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Karl Engisch's Introduction to Legal Thinking, first published in 1956, is now one of the 'classics' in the literature of jurisprudence. The eight chapters mainly discuss fundamental issues of methodology and the philosophy of law in the face of the intellectual currents of the twentieth century. The aim of the book is to make the mysterious and sometimes doubtfullooking logic and methodology of Judicial Thinking accessible to law students and interested laypersons.
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Seitenzahl: 521
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Band 20
Karl Engisch
Einführung in das juristische Denken
Zwölfte, aktualisierte Auflage
herausgegeben und bearbeitet von Prof. Dr. Thomas Würtenberger und Dr. Dirk Otto
Verlag W. Kohlhammer
Zwölfte, aktualisierte Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Umschlag: hace
Print:
ISBN 978-3-17-035180-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-035181-3
epub: ISBN 978-3-17-035182-0
mobi: ISBN 978-3-17-035183-7
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Die 1956 erstmals erschienene »Einführung in das juristische Denken« von Karl Engisch gehört mittlerweile zu den »Klassikern« der rechtswissenschaftlichen Literatur. In acht Kapiteln werden vor allem Grundsatzfragen der Methodenlehre, aber auch der Rechtsphilosophie in Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen des zwanzigsten Jahrhunderts abgehandelt. Zielsetzung dieses Buches ist es, dem Rechtsstudenten wie auch dem interessierten Laien die geheimnisvolle und bisweilen suspekte Logik und Methodik des juristischen Denkens nahezubringen.
Prof. Dr. Thomas Würtenberger, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg; Dr. Dirk Otto, Promotion und Publikationen im Bereich der Staatsphilosophie.
Vorwort zur zwölften Auflage
Vorwort zur neunten Auflage
Aus dem Vorwort zur siebten Auflage
Literaturverzeichnis
Abkürzungen
Kapitel I Einleitung
Kapitel II Über Sinn und Struktur des Rechtssatzes
Kapitel III Die Gewinnung konkreter juristischer Urteile aus dem Rechtssatz, insbesondere das Problem der Subsumtion
Kapitel IV Die Gewinnung abstrakter juristischer Urteile aus den Rechtssätzen.Auslegung und Verstehen der Rechtssätze
Kapitel V Auslegung und Verstehen der Rechtssätze, Fortsetzung: Gesetzgeber oder Gesetz?
Kapitel VI Juristenrecht. Unbestimmte Rechtsbegriffe, normative Begriffe, Ermessen, Generalklauseln
Kapitel VII Juristenrecht, Fortsetzung: Lückenergänzung und Berichtigung fehlerhaften Rechts
Kapitel VIII Vom Gesetz zum Recht, von der Jurisprudenz zur Rechtsphilosophie
Nachwort Zu Leben und Werk von Karl Engisch
Personenregister
Sachregister
In der zwölften Auflage wurde den zahlreichen Neuerungen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur Rechnung getragen. Im Übrigen blieb der bereits klassisch gewordene Text des Bandes unverändert.
Freiburg, Februar 2018 Thomas WürtenbergerDirk Otto
Karl Engischs »Einführung in das juristische Denken« ist ein Klassiker der juristischen Methodenlehre, der Generationen von Juristen begleitet hat. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage 1956 wurde dieses Buch ständig aktualisiert, wobei aber der eigentliche Text in der Substanz unverändert blieb. Nach dem Tode von Karl Engisch im Jahre 1990 stellte sich die Aufgabe, das seit 1977 nicht mehr neu bearbeitete Werk dem heutigen Stand von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Theorie anzupassen. Da der Darstellungsteil im wesentlichen als zeitlos und klassisch gelten kann, wurden hier bewußt nur wenige behutsame Eingriffe vorgenommen, die der aktuellen Gesetzeslage Rechnung tragen; lediglich im Abschnitt zum »Ermessen« bestand eine besondere Notwendigkeit zur Aktualisierung. Beträchtliche Änderungen waren jedoch in dem seit sieben Auflagen stark angewachsenen Anmerkungsteil erforderlich. Dessen Gesamtumfang wurde erheblich reduziert, um den Anmerkungsapparat zu straffen und neuen Hinweisen Raum zu geben; was Engischs zahlreiche Angaben zur älteren Literatur betrifft, so sei der interessierte Leser auf die 8. Auflage von 1983 verwiesen. Zur Vermeidung lästigen Nachschlagens wurden die bisher am Schluß des Buches stehenden Anmerkungen direkt unter den Text gesetzt. Desweiteren wurde der Band um ein Personen- und ein Literaturverzeichnis ergänzt. Die Ausgabe beschließt ein Nachwort zu Leben und Werk von Karl Engisch.
Freiburg, Juni 1996 Thomas WürtenbergerDirk Otto
Eine »Einführung in das juristische Denken« verfolgt andere Ziele als eine »Einführung in die Rechtswissenschaft«, die üblicherweise den Leser nicht nur an die Methoden des juristischen Denkens, sondern auch an das Recht selbst und seine einzelnen Sachgebiete heranführt. In dem hier vorgelegten Buche handelt es sich aber gerade darum, dem Rechtsstudenten und womöglich auch dem interessierten Laien ein wenig die geheimnisvolle und verdächtige Logik und Methodik des juristischen Denkens nahezubringen – unter Beschränkung übrigens auf die zentralen Probleme der Rechtsfindung, unter Absehen also von den Leistungen der »höheren« Dogmatik, wie z. B. der juristischen Konstruktion und Systembildung. Nur unter diesem Gesichtswinkel sind die in die Darstellung einbezogenen sachlichen Rechtsprobleme behandelt. Welche Aufgaben nun der juristischen Logik und Methodenlehre gestellt sind, habe ich näher in der Zeitschrift »Studium generale« 1959, S. 76 ff., dargelegt. Ich hebe jetzt nur folgendes hervor: Die juristische Logik ist eine materiale Logik, die auf der Grundlage und im Rahmen der formalen Logik einerseits und im Verein mit der speziellen juristischen Methodenlehre andererseits zeigen soll, wie man zu »wahren« oder »richtigen« oder wenigstens »vertretbaren« Urteilen in rechtlichen Dingen gelangt. Eine so verstandene juristische Logik und Methodik ist keine »Technik«, die Kunstgriffe lehrt, mit deren Hilfe man dem Rechtsbeflissenen gestellte Denkaufgaben möglichst leicht bewältigt. Sie ist auch nicht Psychologie oder Soziologie der Rechtsfindung, die untersucht, wie man im praktischen Alltag de facto bei der Gewinnung juristischer Ansichten verfährt. Sie ist vielmehr Reflexion auf den nicht leicht zu durchschauenden sachgerechten juristischen Erkenntnisprozeß. Sie strebt nach dem Ziel, (in den Grenzen des menschlicher Erkenntnis Vergönnten) »Wahrheit« zu finden und wohlbegründete Urteile zu fällen.
