Enrico Caruso - Christian Springer - E-Book

Enrico Caruso E-Book

Christian Springer

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Beschreibung

Enrico Caruso ist in der Welt der Musik eine Ausnahmeerscheinung: Sein Mythos lebt selbst mehr als neunzig Jahre nach seinem frühen Tod ungebrochen weiter. Erst durch Caruso etablierte sich die Schallplatte als Massenmedium und trug gleichzeitig zum Weltruhm des Tenors bei. Christian Springer schildert in seinem Buch die Entstehung und Wirkung dieser Tondokumente und präsentiert Analysen und Kommentare zu allen 238 veröffentlichten Aufnahmen. Er beschreibt Carusos Leben, seine Zusammenarbeit mit Impresari, Dirigenten und Sängern, zitiert Teile des berühmten Textes über Caruso von Oskar Bie sowie den Nachruf von Julius Korngold und widmet schließlich auch dem Thema "Caruso und der Film" einen eigenen Abschnitt. Mit dieser umfassenden Caruso-Studie gelingt es dem Autor, bislang unbekannte Zusammenhänge zwischen Lebens- und Karriereereignissen erstmals deutlich zu machen und dem Leser ein lebendiges Bild des Sängers und seiner stimmlichen Entwicklung in den 25 Jahren seiner unvergleichlichen Karriere zu vermitteln.

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Christian Springer

Enrico Caruso

Tenor der Moderne

epubli GmbH, Berlin

Imprint

Enrico Caruso. Tenor der Moderne

Christian Springer

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de   

Copyright: © Christian Springer

ISBN 978-3-8442-3096-3

Inhalt

Einleitung

I

Neapel – Musikmetropole und Geburtsstadt Carusos

Scarlatti und politisch motivierte Opernkunst

Goldenes Zeitalter und Niedergang der Opernmetropole Neapel

Errico Caruso

Ordnungssinn – Sauberkeit – erste Musikkontakte

Erste öffentliche Auftritte

Gesangsstudium

Brüderlich geteilter Militärdienst

Der Autodidakt

Caruso ein baritenore?

Beginn der professionellen Tenorkarriere

Erste Auslandsreise

Karriere in Neapel – Ignoranz in Caserta

Die Füchse Schottlands in Sizilien

Über Neapel und Salerno nach Mailand

II

Palermo – Leopoldo Mugnone – ein neuer Vorname

Ein Tenor zwischen zwei singenden Schwestern

Von Gott geschickt?

Ada Giachetti

Debut in Mailand – Uraufführungen

Genua

Ein Kind mit unbekannter Mutter

eine weitere Schicksalspremiere

Oper in St. Petersburg – Beginn der Internationalen Karriere

Argentinien – schönste Tenorstimme der Gegenwart

Triumphe in Rom

Lungenentzündung in St. Petersburg – ‚Zar der Tenöre‘ in Moskau

Argentinien

Auftritte mit Ada

Ein Sänger im Haus genügt

Der Konkurrent Bonci und seine Machenschaften

III

Wendepunkt der Operngeschichte

Scala-Debut

Wagner und eine weitere Uraufführung

Auftritt bei der Verdi-Gedenkfeier

„Wenn dieser Neapolitaner weiter so singt, wird die ganze Welt von ihm reden!“

Toscaninis Revolution

Der endgültige Durchbruch

Buenos Aires – der Wagner-Tenor Caruso

Warschau – Bologna – Triest – Nie wieder Neapel!

