Was ist mit letzter Woche? Als du …« Meine Wangen werden ganz heiß. »Als du mich berührt hast?« Ich muss ihn nicht an alle Einzelheiten erinnern.

Tucker presste mich an sich, schob seine Zunge in meinen Mund und ließ seine Finger über meine Brüste gleiten.

Tuckers Kinn berührt fast seine Brust und die Hände sind immer noch in seinen Taschen vergraben. Wieder vibriert sein Handy und rasch stellt er es ab.

»Ich weiß, dass ich dich berührt habe«, sagt er. »Aber ich wollte nicht, dass es zum Äußersten kommt. Ich wollte es nicht erzwingen, bis ich mir sicher war.«

»Du machst mit mir rum, während du darüber nachdenkst, mit mir Schluss zu machen?«

Ich muss einfach wieder laut werden.

Tucker macht einen Schritt auf mich zu und streckt die Hände aus. »Nein, so meine ich das nicht.« Als ich seine Hände nicht ergreife, presst er die Handballen gegen die Augen und seufzt. »Ich kann so was einfach nicht. Ich will dich nicht verletzen …« Sein Handy summt erneut und er bringt es ein drittes Mal zum Schweigen. Dabei gleitet es ihm aus den Fingern und fällt ins Gras.

Ich hebe es auf und gebe es ihm. Becky Winthrops Name erscheint auf dem Display.

»Sag ihr, sie wird mit der Planung der Nachhilfestunde für morgen warten müssen, bis du mit deiner Freundin Schluss gemacht hast.«

Tucker lässt das Handy wieder in seine Hosentasche gleiten.

»Es ist Freitagabend«, sagt er. »Willst du nicht mit deinen Freunden abhängen? Mit Ettie? Oder mit den Matheleten?«

»Wir wollten doch zusammen abhängen … oder nicht?«, frage ich.

»Ich bin heute Abend schon mit jemand anderem verabredet.«

Ich schnappe nach Luft und hasse mich dafür.

»Es gibt jemand anderen?«

Er kommt näher, und ich kann nichts dagegen tun. Ich finde keine Worte, um ihn daran zu hindern, mich festzuhalten.

Tucker streicht mit der Hand über mein Haar und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Er legt die Hände um meine Taille und drückt mich. Ich hasse die Berührung seiner Hände.

Ich spüre die Wärme seines Körpers. Das ist unfair. Er wird gehen, und das war’s dann.

Tränen brennen in meinen Augen.

Ich werde nicht weinen. Periodensystem der Elemente in alphabetischer Reihenfolge aufsagen und bloß nicht weinen. Actinium. Aluminium. Americium. Antimon.

Okay. Es funktioniert.

Argon. Arsen. Astat.

»Weißt du noch?«, flüstert er. Seine Nase klingt verstopft und er lässt mich nicht los. »Als du sieben warst, hab ich dich reingelegt, indem ich behauptete, das sei ein Stück vom Mond.« Tucker deutet auf den Findling im Garten der Zuckermans auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Damals hätte ich dir alles geglaubt«, sage ich und schniefe. Tucker löst sich von mir, und die Wärme, die zwischen uns war, verschwindet wieder.

Er küsst mich auf die Stirn und meint: »Ich muss mich ausprobieren. Sonst werde ich immer derselbe bleiben.«

»Wer will sich denn ändern?« Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke, und meine Unterlippe zittert, als wäre ich fünf.

Er schaut weg und lässt die Schultern hängen.

Alles ein Ausdruck von Schuldgefühl.

Aber warum sollte er sich schuldig fühlen? Weil er mich verletzt hat? Weil er mich nicht vorgewarnt hat?

»Also, wer ist es? Mit wem gehst du heute Abend aus? Mal wieder mit den Pis?«, frage ich mit Bezug auf unseren Mathe-Club.

»Ich nehme gerade eine Auszeit von den Pis«, gesteht er.

»Du hast doch die Gruppe ins Leben gerufen. Du bist zum Direktor gegangen. Du …«

Es hat keinen Zweck. Tucker macht weiter Ausflüchte, und ich kehre ihm den Rücken zu, um wieder in den Garten hinterm Haus zu gehen. Ich weiß nicht, ob ich es über mich bringe, hineinzugehen. Es klingt zwar pathetisch, aber ich bin absichtlich gegangen, damit er mich zurückruft.

»Du denkst einfach nur logisch, Bean.« Ich bleibe stehen und erstarre. In Gedanken höre ich Scarlett sagen: Hin und wieder musst du die Sterne auch mal Sterne sein lassen.

Ich drehe mich zu Tucker um.

»Du beobachtest die Welt um dich herum. Aber ich bin mir nicht sicher, ob du in ihr lebst«, meint er.

Meine Eingeweide brennen. Tucker steht vor mir, in einem blauen T-Shirt und einer Summerhill-Jogginghose; er trägt nicht wie üblich Poloshirt und Jeans. Es liegt nicht nur an den Flipflops – es ist so viel mehr.

Letzte Woche haben wir die Checkliste für meine Bewerbung für das Waterman-Stipendium zusammengestellt. Er hat recht, vor zwei Tagen wollte ich, dass er mir den BH auszieht, aber er hat abgeblockt.

»Hast du nicht bemerkt, dass ich mich auf dem Parkplatz der Elftklässler herumgetrieben habe? Oder dass ich nicht bei jedem Treffen der Pis dabei war?«

Er schwafelt weiter, aber nichts von dem, was er sagt, will ich hören.

»Ich verändere mich. Ich bin anders. Und du hast es nicht mal bemerkt.«

Meine Unterlippe zittert weiter und ich beiße darauf, damit es aufhört. Aber es funktioniert nicht. Direkt unterhalb meiner Rippen tut es weh. Ich lege eine Hand auf meinen Bauch.

»Tut mir leid«, sagt Tucker und unterdrückt ein Schluchzen. Seine Stimme klingt belegt. Er macht auf dem Absatz kehrt und geht die Straße hinunter.

Seine Entschuldigung ist gleichzeitig sein Abschiedsgruß.

Der Mond scheint auf seinen Rücken, als er am Haus der Zuckermans und deren idiotischen überdimensionalen Findling vorbeigeht.

