Eisige Glut - Sandra Brown - E-Book

Eisige Glut E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Würdest du einen Mörder erkennen, wenn er in deinem Haus lebt?

Albträume und Schlaflosigkeit sind die ständigen Begleiter des Journalisten Dawson Scott. Bis er von einem Fall erfährt, der zur Story seines Lebens werden könnte: Ein Mann soll einen grausamen Doppelmord an seiner Frau und deren Geliebten verübt haben. Scott erhält einen entscheidenden Hinweis: Eines der Opfer, Jeremy Wesson, soll der Sohn eines Terroristenpaares sein, das nie gefasst wurde. Auf eigene Faust beginnt Scott zu ermitteln und versucht, über die attraktive Amelia Nolan, Jeremys Exfrau, an Informationen zu gelangen. Was er schließlich aufdeckt, ist mehr als erschreckend ...

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Seitenzahl: 650

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Sandra Brown

Eisige Glut

Thriller

Deutsch von Christoph Göhler

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Die Originalausgabe erschien 2013unter dem Titel »Deadline« bei Grand Central Publishing, New York.

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2013 by Sandra Brown Management, Ltd.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-17475-0V001www.blanvalet.de

Prolog

Golden Branch, Oregon, 1976

Zum ersten Mal wurden sie gleich nach Tagesanbruch um sechs Uhr siebenundfünfzig unter Beschuss genommen.

Eröffnet wurde das Feuer vom Haus aus, als Reaktion auf die Kapitulationsaufforderung, die das Team von Gesetzeshütern aus verschiedenen Polizeiorganisationen vorgebracht hatte.

Es war ein düsterer Morgen. Am Himmel hingen dunkle Wolken, und über dem Boden lag dichter Nebel. Trotz der schlechten Sichtverhältnisse erschoss einer der Gesuchten im Haus mehr oder minder zufällig einen Deputy US Marshal, der von allen nur Turk genannt worden war.

Gary Headly hatte den Marshal erst am Vortag kennengelernt, kurz nachdem das Team aus ATF- und FBI-Agenten, Deputy Sheriffs und US Marshals erstmals zusammengetroffen war, um seine Vorgehensweise abzustimmen. Sie hatten sich um eine Karte des als Golden Branch bekannten Gebietes versammelt und durchgesprochen, auf welche Hindernisse sie treffen könnten. In seiner Erinnerung hörte Headly noch einen anderen Marshal sagen: »Hey, Turk, bring mir eine Cola mit, wenn du rübergehst, okay?«

Turks wirklichen Namen sollte Headly erst später, viel später erfahren, als sie schon mit den Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Die Kugel erwischte ihn einen Zentimeter oberhalb seiner Kevlarweste und zerfetzte ihm die Kehle. Er sank ohne einen Laut zu Boden und war schon tot, als er in den feuchten Laubhaufen zu seinen Füßen sackte. Headly konnte nichts mehr für ihn tun, außer ein kurzes Gebet zum Himmel zu schicken und in Deckung zu bleiben. Mit jeder Bewegung hätte er sich den Tod oder eine schwere Verwundung zuziehen können, denn seit das Feuer eröffnet worden war, ging aus den offenen Fenstern des Hauses ein unerbittlicher Kugelhagel auf sie nieder.

Die Rangers of Righteousness verfügten über ein unerschöpfliches Waffenarsenal. Jedenfalls erschien es so an diesem trübseligen, nassen Morgen. Das zweite Todesopfer war ein rothaariger vierundzwanzigjähriger Deputy Sheriff. Eine in der kalten Luft aufsteigende Atemwolke hatte seine Position verraten. Sechs Schüsse wurden auf ihn abgegeben. Fünf davon fanden ihr Ziel. Und von diesen wären drei jeder für sich tödlich gewesen.

Das Team hatte vorgehabt, die Gruppe zu überrumpeln, die Haftbefehle für eine lange Liste von Verbrechen zu vollstrecken und alle Mitglieder in Gewahrsam zu nehmen, wobei nur im äußersten Notfall geschossen werden sollte. Allerdings ließ die Vehemenz, mit der die Gesetzeshüter unter Feuer genommen wurden, darauf schließen, dass sich die Kriminellen auf einen Kampf auf Leben und Tod eingestellt hatten.

Schließlich hatten sie nichts zu verlieren als ihr Leben. Eine Festnahme hätte für jedes einzelne der sieben Mitglieder der einheimischen Terrorgruppe lebenslange Haft oder die Todesstrafe bedeutet. Insgesamt hatten die sechs Männer und eine Frau in der Gruppe zwölf Morde begangen und Schäden in Millionenhöhe angerichtet, größtenteils in Regierungsgebäuden oder militärischen Einrichtungen. Trotz ihres religiös klingenden Gruppennamens »Hüter der Rechtschaffenheit« waren die sieben keine radikalen Glaubensfanatiker, sondern Menschen ohne Gewissen und Hemmungen. Im relativ kurzen Zeitraum von zwei Jahren hatten sie traurige Berühmtheit erlangt und sich zur Geißel von regionalen wie nationalen Polizeibehörden entwickelt.

Andere, ähnliche Gruppen versuchten inzwischen den Rangers nachzueifern, aber keine davon hatte es zu vergleichbarer Skrupellosigkeit gebracht. In der kriminellen Unterwelt wurden sie für ihre Dreistigkeit und ihre konkurrenzlose Brutalität verehrt. Für viele heimliche Gegner des Regierungssystems waren sie zu Volkshelden geworden. Man bot ihnen Unterschlupf und versorgte sie mit Waffen und Munition, aber auch mit durchgesickerten Amtsgeheimnissen. Diese Unterstützung aus dem Untergrund ermöglichte es der Gruppe, schnell und brutal zuzuschlagen und anschließend abzutauchen und unsichtbar zu bleiben, bis der nächste Anschlag geplant war. In ihren an Zeitungen und Fernsehsender geschickten Kassibern hatten sie geschworen, sich niemals lebend zu ergeben.

Nur durch einen glücklichen Zufall hatte das Gesetz sie in Golden Branch aufgestöbert.

Im Zuge eines illegalen Waffendeals, der nichts mit den Rangers of Righteousness zu tun hatte, hatte man einen ihrer Waffenlieferanten, aufgrund seiner Vorstrafen ein alter Bekannter bei den Behörden, beschatten lassen. Im Verlauf von drei Wochen hatte er exakt drei Ausflüge zu einem verlassenen Haus in Golden Branch gemacht. Durch ein Teleobjektiv war er dabei beobachtet worden, wie er mit einem Mann sprach, der später als Carl Wingert, Anführer der Rangers, identifiziert wurde.