Monte Carlo

Rückkehr nach Mailand – eine weitere Uraufführung

Erste Schallplattenaufnahmen

Erste Spielzeit in London

IV

Schon wieder Eine Uraufführung

Neue Plattenaufnahmen

Tränen in Rom

Lissabon – erster Met-Vertrag

Im Aufnahmestudio

Südamerika

Oper in New York

Die Met vor Carusos Debut

In Mailand im Plattenstudio

Caruso in New York

Debut und erste Met-Saison

Beginn der amerikanischen Plattenkarriere

Debuts und letzte Plattenaufnahmen in Europa

Auftritte in Paris, Barcelona, Prag, Dresden, London

Villa Bellosguardo

V

Herbstsaison in Berlin und London

Zweite Met-Saison

Plattenaufnahmen

Erste Met-Tour

Paris – London – Begegnung mit einer Legende – Ostende

Erste Krise

Tagesablauf und Rituale

Der Mensch Caruso

Dritte Met-Saison – Chorstreik im Faustspielhaus

Küsse, Knoblauch und Unfälle

Im Plattenstudio

Met-Tournée mit Präsidentenphoto und Erdbeben

Ein Kompliment in London

Europatournée

Vierte Met-Saison – Skandal im Affenhaus und Justizgroteske

Neue Platten

Konkurrenz für die Met

Bonci versus Caruso

Wieder in Europa

VI

Stimmbandoperation – Probleme mit Ada – Misserfolg in Budapest

Fünfte Met-Saison

neue Künstler an der Met – Luisa Tetrazzini

Neue Rollen

Wieder im Studio

Vertragsbruch und Met-Tour

Schicksalsschläge

Erklärungsversuche

Mögliche Folgen

Der deutsche Kaiser als Carusos Diener

Die „neue“ Met – Sechste Met-Saison

Tour de force

Eine äusserst unangenehme Angelegenheit

Vom Arztgeheimnis

Rückkehr zur Normalität

Plattenaufnahmen

Siebente Met-Saison und neue Platten

Zurück im Studio

Met-Tour

VII

Die Mano nera

Triumph in Paris

Vergebliche Sportbemühungen – Unfälle in Deutschland

unbeholfenes Liebesleben

Achte Met-Saison – Eine Erstaufführung und eine Uraufführung

Erneut im Plattenstudio

Siebenmonatige Krise

Comeback

Neunte Met-Saison

Neue Plattenaufnahmen

Saisonabschluss in Paris

Vorwürfe aus der Heimat – private Morddrohung

Frühherbstliche Europatournée mit erotischer Carmen

Zehnte Met-Saison

Wieder im Studio

Rückkehr nach Europa

Caruso als Gesangstheoretiker

Katzen im Hotel?

VIII

Letzte Europtatournée – Nieder mit Deutschland!

Ein wunderbarer Abschied

Elfte Met-Saison – eine neue Rolle – Debut als Bassist

Plattenaufnahmen

Abschied von London

Kriegssommer – Kopfschmerzen – Gauner und Kretins

Der römische Triumphator

Zwölfte Met-Saison

Neue Platten

Toscaninis leiser Met-Abschied

Neuer Met-Vertrag

Monte Carlo

Südamerika, Debut als Bariton

Paris, Mailand

Dreizehnte Met-Saison

Neue Platten

Met-Tour und sommerlicher Erholungsversuch

IX

Plattenaufnahmen

Vierzehnte Met-Saison

Nochmals im Studio

Zitternde Beine und Kokain

Im Aufnahmestudio

Krieg und kein Met-Vertrag

Wieder im Plattenstudio

Met-Tour

Südamerika-Tournée – Nationalismen – ein zerstörtes Opernhaus

Kriegsnachrichten und ein neuer Sekretär

Fünfzehnte Met-Saison

Eine neue Bekanntschaft

Caruso und der Film

Sommer in den USA

Einige Plattenaufnahmen

„Doro“

Neue Platten

Kriegsende und sechzehnte Met-Saison

Rosa Ponselle

Neuerliche Aufnahmetermine

Ungebetene Gäste – Ernennung zum Polizeihauptmann

25-Jahr-Jubiläum

X

Erster gemeinsamer Sommer in Italien

Schwarzhemden und proletarische Volkskommissare

Neue Plattenaufnahmen

Übermut der Steuerbehörde

Mexiko – gesundheitliche Probleme

Siebzehnte Met-Saison – die letzte neue Rolle

Im Plattenstudio

Caruso als Arzt und Opernbesucher

Gastspiel in Kuba – Bombenattentat – Zahnschmerzen als böses Omen

Ein weiteres Omen kommenden Unheils

Sommer 1920 – Polizisten und Geistesgestörte – Krise

Letzte Plattenaufnahmen

Letzte Tournée

Achtzehnte Met-Saison

Rücktritt und Gatti-Casazzas Tränen

Der Kreis schliesst sich

Letzte heroische Auftritte

Die Katastrophe

XI

Operationen und Rekonvaleszenz

Rückkehr nach Italien

Scheinbare Genesung

Das Ende

Carusos Krankheit

Abschied

Nemo propheta in patria

Was blieb

Anhang

Bibliographie

Auftrittschronologien

Diskographien

Bildnachweis

Für Sergio

Einleitung

K

ein Sänger vor ihm hat gesungen wie er.Die Schallplatte hat sich als Massenmedium durch ihn etabliert. Frank Thiess, der Erfinder des Begriffs „innere Emigration“, hat neben zahlreichen kleineren Arbeiten und Vorträgen über ihn auch einen umfangreichen Roman über ihn verfaßt. Thomas Mann, ein Emigrant wie er, hat ihm in seinem Roman Der Zauberberg ein Denkmal gesetzt. Oskar Bie hat ihm in Die Oper, einem ansonsten Komponisten und ihren Bühnenwerken vorbehaltenen musikgeschichtlichen Werk, ein eigenes Kapitel gewidmet, nicht als Nachruf, sondern über ihn auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Der Transportarbeiter Alfred Arnold Cocozza wurde aus Begeisterung für seine Platten Sänger. Als solcher nannte er sich dann Mario Lanza. Ein Film, in dessen Mittelpunkt er stand, verhalf Lanza dann zum internationalen Durchbruch. Werner Herzog hat einen monumentalen Film geschaffen, dessen handlungsauslösendes Moment er ist. Jeder Gesangs- oder Musikhistoriker, der über Sänger schreibt oder aus irgendwelchen Gründen in die Geschichte italienischen Operngesangs zurückblickt, kommt um ihn nicht herum. Daß zu ihm umfangreiche Fach- und Populärliteratur in allen Weltsprachen vorliegt, versteht sich von selbst. Alles scheint sich in der Gesangsgeschichte irgendwie um ihn zu drehen.

Um Enrico Caruso.

Man kann fragen, wen man will: musikalische und unmusikalische Menschen, Operninteressierte und Opernverächter, junge und nicht mehr ganz so junge Leute aus allen Berufen und Schichten, Gebildete und weniger Gebildete. Alle kennen den Namen Caruso.