Aus einem Fenster im oberen Stock unseres Hauses dringt Licht. Scarletts hagere Gestalt beobachtet mich vom Fenster ihres Schlafzimmers aus. Ihr Gesicht wirkt im Mondlicht wie Porzellan. Dann verschwindet sie vom Fenster, und man sieht nur noch die blaue Steppdecke auf ihrem Bett.

Du beobachtest die Welt.

Ich versuche, Elemente aufzuzählen, aber nichts scheint zu funktionieren. Zweimal schaffe ich es bis zur Mitte des Alphabets, aber mein Gesicht ist immer noch nass und verquollen.

Neon. Neptunium. Nickel. Niob. Nobelium.

Die Zweige über meinem Kopf bewegen sich im Wind. Durch ein offenes Fenster dringt irgendwo der Lärm eines Baseballspiels, das im Fernsehen übertragen wird. Doch das lauteste Geräusch verursacht mein ungleichmäßiger Atem.

Das Licht der Straßenlaterne vor unserem Haus scheint auf den Boden – ein Riss zieht sich zickzackförmig über das Pflaster, wo Tucker gestanden hatte. Seine Konturen bilden Kassiopeia nach, ein Sternbild, das angeblich aussieht wie eine Königin, die an ihren Thron gekettet ist.

Das Licht in der Garage geht an, und ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Ich wische mir die Tränen von den Wangen und bringe meinen Pferdeschwanz in Ordnung.

»Bean? Bist du das?« Mom rollt die Wertstofftonne ans Ende der Einfahrt.

»Ja«, sage ich und räuspere mich, damit sie nicht hört, wie belegt meine Stimme ist.

»Ich wusste nicht, dass du noch hier draußen bist. Sag Tucker Gute Nacht und komm rein. Wir fahren morgen gleich nach der Abschlussfeier und bis dahin muss alles fertig sein.«

Ich höre auf das Geräusch von Moms flachen Sandalen, als sie zum Haus zurückgeht und die Tür schließt. Vermutlich stehe ich schon eine ganze Weile hier draußen, denn Kassiopeia hat sich mittlerweile westwärts bewegt.

»Gute Nacht, Tucker«, sage ich zu der leeren Straße und gehe ins Haus.

Kapitel 2

DIE22-UHR-NACHRICHTENHALLENAUSDEMWOHNZIMMER. Ich mag jetzt nicht in meinem Schlafzimmer sein, wo mich Tucker die ganze Zeit von Fotos an Spiegeln und Wänden anstarrt. Schlafen ist auch keine Lösung, deshalb habe ich die Bewerbung um das Waterman-Stipendium vor mir auf dem Tisch liegen. Ich tippe mit dem Stift auf die Stelle der Seite, wo die Höhe des Stipendiums aufgeführt ist: 34 000Dollar.

Ich angle meinen Rucksack vom Boden, stelle ihn auf meinen Schoß und öffne den Reißverschluss. Gleich obenauf liegen ein paar Fotos aus dem Schließfach, das ich heute Morgen ausgeräumt habe. Ich nehme sie heraus und betrachte sie: Tucker und ich beim Summerhill-Wintertanz, kurz nachdem wir ein Paar wurden; damals gewann ich den ersten Preis bei der Wissenschaftsmesse. Dann sind da noch ein paar Fotos von Ettie und mir, aber die meisten zeigen Tucker und mich bei einer Reihe von Aktivitäten, die alle irgendwie mit Naturwissenschaften zu tun haben. Auf allen Fotos trägt er seine schäbigen Converse-Sneakers, auf die er die Nachkommastellen der Zahl Pi auf jede freie Fläche gekritzelt hat.

In meinem Rucksack befinden sich noch Unterlagen von Vorträgen, Eintrittskarten fürs Planetarium und –

Ich hole den Zettel hervor, den Tucker mir vor einem Jahr geschrieben hatte, nachdem wir beschlossen hatten, es öffentlich zu machen.

Ich denke den ganzen Tag an dich.

Ich kann das alles noch gar nicht glauben, Bean.

Mit aller Kraft zerknülle ich das winzige Stück Papier in meiner Faust. Als ich den Griff löse, schmerzen die Muskeln meiner Hand. Der Mond scheint durch die Wolken, aber – die Sonne wird aufgehen und es wird ein neues Leben beginnen, ohne Tucker, zum ersten Mal seit der Kindergartenzeit.

Ich hasse meine Bücher. Ich hasse dieses dämliche Stipendium. Ich schmettere meinen Stift auf den Boden und er schlittert über die Küchenfliesen. Ich erstarre, aber Mom und Dad scheinen im Nebenzimmer vor dem Fernseher nichts zu hören. Das hätte gerade noch gefehlt, dass sie meine verheulten Augen sehen, wissen wollen, warum ich weine, und so lange bohren, bis ich endlich nachgebe.

Ich seufze – natürlich hasse ich meine Bücher oder das Stipendium nicht. Vielmehr hasse ich es, dass ich beides liebe, und genau das ist es, was Tucker nicht will.

»Oh mein Gott.« Scarletts Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie sitzt mit ihrem Handy auf der Treppe der Veranda. »Die Roben von Summerhill sind grässlich. In meiner ertrinke ich fast«, sagt Scarlett in ihr Handy. Ihre blonden Haare wallen über ihren Rücken. »Ja, wir fahren gleich danach nach Cape Cod. Echt, das Timing passt mir gar nicht.«

Vor dem Haus ertönt eine Autohupe.

»Mom!«, ruft Scarlett. »Trish ist da!«

Es ist 22.30 Uhr. Gut. Jetzt, wo Scarlett weg ist, kann ich Großmutter anrufen. Dann habe ich sie ganz für mich. In San Diego ist es jetzt 19.30 Uhr.

Ich stehe auf und halte noch Tuckers Zettel in der Hand. Zögernd stehe ich vor dem Abfalleimer und drehe ganz langsam die Hand um.

»Ich möchte nicht mehr nur dein Freund sein. Findest du nicht auch, dass das nichts bringt?« Tucker hat mich im Biosaal in die Enge getrieben. Mit einer Hand stützt er sich an der Wand neben mir ab, die andere steckt in seiner Hosentasche.

»Was meinst du?« Mein Herz pocht so laut, dass ich erstaunt bin, dass er es nicht hört.