Juli 1977 Karl Engisch
Scire leges non hoc est verba earumtenere, sed vim ac potestatemCelsus, Digesten 1, 3, 17
Wer sich anschickt, die Rechtswissenschaft und das juristische Denken dem Anfänger oder dem Laien näherzubringen, sieht sich dabei im Vergleich mit anderen Wissenschaften mancherlei Hemmnissen und Anzweiflungen ausgesetzt1. Blickt der Jurist im Kreise der Geistes- und Kulturwissenschaften, denen die Rechtswissenschaft zugezählt wird, um sich, so muss er mit Neid und Beklemmung feststellen, dass die meisten von ihnen extra muros mit sehr viel mehr Interesse, Verständnis und Vertrauen rechnen dürfen als gerade seine Wissenschaft. Zumal die Wissenschaften von der Sprache, der Literatur, der Kunst, der Musik und der Religion faszinieren den bildungsbeflissenen Laien in ganz anderem Maße als die sachlich und auch methodologisch nahe verwandte Wissenschaft vom Recht. Man wird ohne viel Besinnen ein archäologisches oder literarhistorisches Buch auf den Geschenktisch legen, kaum je aber ein juristisches Buch, mag dieses auch an das Wissen des Lesers keine besonderen Anforderungen stellen. Die üblichen Einführungen in die Rechtswissenschaft scheinen mit seltenen Ausnahmen nur dem angehenden Juristen, nicht aber dem Laien etwas zu bieten. Wie oft findet man wohl auch in der Bibliothek des Nichtjuristen ein Gesetzbuch?
Die Gründe für diese Interesselosigkeit des Laien am Recht und an der Rechtswissenschaft sind leicht aufzudecken. Und doch handelt es sich hier um etwas sehr Seltsames. Geht doch kaum ein anderes Kulturgebiet den Menschen näher an als das Recht. So gibt es Menschen, die ohne lebendige Beziehung zur Dichtung, zur Kunst, zur Musik leben können und leben. Aber es gibt keinen Menschen, der nicht unter dem Recht lebt und ständig von ihm berührt und gelenkt ist. Der Mensch wird innerhalb der Gemeinschaft geboren und großgezogen und – von abnormen Fällen abgesehen – niemals aus der Gemeinschaft entlassen. Das Recht aber ist Wesenselement der Gemeinschaft. Es geht uns daher unvermeidlich an. Auch steht der Grundwert, an dem es sich ausrichten soll: das Gerechte, nicht zurück hinter den Werten des Schönen, des Guten und des Heiligen. Ein gerechtes Recht »gehört zum Sinn der Welt«2. Warum dennoch so wenig Aufgeschlossenheit für Recht und Jurisprudenz?
Nun wird man einwenden, Recht und Rechtswissenschaft seien zweierlei, verdächtig sei dem Laien nur die Letztere. Aber abgesehen davon, dass sich der Laie auch um das Recht nur insoweit kümmert, als dies praktisches Gebot ist, Recht und Rechtswissenschaft sind gar nicht so sehr zweierlei. Sie sind es jedenfalls viel weniger, als es beispielsweise etwa Kunst und Kunstwissenschaft sind. Ohne Zweifel dient auch die Kunstwissenschaft der Kunst, indem sie das Kunstverständnis fördert. Auch mag es einmal vorkommen, dass wissenschaftliche Theorien die Kunstübung beeinflussen. Im Allgemeinen aber geht die Kunst ihre eigenen Wege, und die Kunstwissenschaft folgt ihr nach, erhellend, reflektierend und historisierend, oft vom Künstler selbst mit Misstrauen betrachtet, wenn nicht gar abgelehnt und verspottet. Es liegt mir natürlich ferne, die große geistige Bedeutung der wissenschaftlichen Kunstbetrachtung in Frage stellen zu wollen. Wie viel hat Winckelmann unseren Klassikern bedeutet? Welch beglückende Einsichten haben uns ein Jakob Burckhardt oder ein Heinrich Wölfflin geschenkt? Trotzdem bleibt es dabei: Kunst und Kunstwissenschaft sind zweierlei. Und Ähnliches gilt für das Verhältnis anderer Kulturwissenschaften zu ihrem jeweiligen Gegenstand. Es ist dagegen der fast einzigartige Vorzug der Rechtswissenschaft unter den Kulturwissenschaften, nicht neben und hinter dem Recht einherzugehen, sondern das Recht selbst und das Leben in und unter dem Recht mitgestalten zu dürfen. Seit es eine Rechtswissenschaft gibt, ist sie praktische Wissenschaft. Die Römer, denen das unsterbliche Verdienst zukommt, diese Wissenschaft begründet zu haben, wussten sehr genau, was sie an ihr hatten. Sie haben sie gerühmt als die »divinarum atque humanarum rerum notitia«3, sie haben sie also für die lebendigste aller Wissenschaften gehalten, und sie sind mit ihrem Recht und ihrer Rechtswissenschaft groß und stark geworden. Was wahrhaft begabte und schöpferische Juristen