Nicht alle mögen wissen, wie Caruso mit dem Vornamen geheißen hat, ob er Chansons oder Volksmusik, Kunstlieder oder Schlager, Oratorien oder Opern gesungen hat, ob er in Varietés oder Konzertsälen, als Straßensänger oder in Opernhäusern aufgetreten ist, ob er ein Baß oder ein Tenor war, wann und wo er geboren wurde, wo er gelebt und gewirkt hat, wie er ausgesehen hat, ob es von ihm Tonaufnahmen gibt. Dennoch ist und bleibt der Name Caruso von dauerhaftem Glanz und magischer Ausstrahlung.

García, Rubini, Donzelli, Nourrit, Duprez, Mario, Tamberlick, Campanini, de Reszke, Tamagno, allesamt musikgeschichtlich bedeutende Tenöre, wurden zu ihren Glanzzeiten wie höhere Wesen verehrt und mit exorbitanten Gagen verwöhnt. Sie hatten, jeder auf seine Art, ganz besondere Meriten. Doch ihr Glanz ist verblaßt. Musikhistoriker kennen, schätzen und bewundern sie, beschreiben ihre Stimmen, ihre Gesangstechnik, ihren Stil, ihre Interpretationen, und versuchen, ihre Eigenschaften für heutige Opernbegeisterte zu anschaulichem Leben zu erwecken. Dennoch bleiben sie – sich von Orpheus, dessenunwiderstehlichem Gesangszauber sich selbst wilde Tiere, Steine und sogar Hades, der Gott der Unterwelt, nicht entziehen konnten, dabeikaum unterscheidend – mythische Schatten versunkener Epochen, nur für wenige Experten konkret vorstellbar.

Von allenbedeutenden zeitgenössischen Tenorkollegen Enrico Carusos – von dem als Rivalen geltenden Alessandro Bonci, von Fernando de Lucia („la gloria d’Italia“), dem um zwölf Jahre älteren Kollegen, der bei Carusos Begräbnis sang, von Francesco Marconi, Giovanni Battista de Negri, Giuseppe Anselmi („il tenore delle donne“), Giovanni Zenatello, Giuseppe Borgatti, Francesco Tamagno bis hin zu Aureliano Pertile, um nur einige berühmte Italiener zu nennen – existieren Tondokumente, nach denen heute kaum ein Hahn mehr kräht. Eine Handvoll Sammler und Gesangshistoriker beschäftigen sich mit diesen Aufnahmen, ziehen Rückschlüsse, stellen Vergleiche an und gewinnen daraus Erkenntnisse über Gesangsstil, Interpretationsdetails und Aufführungspraxis vergangener Zeiten. Vom Gros der Operninteressierten der Digitalära werden sie aber links liegengelassen, sowohl wegen ihrer bisweilen mangelhaften Tonqualität als auch wegen des oft als altmodisch oder gar befremdlich empfundenen Gesangsstils dieser Sänger aus der Steinzeit der Schallträger.

Enrico Caruso bildet die Ausnahme. In Abwandlung eines von Oskar Bie auf Verdis Falstaff gemünzten Satz ist und bleibt Caruso ein Entzücken ohnegleichen für Kenner. Er ist deshalb auch für die Plattenindustrie nach wie vor von Interesse. Seine veröffentlichten und sogar Teile seiner nicht zur Veröffentlichung freigegebenen Aufnahmen werden von verschiedenen Plattenfirmen immer wieder nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Drehzahlen der Original-Matrizen der Schellacks überspielt, gefiltert, digital aufbereitet und in neuen Editionen auf den Markt geworfen. Trotz ihres Alters von derzeit mindestens zweiundachtzig Jahren sind sie nach wie vor Bestseller. Sogar durchaus fragwürdige Unternehmungen wie das Unterlegen von Caruso-Aufnahmen mit stereophoner Orchesterbegleitung finden ihre Abnehmer. Der Caruso-Mythos lebt also auch in seiner akustischen Form unvermindert weiter, was selbst dem Opernuninteressierten spätestens dann bewußt wird, wenn er erfährt, daß es Carusos einschmeichelnder Gesang ist, mit dem unappetitliche Fertigpizzas in TV-Werbespots beworben werden.

Die Gründe für den Caruso-Mythos sind aber keineswegs in der Geschäftstüchtigkeit oder der überspieltechnischen Versiertheit seiner Verwerter, sondern einzig in Carusos eminenter Kunst zu suchen, die auch jene begeisterte, die Tenöre ansonsten achselzuckend in die Kategorie „notwendiges Übel“ einreihten. So stürzte der sonst unaufgeregte Richard Strauss, nachdem er Caruso erstmals gehört hatte, völlig außer sich in dessen Garderobe und prägte das bekannte Wort: „Er singt die Psyche der Melodie.“ Der große DirigentLeo Blech, der von diesem Vorfall berichtet, befand selbst: „Er war jenseits alles Technischen. Es gab da nur noch klingende Seele, die sich in unvergeßlichen dynamischen Abstufungen und stimmlichen Färbungen offenbarte“, nicht ohne zu präzisieren: „Caruso besaß die Fähigkeit, einen vergessen zu lassen, daß er – sang. Er besaß das Geheimnis, bis zur letzten Konsequenz ‚dramatisch‘ zu singen. Er gestaltete Menschenschicksale in Melodien, Tönen, Klängen. Sein Gesang war mehr als ‚Gesang‘, er war immer, immer Ausdruck, dramatischer Ausdruck, niemals lyrischer. So unendlich fein war sein Stilgefühl.“[1]