»Ich bin in dich verknallt, seit wir neun waren. Seit du in unserem Vorgarten über meinen dämlichen Hund gestolpert und auf die Nase gefallen bist.«

Tuckers Gesicht ist dicht bei meinem, seine Lippen sind so nah, dass ich seinen Atem spüren kann. Ich möchte ihn küssen; er war mir noch nie so nah, noch nie habe ich die Wärme seines Körpers gespürt.

»Ich kenne dich seit dem Kindergarten«, sage ich.

»Umso besser.«

Bei der Erinnerung schüttle ich den Kopf und atme den Duft von Pasta und Soße ein, der noch vom Abendessen in der Luft liegt. Das zerknüllte Stück Papier klebt an meiner Handfläche, aber wie immer siegt die Schwerkraft. Blitzschnell fällt Tuckers Zettel in den Abfalleimer zu den Überresten von Hühnchen, zu Eier- und Orangenschalen.

Grandma wird das irgendwie verständlich machen.

Mom und Dad sitzen im Wohnzimmer und schauen sich gerade eine Sendung über globale Erwärmung an.

Ich möchte diesen Anruf machen, ohne das Warum erklären zu müssen. Auf Zehenspitzen schleiche ich hinter den Sesseln meiner Eltern vorbei, um möglichst wenig Lärm zu machen.

Alles okay, keiner rührt sich. Ich bin schon fast auf der Veranda. Ich mache noch einen Schritt über den Orientteppich, da knarrt eine Holzdiele.

»Beanie?«, sagt Mom.

Verdammt.

Ich bleibe abrupt stehen, stoße mit der Hüfte an einen Beistelltisch und der Autoschlüssel fällt zu Boden.

»Nichts passiert, traumtänzerische Eleganz meinerseits«, erkläre ich und hebe den Schlüssel auf.

»Vergiss nicht, von der Bewerbung für das Waterman-Stipendium eine Kopie zu machen, für den Fall, dass bei Tante Nancy etwas mit dem Original passiert.«

Das Waterman-Stipendium. Seit Mom ihren Job an der East Bay High, einer Schule in der Stadt, verloren hat, spricht sie von nichts anderem mehr. Sie haben alle entlassen, weil die Kids die Standard-Tests für öffentliche Schulen nicht bestanden haben. Keine Ahnung, wieso alle Lehrer, sogar solche wie Mom, die an Konferenzen teilgenommen und Nachmittagsaktivitäten geleitet haben, einfach gefeuert wurden.

»Mach noch eine extra Kopie von deiner jetzigen Arbeit. Nur für alle Fälle«, fügt sie hinzu.

»Von meiner Forschungsarbeit?«, frage ich.

»Mach davon auch ein Backup«, meint sie.

»Ich habe schon Backups gemacht.«

»Dann mach ein Backup von deinen Backups.«

»Okay«, sage ich mit hängenden Schultern. »Aber zuerst rufe ich Grandma an.«

Ohne dieses Stipendium müssten Mom und Dad Nancy um Geld bitten, nicht nur für Scarletts College, sondern auch für meine letzten zwei Jahre in Summerhill. Auf meinem Weg zur Veranda komme ich an sechs Kartons mit Dads Forschungsmaterial vorbei. Sie tragen Stempel mit den Initialen WHOI, Woods Hole Ozeanografisches Institut, und sind neben unseren Koffern aufgestapelt. Normalerweise helfe ich meinem Dad jeden Sommer beim Katalogisieren und Analysieren von Proben.

»Sag Grandma, ich wünsche ihr viel Spaß bei ihrem Erholungsprogramm«, ruft Dad mir nach. »Was war das gleich noch mal?«

»Stille-Meditation«, erwidert Mom.

Ich schließe die Tür zur überdachten Veranda und lasse mich auf unser altes blaues Sofa fallen. Ich ziehe am Telefonkabel, bis es fast gerade ist, und wähle die Nummer meiner Großmutter.

Beim zweiten Klingeln nimmt jemand ab.

»Koriander, Gracie, Koriander. Es gibt Chicken Tikka Masala und keine Rinderbrust, um Himmels willen.«

Im Hintergrund höre ich Gracie sagen: »Ich würde für Rinderbrust Koriander nehmen; ich wette, das schmeckt gut.«

»Wenn du dich unbedingt übergeben willst«, entgegnet Großmutter.

»Grandma!«, sage ich.

»Bean!«, ruft meine Großmutter. »Liebes, würdest du zu Rinderbrust Koriander nehmen?«

»Koriander ist ein indisches Gewürz«, erwidere ich.

»Stimmt, du bist ja auch nicht verrückt. Hol den Rotwein, Gracie«, sagt Großmutter. Grandma und Gracie sind schon vierzig Jahre zusammen, seit sie zwanzig waren – zwei Jahre nachdem Dad geboren wurde. Großmutter meint, Dad sei die beste und einzige Entscheidung gewesen, die sie jemals mit einem Mann getroffen habe. Dennoch, als Grandpa Henry vor vier Jahren starb, leitete sie den Gedenkgottesdienst.

»Tucker hat mit mir Schluss gemacht«, erkläre ich.

Schweigen.

»Gracie, mach das Tikka ohne mich fertig. Ich muss hier ein Feuer löschen«, sagt Großmutter.

»Oh nein«, höre ich im Hintergrund. Meine Augen brennen vor lauter Tränen. Schon wieder. Ich hole ein paarmal tief Luft. Ich schaue an die Decke, weil es dadurch irgendwie leichter wird, nicht zu weinen. Meine Augen brennen trotzdem und meine Nasenflügel beben. Ich werde jeden Moment ein Taschentuch brauchen.

»Was ist passiert?«, fragt Grandma und atmet tief aus. Ich sehe sie vor mir auf ihrer Veranda mit den Korbmöbeln und den blau-weiß-karierten Kissen. Wahrscheinlich sitzt sie gerade in ihrem Lieblingssessel neben ihrem Lieblingsfarn. Ich wette, sie streicht beim Telefonieren mit den Fingerspitzen über die Blätter. Grandma und Gracie fahren total auf Farne ab.