gedacht und an Rechtserkenntnissen zutage gefördert haben, ist zu allen Zeiten dem Recht selbst zum Segen geworden4, sei es, dass es den Gesetzgeber inspiriert, sei es, dass es die Entscheidung einzelner Rechtsfälle beeinflusst hat. Von der Rechtsweisheit der klassischen römischen Juristen oder der italienischen Postglossatoren (nach 1250) haben Jahrhunderte gezehrt. Auch die Lehren neuerer Juristen wie Ihering, Windscheid, Binding, Liszt und Frank sind stetig fruchtbar geworden für Rechtspflege und Rechtssetzung, also für das Recht selbst – ganz zu schweigen von dem Falle, dass ein Rechtsdenker geradezu zur Gesetzgebung berufen wird, wie Eugen Huber für das Schweizerische Zivilgesetzbuch vom Jahre 1907, das Wieacker in seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit als »die reifste Frucht der deutschsprachigen Rechtswissenschaft des 19. Jhs. in Gesetzesgestalt«5 bezeichnet. Kein Verständiger wird daran denken, darum die großen Rechtsgelehrten über die großen Historiker, Sprachforscher und Kunstgelehrten hinausheben und den genialen Philosophen, Dichtern, Künstlern und Musikern an die Seite stellen zu wollen. Was aber die unmittelbare kulturelle Wirksamkeit betrifft, so sind die wesentlichen rechtswissenschaftlichen Leistungen sehr wohl vergleichbar den bedeutenden Philosophemen, Kunstgebilden und literarischen Erzeugnissen. Sie haben insoweit die gleiche Valenz. Dass hieraus der Rechtswissenschaft eine besondere Verantwortung erwächst, versteht sich dann von selbst.
Von ganz anderer Art als das Ringen um Verständnis und Sympathie in Konkurrenz mit den anderen Geistes- und Kulturwissenschaften ist die immer wieder nötig werdende Selbstbehauptung der Rechtswissenschaft gegenüber Anzweiflungen, die sich bei einem Vergleich mit den Wissenschaften von der Natur einstellen. Dass es überhaupt zu diesem Vergleich kommt, dürfte mit dem Gesetzescharakter des Rechts zusammenhängen. Die Rechtswissenschaft ist wie die Naturwissenschaften eine Gesetzeswissenschaft. Aber wer uns die Gesetze der Natur entschleiert, offenbart uns Sein und Notwendigkeit. Führt uns auch der Jurist an das Sein heran, kann er uns von der Notwendigkeit der Rechtsgesetze überzeugen? Die Freiheit, die dem menschlichen Geiste im Wirkungsbereich der Individualität, also gerade wieder im Bereich der Künste, ohne weiteres zugestanden wird, erscheint im Bereich des Rechts, in dem Regeln und Gesetze herrschen sollen, allzu leicht als Zufall, Willkür, Anmaßung. Gewiss kennt auch der Künstler Regeln und Gesetze. Aber diese sind ihm nur die »Formen«, die er mit persönlichen Gehalten erfüllen darf und soll. Auch sind diese »Formen«, wenngleich sie als relativ konstant gedacht werden, ihrerseits individuell geprägt. Sie sind darum kulturell verschieden und historisch wandelbar. Sie sind nicht allgemeingültig und nicht streng verbindlich. »Der Meister kann die Form zerbrechen«6. Von den Gesetzen, die das Recht beherrschen und durch die das Recht herrscht, erwartet man dagegen immer wieder Allgemeingültigkeit wie von Wahrheiten und Naturgesetzen. Man ist tief enttäuscht, wenn man sie nicht findet. In klassischer Weise hat dieser Enttäuschung Pascal Ausdruck verliehen mit den vielzitierten Worten: »… man (findet) … kein Recht und kein Unrecht …, das nicht mit dem Klima sein Wesen ändere. Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über Wahrheit; nach wenigen Jahren der Gültigkeit ändern sich grundlegende Gesetze; das Recht hat seine Epochen … Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluß begrenzt! Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum«7. Dass es die Juristen trotz allen heißen Bemühens bis heute nicht fertig gebracht haben, das wahre Recht zu finden, es mit der »Natur«, sei es der Natur des Menschen, sei es der Natur der Dinge, zu verknüpfen, lässt ihre Wissenschaft vielfach in trübem Lichte erscheinen. Auch die berühmte Kritik, die Julius v. Kirchmann, selbst Jurist, an der Jurisprudenz als Wissenschaft geübt hat, gründet sich eben hierauf: »Sonne, Mond und Sterne scheinen heute wie vor Jahrtausenden; die Rose blüht heute noch so wie im Paradiese; das Recht aber ist seitdem ein Anderes geworden. Die Ehe, die Familie, der Staat, das Eigentum haben die mannigfachsten Bildungen durchlaufen«8.