Obwohl das Wort heutzutage inflationär und seines ursprünglichen Sinnes beraubt verwendet wird, und obwohl es nur auf einen „Menschen mit schöpferischer Begabung, der im Unterschied zum Talent nicht nur im Rahmen des Überkommenen Vollendetes leistet, sondern neue Bereiche erschließt und in ihnen Höchstleistungen vollbringt“[2]gemünzt ist, ist man geneigt, Caruso „Genie“ zu bescheinigen. Wohl aus diesem Grund haben viele Gesangsexperten übereinstimmend zwei Dinge festgestellt: Erstens, daß Caruso nicht nur der zweifelsfrei beste Tenor und Interpret von Tenorpartien seiner Zeit, sondern vermutlich der gesamten Operngeschichte war, und zweitens, daß bis zu seinem Erscheinen auf den Bühnen der Welt niemand so gesungen hat wie er, daß aber nach ihm – und zwar bis ins 21. Jahrhundert – die meisten Tenöre seines Faches so singen, genauer und einschränkend gesagt: so klingen wollen wie er. Auch wenn ihnen das in ihrem Epigonentum nicht gelingt, so begeben sie sich doch, willentlich oder unwillentlich, in ein aussichtsloses Konkurrenzverhältnis zu ihm. Daß Caruso tatsächlich unerreichbar ist, zeigen dokumentierte Aussagen von Größen der jüngsten Vergangenheit wie Plácido Domingo und Luciano Pavarotti.

Worin ist dieser Mythos begründet? Wie ist er zustandegekommen? Unter welchen künstlerischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten? Man mag damit argumentieren, daß Caruso der Nachwelt 238 veröffentlichte Tondokumente hinterlassen hat, die den Mythos verständlich machen und rechtfertigen, obwohl postuliert wurde: „Kein mechanisches Instrument vermag den Zauber der Persönlichkeit zu erhalten.“[3]Doch auch von vielen der oben genannten großen Tenöre existieren Tondokumente, anhand derer die akustische Realität ihrer unbestreitbaren Größe überprüfbar wird. Trotzdem erreichen sie in keinem Moment den Mythos Carusos. Warum? Wieso sind sie fast vergessen und wieso wirkt der Caruso-Mythos so lange und so intensiv nach?

Frank Thiess sagte in einem Vortrag über Caruso – er wurde aus Anlaß des 70. Geburtstages Carusos 1943, mitten in der schrecklichen Kriegszeit, in Frankfurt am Main gehalten, und verdient schon deshalb Beachtung, weil sich Interessierte zusammenfanden, die sich ungeachtet der Umstände auf die Suche nach einer verlorenen Zeit begaben –, daß der Tenor „seine Zuhörer gleichsam in einen höheren Zustand des Lebens zu versetzen gewußt hat“[4]. Er sagte weiters, daß „der emphatische Ruhm, der ihn [Caruso] umgibt, in seiner Heftigkeit und gelegentlichen hysterischen Übersteigerung berechtigter ist, als man im allgemeinen annimmt“ und daß „von dem Wunder einer begnadeten Stimme Magie“ ausgeht, fügt aber sogleich hinzu: „Jede Magie aber endet mit der Erfüllung ihres Zweckes“ und erklärt das: „Das Wirken eines Sängers verströmt sich im Augenblick. Er hat keine Zukunft, er kennt nur Gegenwart.“ Damit trifft er ins Schwarze und geht ins Detail: „Gerade bei ihm entspräche also die überwältigende Wirkung im Augenblick einem Verlöschen in der Zeit. Wenn dies nicht so ist, muß es wohl mit Carusos Ruhm eine besondere Beschaffenheit haben. Carusos Kunst muß irgendeine verborgene und geheimnisvolle Verbindung mit dem Geiste gehabt haben [...], andernfalls es nicht denkbar wäre, daß er uns heute noch soviel bedeuten könnte.“[5]Das erwähnte Wort von Richard Strauss ist also abzuwandeln: Nicht die Psyche der Melodie, so nett das auch gemeint sein mag, sang Caruso, sondern den Geist der Musik, darin einer der ganz wenigen wirklich Großen wie Maria Callas oder Fjodor Schaljapin.

All diesen Fragen soll hier nachgegangen werden, wobei der Blick hin und wieder von den Aspekten des Sängers und seiner Karriere abgewandt und auf kulturelle, gesellschaftliche und politische Geschehnisse und Konstellationen der Zeit, sowie auf verschiedene Informationen abseits von Oper und Gesang gerichtet werden soll, die nicht nur für Carusos Arbeit, sondern auch für die Epoche und die Kulturen, in denen er wirkte, relevant sind.