Als das an das FBI, das Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives und an den US Marshals Service gemeldet wurde, schickten alle drei Behörden ihre Leute los, um den Waffendealer weiterhin zu überwachen. Gleich nachdem er von einem Abstecher nach Golden Branch zurückkehrte, wurde er verhaftet.

Es brauchte volle drei Tage an Überzeugungsarbeit, aber dann schloss er auf Anraten seines Anwalts einen Deal mit den Behörden und verriet ihnen alles, was er über die Menschen wusste, die sich in dem verlassenen Haus verkrochen hatten. Getroffen hatte er sich immer nur mit Carl Wingert. Wer sich sonst noch im Haus verschanzt hatte oder wie lange sie dort zu überwintern gedachten, konnte – oder wollte – er nicht sagen.

Weil sie befürchteten, es könnte ihnen ein Verbrecher von der Most-Wanted-Liste des FBI durch die Lappen gehen, wenn sie nicht sofort zuschlugen, erbaten die Federal Agents die Unterstützung der lokalen Polizeibehörden, die ebenfalls Haftbefehle gegen einzelne Mitglieder der Gruppe ausstehen hatten. Das Team wurde zusammengestellt und die Operation geplant.

Doch Wingerts Bande hatte es todernst gemeint mit ihrer Behauptung, lieber zu sterben, als sich zu ergeben, das wurde allen im Team vom ersten Augenblick an bewusst. Die Rangers of Righteousness wollten sich ihren Platz in der Geschichte sichern. Sie würden ganz bestimmt nicht die Waffen niederlegen und mit erhobenen Händen kapitulieren.

Die Vertreter des Gesetzes saßen hinter Bäumen oder Fahrzeugen fest, und jeder von ihnen schwebte in Lebensgefahr. Bei der kleinsten Bewegung wurden sie unter Feuer genommen, und die Mitglieder der Rangers hatten schon unter Beweis gestellt, dass sie exzellente Schützen waren.

Der Einsatzleiter, Agent Emerson, rief über Funk die Zentrale und bat um einen Hubschrauber zur Luftunterstützung, aber diese Idee wurde aufgrund des schlechten Wetters verworfen.

Spezialeinheiten von örtlichen, überregionalen und landesweiten Polizeibehörden waren bereits mobilisiert, aber sie alle mussten erst mit ihren Fahrzeugen nach Golden Branch gelangen, und die Straßen waren selbst bei gutem Wetter nicht ideal. Das Team bekam den Befehl, auf seiner Position auszuharren und nur zur Selbstverteidigung zu feuern, während in sicheren, warmen Büros darüber debattiert wurde, wie man die Regeln des Einsatzes abändern könnte, damit notfalls auch tödliche Gewalt angewendet werden konnte.

»Die spielen ›Backe, backe Kuchen‹, weil auch eine Frau im Haus ist«, beschwerte sich Emerson bei Headly. »Und Gott bewahre, dass wir die Bürgerrechte dieser Mörder verletzen könnten. Niemand bewundert oder respektiert uns noch, das ist dir doch klar?«

Headly, der Jüngste im Team, behielt seine Meinung wohlweislich für sich.

»Wir sind der Bundesregierung unterstellt, und Regierung war schon vor Watergate ein Schimpfwort. Das ganze verdammte Land fliegt in tausend Stücke, während wir uns hier draußen die Eier abfrieren und abwarten müssen, bis irgendein Schreibtischhengst uns erklärt, dass wir diese Mörderschweine in die tiefste Hölle befördern dürfen.«

Emerson war beim Militär gewesen und in seinen Ansichten eindeutig ein Hardliner, aber niemand, und schon gar nicht er, wünschte sich an diesem Morgen ein Blutbad.

Ihre Wünsche wurden nicht erhört.

Während ihre Verstärkung noch unterwegs war, verstärkten die Rangers ihrerseits den Beschuss. Ein Agent vom ATF wurde von einer Kugel im Bein getroffen, und so wie die Wunde blutete, stand zu befürchten, dass die Oberschenkelarterie getroffen war, und zwar auf lebensbedrohliche Weise, auch wenn das wahre Ausmaß der Verletzung unklar war.

Emerson erstattete Meldung und ließ einen Schwall obszöner Kommentare folgen, dass sie einer nach dem anderen abgeknallt würden, wenn nicht verflucht noch mal …

Er bekam grünes Licht für einen Einsatz. Mit ihren Sturmgewehren und einer Maschinenpistole gingen sie in die Offensive. Das Sperrfeuer hielt sieben Minuten an.

Erst nahmen die Salven aus dem Haus spürbar ab, dann wurde nur noch sporadisch geschossen. Emerson befahl, das Feuer einzustellen. Sie warteten ab.

Plötzlich stürmte aus der Haustür ein Mann, der aus mehreren Wunden sowie einer Kopfwunde blutete und aus seiner Maschinenpistole um sich feuerte, wobei er wüste Beleidigungen krakeelte. Es war ein selbstmörderischer Akt, wie ihm klar sein musste. Schon bald sollte offenbar werden, was ihn dazu bewegt hatte.

Als die Agenten das Feuer einstellten und das Klingeln in ihren Ohren nachgelassen hatte, begriffen sie, dass es, abgesehen von einem Fensterladen, der ab und zu im Wind gegen die Außenwand schlug, gespenstisch still im Haus geworden war.

Nach nervenzerreißenden sechzig Sekunden sagte Emerson: »Ich gehe rein.« Er erhob sich in die Hocke und wechselte sein verbrauchtes Magazin gegen ein frisches.

Headly tat es ihm gleich. »Ich komme mit.«

Der Rest des Teams blieb in Position. Nachdem Emerson sich überzeugt hatte, dass alle Waffen mit frischen Magazinen bestückt waren, kroch er aus seiner Deckung und begann auf das Haus zuzulaufen. Headly schlug das Herz im Hals, als er ihm folgte.

Sie rannten an dem auf der nassen Erde liegenden Leichnam vorbei, eilten die Stufen vor der durchsackenden Veranda hinauf und postierten sich mit erhobenen Waffen links und rechts der weit offen stehenden Tür. Dort warteten sie lauschend ab. Als nichts zu hören war, nickte Emerson kurz, und Headly stürmte ins Haus.

Leichen. Auf allen Oberflächen scharf riechendes Blut. Nichts rührte sich.

»Gesichert!«, rief er und stieg über einen Leichnam, um ins nächste Zimmer zu gelangen, ein Schlafzimmer, in dem nur eine verdreckte Matratze am Boden lag. In der Mitte des Bezugs prangte ein ekliger nasser Fleck.