»Er meinte, ich würde die Welt nur beobachten. Vermutlich wünscht er sich eine Freundin, die aufregender ist.«

»Was kann aufregender sein als jemand, der weiß, wie man eine Kometenflugbahn berechnet? Papperlapapp. Woher weiß er so genau, was er will? Er ist doch erst sechzehn!«

»Ich werde in einer Woche auch sechzehn.«

»Schatz, Tucker Jackson ist schon hinter dir her, seit du klein warst und einen Chemiebaukasten hattest.«

»Das ist es ja eben«, sage ich und gestikuliere, als stünde meine Großmutter hier bei mir auf der Veranda. »Das ist gar nicht seine Art. Wir beide sind ernsthaft und denken logisch. Das ist das Beste an unserer Beziehung. Es ist, als hätte er eine ganz neue Persönlichkeit.« Ich zupfe an dem ausgefransten Stoff des Sitzpolsters.

»Fahrt ihr nicht morgen nach Cape Cod?«, fragt Grandma mit ernstem Ton.

»Ja«, krächze ich.

»Wirst du nicht deinen Kometen weiter verfolgen, ein fantastisches Stipendium und den Nobelpreis für Astronomie gewinnen?«

»Physik«, sage ich.

»Ja, natürlich. Wow, Gracie, das ist mal ein Naan!« Mit indischem Brot im Mund meint Grandma: »Beanie, ich liebe dich mehr als mein Gepäck. Tucker benimmt sich gerade wie ein Alien, und solange er E. T. Tucker ist, solltest du daran denken, was dir wichtig ist und was du tun musst.«

Jetzt geht es mir schon besser. Großmutter hat recht. Was interessiert mich Tucker? Überhaupt nicht.

Ich seufze.

Eben doch.

»Geh an den Strand, fahr mit deinem Dad nach Woods Hole und häng bei der Albert rum.«

»Alvin.«

»Genau«, sagt sie und meint damit das Tiefsee-Tauchboot, das schon zum Wrack der Titanic hinabgetaucht ist. »Sieh dir das große Stück Metall an, küsse es, und du wirst wieder wie neu sein.«

»Du weißt, warum ich die Alvin liebe, Grandma.«

Großmutter hört sich an wie ein Roboter, der aus einem Lehrbuch zitiert: »Die Alvin ist in der Lage, am Grunde des Ozeans Lebensformen aufzuspüren, die mit Lebensformen auf anderen Planeten vergleichbar sind.«

Ich lache, obwohl mir immer noch Tränen über die Wangen laufen. Ich hasse es, zu weinen.

»Ich liebe dich, Grandma.«

»Ach, Kind. Ich liebe dich auch. Lass dich nicht von Tucker runterziehen. Tu, was dir gefällt. Und lass dich nicht von meiner Schwester zwingen, lächerliche Kleider zu tragen oder zu einer dieser Partys der Töchter der Amerikanischen Revolution zu gehen.«

Tante Nancy ist ihre Schwester.

»Du weißt, dass sie es tun wird«, sage ich. »Sonst wird sie mir damit drohen, mein Schulgeld nicht mehr zu bezahlen.«

»Und ob ich das weiß.«

Großmutter erklärt mir den Zweck der Stille-Meditation an dem ruhigen und abgeschiedenen Ort, zu dem sie und Gracie am Wochenende aufbrechen wollen. Die innere Einkehr soll sie daran erinnern, sich selbst treu zu bleiben, solange sie den »übermäßigen Lärm unserer modernen Zeit ausblenden« kann.

»Dann genieß das Tikka und die Stille. Sag Gracie, dass ich sie lieb habe«, sage ich.

Großmutter bietet mir extra Taschengeld für den Sommer an, aber ich lehne ab. Sie hat nicht genug, um Scarlett und mir etwas zu schicken. Ich weiß, sie wird mir zum Geburtstag mehr schicken, als sie sich leisten kann. Ich sage ihr immer wieder, sie soll ihr Geld stattdessen für ein Flugticket ausgeben. Nachdem ich aufgelegt habe, atme ich tief aus und lehne mich zurück. Mir geht es tatsächlich besser. Auch wenn es nur für eine Weile ist und ich weiß, dass Großmutters Zauber nur kurz anhält.

Weil ich eindeutig krank bin, gehe ich vors Haus und setze mich auf die Bordsteinkante, wo Rasen und Straße aufeinandertreffen. Manchmal kommt Tucker noch vorbei, wenn er mit ein paar von den Pis im Pizza Palace war. Ich werde am Straßenrand arbeiten, bis er die Straße entlangkommt, sich zu mir setzt und wir reden können. Es ist so einfach.

Ich stelle mir vor, dass wir uns treffen, so wie wir es immer getan haben. Er geht wie gewohnt in seinen Converse-Sneakers und Jeans die Straße entlang, die Hände in den Hosentaschen, und kommt mit großen Schritten auf mich zu.

Er setzt sich und überfliegt meine Koordinaten.

»Sie sind seit elf Monaten konstant«, sage ich laut zum imaginären Tucker. »Mein Stargazer hat hochauflösende Linsen mit Blendschutz«, füge ich hinzu.

»Ich wusste, du würdest es schaffen, Sarah«, sagt Tucker in meiner Fantasie. »Habe ich schon erwähnt, dass ich mich in dich verliebt habe?«

Ich blinzle die Fantasiegestalt weg und schaue auf die leere Straße.

Nachtfalter tanzen im Licht der Straßenlaterne. Er kommt nicht. Er wird nie mehr kommen. Er wird keine Chips mehr kaufen, und ich werde nicht mehr das Geschwätz des Debattierclubs hören.

Ein Auto rast die Straße entlang und hält vor unserem Haus. Mir wird schwindlig – Trishs blauer Fiat! Scarlett steigt aus und kommt in ihren Ballerinas zu mir gelaufen. Ihre rosa Jeans sind knöchellang und sie trägt ein goldenes Fußkettchen. Sie setzt sich neben mich. Ich starre hinüber zum Vorgarten der Zuckermans.

»Trish hat mir gesagt, was passiert ist. Ich habe bestimmt neunmal versucht, dich auf dem Handy zu erreichen.«

»Wie lange?«, frage ich, und meine Wangen werden ganz warm. Ich werde nicht mehr heulen. »Wie lange weißt du es schon?« Ich muss die Tränen unterdrücken und bekomme einen Kloß im Hals. Schließlich blicke ich in die blauen Augen meiner Schwester. Lavendelblau, sagt Grandma immer.