Dem deutschsprachigen Leser Fakten aus einem geographisch nahen und als Urlaubsziel beliebten, jedoch nach wie vor fremden Kulturkreis kommentarlos vorzusetzen, die ihm möglicherweise wenig sagen oder deren Erläuterungen er sich nur unter Mühen beschaffen kann, wäre wenig sinnvoll. Daß Caruso in den Uraufführungen von Cileas Adriana Lecouvreur, Giordanos Fedora oder Puccinis La fanciulla del West aufgetreten ist, wird keinen Operninteressierten überraschen oder in Verlegenheit bringen, sind Details über diese immer wieder aufgeführten Opern doch bekannt oder wenigstens leicht greifbar. Die Mitteilung, daß Caruso 1901 in der Uraufführung von Mascagnis Le maschere oder 1902 in jener von Franchettis Germania mitwirkte, mag zwar von dürrem Informationswert sein, doch was ist Le maschere? Eine Verismo-Oper mit sizilianischen Bauern wie Cavalleria rusticana? Und wer ist Franchetti, wo wurde er ausgebildet, was und wie schrieb er, wovon handelt seine Oper Germania? Und was ist Giordanos Il voto oder Mala vita, wovon handeln diese Werke? Ähnliche Fragen nach dem „wer“, „was“, „wann“, „wie“ und „warum“ stellen sich bei Carusos Zusammenarbeit mit Gunsbourg, Conried oder Gatti-Casazza, mit Mugnone, Mancinelli oder Toscanini, bei seinem Zusammenleben mit Ada Giachetti, seiner Arbeit mit Rina Giachetti oder Rosa Ponselle. Sogar Plattenaufnahmen von Alessandro Moreschi, dem einzigen akustisch dokumentierten und gleichzeitig letzten Kastraten der Gesangsgeschichte, berühren Carusos Karriere. All diese Namen sind vielen Operninteressierten bekannt, doch wie war der Werdegang dieser Künstler, ihre Wirkungsgeschichte, welche Wechselwirkung bestand zwischen ihnen und Caruso? All das soll betrachtet werden, um dem Mythos Carusos auf die Spur zu kommen.

Ergänzt wird das Caruso-Bild durch Abrisse aus der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte der Oper in Neapel, St. Petersburg, Buenos Aires oder New York. Exkursionen zur Geschichte der Met, zu Hammersteins Konkurrenzopernhaus oder zu Themen wie „Caruso und der Film“ runden es ab.

Ob es Carusos früher Tod war, der ihn auf der Höhe seiner Karriere abberief, ihm dadurch die Bitterkeit des Abstiegs ersparte und ihn so zum alterslosen Liebling der Götter machte, ob es sein durch intensive Arbeit erreichtes überragendes Können war, ob es eine glückliche künstlerische Konstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt der Operngeschichte war, ob es die unvergleichliche Klangpracht seiner Stimme, seine exzellente Gesangstechnik, die zeitlose Modernität und die Verve seines Interpretationsstils, seine Persönlichkeit voll neapolitanischer Exuberanz oder seine intensive Bühnenwirkung war, was seinen Ruhm begründete, soll im folgenden untersucht und anhand der vorliegenden historischen und akustischen Fakten belegt werden.

Francis Robinson leitete seinen Bildband über Caruso mit den scheinbar banalen Worten ein: „This is the first book about Caruso by somebody who never heard him.“ Seitdem sind zahlreiche Bücher über Caruso erschienen, alle aus der Feder von Autoren, die sich in zunehmender zeitlicher Distanz von der Hauptperson ihrer Werke befinden. Manche davon – an ihrer Spitze das an bislang unbekannten Detailinformationen aus erster Hand reiche Buch von Enrico Caruso jr. – haben neue Fakten und Aspekte zum bekannten Caruso-Bild hinzugefügt und mit liebgewonnenen Legenden aufgeräumt, manche haben unbekannte biographische und künstlerische Details beschrieben, manche haben das Fehlen des direkten akustischen Erlebnisses durch größere Akribie und Objektivität bei ihrer Arbeit kompensiert, allen aber ist das Bestreben gemeinsam, das Phänomen Caruso zu ergründen. Bemerkenswert ist, daß es in Carusos Heimat nach der Erstveröffentlichung der in Italien ungeheuer populären, von Carusos Sohn Enrico jr. allerdings wenig geschätzten[6]Biographie Enrico Caruso. Storia di un emigrante von Eugenio Gara im Jahre 1947 dreiundvierzig Jahre gedauert hat, bis sich Pietro Gargano und Gianni Cesarini ans Werk machten, um Leben und Arbeit des großen Tenors aus neapolitanischer Sicht darzustellen. Die seit beinahe einem Vierteljahrhundert von der Associazione Museo Enrico Caruso in Mailand angekündigte Biographie läßt nach wie vor auf sich warten. Seit Erscheinen der Arbeit von Gargano und Cesarini sind, abgesehen von dem über 700 Seiten starken Band von Enrico Caruso jr., verschiedene Bücher über und von Kollegen erschienen, die eng mit Caruso zusammengearbeitet haben und in denen von ihm die Rede ist. Deren Aussagen über Caruso fließen hier erstmals in eine deutschsprachige Caruso-Biographie ein. Daß auch Oskar Bies berühmte Darstellung Carusos sowie Julius Korngolds Nachruf erstmals ausführlich zitiert werden, versteht sich von selbst, scheinen beide Texte doch bislang in keinem Caruso-Buch auf.