Keine sechzig Sekunden nachdem Headly durch die Tür geprescht war, stand fest, dass fünf Menschen gestorben waren. Vier Tote wurden im Haus gefunden. Der fünfte war der Mann, der in den Garten gestürmt war. Alle wurden als gesuchte Mitglieder der Rangers of Righteousness identifiziert.

Auffallenderweise waren unter den Toten weder Carl Wingert noch seine Geliebte Flora Stimel, die einzige Frau in der Gruppe. Das Einzige, was auf die beiden hinwies, war eine Blutspur, die von der Rückseite des Hauses in den dichten Wald führte, wo im Unterholz Reifenspuren gefunden wurden. Die beiden hatten entkommen können, wahrscheinlich, weil sich ihr ohnehin tödlich verletzter Kamerad für sie aufgeopfert und auf der Vorderseite das Feuer auf sich gelenkt hatte, während sie hinten aus dem Haus geschlichen waren.

Kurz darauf hatten die verschiedenen Kranken- und Einsatzwagen das Gebiet erreicht. Ihnen folgten die unvermeidlichen Übertragungswagen der Fernsehsender, die eineinhalb Kilometer entfernt an der Abzweigung von der Hauptstraße gestoppt wurden. Das Haus und die unmittelbare Umgebung wurden abgeriegelt, damit Beweise gesammelt, alle Details fotografiert und vermessen und Diagramme gezeichnet werden konnten, bevor die Leichen abtransportiert wurden.

Allen Beteiligten war klar, dass dem Vorfall eine gründliche Aufarbeitung folgen würde. Sie würden jede einzelne Aktion erklären und rechtfertigen müssen, und zwar nicht nur gegenüber ihren Vorgesetzten, sondern auch gegenüber einer zynischen und voreingenommenen Öffentlichkeit.

Schon bald war das halb verfallene Haus voller Menschen, die ihren speziellen Aufgaben nachgingen. Headly fand sich im Schlafzimmer wieder, wo er neben dem Rechtsmediziner stand und zusah, wie der an dem Fleck auf der verdreckten Matratze schnupperte. Für Headly sah es so aus, als hätte jemand darauf gepinkelt und gleichzeitig stark geblutet. »Urin?«

Der Rechtsmediziner schüttelte den Kopf. »Ich halte es für Fruchtwasser.«

Headly war sicher, dass er sich verhört hatte. »Fruchtwasser? Wollen Sie etwa behaupten, Flora Stimel …«

»Hat ein Kind zur Welt gebracht.«

1

Heute

»Ist das etwa dein neuer Haarschnitt?«

»So begrüßt du also einen Kriegsheimkehrer? Ich freue mich auch, dich zu sehen, Harriet.«

Dawson ärgerte sich, dass sie ihn zu sich zitiert hatte – anders konnte man es nicht ausdrücken –, und zeigte seinen Unwillen, indem er sich unaufgefordert setzte und dann respektlos in seinen Sessel fläzte. Er legte einen Knöchel auf dem anderen Knie ab, faltete die Hände über dem eingesunkenen Bauch und gähnte, wohl wissend, dass sie bei diesem Anblick die Krallen ausfahren musste.

Was sie prompt tat.

Sie setzte die strassbesetzte Lesebrille ab und legte sie auf den Schreibtisch. Die polierte Fläche symbolisierte ihren neuen Status als »Boss«. Sein Boss.

»Ich habe schon Soldaten gesehen, die aus Afghanistan heimgekehrt sind. Keiner von denen sah so aus, als hätte ihn eine Katze hochgewürgt.« Ihr vernichtender Blick wanderte über ihn hinweg und erfasste die drei Tage alten Bartstoppeln und die langen Haare, die seit seiner Reise weit über seinen Kragen gewachsen waren.

Er presste sich die Hand aufs Herz. »Autsch. Und dabei wollte ich dir gerade ein Kompliment zu deinem Aussehen machen. Die fünf Kilo mehr stehen dir ganz ausgezeichnet.«

Sie sah ihn finster an, sagte aber nichts.

In aller Ruhe und gemächlich Däumchen drehend, nahm er das Eckbüro in Augenschein, wobei er den Panoramablick aus den riesigen Fenstern ausgiebig auf sich wirken ließ. Wenn er den Kopf nur ein winziges bisschen zur Seite drehte, konnte er die Flagge sehen, die schlaff über der Kuppel des Kapitols hing. Er sah Harriet wieder an und bemerkte: »Nettes Büro.«

»Danke.«

»Wem hast du dafür einen blasen müssen?«

Sie verfluchte ihn lautlos. Er hatte sie dieselben Worte auch laut aussprechen hören. Er hatte gehört, wie Harriet sie über den Konferenztisch gebrüllt hatte, wenn jemand bei einer Redaktionssitzung anderer Meinung gewesen war als sie. Offenbar ging mit ihrer neuen Position eine gewisse Zurückhaltung einher, die zu knacken er sich sofort zum persönlichen Ziel setzte.

»Du erträgst es einfach nicht, oder?«, sagte sie mit einem schadenfrohen Lächeln. »Find dich damit ab, Dawson. Ich bin jetzt über dir.«

Er schauderte. »Bitte erspar mir dieses Bild.«

Aus ihren Augen schossen Blitze, aber sie hatte sich ganz offensichtlich eine Rede zurechtgelegt und würde sich nicht einmal von seinen beleidigenden Sticheleien um das Vergnügen bringen lassen, sie zu halten. »Ich trage jetzt die redaktionelle Verantwortung. Und zwar die volle redaktionelle Verantwortung. Was bedeutet, dass es in meiner Hand liegt, alle von dir eingebrachten Themenvorschläge gutzuheißen, abzuändern oder abzulehnen. Außerdem liegt es in meiner Hand, dir Themen zuzuteilen, wenn du selbst keine vorschlagen solltest. Was du nicht getan hast. Nicht während der zwei Wochen, seit du in die Vereinigten Staaten heimgekehrt bist.«

»Ich habe meine angesparten Urlaubstage aufgebraucht. Die Auszeit wurde mir genehmigt.«

»Von meinem Vorgänger.«

»Bevor du seinen Platz übernommen hast.«

»Ich habe nichts übernommen«, korrigierte sie angespannt. »Ich habe mir diese Position erarbeitet.«

Dawson zog eine Schulter hoch. »Wie du meinst, Harriet.«

Aber seine Gleichgültigkeit war nur geheuchelt. Das jüngste Firmenbeben hatte sich mit einer satten Zehn auf der Richterskala seiner beruflichen Zukunft niedergeschlagen. Noch vor dem offiziellen Rundschreiben an alle NewsFront-Angestellten hatte ihm ein Kollege eine E-Mail geschrieben, und nicht einmal die Entfernung zwischen Washington und Kabul hatte die Wucht der Unheilsbotschaft dämpfen können. Irgendein Arsch in der Geschäftsführung, ein Neffe von weiß Gott wem, der nichts vom Verlegen eines Nachrichtenmagazins oder vom Nachrichtengeschäft überhaupt verstand, hatte Harriet Plummer mit sofortiger Wirkung zur Chefredakteurin ernannt.