»Ich hatte keine Ahnung. Ich wünschte, ich hätte es gewusst«, sagt Scarlett mit gedämpfter Stimme und zupft an den Grashalmen.

Ich bin nicht sicher, ob ich Scarlett glauben kann. Trish muss es gewusst haben und sie erzählt Scarlett immer alles. Trish weiß auch über jeden in der Schule Bescheid, also warum sollte sie nicht wissen, dass ihr Bruder mit mir Schluss machen wollte?

»Vergiss es einfach«, meint Scarlett.

»Ich soll vergessen, dass mein bester und fester Freund mit mir Schluss gemacht hat?«

»Ja. Du musst mehr Rückgrat zeigen, sonst trampeln die Leute auf dir rum.«

Ich stehe auf und lasse meine Schwester im Gras sitzen. Ein paar Schritte vom Haus entfernt bleibe ich stehen.

»Verrate nichts«, sage ich, ohne mich zu meiner Schwester umzudrehen. »Bitte.«

Kapitel 3

VOMRÜCKSITZUNSERESKOMBISBEOBACHTEICH,wie sichdie Bäume allmählich verändern. Die Ahornbäume und Eichen verschwinden und machen windschiefen Pech-Kiefern Platz. Wir nähern uns Cape Cod. Die Rinde der Bäume ist so ausgeblichen, als sei sämtliches Salz des Ozeans in den Stamm und bis hinauf zu den Nadeln gedrungen. Hinten im Auto sind die Koffer und mein hochmoderner Stargazer5020 verstaut.

Ich schaue wieder nach vorn.

Scarlett würde niemals den Wechsel der Baumarten bemerken. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, mich anzustarren. Ihre blauen Augen sind zu Schlitzen verengt und sie presst die Lippen aufeinander. Der Haarknoten auf ihrem Kopf sitzt straffer als sonst und lässt ihren Hals besonders lang erscheinen. Mom behauptet immer, Scarletts Lippen sähen aus wie Rosenblütenblätter. Keiner sagt so etwas je über mich.

»Was ist?«, frage ich.

»Nichts«, erwidert sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. Bestimmt zählt Scarlett schon die Minuten, bis sie zur Orientierungseinheit der Juilliard School abreist. Sie war noch nie so lange fort. Wenn sie in der ersten Augustwoche aus New York zurückkommt, werden wir die berüchtigte Abschiedsparty feiern.

Scarlett streckt die Beine in die Höhe, sodass ihre Zehenspitzen das Autodach berühren. Sie hat Anzeichen von Ballenzehen und nässende Blasen an den Füßen. Ihre Zehennägel sind kaugummirosa lackiert. Vielleicht kommt es daher, dass sie ihre Füße durchstreckt, jedenfalls sehen ihre Zehen wie lädierte Kunstwerke aus. Ich ziehe meine Knie an und drücke sie gegen die Rückenlehne des Beifahrersitzes. Ich habe mir noch nie die Zehennägel lackiert.

»Sarah, du bohrst deine Knie in meinen Rücken«, sagt Mom. Sie nennt mich nur dann Sarah, wenn sie mir etwas Wichtiges zu sagen hat. Normalerweise geht es dann um die Schule oder das Geld, das wir nicht haben. Offenbar habe ich Mom verärgert, deshalb nehme ich die Beine herunter.

»Ettie hat dich auch gestern Abend angerufen«, bemerkt Scarlett und streckt die Hände nach ihren Zehen aus. »Ich frage mich, worüber sie mit dir sprechen wollte?« Wissend zieht sie die Augenbrauen hoch.

»Sei still«, flüstere ich, damit niemand außer Scarlett es hören kann.

Scarlett streckt ihre Beine erneut bis zum Autodach und lächelt dabei selbstgefällig. Ich ziehe am Saum meines Pi-T-Shirts.

»Sag es Mom. Sie wird es sowieso von Carly erfahren und dann wird sie wissen wollen, warum du es ihr nicht erzählt hast«, flüstert sie.

Ich ignoriere Scarlett, beuge mich nach vorn und stecke den Kopf zwischen die Sitze von Mom und Dad.

»Wird die Alvin dort sein, wenn wir in Woods Hole sind?«, frage ich.

»Sie kommt gerade von der Küste von Martha’s Vineyard und wird mit dem Schiff zurück nach Woods Hole transportiert, wo sie diesen Sommer gründlich überholt werden soll«, erklärt Dad.

Ich wäre zu gern dabei, wenn sie sie auseinandernehmen. Auf diese Weise könnte ich genau sehen, wie sie funktioniert. Es ist erstaunlich, wie viel Präzision und Technik zum Schutz von Meeresbiologen wie meinem Dad, die sich im Innern des U-Boots befinden, erforderlich sind. Der Wasserdruck außerhalb der Alvin wäre sofort tödlich.

Ich öffne den Mund, um die nächste Frage zu stellen: Wie lange kann ich Tante Nancy maximal aus dem Weg gehen? Aber Scarlett unterbricht mich.

»Warum trägst du eigentlich immer Sachen, die dir zwei Nummern zu groß sind?«

»Wovon redest du? Meine Sachen sind bequem und zweckmäßig.«

Ich trage eine Baseballkappe, mein Mathe-Club-T-Shirt und die üblichen Khaki-Shorts. Sehr anstößig.

Im Grunde genommen habe ich keine Ahnung, was gut aussieht und was nicht. Letztes Jahr habe ich mal eines von Scarletts Kleidern anprobiert, ein kurzes schwarzes. Es sah ganz gut aus, obwohl mir die Träger ständig von den Schultern rutschten. Als Scarlett ins Zimmer kam, schrie sie mich an, ich solle es sofort ausziehen. Ihre Stimme überschlug sich fast und für den Rest des Tages konnte sie nur noch flüstern. Alle Mädchen in Summerhill tragen exakt dasselbe und haben dieselben gebleichten Haare. Vielleicht sollte ich mal einige der Produkte ausprobieren, die Scarlett jeden Morgen benutzt.

»Ich trage keinen Schlabberlook«, knurre ich.