Auf der Suche nach größtmöglicher Objektivität der Darstellung des Menschen Caruso kann sein Charakter abseits jener Piedestale, auf die ihn mancher Hagiograph zu postieren suchte, nur so widersprüchlich beschrieben werden, wie ihn die dokumentierbare Realität zeigt: großzügig und kleinlich, sensibel und verletzend, heiter und schwermütig, bescheiden und großsprecherisch, altruistisch und egoistisch, gerecht und ungerecht, kommunikativ und zurückgezogen, selbstsicher und von tiefen Selbstzweifeln gequält, nachsichtig und hart, gelassen und nervös, fürsorglich und rücksichtslos, von exquisitem Geschmack in seinen Interpretationen und von bisweilen unsicherem Geschmack in Fragen der Mode, sich heroisch unverletzlich gebend, aber gleichzeitig angsterfüllt vor jedem Auftritt, jovial und unnahbar, um seine Gesundheit besorgt und kettenrauchend, mit einem Wort: einfach und kompliziert, von ungeschminkter, durch und durch menschlicher Ambivalenz, die den großen Sänger nur umso sympathischer erscheinen läßt.

Man ist jedenfalls mitHans Castorp, dem Helden des Romans Der Zauberberg von Thomas Mann, einer Meinung, wenn es in dem mit Fülle des Wohllauts überschriebenen Kapitel heißt: „Und Zärtlicheres gab es auf Erden nicht, als den Zwiegesang aus einer modernen italienischen Oper [...], – als diese bescheidene und innige Gefühlsannäherung zwischen der weltberühmten Tenorstimme, die so vielfach in den Alben vertreten war, und einem glashell-süßen kleinen Sopran, – als sein ‚Dammi il braccio, mia piccina‘ und die simple, süße, gedrängt melodische kleine Phrase, die sie ihm zur Antwort gab ...“ Nicht der geringste Zweifel besteht darüber, daß Thomas Mann von Enrico Caruso sprach. Wie alle Welt vor und nach ihm war er völlig hingerissen, „wenn jener tenorale Abgott in Schmelz und Glanz schwelgte, die weltbeglückende Stimme in Kantilenen und hohen Künsten der Leidenschaft sich verströmte.“

I

Neapel – Musikmetropole und Geburtsstadt Carusos

1873

, im Geburtsjahr Carusos, ist Italien politisch, gesellschaftlich, kulturell und künstlerisch in einem Umbruchprozeß begriffen. Die formale Einigung des Landes als Königreich Italien unter Vittorio Emanuele II. und Cavour als Ministerpräsident (1861) liegt gerade zwölf Jahre zurück. Zuvor hatte Italien als ein aus verschiedenen Staaten bestehendes Gebilde nur auf der Landkarte existiert. Viele dieser Staaten standen jahrzehnte- bis jahrhundertelang unter Fremdherrschaft. Spanien, Frankreich und Österreich hatten das Land untereinander aufgeteilt und regierten es mit eiserner Faust. Selbst nach der Einigung war Italien noch nicht zur Gänze frei. Bis die Österreicher aus Venedig und Napoleon III. aus Rom vertrieben waren, dauerte es bis 1866 bzw. 1870. Erst 1871 konnte Rom endgültig zur Hauptstadt Italiens proklamiert werden.

Carusos Geburtsstadt Neapel war mit 400.000 Einwohnern seit 1650 nach Paris die bevölkerungsreichste Stadt Europas. Innerhalb Italiens blieb sie dies bis 1931, als sie von Mailand und Rom überholt wurde. Bis heute ist Neapel (mit durchschnittlich 10.000 Einwohnern/km² – im Vergleich dazu Mailand mit 2.000 Einw./km²) die Stadt mit der größten Bevölkerungsdichte Italiens. Die starke Übervölkerung brachte es mit sich, daß die Stadt stets im Zusammenhang mit Armut, Cholera-Epidemien (die letzte war erst 1973) und Kriminalität gesehen wurde. Diese Zustände gingen auf die spanischen Vizekönige zurück, die zur Unterbindung der Zuwanderung aus dem ländlichen Bereich per Dekret verboten hatten, daß sich die Stadt über die Stadtmauern hinaus ausdehnte. Doch die Zuwanderung ging unvermindert weiter, die Straßen mußten noch enger und die Häuser noch raumsparender gebaut werden, damit die kinderreichen Familien der armen Zuwanderer mehr Platz zum Wohnen fanden. Die Bedingungen in den Armenvierteln waren in jeder Hinsicht katastrophal.

Von 1816 bis 1860 war Neapel die Hauptstadt des Königreichs beider Sizilien gewesen und stand bis dahin unter der Herrschaft eines Zweigs der spanischen Bourbonen. Seit dem 17. Jahrhundert war die Stadt ein musikalisches Zentrum von Rang. 1640 wurde hier die erste Komposition, die als Oper gelten kann, am Sitz des spanischen Vizekönigs, eines Förderers der Künste, aufgeführt: Santa Elisabetta regina di Portogallo, die Arbeit eines unbekannten Komponisten. Im Laufe der Zeit bildeten sich dann Operntruppen, deren Aufführungen durch die Anwesenheit des Vizekönigs aufgewertet wurden.