Sie war eine katastrophale Wahl für diesen Posten, schon weil ihr die eigene Karriere deutlich wichtiger war als der journalistische Anspruch. Bei jeder kontroversen Redaktionssitzung wäre es ihr wichtigstes Anliegen, die Zeitschrift gegen mögliche Klagen abzusichern. Storys über strittige Themen würden in Zukunft verwässert oder direkt in den Papierkorb wandern. Was Dawsons Meinung nach einer redaktionellen Kastration gleichkam.

Außerdem war sie eine überzeugte Männerfeindin ohne jedwede Führungsqualitäten. Sie hegte eine Abneigung gegen die Menschheit im Allgemeinen, insbesondere gegen deren männliche Hälfte, und einen tief sitzenden Groll gegen Dawson Scott im Besonderen. So bescheiden wie möglich hielt er sich zugute, dass sie ihn hauptsächlich so hasste, weil sie ihn um sein Talent und den Respekt beneidete, den ihm dieses Talent unter seinen Kollegen bei NewsFront und darüber hinaus eingebracht hatte.

Aber seit dem Tag ihrer Ernennung zur Chefredakteurin tat es nichts mehr zur Sache, woher ihr Groll rührte. Er war ungebrochen und unerschütterlich, und jetzt hatte sie das Kommando. Ätzend. Schlimmer konnte es nicht kommen.

Von wegen.

Sie sagte: »Ich schicke dich nach Idaho.«

»Weswegen?«

»Blinde Ballonfahrer.«

»Verzeihung?«

Sie schob ihm einen Ordner über die Tischplatte zu. »Unser Rechercheteam hat schon die gröbsten Vorarbeiten geleistet. Du kannst dich auf dem Flug mit dem Programm vertraut machen.«

»Gib mir wenigstens einen Vorgeschmack.«

»Ein paar Gutmenschen haben angefangen, Blinde zum Ballonfahren mitzunehmen und ihnen die Welt zu zeigen. Sozusagen.«

Dawsons Miene blieb völlig teilnahmslos, nicht einmal der freche Nachsatz konnte ihm ein Lächeln entlocken. Ohne den Ordner auch nur anzufassen, fragte er: »Und das sind echte Neuigkeiten?«

Sie lächelte lieblich. Oder versuchte es wenigstens. Ihrem Gesicht war jede Koketterie fremd. »Für die blinden Ballonfahrer bestimmt.«

Am liebsten wäre er über den Schreibtisch geflankt und hätte sie mit beiden Händen gewürgt, um ihr das selbstgefällige Lächeln auszutreiben. Stattdessen zählte er im Geist bis zehn und sah aus dem Fenster statt sie an. Vier Stockwerke unter ihnen glühten die breiten Straßen von Washington, D. C. in der Mittagssonne.

»Auch wenn du dich über das Programm lustig machst«, sagte er, »verdient es bestimmt landesweite Beachtung.«

»Und dennoch spüre ich keine große Begeisterung deinerseits.«

»Das ist nicht mein Thema.«

»Ballons sind zu hoch für dich?«

Ein unsichtbarer Fehdehandschuh klatschte neben der unberührten Akte auf ihren Schreibtisch. »Ich suche mir meine Themen selbst, Harriet. Das weißt du.«

»Dann finde eines.« Sie verschränkte die Arme unter dem ausladenden Busen. »Lass mich dein berühmtes Genie bei der Arbeit beobachten. Ich will mit eigenen Augen sehen, wie der Autor agiert, den alle kennen und lieben, der, wenn man den zahllosen Lobeshymnen glauben darf, stets einen frischen Ansatz findet, der mit so einzigartiger Einsicht schreibt, der seinen Lesern jedes Mal den Kern einer Story enthüllt.« Sie zählte bis fünf. »Und?«

So gleichmütig wie nur möglich löste er seinen Kiefer und sagte: »Ich habe immer noch Urlaubstage. Für mindestens eine Woche.«

»Du hattest schon zwei Wochen frei.«

»Das reicht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich bin gerade erst aus einem Kriegsgebiet zurückgekehrt.«

»Niemand hat dich gezwungen, dortzubleiben. Du hättest jederzeit heimfliegen können.«

»Es gab zu viele gute Storys da drüben.«

»Wem willst du was vormachen?« Sie schnaubte. »Du wolltest mal in eine Uniform schlüpfen und Soldat spielen, und genau das hast du gemacht. Ein volles Dreivierteljahr. Auf Kosten der Zeitschrift. Wenn du nicht von selbst zurückgekommen wärst, hätte ich dich als neue Chefredakteurin umgehend zurückgepfiffen.«

»Vorsichtig, Harriet. Man sieht bei dir nicht nur den Haaransatz, sondern auch den Neid sprießen.«

»Neid?«

»Nichts, was du geschrieben hast, kam je auf die Shortlist für einen Pulitzerpreis.«

»Nachdem du noch nicht offiziell nominiert wurdest und ergo noch nie einen Pulitzer bekommen hast, scheiße ich auf diese Gerüchte, die du wahrscheinlich selbst in die Welt gesetzt hast. Und jetzt habe ich wichtigere Dinge zu tun.« Sie zog eine bleistiftdünne Braue hoch. »Es sei denn, du möchtest hier und jetzt deinen Schlüssel für die Herrentoilette abgeben. In diesem Fall rufe ich natürlich gern in der Buchhaltung an und lasse einen Scheck über dein noch ausstehendes Gehalt ausstellen.«

Sie wartete mehrere Sekunden ab und fuhr, als er keine Reaktion zeigte, fort: »Nein? Dann hockt dein Hintern morgen früh auf Platz achtzehn A in der Morgenmaschine nach Boise.« Sie klatschte ein Flugticket auf die Akte mit den Rechercheergebnissen. »Es ist ein Regionalflieger.«

Dawson lenkte den Wagen an den Bordstein vor dem adretten Stadthaus in Georgetown und stellte den Motor ab. Er hob die Hüfte an, angelte ein Pillenfläschchen aus seiner Jeanstasche, schüttelte eine Tablette heraus und spülte sie mit einem tiefen Schluck aus der Wasserflasche, die im Becherhalter der Mittelkonsole steckte, hinunter. Nachdem er den Deckel des Fläschchens zugedrückt und es wieder in die Hosentasche geschoben hatte, klappte er die Sonnenblende herab und betrachtete prüfend sein Spiegelbild.