Einige einfache Beispiele mögen das Befremden des Laien über die »Willkürlichkeit« und Naturferne der Jurisprudenz beleuchten. Das erste dieser Beispiele ist sicher banal, wird aber gerade wegen seiner Einfachheit einen guten Anknüpfungspunkt für die weitere Betrachtung bieten können. Als ich noch Student war, empörte sich ein Mediziner in meiner Gegenwart darüber, dass der damals (heute nicht mehr) geltende § 1589 Abs. 2 BGB erklärte: »Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt«. Er sah in dieser Bestimmung juristische Willkür, arrogante Verleugnung biologischer Gegebenheiten, vielleicht auch so etwas wie falsche Scham und verlogene Moral. Er meinte offenbar, das Recht könne sich doch unmöglich in dieser Weise über Naturtatsachen hinwegsetzen. Nun noch ein zweites Beispiel: In einer wissenschaftlichen Diskussion über Naturrecht brachte ein namhafter Biologe das heute öfters zitierte Beispiel von den Regeln, die Wölfe beim Kampf beobachten: Unterliegt ein Wolf im Kampf, so nimmt er »Demutshaltung« an, was seinen Gegner dazu veranlasst, von weiteren Bissen abzusehen. Ersichtlich schwebte diesem Biologen der Gedanke vor, ein echtes Naturrecht müsse auf ähnliche Weise in biologischen Gegebenheiten wurzeln. Das ihm von juristischer Seite vorgestellte »Naturrecht«, wie es sich etwa in den Grund- und Menschenrechten manifestiert, schien ihm kein echtes Naturrecht zu sein. Noch ein letztes Beispiel: In Arztkreisen wird oft beklagt, dass es den Juristen am rechten Verständnis des Heilberufes fehle. Als besonders anstößig wird empfunden, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung auch die notwendige und kunstgerecht ausgeführte ärztliche Operation als »Körperverletzung« qualifiziere, die nur straflos sei, weil der Patient sich mit ihr einverstanden erklärt habe9. Diese Auffassung scheint der Natur des Heilberufs zu widerstreiten und sich nur aus der Überheblichkeit der Juristen erklären zu lassen.
Was soll der Jurist zu alledem sagen? Wie kann er der Interesselosigkeit, der Abneigung, dem Misstrauen entgegentreten? Zunächst einmal nur dadurch, dass er den Außenstehenden mit der Art seines Denkens, die so fremd und geheimnisvoll erscheint, ein wenig vertraut macht. Wir können das Denken des Juristen nur dadurch in seinem Ansehen retten, dass wir es gewissenhaft analysieren, auch seine Abirrungen und Fehltritte sowie die Bemühungen, diese zu vermeiden, ins Auge fassen. Wie alles menschliche Streben und Handeln ist auch die Jurisprudenz mit Mängeln behaftet und Gefahren ausgesetzt. Aber man darf vermuten, dass sie, der so viele hervorragende Menschen ihre Kraft gewidmet haben, nicht von allen guten Geistern verlassen ist.
Dabei soll nicht verhehlt werden, dass die folgenden Darlegungen dem Charakter einer »Einführung« gemäß von den traditionellen Rechtsfindungsmethoden ausgehen und im Großen und Ganzen auf ihnen fußen. Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches im Jahre 1956 haben diese Methoden mitunter Anfechtung erfahren. Wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts »Freirechtsschule« und »Interessenjurisprudenz« der Rechtsfindung und ihrer Methodik neue Ziele gewiesen haben, so bleiben nun auch in der Gegenwart progressive Theorien und Parolen der Rechtsgewinnung nicht aus. Sie sollen nicht unberücksichtigt bleiben. Im Wesentlichen aber scheint mir die herkömmliche Methodenlehre, wie sie durch und seit Savigny herausgebildet worden ist, noch eine genügend feste Plattform zu bilden, der sich der Jurist unserer Tage als Basis seiner Gedankenarbeit anvertrauen darf.
Wir knüpfen an § 1589 BGB an. Dieser Paragraf steht an der Spitze der Vorschriften über die »Verwandtschaft«. Er lautete früher vollständig: »Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten. Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt«. Der letzte Satz ist dank der Neuregelung der rechtlichen Stellung der nichtehelichen Kinder durch Gesetz v. 19. 8. 1969 weggefallen, soll aber zunächst noch einmal in unsere folgenden Überlegungen einbezogen werden. Auffallend ist dann an der Bestimmung der Wechsel im Ausdruck. Erst wird davon gesprochen, dass gewisse Personen in gerader Linie oder in der Seitenlinie verwandt sind. Dann heißt es: »bestimmt sich« und schließlich im letzten Satz: »gelten«. Offensichtlich konnte im Schlusssatz die Meinung des Gesetzgebers nicht die sein, dass das uneheliche Kind mit seinem Vater nicht auf natürliche Weise blutsverwandt sei, vielmehr nur die, dass das uneheliche Kind dem ehelichen rechtlich, genauer: bürgerlich-rechtlich nicht gleichstehen solle. Die Einschränkung »bürgerlich-rechtlich« ist sehr wichtig. Denn z. B. i. S. des Strafgesetzbuches war von jeher der uneheliche Vater mit dem ehelichen Kind verwandt. Die Strafdrohung des § 173 StGB gegen den Beischlaf zwischen »Verwandten auf- und absteigender Linie« (wie es früher hieß) bezog sich schon immer auch auf uneheliche Eltern und Kinder (die jetzt ausdrücklich »leibliche Abkömmlinge« genannt werden). Oder: Die Strafloserklärung von »Entwendungen …, welche von Eltern … gegen ihre Kinder … begangen werden«, im Preußischen Strafgesetzbuch 1841 (§ 228) galt auch für solche gegen uneheliche Kinder. Andererseits heißt es dann wieder in Art. 51 des Einführungsgesetzes zum BGB: »Soweit in dem Gerichtsverfassungsgesetz, der Zivilprozessordnung, der Strafprozessordnung, der Insolvenzordnung … an die Verwandtschaft oder die Schwägerschaft rechtliche Folgen geknüpft sind, finden die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs … über Verwandtschaft oder Schwägerschaft Anwendung«. Diese anderen Gesetze orientierten sich also früher auch wieder an dem Grundsatz des BGB, dass der uneheliche Vater und sein Kind nicht als verwandt »gelten«, was seit dem Gesetz v. 19. 8. 1969 überholt ist. Folge war, dass das Zeugnisverweigerungsrecht, das nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO den mit dem Beschuldigten in gerader Linie Verwandten eingeräumt wird, nicht dem unehelichen Vater im Strafprozess gegen das uneheliche Kind (und vice versa) zustand1; das gilt also heute nicht mehr. So scheint, um an das oben zitierte Wort Pascals anzuknüpfen, nicht nur ein Längengrad über die Wahrheit in der Justiz zu entscheiden, sondern die Trennungslinien scheinen auch durch eine und dieselbe Rechtsordnung hindurchlaufen zu können, um sich dann im historischen Wandel zu verschieben oder ganz aufzulösen. Mit der »Geltung« hat es eine eigene Bewandtnis. Ohne über sie philosophieren zu wollen (was oft genug geschehen ist), würden wir in unserem Falle sagen, dass sie darauf hinausläuft, ein Lebensverhältnis auf bestimmte Weise rechtlich anzusehen.