Scarlatti und politisch motivierte Opernkunst

1684

 kam der junge Alessandro Scarlatti aus Rom nach Neapel, um den Posten eines maestro di cappella anzutreten. Bis dahin hatte man aus Norditalien importierte Opern gespielt, jetzt verlagerte sich das Schwergewicht auf Werke, die in Neapel selbst entstanden. Scarlatti, der zahlreiche eigene Werke auf die Bühne brachte, etablierte sich nicht nur als bedeutender neapolitanischer Komponist (obwohl er aus Palermo gebürtig war), sondern machte Neapel bereits in den achtzehn Jahren der ersten Periode seines Wirkens (1684-1702) zu einem Opernzentrum von Rang. Er kehrte 1709 nach Neapel zurück und blieb mit einer kurzen Unterbrechung, während derer er in Rom aktiv war, bis 1725.

Doch es war nicht Scarlatti allein, der in Neapel der Oper zu einem Höhenflug verhalf. Die Stadt verfügte mit vier renommierten Konservatorien – S. Maria di Loreto, S. Maria della Pietà dei Turchini, S. Onofrio a Capuana, Poveri di Gesù Cristo – über ausgezeichnete Musikerausbildungsstätten. Diese waren im 16. Jahrhundert als Waisenhäuser gegründet worden und ließen ihren Schülern anfänglich eine klassische und religiöse Erziehung angedeihen, ehe sie im 17. Jahrhundert dazu übergingen, Musiker auszubilden. Die Bezeichnung conservatorio war entstanden, weil in diesen Institutionen ursprünglich Waisen und ausgesetzte Kinder „aufbewahrt“ (conservati) wurden, die dann vorwiegend in der Musik ausgebildet wurden. Auch zahlende Schüler, die keine Waisen waren, strömten herbei, jedoch wurde noch das ganze 18. Jahrhundert hindurch die Tradition des Parallelbetriebs Waisenhaus-Konservatorium aufrechterhalten. Zahlreiche später berühmte Musiker wurden an den Konservatorien in Neapel ausgebildet: Nicola Porpora, Leonardo Vinci, Niccolò Piccinni, Giovanni Battista Pergolesi, Niccolò Jommelli, Tommaso Traetta, Pasquale Anfossi, Giovanni Paisiello und Domenico Cimarosa, um nur einige zu nennen.

Eine abwechslungsreiche Operntradition entstand, die verschiedene Genres, von geistlichen Opern bis hin zu komischen Opern abdeckte. Als die Herrschaft 1707 von den Spaniern auf die Österreicher überging, die etwas weniger repressiv als erstere agierten und den Einwohnern größere Freiheiten einräumten, entwickelte sich als neue Tradition die Oper im neapolitanischen Dialekt, ein Symbol für die politische Identität der Neapolitaner.

Als 1734 Charles Bourbon den österreichischen Habsburgern die Herrschaft wieder entriß und sich als Charles III. zum König beider Sizilien krönen ließ, schien sich die Lage zu verändern, denn es hieß, daß der neue König an Musik nicht interessiert sei. Doch Charles III. nutzte die Opernbegeisterung seiner Untertanen für seine politischen Zwecke. Er ließ 1737 das Teatro San Carlo erbauen und zog damit Zuhörer der Oberklassen an, denn er bot ihnen Opern, die alles übertrafen, was sie bisher an den kleineren und mittleren Häusern – dem Teatro dei Fiorentini, Teatro S. Bartolomeo, Teatro della Pace, Teatro Nuovo – gesehen und gehört hatten. Der Librettist Pietro Metastasio (1698-1782), der in seiner Jugend einige Jahre in Neapel gelebt hatte und dann nach Rom und Venedig gegangen war, bevor er sich 1730 definitiv in Wien niederließ, übte selbst aus der Entfernung großen Einfluß auf die Oper in Neapel aus. Es wird geschätzt, daß zwei Drittel der zwischen 1737 und 1776 am San Carlo aufgeführten Opern auf Texte aus seiner Feder komponiert wurden. Und das nicht nur von ortsansässigen Komponisten, denn es wurden auch Ausländer wie Johann Adolf Hasse, Christoph Willibald Gluck, Johann Christian Bach und Josef Mysliveček eingeladen, Opern für das Teatro San Carlo zu schreiben.

Auf Charles III. folgte sein Sohn Ferdinand IV., der wie sein Vater dem Opernbetrieb Gelder aus seiner Schatulle zuschoß. Anders als sein Vater war Ferdinand aber in Neapel aufgewachsen und hatte deshalb nicht nur eine Beziehung zur ortsansässigen Bevölkerung entwickelt, sondern schätzte auch jene kleineren Opernhäuser, denen sein Vater keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. 1779 wurde ein weiteres Opernhaus, das Teatro del Real Fondo di Separazione errichtet. Als Folge dieser Entwicklung stieg nicht nur das Ansehen der neapolitanischen Komponisten, sondern auch das der Opernhäuser, die sich europaweiter Berühmtheit erfreuten. An deren Spitze stand das San Carlo, dessen Orchester im Niveau verbessert und in der Besetzung verstärkt worden war.