Er sah wirklich aus wie von einer Katze ausgespuckt. Einer todkranken Katze.

Aber das ließ sich jetzt nicht ändern. Während er noch die Poststapel, die sich auf seinem Schreibtisch angehäuft hatten, durchgegangen war, hatte er Headlys SMS empfangen: Komm her. Sofort. Headly erteilte keine Befehle, wenn nichts im Busch war.

Dawson hatte die Post Post sein lassen, und jetzt war er hier.

Er stieg aus und ging über den von Blumen gesäumten Pflasterweg zum Haus. Auf sein Läuten hin öffnete Eva Headly die Tür. »Hallo, schöne Frau.« Er streckte die Hände ins Haus und zog sie in seine Arme.

Eva Headly, eine einstige Miss North Carolina, war bewundernswert gut gealtert. Obwohl inzwischen über sechzig, hatte sie sich nicht nur ihre Schönheit und Figur, sondern auch ihren trockenen Witz und natürlichen Charme bewahrt. Sie drückte Dawson mit aller Kraft, wand sich dann aus seiner Umarmung und schlug ihm nicht allzu sanft auf die Schulter.

»Komm mir nicht mit ›schöner Frau‹«, sagte sie mit dem für sie typischen weichen »r«. »Ich bin sauer auf dich. Seit zwei Wochen bist du wieder hier. Wieso kommst du erst jetzt dazu, uns zu besuchen?« Mit sorgenumwölktem Blick begutachtete sie ihn von Kopf bis Fuß. »Du bist zaundürr. Haben sie dir da drüben nichts zu essen gegeben?«

»Nichts, was an dein Brunswick Stew rankäme. Und von Bananenpudding haben sie noch nie was gehört.«

Sie winkte ihn in die Diele. »Das habe ich am meisten vermisst, während du weg warst.«

»Was denn?«

»Deine dämlichen Kommentare.«

Er grinste, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und küsste sie auf die Stirn. »Ich habe dich auch vermisst.« Dann gab er sie frei und nickte zum Fernsehzimmer hin. Halblaut fragte er: »Gewöhnt er sich allmählich an den Gedanken?«

Sie senkte ebenfalls die Stimme. »Kein bisschen. Er ist unaus…«

»Euch ist schon klar, dass ich euch flüstern hören kann? Ich bin nicht taub.« Der barsche Ruf drang aus dem Fernsehzimmer zu ihnen.

»Vorsichtig«, mahnte Eva ihn lautlos.

Dawson zwinkerte ihr zu und ging durch den Flur zum Fernsehzimmer, wo Gary Headly auf ihn wartete. Sobald Dawson das vertraute Zimmer betrat, spürte er ein nostalgisches Ziehen. Dieser Raum war mit so vielen Erinnerungen verbunden. Auf dem Parkett hatte er seine Matchbox-Autos fahren lassen, unter den Ermahnungen seiner Mutter, sie nicht liegen zu lassen, damit niemand darüber stolperte. An dem Brett auf dem Tisch in der Ecke hatten sein Vater und Headly ihm mit Engelsgeduld das Schachspielen beigebracht. Auf dem Sofa hatte Eva neben ihm gesessen und ihn aufgeklärt, wie er das Herz seiner Angebeteten in der sechsten Klasse gewinnen konnte. Zum ersten Mal seit seinem Abflug aus Afghanistan hatte er das Gefühl, heimgekehrt zu sein.

Die Headlys waren seine Paten und hatten seit dem Tag seiner Taufe ein festes Band zu ihm geknüpft. Sie hatten sich ihr Gelübde, den Sohn ihrer Freunde unter ihre Fittiche zu nehmen, falls es je nötig werden sollte, wirklich zu Herzen genommen. Obwohl er schon im College und rein rechtlich erwachsen gewesen war, als seine Mom und sein Dad bei einem Autounfall ums Leben kamen, war für ihn die Verbindung zu den Headlys danach noch wichtiger geworden.

Mit einem väterlich missbilligenden Stirnrunzeln studierte Headly Dawsons Erscheinung. Er war deutlich kleiner als Dawson mit seinen knapp einem Meter neunzig, aber er strahlte Selbstbewusstsein und Autorität aus. Sein immer noch volles Haar war nur von wenigen grauen Strähnen durchsetzt. Das tägliche Joggingprogramm von fünf Kilometern und Evas strenge Diät hatten ihn schlank gehalten. Die meisten Fünfundsechzigjährigen hätten ihn um seine Figur beneidet.

Er sagte: »Muss ein übler Krieg gewesen sein, so wie du aussiehst.«

»Könnte man so sagen«, erwiderte Dawson. »Ich komme eben aus einem Scharmützel mit Harriet, das ich nur mit knapper Not überlebt habe.«

Während Dawson sich in den angebotenen Sessel sinken ließ, sagte Headly: »Ich meinte den in Afghanistan.«

»Auch der war übel, aber Harriet gibt mir den Rest.«

»Willst du was trinken?«

Dawson überspielte sein leichtes Zögern mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Noch ein bisschen früh.«

»Irgendwo ist die Sonne bestimmt schon untergegangen. Außerdem gibt es was zu feiern. Der verlorene Sohn ist heimgekehrt.«

Dawson hörte den versteckten Tadel sehr wohl. »Tut mir leid, dass ich nicht früher herkommen konnte. Ich hatte eine Menge abzuarbeiten. Habe ich immer noch. Aber deine SMS klang dringlich.«

»Wirklich?« Headly schenkte an der eingebauten Bar Bourbon in zwei Gläser. Eines davon reichte er Dawson, dann setzte er sich ihm gegenüber. Er hob prostend das Glas an und nahm einen Schluck. »Ich trinke zurzeit mehr.«

»Gut für dich.«

»Weil es Stress abbaut?«

»Habe ich jedenfalls gehört.«

»Vielleicht«, brummelte Headly. »Wenigstens habe ich damit etwas, worauf ich mich jeden Tag freuen kann.«

»Du kannst dich auf vieles freuen.«

»Klar. Alter und Tod.«

»Lass das bloß nicht Eva hören.«

Headly knurrte etwas Unverständliches in sein Glas und nahm noch einen Schluck.