Bevor wir aber fragen, was das für eine eigentümliche Betrachtungsweise ist, fragen wir zuvor, ob es eigentlich wesentlich anders steht mit den ersten (noch heute in Kraft stehenden) Sätzen des § 1589 BGB, wo es heißt, dass Personen, die voneinander abstammen, in gerader Linie verwandt sind. Hier wenigstens scheint sich ja das Recht von vornherein der Natur zu beugen und nur das zu sagen, was ist. Dennoch können wir auch hier Überraschungen erleben. § 1589 macht die Verwandtschaft abhängig von der »Abstammung«. Was das heißt, glaubt alle Welt zu wissen. Um so erstaunlicher muss scheinen, was das Bürgerliche Gesetzbuch alsbald in den §§ 1591 ff. über Abstammung bestimmt. Dort wird gesagt: »Vater eines Kindes ist der Mann, 1. der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist, 2. der die Vaterschaft anerkannt hat oder 3. dessen Vaterschaft nach § 1600 d … gerichtlich festgestellt ist« (Vaterschaft, § 1592 BGB). § 1593 ergänzt: »§ 1592 Nr. 1 gilt entsprechend, wenn die Ehe durch Tod aufgelöst wurde und innerhalb von 300 Tagen nach der Auflösung ein Kind geboren wird. … Wird von einer Frau, die eine weitere Ehe geschlossen hat, ein Kind geboren, das sowohl nach den Sätzen 1 und 2 Kind des früheren Ehemanns als auch nach § 1592 Nr. 1 Kind des neuen Ehemanns wäre, so ist es nur als Kind des neuen Ehemanns anzusehen. Wird die Vaterschaft angefochten und wird rechtskräftig festgestellt, dass der neue Ehemann nicht Vater des Kindes ist, so ist es Kind des früheren Ehemanns«. Kurz gesagt: Das Recht stellt sich für während der Ehe oder innerhalb einer gewissen Frist nach Auflösung der Ehe geborene Kinder grundsätzlich auf den Standpunkt, den die Römer mit dem Satz ausdrücken: »pater est quem nuptiae demonstrant« (D 2,4,5: Vater ist derjenige, auf den die Ehe als Vater schließen lässt). Offensichtlich kann nun bei dieser Regelung erneut die rechtliche Betrachtung mit der »natürlichen« in Kollision geraten. Es kann schon stutzig machen, dass nach dem BGB – im Widerspruch zu vielen früheren Rechten – die Vaterschaft für das Kind auch dann gegeben ist, wenn es nicht in der Ehe, sondern vor der Ehe gezeugt ist. Nach der mitgeteilten Regelung ist es aber ferner auch möglich, dass eine Frau, die es mit der ehelichen Treue nicht genau nimmt, ihrem Manne Kinder beschert, die als ehelich anzusehen sind, obwohl die skeptisch dreinblickende Umwelt mit ihren natürlichen Augen zu einem ganz anderen Ergebnis kommt. »Mater semper certa est« (so auch unser § 1591 BGB: »Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat«). Die nicht seltene Ungewissheit über den Vater dagegen wird im Interesse der »Rechtssicherheit« ausgeräumt durch die »Vermutung«, dass der Ehemann der Mutter beigewohnt hat und der Vater des Kindes ist. »Gesetzlicher Vater wird ein Mann durch die Ehe mit der Mutter also auch dann, wenn es offenbar unmöglich ist, dass die Frau das Kind von ihm empfangen hat«2. Fügen wir noch hinzu, dass es zur Vaterschaft auch nachträglich durch Anerkennung (§ 1592 Nr. 2) oder gerichtliche Feststellung (§ 1592 Nr. 3 auf Basis der gesetzlichen Vermutung des § 1600 d Abs. 2) kommen kann, so rundet sich das Bild dahin ab, dass die Abstammung und damit die Verwandtschaft in gerader Linie spezifisch rechtliche Gegebenheiten sind, die sich mit den natürlichen Gegebenheiten nicht zu decken brauchen, auch wenn der Gesetzgeber heute mehr als früher bemüht ist, eine Deckung zustande zu bringen.
Selbst wenn sich aber die rechtlichen Gegebenheiten mit den natürlichen decken sollten, indem z. B. im Falle des § 1592 Nr. 1 BGB die Vaterschaft von Rechts wie von Natur wegen bei solchen Kindern gegeben ist, die von den Ehegatten während des Bestandes ihrer Ehe gezeugt und geboren sind, würde das immer noch nicht besagen, dass der rechtliche Begriff der Verwandtschaft genau dasselbe bedeutet wie der »natürliche«. Der nachdenkliche Leser wird schon bei dem Wort »natürlich« einhaken. Für einen Biologen gibt es nur die Tatsache der natürlichen – im Sinne der genetischen – Abstammung. Doch insbesondere die »eheliche Abstammung« des § 1592 Nr. 1 mit der auf sie sich gründenden »Verwandtschaft« trägt ein unausscheidbares kulturelles Moment in sich, mag dieses Moment nun aus der Welt der Religion oder aus der der Moral oder aus der des Rechts stammen. Wenn eben von einer Deckung der rechtlichen und natürlichen Begriffe der Abstammung und Verwandtschaft die Rede war, so war offenbar der natürliche Begriff dieser Verwandtschaft nicht in einem biologischen, sondern in einem sozial-kulturellen Sinne verstanden. Aber nun müssen wir bei näherem Zusehen wahrnehmen, dass sich der Begriff der rechtlichen Verwandtschaft auch noch unterscheiden kann von dem kulturell-sozialen und in diesem Sinne natürlichen Begriff der Verwandtschaft. Ja, selbst dann, wenn sich diese Begriffe in den Voraussetzungen ihrer Anwendung decken, wenn also rechtliche Verwandtschaft nur dort angenommen wird, wo auch kulturell-soziale Verwandtschaft besteht, wenn wir insbesondere absehen davon, dass sich bei uns die rechtlich maßgebende Eheschließung in besonderen Formen vollzieht, die von den religiösen Formen zu unterscheiden sind, selbst dann sind der rechtliche und der kulturell-natürliche Begriff der Verwandtschaft nicht identisch. Der rechtliche Begriff der Verwandtschaft hat nämlich eine besondere Tragweite, die ihm eine unvergleichliche Bedeutung verleiht. Er fungiert, wie der Jurist sagt, als »Tatbestand«, an den »Rechtsfolgen« durch den »Rechtssatz« (die »Rechtsnorm«) geknüpft sind. Damit kommen wir in das Zentrum der Dinge.