»Du ziehst alles an, was Mom und Dad dir kaufen, und trägst die langweiligen Baseballcaps deines Algebra-Clubs.«

»Moment mal. Wir, die Pis, sind ein preisgekröntes Mathe-Team für Fortgeschrittene. Das heißt, wir machen Mathe. Mathe hat mit Zahlen zu tun. Man kann sie addieren, subtrahieren …«

»Wie auch immer, Bean. Vielleicht hat Tucker deshalb mit dir Schluss gemacht.«

Mom fährt auf ihrem Sitz herum.

»Wann ist das passiert?«, fragt sie. Moms Augen sind so tiefblau wie Scarletts.

»Vielen Dank, du Verräterin«, murmle ich und verschränke die Arme über der Brust. Ich weigere mich, Scarlett anzusehen. Ich kenne diesen triumphierenden Gesichtsausdruck nur zu gut.

»Bist du okay?«, erkundigt sich Mom. Ich hasse diese Sorgenfalte auf ihrer Stirn und wie ihre schlanken Finger die Armlehne umklammern.

»Mir geht’s gut. Und es würde mir noch besser gehen, wenn wir Tucker von Nancys Party wieder ausladen könnten.«

Mom öffnet den Mund, und ihr Blick ist eine einzige Entschuldigung. »Du weißt, dass ich Carly das nicht antun kann.«

Mom tippt Dad gezielt an.

Ich stoße Scarlett gegen ihre knochige Schulter, als Mom gerade nicht hinsieht, aber sie zuckt nur mit den Achseln. »Was ist? Du hättest ja auch damit herausrücken können«, meint sie.

Mom stößt Dad erneut an und er zuckt auf seinem Sitz zusammen.

»Was ist los?«, fragt er.

»Zwischen Tucker und Bean ist es aus«, erklärt Scarlett. Sie reckt den Hals, um Dads Blick im Rückspiegel zu erhaschen. Ich ziehe wieder an meinem Pi-T-Shirt. Hatte ich sie nicht gebeten, nichts zu sagen? Sobald sie sich auch nur im Geringsten angegriffen fühlt, fällt sie mir in den Rücken.

»Was ist mit Bean?«, fragt Dad.

»Vergiss es, Gerard«, erwidert Mom kopfschüttelnd.

»Mit wem ist es aus?« Dads lange Haare stehen so weit von seinem Kopf ab, dass sie zu beiden Seiten der Kopfstütze zu sehen sind. Es ist, als hätte er seine Finger in eine Steckdose gesteckt.

»Tucker und Bean haben sich getrennt«, erklärt Mom. »Ich muss gleich Carly anrufen.«

»Nein, musst du nicht«, sage ich.

»Sie ist meine beste Freundin, Bean. Vielleicht weiß sie es ja schon.«

Am liebsten würde ich meinen Kopf gegen die Scheibe schlagen.

Moms Handy gibt nervige Töne von sich, als sie auf die Tasten drückt.

»Wenn ihr beiden über meine Trennung sprecht, könntest du ja ganz nebenbei die Party erwähnen. Und dass Tucker nicht kommen muss, wenn er nicht will«, schlage ich vor. »Damit könntest du ihr einen Ausweg eröffnen.«

Hätte Scarlett ihr loses Mundwerk gehalten, wäre ich jetzt nicht in dieser Lage.

»Aber ich habe Carly und Bill schon vor Monaten zu Scarletts Abschiedsparty eingeladen. Sie haben Tucker bereits einen Smoking besorgt.«

»Oh, ja«, sage ich mit einem Stöhnen und lehne mich auf meinen Sitz zurück. »Ich weiß. Ich war dabei.«

»Ich habe nicht um die Party gebeten«, erklärt Scarlett.

In einer Woche ist mein sechzehnter Geburtstag und für mich wird keine große Party veranstaltet. Aber ich möchte auch keine, vor allem weil Großmutter nicht dabei sein kann; sie und Nancy verstehen sich nicht besonders gut.

»Ich hab eine Idee, Mom«, sage ich und drehe den Kopf zu meiner Schwester. »Warum überlassen wir es nicht Scarlett, bei Carly und Tucker anzurufen? Was mein Liebesleben betrifft, ist sie ja offenbar Expertin.«

Scarlett verdreht die Augen. »Bilde dir nur nichts ein, Bean.«

Ich beiße die Zähne aufeinander.

»Können wir bitte vernünftig miteinander reden?«, meint Mom. Das Gepiepe der Handytastatur geht weiter.

»Genau genommen hatte ich keine Gelegenheit, zuerst mit ihm Schluss zu machen«, erkläre ich und verschränke die Arme. »Aber es war meine Idee.«

Diese Lüge treibt mir die Schamröte ins Gesicht und ich wende mich dem Fenster zu. Meine Wangen müssen ganz rot sein. Ich hasse es, die Wahrheit zu manipulieren. Wissenschaft ist die Suche nach der absoluten Wahrheit, aber das hier ist etwas Anderes. Ich habe in den letzten zwei Tagen genug Kritik einstecken müssen.

Scarlett stupst mich mit ihren kalten Zehenspitzen an. Ich sehe sie nicht an und sie stupst mich erneut.

»Du bist eine sehr schlechte Lügnerin«, flüstert Scarlett. »Ich habe gestern Abend dein Gesicht gesehen.«

Ich lehne den Kopf zurück und vermeide den Blickkontakt mit meiner Schwester. Vor uns taucht die gewaltige Bourne Bridge auf. Ich kann es kaum erwarten, an den Strand zu gehen und meinen Kometen zu verfolgen. Tucker rechnet sich ebenfalls Chancen auf das Waterman-Stipendium aus. Zum Teufel, nein. Ich werde das Stipendium bekommen, und dann wird mir das Schulgeld für die elfte Klasse und für den Großteil des letzten Schuljahres in Summerhill voll bezahlt. Summerhill Academy, der Ort, wo das Schuldgefühl geboren wurde. Denn ab der achten Klasse, als ich von der staatlichen auf die private Schule wechselte, musste Tante Nancy das Schulgeld bezahlen. Ich presse den Körper ganz tief in den Sitz. Ich gebe es nur ungern zu, aber mein T-Shirt stammt noch aus der achten Klasse.