Dawson sagte: »Sei nicht so ein Miesepeter. Gib dir Zeit, dich daran zu gewöhnen. Es ist noch nicht mal ein Monat vergangen.«

»Fünfundzwanzig Tage.«

»Die du offensichtlich zählst.« Dawson nahm einen Schluck Whiskey. Am liebsten hätte er ihn auf ex hinuntergekippt.

»Ist nicht so einfach, schlagartig auf null zu gehen, nachdem ich mein ganzes Leben beim FBI verbracht habe.«

Dawson nickte mitfühlend und spürte gleichzeitig, wie der Bourbon durch seine Eingeweide sickerte und die Nerven besänftigte, was die Pille in der kurzen Zeit noch nicht geschafft hatte. »Deine Pensionierung beginnt offiziell erst … wann?«

»In vier Wochen.«

»Du hattest so viele Urlaubstage angespart?«

»Allerdings. Und ich hätte sie liebend gern geopfert, um so lange wie möglich im Job zu bleiben.«

»Nutz die Wochen als Übergangsperiode von einem aufzehrenden Berufsleben in ein Leben des Müßiggangs.«

»Müßiggang«, wiederholte er verdrießlich. »Eva hat uns eine zweiwöchige Kreuzfahrt gebucht, sobald meine Pensionierung offiziell wird. Nach Alaska.«

»Hört sich nett an.«

»Ich würde mir lieber jeden Fingernagel einzeln ausreißen lassen.«

»So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Du hast leicht reden, du musst ja nicht mit. Eva hat mir befohlen, mir für die Reise Viagra verschreiben zu lassen.«

»Hmm. Sie will all die Nächte nachholen, in denen du nicht heimkommen konntest?«

»So in der Art.«

»Was stört dich daran? Lass jucken, Kumpel!« Dawson hob prostend sein Glas an.

Headly trank ebenfalls einen Schluck und wartete dann kurz ab, bevor er fragte: »Und wie lief’s mit der Drachenbraut?«

Dawson erzählte ihm von der Besprechung und der Story, die Harriet ihm zugeteilt hatte.

»Blinde Ballonfahrer?«

Dawson zuckte mit den Achseln.

Headly lehnte sich in seinem Sessel zurück und studierte ihn unangenehm lange.

Verärgert über Headlys kritischen Blick, brauste Dawson auf: »Was ist? Willst du dich auch über meine Haare auslassen?«

»Was aus deinem Schädel rauswächst, macht mir weniger Sorgen als das, was darin vor sich geht. Was ist los mit dir?«

»Nichts.«

Headly sah ihn nur an, Worte waren überflüssig.

Dawson stand auf, ging ans Fenster, klappte die Läden zurück und schaute auf den gepflegten Rasen vor dem Haus. »Ich habe bei meinem Zwischenstopp in London mit Sarah gesprochen.«

Die Tochter der Headlys war älter als er, aber während ihrer Kindheit hatten die beiden Familien so viel Zeit miteinander verbracht, dass sie fast wie Bruder und Schwester waren und sich, wenn auch widerwillig, umeinander sorgten. Sie und ihr Mann lebten in England und arbeiteten dort für eine internationale Bank.

»Uns hat sie erzählt, dein ›Zwischenstopp‹ sei so kurz gewesen, dass du sie gar nicht gesehen hast.«

»Die Zeit bis zum Anschlussflug war zu knapp.«

Headly schnaubte, als wäre das keine plausible Ausrede, sie nicht zu besuchen. Was es auch nicht war.

»Die Begonien blühen wunderbar.«

»Das ist Springkraut.«

»Ach. Und wie …«

»Ich habe dir eine Frage gestellt«, fiel ihm Headly ärgerlich ins Wort. »Was bedrückt dich so? Und sag nicht ›nichts‹.«

»Es geht mir gut.«

»Quatsch nicht. Ich habe gestern Abend einen Zombiefilm im Fernsehen gesehen. Du hättest hervorragend reingepasst.«

Die Sturheit seines Patenonkels entlockte Dawson ein leises Seufzen. Ohne sich umzudrehen, lehnte er sich mit der Schulter gegen den Fensterrahmen. »Ich bin einfach nur müde. Neun Monate in Afghanistan – glaub mir, das macht dich fertig. Das feindselige Terrain. Die extremen Temperaturen. Die beißenden Insekten. Kein Alkohol. Und keine Frauen außer denen, die dort Dienst tun, und sich mit denen einzulassen ist keine gute Idee. Eine sichere Methode für beide Beteiligten, sich in die Scheiße zu reiten. Da lohnt es sich kaum, sich flachlegen zu lassen.«

»Du hättest seit deiner Rückkehr Zeit genug gehabt, dir eine zuvorkommende Lady zu suchen.«

»Tja, dabei gibt’s nur ein Problem.« Er schloss die Fensterläden, drehte sich wieder um und grinste. »Die letzte wahre Lady hast du dir unter den Nagel gerissen.«

Der launige Kommentar fiel auf unfruchtbaren Boden. Die Sorgenfalte zwischen Headlys dichten Brauen entspannte sich nicht.

Dawson ließ die unbeschwerte Maske fallen, kehrte in seinen Sessel zurück, spreizte die Beine und starrte auf den Boden.

Headly fragte: »Kannst du schlafen?«

»Es wird besser.«

»Mit anderen Worten, nein.«

Dawson hob den Kopf und erwiderte gereizt: »Es wird besser. Man schlüpft nicht so einfach in sein altes Leben zurück und macht weiter, als wäre nichts gewesen.«

»Okay, das glaube ich dir. Was noch?«

Dawson strich sich die Haare zurück. »Diese Sache mit Harriet. Sie wird mir das Leben zur Hölle machen.«

»Nur wenn du sie lässt.«

»Sie schickt mich nach Idaho, verflucht noch mal.«

»Was hast du gegen Idaho?«

»Nichts, verdammt noch mal. Ich habe auch nichts gegen Sehbehinderte. Oder Heißluftballonfahrer. Aber das ist nicht meine Story. Es ist nicht mal meine Art von Story. Also entschuldige, aber ich finde es schwierig, mich dafür zu begeistern.«

»Könntest du dich vielleicht für eine bessere Story begeistern?«

Diese Frage hatte Headly nicht einfach so gestellt. Es gab dafür einen tieferen Grund. Darum verspürte Dawson, trotz seiner Niedergeschlagenheit, sofort ein gespanntes Kribbeln. Denn Headly war nicht nur sein Pate und ihm seit seiner Kindheit ein guter Freund, er war auch seine unschätzbare ungenannte Quelle innerhalb des FBI gewesen.