Wenn es hieß, dass der uneheliche Vater mit seinem unehelichen Kind nicht als verwandt gilt, so war mit diesem Rechtssatz gemeint: Es knüpfen sich an den Tatbestand der unehelichen Abstammung nicht die gleichen Rechtsfolgen wie an den Tatbestand der ehelichen Abstammung. Was sind das für Rechtsfolgen? Wir erwähnten schon, dass z. B. bei ehelicher Verwandtschaft in gerader Linie ein Zeugnisverweigerungsrecht besteht, das bei unehelicher Abstammung fehlte, solange § 1589 Abs. 2 BGB a. F. in Kraft war. Nach Wegfall des § 1589 Abs. 2 a. F. und weiteren Reformschritten des Gesetzgebers zur Angleichung der Rechtsstellung von »ehelichen« und »nichtehelichen« Kindern (z. B. Streichung des Erbersatzanspruchs in § 1934 a BGB a. F., der zu einer Ungleichbehandlung »nichtehelicher« Kinder im Erbfall führte, mit Wirkung zum 1. 4. 1998) ist zwar das Kriterium der »Ehelichkeit« heute weitgehend entschärft worden. Es spielt z. B. noch eine gewisse Rolle im Namensrecht (vgl. § 1616 BGB »Das Kind erhält den Ehenamen seiner Eltern als Geburtsnamen«; komplizierter ist es, wenn die Eltern trotz Ehe verschiedene Namen führen – vgl. § 1355 Abs. 1 – oder nicht verheiratet sind, s. §§ 1617 ff. BGB) und bei der Feststellung der Vaterschaft (im Falle der Ehe gesetzliche Vermutung des § 1592 Nr. 1 – im Vergleich zu den komplexeren Fällen des § 1592 Nr. 2 u. 3, vgl. §§ 1594 f., 1600 d); so ist es möglich, dass beim »nichtehelichen« Kind die Mutter eine Anerkennung seitens des natürlichen Vaters (§ 1592 Nr. 2) durch Verweigerung ihrer Zustimmung verhindert (§ 1595 Abs. 1: »Die Anerkennung bedarf der Zustimmung der Mutter«). Jedoch sind an den Tatbestand der – in unserem Beispiel – rechtlichen »Vaterschaft« als solcher und damit an den Tatbestand der rechtlichen »Abstammung« und der rechtlichen »Verwandtschaft« ganz erhebliche Rechtsfolgen geknüpft. Erwähnt seien weitgehende Konsequenzen im Erbrecht (§§ 1924, 1922 BGB) sowie im Unterhaltsrecht (§ 1601), aber auch im Bereich der »elterlichen Sorge« (§ 1626). Der Vater hat z. B. neben der Mutter die »elterliche Sorge« über sein Kind, d. h. das Recht und die Pflicht, für die Person und das Vermögen des Kindes zu sorgen durch Erziehung, Beaufsichtigung, gesundheitliche Betreuung, Leitung der Ausbildung und Berufswahl, Vertretung bei Rechtsgeschäften und in Prozessen (auch hier spielt das Element der »Ehelichkeit« noch eine Rolle: Wenn die Eltern nicht verheiratet sind, und sich nicht auf die gemeinsame Sorge einigen oder das Familiengericht die elterliche Sorge nicht beiden gemeinsam überträgt, so »hat die Mutter die elterliche Sorge«, § 1626 a Abs. 3).
Dies und nur dies bedeutet also vor dem Recht »Verwandtschaft« und (eheliche oder nichteheliche) »Abstammung«: Es treten aufgrund des vom Gesetz so oder so umschriebenen »Tatbestandes« der Verwandtschaft oder Abstammung diese oder jene »Rechtsfolgen« ein oder nicht ein. Alles, was sonst im menschlichen Verkehr beim Begriff »Verwandtschaft« anklingt und mitschwingt: das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Schicksalsverbundenheit, die Erinnerung an gemeinsame Ahnen und gemeinsame Heimat, das Bewusstsein, an der Ehre aller teilzuhaben, das sich daran knüpfende Verantwortungsempfinden, die Hilfsbereitschaft in der Not usw., all dies kommt für das Recht allenfalls mittelbar in Betracht, unmittelbar geht es dem Recht nur um diejenigen Rechte und Pflichten, die als »Rechtsfolgen« anerkannt sind. So mag es zwar eine moralische Pflicht sein, dass Kinder, die von denselben Eltern abstammen (Geschwister und Nachgeschwister), einander in der Not helfen und Unterhalt gewähren. Hat – so das BGB! – das Recht diese Unterhaltspflicht nicht festgesetzt, so kommt der Tatbestand der Verwandtschaft insoweit rechtlich nicht in Betracht. Wohl aber besteht in unseren Prozessordnungen ein Zeugnisverweigerungsrecht für Verwandte der Seitenlinie bis zum dritten Grade, so dass wir auch hier wieder auf eine gewisse Relativität der rechtlichen Regelung stoßen.