»Ich weiß es nicht, Mom«, antwortet Scarlett auf etwas, das ich nicht mitbekommen habe. »Warum soll ich immer alles wissen? Ich muss mich um mein eigenes Leben kümmern.«

Ich drücke auf den Knopf des elektrischen Fensterhebers und die Scheibe gleitet nach unten. Das Rauschen des Windes übertönt das Gerede über meine Trennung.

Ich hole das Handy aus meiner Gesäßtasche. Keine Anrufe von Tucker.

Es ist schon seltsam, ihm nicht von unterwegs zu schreiben oder nicht den Piepton seiner eingehenden Nachrichten zu hören. Der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht.

Ich frage mich, ob Tucker mich wohl vermisst. Selbst wenn Mom Carly erklärt, dass Tucker nicht zur Party kommen muss, wird er vielleicht trotzdem kommen, nur um mich zu sehen. Ich verdrehe die Augen. Man sollte sich am besten nichts wünschen, was sowieso nicht in Erfüllung geht.

Warum habe ich es nicht gesehen? Ich blinzle ein paar Mal, denn vor meinen Augen verschwimmt alles. Es liegt an den Tränenkanälen, dass meine Sicht beeinträchtigt ist. Nein.

Weinen ist gleich Tod. Ich werde nicht zwei Tage hintereinander weinen.

Vor allem nicht auf so engem Raum, wo Scarlett meine Tränen sehen kann. Ich hole tief Luft und halte den Atem an – ich werde nicht weinen. Ich weiß, was zu tun ist. Diesmal werde ich die Elemente rückwärts aufsagen.

Zirconium. Zinn. Zink, Yttrium. Ich werde nicht weinen. Ytterbium. Ich werde nicht weinen. Xenon…

»Bean, Bean, Bean, sieh dich an. Was du in einem Jahr für ein Dekolleté bekommen hast!« Tante Nancy meint wohl, nur weil sie in den Sechzigern ist, kann sie sagen, was sie will. Sie drückt mich an ihr weißes Chanelkostüm.

Ich befreie mich aus ihrer überschwänglichen Umarmung und verschränke die Arme. Ich bin ziemlich sicher, dass ich für den Rest des Tages nach Dior stinken werde.

»Wie ich sehe, hast du deine kleinen Apparate mitgebracht«, sagt sie mit hochgezogener Augenbraue beim Anblick des Stargazers. Er steht neben dem Auto, zusammen mit vier katalogisierten Kartons mit Ausrüstung, die ich zur Verfolgung des Kometen brauche.

»Das ist mein Stargazer 5020.«

»Bring das Ding am besten hinauf in dein Zimmer, wo es den Teppichboden nicht schmutzig machen kann.«

»Das ist ein Teleskop.«

Tante Nancy hasste den Steinschleifer, den ich im letzten Sommer mitgebracht hatte, und das tragbare Mikroskop, das ich im Jahr davor dabeihatte. Als ich ein paar Algen auf den Objektträger legen wollte, hatte es ein kleines Malheur gegeben, aber am Ende war alles gut. Das verschmutzte Stück Teppichboden wurde herausgeschnitten und durch ein neues ersetzt.

Vor uns ragt Nancys vierstöckiges Ungetüm mit den hellgrauen Schindeln auf, unser alljährliches Sommerdomizil, und das schon vor meiner Geburt. Auf einer Tafel über der Garage, die fünf Autos Platz bietet, steht: Trautes Heim am Meer. Ich finde Bauchschmerzen am Meer treffender. Und Scarlett nennt es das Scheißhaus am Meer, was ich allerdings niemandem verrate. Als Scarlett und ich klein waren, ritzten wir unsere Initialen in eine der Schindeln auf der Rückseite der Garage. Ich sollte mal nachsehen, ob sie noch da sind.

»Du bist ja eine Augenweide!«, ruft Nancy aus und fällt regelrecht über Scarlett her. »Dein Haar ist wie Gold. Sieh dich nur an!« Obwohl wir Nancy erst im Frühjahrsurlaub gesehen haben, schwärmt sie von Scarlett, als sei sie Miss America.

Ich rolle meinen Koffer durch den Vordereingang und schleppe ihn die Treppe zu meinem Schlafzimmer im dritten Stock hinauf. Auf dem dritten Treppenabsatz biege ich um die Ecke und zerre den Koffer hinter mir her. Jedes Mal, wenn ich Tuckers »schuldbewusstes« Gesicht vor mir sehe, sollte ich lieber an den Kometen denken. Ich werde den Kometen weiter verfolgen, meinen Essay schreiben und dieses verdammte Stipendium bekommen. Ich werde zum Empfang an der Brown University gehen, wo angeblich neunzehn verschiedene Kuchen serviert werden.

Völlig außer Atem erreiche ich mein vertrautes Schlafzimmer im dritten Stock und öffne die Tür. Nancy ist vielleicht manchmal schwer zu ertragen, aber immerhin verändert sie nie etwas an meinem Zimmer. Sie lässt nicht einmal Gäste darin übernachten.

Als Kind habe ich mir dieses Zimmer wegen der großen Dachfenster ausgesucht, damit ich vom Bett aus die Sterne beobachten konnte.

Ich nehme die Schultern zurück und strecke die Brust raus. »Steh aufrecht und stolz«, sagt Großmutter immer. Und ich tue es, obwohl ich gerade nicht sehr stolz bin. Der Sommer ohne Tucker wird mir helfen. Es spielt keine Rolle, ob er zur Party kommt oder nicht. Ohne Tucker wird mich nichts von meinen wissenschaftlichen Beobachtungen des Kometen Jolie ablenken.

Elf lange Monate habe ich damit zugebracht, seine Bewegungen zu verfolgen: 132 Stunden im Frosty Drew Nature Center und Observatorium, 149 Stunden habe ich in unserem Garten durchs Teleskop geschaut und 82 Stunden in der Bibliothek Nachforschungen angestellt.

Ich kann jetzt nicht aufgeben. Ich bin so nah dran.

Kapitel 4

ALSICHAMNÄCHSTENMORGENETTIEANRUFE,SAGTsie nicht einmal Hallo. Nach einmal Klingeln meldet sie sich: »Erstens kann ich es nicht fassen, dass ich nicht persönlich von deiner Trennung erfahre. Und zweitens?« Sie holt tief Luft und ihr Ton wird sanfter. Das genügt, um mich zum Weinen zu bringen. »Er ist ein Bastard!«

»Ich weiß.«

»Aber du bist nicht allein in diesem Sommer des Kummers und des Schmerzes«, erklärt sie.