Headly interpretierte sein Schweigen als Interesse. »Savannah, Georgia, und Umgebung. Marine Captain Jeremy Wesson, mehrfach ausgezeichneter Kriegsveteran, ein Einsatz im Irak, zwei in Afghanistan. Nach seinem letzten Einsatz nahm er seinen Abschied vom Militär und drehte, nach allem, was man so hört, komplett durch. Vor etwa fünfzehn Monaten fing er eine schmutzige Affäre mit einer verheirateten Frau an, einer gewissen Darlene Strong. Ihr Ehemann Willard ertappte die beiden, und die Sache nahm kein gutes Ende für das illegitime Liebespaar. Willard Strong kommt übermorgen wegen Mord vor Gericht. Im Chatham County Courthouse. Du solltest dort sein und über den Prozess berichten.«

Dawson schüttelte schon längst den Kopf.

»Warum nicht?«, fragte Headly.

»Sommer in Savannah.«

»Wirf mal einen Blick auf deinen Kalender. Ab heute haben wir September.«

»Trotzdem nein danke. Es ist heiß da unten. Feucht. Da fahre ich noch lieber nach Idaho. Außerdem sind Kriminalreportagen nicht mein Gebiet. Und ehrlich gesagt habe ich vorerst die Nase voll vom Militär. Ich will nicht wieder über einen toten Marine schreiben. Das habe ich die letzten neun Monate getan. Wer weiß, vielleicht erweist sich Harriets Auftrag als Segen. Vielleicht ist so eine Wohlfühlgeschichte genau das Heilmittel, das ich brauche. Etwas Hoffnungsvolles. Positives. Erbauliches. Mal was ohne abgetrennte Gliedmaßen oder blutdurchtränkte Kampfanzüge oder Särge unter dem Sternenbanner.«

»Ich hab noch nicht mal angefangen, meinen Köder auszuwerfen.«

Missmutig fragte Dawson: »Und welcher Köder wäre das?«

»Die Polizei hat von Darlenes Kleidung Samenspuren von Wesson abgenommen. Natürlich, um den Staatsanwalt bei der Anklage gegen Willard den Gehörnten zu unterstützen.«

»Okay.«

»Und der RANC in Savannah ist ein alter FBI-Kumpel von mir, ein ehemaliger New Yorker und eingeschworener Baseballfan namens Cecil Knutz.«

»›Rank‹?«

»Resident Agent in Charge. Der Chef des dortigen Büros.«

»Okay.«

»Jedenfalls stolperte Knutz über die CODIS-Meldung, also den Abgleich der DNA-Probe mit der FBI-Datenbank. Wessons DNA stimmte mit einem Eintrag überein.«

»Er war schon im System?«

»Oh ja. Und zwar schon seit längerer Zeit.«

Headly hielt inne und nahm genüsslich einen Schluck Whiskey. Dawson war klar, dass damit Spannung aufgebaut werden sollte: »Ich sitze schon auf Kohlen.«

Headly setzte das Glas ab und beugte sich verschwörerisch vor. »Captain Jeremy Wessons DNA stimmt mit einer Probe überein, die wir von einer Babydecke in dem Haus in Golden Branch abgenommen hatten. Wir hatten sie damals als Beweismittel mitgenommen und später auf DNA-Spuren untersuchen lassen.«

Das war mehr als nur ein Köder. Das war ein zappelnder, fetter Happen, dem Dawson unmöglich widerstehen konnte. Fassungslos starrte er Headly an.

Headly sagte: »Bevor du fragst – ein Irrtum ist ausgeschlossen. Die Übereinstimmung betrug über neunundneunzig Komma neun Prozent. In anderen Worten, die jüngst gewonnene DNA-Probe und jene aus dem Jahr 1976 stammen von ein und demselben Individuum. Wir haben damals auch eine DNA-Probe von Flora nehmen können. Wir wissen, dass sie ein Kind zur Welt brachte, dessen DNA auf der Babydecke zurückblieb. Und Jeremy Wessons Alter passt ebenfalls. Er war ohne jeden Zweifel Floras und Carls Sohn.«

Dawson stand auf, machte ein paar Schritte und drehte sich dann zu Headly um. Der schien die zahllosen Fragen, die Dawson durch den Kopf schossen, von seinem Gesicht ablesen zu können: »So wie du mich ansiehst, brauche ich dir nicht zu erklären, was das bedeutet.«

Obwohl Gary Headly es beim FBI zu großem Ansehen gebracht hatte, wurden für ihn all seine Erfolge von dem überschattet, was er als seinen einzigen großen Misserfolg betrachtete – dass er es nie geschafft hatte, Carl Wingert und Flora Stimel vor Gericht zu bringen. Das hatte ihm während all seiner Berufsjahre keine Ruhe gelassen, und jetzt vergiftete es ihm den Ruhestand.

Dieses grausame Schicksal hatte sein Patenonkel nicht verdient, und das machte Dawson wütend. »Dieser Knutz – warum hat er dir den Tipp überhaupt gegeben?«

»Er wusste, dass mich das interessieren würde. Ich habe Ende der Achtziger mit ihm zusammengearbeitet, als ich für sie eine Sache in Tennessee aufklären sollte. Er weiß, dass ich demnächst in Pension gehe, und hat mir das als Gefälligkeit unter alten Kollegen gesteckt. Er hat darauf geachtet, nicht zu viel zu verraten, aber er hat mir sehr wohl erzählt, dass er Jeremy Wessons Vergangenheit nach einer möglichen Verbindung zu Carl und Flora durchleuchtet hat.«

Dawson hob die Brauen zu einer stummen Frage.