Diese Relativität der rechtlichen Regelung in Gestalt unterschiedlicher Rechtsfolgen mit Bezug auf die gleiche Ausgangssituation macht uns nun auch die oben dargestellte Relativität in der Bildung der gesetzlichen Tatbestandsbegriffe näher verständlich. Dass ungeachtet des gleichen natürlichen Grundsachverhalts unterschiedliche Rechtsfolgen eintreten können, erklärt sich daraus, dass in dem Rechtssatz nicht ein an sich gegebener Tatbestand begrifflich festgestellt und zum Gegenstand von wissenschaftlichen Aussagen (über eine »an sich« gegebene biologische »Verwandtschaft« bzw. »Abstammung« mit diesen oder jenen »natürlichen« Wirkungen) gemacht wird, sondern dass hier »gesetzliche Tatbestände« als Voraussetzungen bestimmter rechtlicher Regelungen (zivilrechtlicher oder strafrechtlicher oder auch öffentlich-rechtlicher Art) markiert und gewissermaßen festgesetzt (konstituiert) werden, wobei der Gesetzgeber die Freiheit hat, die tatbestandlichen Voraussetzungen im Hinblick auf die spezifischen rechtlichen Angriffspunkte unterschiedlich zu bestimmen, also den einheitlichen natürlichen Grundtatbestand der »Abstammung« unter Ausrichtung an den jeweiligen Rechtsfolgen immer wieder anders zu beurteilen und zu fassen.
Wir sprachen soeben wiederholt von »Rechtsfolgen«, die sich an einen »Tatbestand« knüpfen. Was sollen wir unter »Rechtsfolgen« verstehen? Wir lernten als solche etwa kennen: das Recht, einen bestimmten Namen zu führen, das Recht und die Pflicht, elterliche Sorge auszuüben, das Recht auf Unterhalt und das Erbrecht, also immer wieder »Rechte und Pflichten«. Darin steckt mehrerlei: Zunächst einmal, dass die Rechtsfolgen in Rechten (Berechtigungen) und Pflichten bestehen, und dann, dass diese Rechte und Pflichten als rechtliche anerkannt sind. Mit Bezug auf Letzteres mag die Bemerkung genügen, dass Rechte und Pflichten nur dann als rechtliche anerkannt sind, wenn sie mit rechtlichen Mitteln geltend gemacht und durchgesetzt werden können, was heute angesichts der engen Verflechtung von Recht und Staat praktisch bedeutet, dass sie notfalls bei den staatlichen Justiz- und Verwaltungsbehörden verfolgt werden können (das Verhältnis der Rechte und Pflichten im Rechtssinne zu den moralischen Ansprüchen und Pflichten, denen jene staatliche Durchsetzbarkeit fehlt, ist ein hier nicht weiter zu behandelndes rechtsphilosophisches Problem3).
Wenn wir eben sagten, dass die Rechtsfolgen in Rechten und Pflichten bestehen, so hätten wir gleich hinzufügen sollen: in erster Linie! Zwar brauchen wir uns nicht beirren zu lassen durch solche »Rechtsfolgen« wie die Strafsanktionen; denn auch diese können, wie wir gleich nachher sehen werden, als Inhalt von Rechten und Pflichten aufgefasst werden. Wohl aber müssen wir daran denken, dass es im Recht auch »negative« Größen, also die Verneinung von Rechtsfolgen (von Rechten und Pflichten) gibt. Verstößt z. B. ein »Rechtsgeschäft« (insbesondere ein Vertrag) gegen das Gesetz oder die guten Sitten, wie etwa die Vereinbarung mit einer Prozesspartei, gegen Entgelt im Prozess eine falsche Aussage zu machen, so ist dieses Geschäft »nichtig« (§§ 134, 138 BGB), und das heißt: Es entstehen keine Rechte und Pflichten aus ihm. Davon ist dann wieder zu unterscheiden der Fall, dass aufgrund eines Tatbestandes Rechte und Pflichten entstehen können, die negativen Inhalt haben, d. h. Rechte und Pflichten, die sich auf ein Unterlassen, also ein etwas Nichttun richten, so z. B. das Recht bzw. die Pflicht, eine geräuschvolle Tätigkeit zu unterlassen. Rechte und Pflichten der letzteren Art sind juristisch etwas Positives, wie ja auch Schulden, die man rechnerisch als etwas Negatives behandelt und vom Vermögen subtrahiert, vor dem Recht etwas Positives, nämlich typische Pflichten sind. Echte negative Größen im Rechtssinne sind dagegen die Verneinungen von Rechten und Pflichten, wie sie mit der Nichtigkeit von gesetz- und sittenwidrigen Rechtsgeschäften verknüpft sind. Sie stellen gleichsam Durchstreichungen von Rechtsfolgen dar, die man jedoch seltsamerweise auch wieder »Rechtsfolgen« nennt; denn man sagt, dass der Verstoß eines Rechtsgeschäfts gegen das Gesetz oder gegen die guten Sitten die Rechtsfolge habe, dass das Geschäft nichtig sei, also eigentlich keine Rechtsfolgen entstehen. In diesem Widersinn liegen offenbar Zweideutigkeiten verborgen4. Die verwirrende Zweideutigkeit besteht darin, dass man »Rechtsfolge« bald den einen Bestandteil des Rechtssatzes nennt (der Rechtssatz »besteht aus Tatbestand und Rechtsfolge«), bald das im Rechtssatz Angeordnete: die Entstehung eines Rechts oder einer Pflicht bzw. dasjenige, worauf sich Recht und Pflicht richten: die Leistung, die Strafe usw. Man muss z. B. auseinanderhalten: die Anordnung des Rechtssatzes, dass aufgrund eines Kaufvertrages bestimmte Rechte und Pflichten des Verkäufers und des Käufers erwachsen sollen (das ist die Rechtsfolge als Bestandteil des Rechtssatzes), und die Rechte bzw. Pflichten der Vertragsparteien selbst, die in jenem Rechtssatz angeordnet sind, also das Recht des Verkäufers, den Kaufpreis zu fordern, die Pflicht des Käufers, die Ware zu bezahlen und abzunehmen. Sagen wir, dass ein Verstoß gegen das Gesetz oder die guten Sitten die Rechtsfolge habe, dass keine Rechtsfolgen eintreten, so ist an erster Stelle das Wort Rechtsfolge i. S. des Rechtssatzbestandteils zu verstehen, an zweiter Stelle dagegen i. S. von Recht oder Pflicht. Diese Zweideutigkeit wird sich nie ganz vermeiden lassen, da sich die juristische Umgangssprache ständig der beiden Ausdrücke nebeneinander bedient. Zur Vermeidung von Zweifeln ist es nützlich, wenn man die Rechtsfolge dort, wo sie als Rechtssatzbestandteil gemeint ist, als Rechtsfolgeanordnung oder Rechtsfolgebefehl bezeichnet.