»Wow. Wir sind heute aber theatralisch, Ettie.«

»Ich habe dich vor deiner Abreise nicht mal mehr gesehen.«

Ich sitze in Nancys überdimensionalem Adirondack-Liegestuhl und schütze mit der Hand meine Augen vor der Sonne, die in der Ferne hoch über der Bucht strahlt. Ich kann sogar den Weg zum Strandhafen ausmachen, obwohl er vom grünen Laub der Bäume und von lila Hortensien verdeckt wird.

»Riecht Tante Nancy immer noch wie Bergdorfs?«, erkundigt sich Ettie. Ich höre ein feuchtes Schnalzen, als Ettie ihre Zahnspange herausnimmt. »Das Band-Camp riecht immer noch nach Band-Camp, nur werde ich inzwischen dafür bezahlt, dass ich die Boote abspritze, und muss nicht mehr mit ihnen fahren. Gottlob gibt es das Day Camp; ich hasse es, für diese Gören Cello zu spielen.«

Ich bin dankbar, dass sie sich um eine lockere Unterhaltung bemüht.

Schweigen.

»Na ja, es sind ja nur acht Wochen. Ich war vor meiner Abreise nicht mal auf einen Schoko-Froyo im Hilltop. Ich fühle mich betrogen.«

»Ja …«, erwidert Ettie zögernd.

»Was ist?«, frage ich.

Schweigen.

»Ettie?«, bohre ich.

»IchhabihnvorgesternAbendmitBeckyWinthropinderHilltopEisdielegesehen. Estutmirsoleid.« Sie ringt nach Luft. »Ichhabbestimmtneunhundertmalversuchtdichanzurufen …«

»Warum hat er ihr in einer Eisdiele Nachhilfe gegeben?«

»Ähm …«

»Ich weiß ja, dass er das Hilltop mag, aber das ist irgendwie lächerlich. Er hätte mir zumindest ein Eis mitbringen können, ehe er mit mir Schluss macht.« Ich kann zumindest so tun, als sei ich so oberflächlich.

Wieder herrscht Schweigen.

»Hallo?«

»Bean, er hat sie geküsst«, sagt Ettie.

»Becky Winthrop? Ja, klar. Geküsst. Sicher.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Tucker ist nicht mit Becky zusammen. Also bitte. Er war ihr …«

»Nachhilfelehrer. Den ganzen Mai über«, wirft Ettie ein.

»Ja, aber es war rein wissenschaftlich!«

Jetzt, wo ich darüber nachdenke … Tucker hat Becky jeden Samstagvormittag in der East Greenwich Bibliothek Nachhilfe gegeben.

Nie im Leben ist Tucker mit Betty Winthrop zusammen. Diese verdammte Becky Winthrop ist die einzige Zehntklässlerin im Cheerleading-Team der Schule. Sie hat mit Kyle Lennon, dem heißesten Jungen in East Greenwich, Rhode Island, Schluss gemacht. Sie hat ihm den Laufpass gegeben.

»Sie waren so gegen sieben dort und haben nicht mal Eis gegessen. Vermutlich hat er sein neues Biodiesel-Projekt an ihrer alten Karre ausprobiert. Sie waren von einer ganzen Meute umringt«, erklärt Ettie. »Die ganzen Baseballspieler waren da.«

»Er hat mit dem Biodiesel-Projekt geprahlt, das wir gemeinsam für den AP-Kurs in Chemie erarbeitet haben?«

Ich habe ihm geholfen, den Automotor auseinanderzunehmen. Ich habe mich wochenlang auf widerlichen Schrottplätzen herumgetrieben.

»Mein Biodiesel?«, frage ich erneut.

Ich verändere mich, hatte Tucker erklärt. Ich bin anders. Und du hast es nicht mal bemerkt.

Ettie spricht immer noch, redet von Ausflüchten und Schlachtplänen.

Tucker … hat mich betrogen?

Ich sehe Tucker und Becky vor mir, umringt von all den beliebten Kids aus der Schule. Sie reißen Insiderwitze, Tucker führt mit seinem neu entwickelten Biodiesel das große Wort, und ich sitze zu Hause, beschäftige mich mit meinem Kometen und warte, dass er vorbeikommt. Mich schaudert bei dem Gedanken und ich verbanne ihn aus meinem Kopf. Tucker konnte sich doch nicht so sehr verändert haben, und noch dazu so schnell … oder? Er hatte tatsächlich einen schuldbewussten Eindruck gemacht und mein Gefühl hatte mich nicht getrogen.

Du beobachtest die Welt.

Ich sitze vornübergebeugt, und es kostet mich viel Mühe, mich aufrecht hinzusetzen. Aufrecht und stolz ist im Augenblick keine Option. Am liebsten würde ich mich verkriechen.

»Es tut mir leid, Bean«, sagt Ettie, und ihr Tonfall verrät, dass sie es ehrlich meint. Wahrscheinlich sitzt sie gerade auf ihrem Bett, die schwarzen Haare sind hochgesteckt und das Cello lehnt an der Wand. »Sie sind Loser«, fügt sie hinzu.

Sie sind nicht die Loser.

Ich bin der Loser.

Während ich auf meinem Schreibtisch alles bereitlege beziehungsweise mein »Kometen-Hauptquartier« einrichte, muss ich immerzu an Becky Winthrop und Tucker denken. Ich sehe die beiden ständig vor mir, wie sie sich im Hilltop küssen, bevor er mit mir Schluss macht. Wie lange ging das schon so? Wie lange habe ich die Anzeichen ignoriert?

Ich knalle den letzten Stift so auf den Schreibtisch, dass er herunterrollt und auf den Boden fällt. Ich hebe ihn nicht mal auf, als ich hinuntergehe.

»Nun, Town and Country wollte unbedingt wieder Fotos machen«, höre ich Nancy im Wohnzimmer sagen. Sie erzählt, dass ihr Haus immer noch »Stadtgespräch« sei, weil es sich auf einer Halbinsel am äußersten Ende der Shore Road befindet.