»Es gibt keine. Jeremy Wessons Geburtsurkunde – die Kopie, mit der er sich beim Militär eingeschrieben hatte – stammt aus Ohio. Laut dieser Urkunde wurde er als Sohn der Eheleute Mr. und Mrs. Sowieso Wesson geboren und aufgezogen. Die Highschool schloss er in dem Ort ab, in dem er aufgewachsen war. Dann machte er einen Abschluss an der Texas Tech. Und ging danach zu den Marines. An seiner Geschichte ist nichts Auffälliges, bis er aus der Armee ausschied und sich mit der Frau eines Rednecks einließ.«

»Keine Verbindungen zu irgendwelchen terroristischen Gruppen?«

»Nicht soweit ersichtlich.«

»Was meint Knutz dazu?«

»Er hat mir geraten, die Sache gut sein zu lassen. Das FBI angelt inzwischen nach größeren Fischen. Eigentlich interessiert sich niemand mehr einen feuchten Dreck für Carl und Flora. Allgemein geht man davon aus, dass beide tot sind. Der Einbruch in dieser Waffenfabrik in New Mexico war das letzte Verbrechen, das ihnen zugeschrieben wurde. Und das war 1996.«

»Vor siebzehn Jahren. In so langer Zeit kann viel passieren.«

»Das heißt nicht, dass sie tot sein müssen.«

»Aber nachdem nichts darauf hinweist, dass sie noch am Leben sind, wäre die Annahme nur logisch.«

»Ich gebe nichts auf Logik und Annahmen. Ich will Gewissheit, du etwa nicht?«

»Was macht das nach so vielen Jahren noch für einen Unterschied?«

»Für mich macht es einen gewaltigen Unterschied!«

Dawson schnitt mit beiden Händen durch die Luft. »Okay. Kapiert. Aber dieser ordenbehängte Marine, der möglicherweise ihr Sohn war …«

»Er war ihr Sohn. Ich weiß es.«

»Tust du nicht.«

»Die DNA beweist es.«

»Auch da kann es Irrtümer geben.«

»Aber es gibt sie praktisch nie.«

»Na schön, selbst wenn er ihr Kind war …«

»Bist du denn gar nicht neugierig, was nach Golden Branch aus ihm wurde, wo er seither gesteckt hat?«

»Kein bisschen.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Glaub’s nur. Was würde es bringen, den alten Dreck wieder aufzurühren …«

»Ich dachte, das würde dich reizen.«

»Tut es nicht.«

»Dann tu’s für mich.«

»Warum? Er ist tot. Ende der Geschichte.«

»Es könnte die größte Story in deiner beruflichen Laufbahn werden.«

»In deiner ist sie es jedenfalls!«

Sie merkten gleichzeitig, dass sie sich angebrüllt hatten. Headly sah kurz zur Tür, als befürchtete er, dass seine Frau dort stehen und nachsehen könnte, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Dawson senkte die Stimme auf eine angemessene Lautstärke. »Warum fährst du nicht zu der Verhandlung in Savannah, wenn du den Rest der Geschichte hören willst?«

»Weil Eva sich dann von mir scheiden lassen würde«, knurrte er. »Außerdem bin ich so gut wie raus aus meinem Job, wie ich dir gerade erklärt habe. Wenn ich da runterfahren und mich einmischen würde, sähe das jämmerlich aus. Als würde ich mich mit letzter Kraft an meinem Job festkrallen.«

Dawson fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und seufzte angespannt. Er liebte Headly. Er wusste, wie gern der alte Herr den alles bestimmenden Fall seiner Berufslaufbahn zum Abschluss gebracht hätte. Aber er verlangte zu viel. Die Erlebnisse in Afghanistan hatten Dawson ausgelaugt und resignieren lassen. Selbst an guten Tagen lagen seine Nerven blank. Wenn er etwas auf keinen Fall brauchen konnte, dann eine zusätzliche Belastung wie eine aus dem Morast aufgetauchte unvollendete Saga. Wie sollte sich so etwas auszahlen können? Wen interessierte noch, ob Jeremy Wesson tatsächlich Carls und Floras Kind war oder nicht?

Leise sagte er: »Tut mir leid. Ich würde auch nicht nach Savannah fliegen, wenn es in meinem Leben keine Harriet gäbe, die mich mit einem anderen Auftrag woandershin schickt. Dein Kumpel Knutz hat recht. Manche Dinge sollte man lieber ruhen lassen.«

Headly sah ihn eindringlich an, dann fügte er sich mit hängenden Schultern in die Einsicht, dass Dawson sich nicht umstimmen lassen würde. Er leerte in einem Zug sein Glas und sprach das Thema nicht mehr an. Wenig später lud Eva Dawson ein, zum Abendessen zu bleiben. Er lehnte unter dem Vorwand ab, dass er noch für seine Reise nach Idaho packen müsste. Dann trat er hastig den Rückzug an, wobei er den Blickkontakt mit beiden auf ein Minimum beschränkte.

Bis er wieder in seinem Auto saß, war er in Angstschweiß gebadet. An der ersten Ampel nahm er eine weitere Pille, die er mit dem lauwarmen Rest in seiner Wasserflasche hinunterspülte. Die Fahrt durch den Stoßverkehr von Washington, D.C. nach Virginia besserte seine Laune auch nicht, und so war er extrem gereizt, als er die Tür zu seinem Apartment in Alexandria aufschloss.

Gerade als er sich die Stiefel von den Füßen zerrte, meldete sein Handy zirpend den Eingang einer SMS. Sie kam von Headly: Ich hab noch ein Ass im Ärmel.

Er wusste, dass er geködert werden sollte, aber die Neugier siegte über sein besseres Wissen. Und welches?

Die Antwort kam postwendend. J. Wesson wurde nur für tot erklärt. Leiche wurde nie gefunden.

2

»Mr. Jackson, sind Sie bereit, Ihren nächsten Zeugen aufzurufen?«

Der Staatsanwalt erhob sich. »Das bin ich, Euer Ehren. Ich rufe Amelia Nolan in den Zeugenstand.«

Wie alle anderen Zuschauer drehte auch Dawson sich um und beobachtete, wie der Gerichtsdiener die Doppeltür auf der Rückseite des Gerichtssaals öffnete und die einstmalige Mrs. Jeremy Wesson hereinrief.

Es war der dritte Verhandlungstag. Der erste Zeuge an diesem Vormittag war ein Tierarzt gewesen, ein Dr. Sowieso – Dawson hatte den Namen notiert, um notfalls darauf zurückgreifen zu können –, der sich lang und breit über die Verdauungsprozesse von Hunden und insbesondere von Pitbulls ausgelassen hatte.

Der Staatsanwalt hatte fast zwei Stunden gebraucht, um das ganze wissenschaftliche Gedöns zu durchwaten und zum entscheidenden Punkt zu gelangen: dass in den Verdauungstrakten von drei der illegalen Kampfhunde, die Willard Strong besessen hatte und die man zum Zweck der Beweissuche eingeschläfert hatte, Überreste von Darlene Strong gefunden worden waren.

Der zweite Zeuge an diesem Vormittag, der Rechtsmediziner des Countys, hatte wiederum bestätigt, dass diese Überreste mit den fehlenden Körperteilen am Leichnam des Opfers, den die Polizei im Hundezwinger gefunden hatte, übereinstimmten.

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