Kehren wir nach dieser Zwischenbemerkung zurück zu der These: Die Rechtsfolgen stellen sich als Rechte und Pflichten dar. Wir werden dann an positive Rechte und Pflichten, wenn auch eventuell an solche, die auf etwas Negatives, ein Unterlassen, gerichtet sind, denken dürfen. Sie stellen die eigentliche Substanz des Rechtes dar. Ihnen gegenüber erscheinen die Verneinungen nur als Einschränkungen, als etwas Sekundäres5. Das Schwergewicht des Rechtes ruht darauf, dass es positiv Rechte gewährt und Pflichten auferlegt.
Man stößt nun in den Lehr- und Handbüchern des bürgerlichen Rechts immer wieder auf die Wendung, dass die »Rechtsfolge« oder, wie man auch sagt, die »Rechtswirkung« eines rechtlich bedeutsamen Tatbestandes in der Begründung, Aufhebung oder Veränderung eines Rechtsverhältnisses bestehe6. Fragt man aber, was unter diesem neuen Begriff »Rechtsverhältnis« zu verstehen sei, so erhält man etwa folgende Antwort: Ein Rechtsverhältnis ist ein vom Recht bestimmtes Lebensverhältnis, wie es z. B. die Beziehungen zwischen Käufer und Verkäufer oder zwischen Ehegatten darstellen. »Inhaltlich erscheinen die Rechtsverhältnisse zumeist als Machtbefugnisse (Rechte), denen auf der anderen Seite Pflichten entsprechen; aber es gibt auch Rechtsverhältnisse, die nur als mögliche Quelle zukünftiger, erst beim Hinzutreten weiterer Erfordernisse entstehender Rechte und Pflichten in Betracht kommen, z. B. die Verwandtschaft, der Wohnsitz«7. Denkt man nun diese Ausführungen über das Rechtsverhältnis als Inhalt der »Rechtsfolge« durch, so ist leicht zu erkennen, dass am Ende das Rechtsverhältnis gerade nicht als Rechtsfolge, sondern als Tatbestand für Rechtsfolgen fungiert, dass dagegen, soweit das Rechtsverhältnis bzw. seine Entstehung oder Aufhebung oder Veränderung wirklich Rechtsfolge ist, diese Formulierung wieder darauf hinausläuft, dass es sich um Rechte und Pflichten, um ihre Entstehung usw. handelt. Wir gelangen also auch so zu den Rechten und Pflichten als Inhalten der »Rechtsfolgen«.
Ebenfalls ist es nur auf den ersten Blick eine andere Auffassung vom Wesen der Rechtsfolge, wenn man sagt: Da das Recht eine Zwangsordnung sei, so bestehe der Rechtsfolgebefehl stets in der Anordnung von Zwang, also von Strafe oder Vollstreckung und dergleichen. »Ist … das Recht eine Zwangsordnung, dann ist jede Rechtsnorm eine Zwang anordnende Norm. Ihr Wesen drückt sich demnach in einem Satze aus, in dem an eine bestimmte Bedingung der Zwangsakt als Folge geknüpft ist«. So sagt der Begründer der so genannten »Reinen Rechtslehre«, Hans Kelsen8. Bedenken wir jedoch, dass die Anordnung von Zwang auch wieder nur Rechte oder Pflichten zum Zwang erzeugt oder, wie Kelsen selbst sagt, dass bei Gegebensein des Tatbestandes Zwang sein soll, so ist augenfällig, dass auch hier die Rechtsfolgen auf Rechte und Pflichten hinauslaufen, nur auf Rechte und Pflichten besonderer Art, nämlich solche von Staatsorganen zur Vornahme bestimmter Akte. Die Bedeutung der so gearteten Rechte und Pflichten hängt natürlich damit zusammen, dass die rechtlichen Rechte und Pflichten gerade dadurch als rechtliche gekennzeichnet sind, dass sie bei den staatlichen Behörden Durchsetzung finden. Dies kann aber wieder nur dann geschehen, wenn es entsprechende staatliche Rechte und Pflichten gibt. Diese erscheinen daher als der letzte Halt aller Rechte und Pflichten – eine vielleicht einseitige Auffassung, die wir jedoch hier nicht weiter diskutieren können.
Wir wollen als vorläufiges Ergebnis festhalten: Die Rechtsfolgen, die in den Rechtssätzen an die Tatbestände geknüpft werden, bestehen in Rechten und Pflichten. Die Rechtsfolgeanordnungen ordnen das Bestehen oder Nichtbestehen von Rechten und Pflichten an. Können wir aber nun vielleicht unsere Ausdrucksweise noch dadurch vereinfachen, dass wir entweder die Pflichten auf Rechte oder die