1806 eroberte Napoleon I. Neapel und setzte zunächst seinen Bruder Joseph und 1808 seinen Schwager Joachim Murat als König ein. Letzterer schuf in Neapel nicht nur ein beispielhaft geordnetes Staatswesen, sondern setzte auch ein Reformprogramm in Kraft, gemäß dem die Musikinstitutionen Neapels – die Ausbildungsstätten ebenso wie die Theater – direkt dem König unterstellt wurden. Die beiden verbliebenen Konservatorien – S. Maria di Loreto und Pietà dei Turchini – wurden zu einem einzigen Institut zusammengelegt, dem Real Collegio di Musica, und die im Laufe der Zeit in jeder Hinsicht etwas heruntergekommenen Opernhäuser wurden renoviert. Eine von einem Adeligen geleitete Kommission zur Überwachung der Theater wurde eingerichtet, der Polizeiminister übte Zensur aus, dennoch blühten die Opernhäuser weiter.

Goldenes Zeitalter und Niedergang der Opernmetropole Neapel

1806

 begann die Tätigkeit des Impresarios Domenico Barbaja, eines überaus geschäftstüchtigen Mailänders, der anfänglich nur Konzessionär der Theaterkasinos mit ihrem dem Herrscherhaus viel Geld einbringenden Spielbetrieb war, dann aber von 1809 bis 1840, mit einer kurzen Unterbrechung in den Jahren 1834 und 1835, alle königlichen Opernhäuser in Neapel leitete. Barbaja hatte nicht nur eine gute Hand für die finanziellen Belange, sondern war – trotz mangelhafter Bildung – auch ein künstlerisch visionärer Impresario. Er war einer der ersten, die Rossinis Genie erkannten, engagierte den Dreiundzwanzigjährigen 1815 an das San Carlo und band ihn mit einem Sechsjahresvertrag an das Haus.

Die Tüchtigkeit Barbajas sowie die üppig fließenden Geldmittel führten zu einem Goldenen Zeitalter der neapolitanischen Opernhäuser, allen voran des San Carlo. Die Aufführungszahlen stiegen auf über hundert pro Jahr an, und erstmals wurden Doppelbesetzungen eingeführt, sodaß Covers für erkrankte Hauptrollensänger einspringen konnten.

In dieser Blütezeit zog das San Carlo berühmte Sänger ebenso wie bedeutende Komponisten magisch an. Größen wie die spanische Sopranistin Isabel Colbran (die erste Frau Rossinis), die Tenorstars Andrea Nozzari, Domenico Donzelli, Giovanni Davide, Giovanni Battista Rubini und Manuel García, die Bässe Michele Benedetti und Filippo Galli, sie alle wurden hier bejubelt.

Zu den Komponisten, die in der großen Zeit für das San Carlo schrieben, gehörten Simon Mayr (der Lehrer Donizettis), Paisiello, Rossini, Pacini, Mercadante, Donizetti, Bellini, Pacini, Paër und Verdi, um nur die berühmtesten zu nennen. Auch war das Interesse an Opern von ausländischen Komponisten wie Gluck, Mozart oder Hérold groß.

Doch Goldene Zeitalter haben ein Ende. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Neapel noch zwei weitere Opernhäuser errichtet wurden – 1806 das Fenice im Palast der Herzöge von Frizia auf der Piazza Castello und 1828 das Partenope auf dem Largo delle Pigne (heute Piazza Cavour) –, setzte nach der Einigung Italiens eine Krise ein, die zu einem Abstieg führte. Das Teatro San Carlo war durch das Ausbleiben der königlichen Geldmittel gezwungen, seine Spielzeiten zu verkürzen und die Anzahl der Auftragsopern – zu Barbajas Zeiten bis zu vier – auf eine einzige pro Saison zu reduzieren. 1867 stellte die italienische Regierung die Subventionierung der Theater im Lande ein, und als 1874 und 1875 auch die Gemeinde Neapel keine Zuschüsse mehr aufbringen konnte, mußte das San Carlo geschlossen werden.

Bei Wiederaufnahme des Betriebs nach dieser Unterbrechung mußte die Spielzeit weiter verkürzt werden. Opernaufträge gab es kaum noch, selbst anderswo uraufgeführte Erfolgsopern erreichten das San Carlo, wenn überhaupt, nur mit großer Verspätung. Die anderen Opernhäuser Neapels setzten ihren Betrieb unter verschiedenen Vorzeichen fort. Einige Häuser mußten aus Auslastungsgründen auf Mehrspartenbetrieb (Oper, Operette, Prosatheater, Ballett usw.) umsteigen, andere wurden einseitig für verlagspolitische Zwecke genutzt, wie das Real Teatro Mercadante (das frühere Teatro Fondo), in dem Edoardo Sonzogno, der Konkurrent des Musikverlegers Giulio Ricordi, Uraufführungen seiner Schützlinge Mascagni, Leoncavallo oder Giordano auf die Bühne brachte, andere mußten geschlossen werden.

Der Niedergang Neapels als Musikmetropole war unaufhaltsam. Dies auch deshalb, weil es der Stadt aufgrund wirtschaftspolitischer und struktureller Probleme (bis heute) nicht gelang, im Gegensatz zu Mailand oder Turin ihrer Geschichte gemäß wieder Bedeutung als Hauptstadt der Region zu erlangen und erneut zu einem modernen wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum heranzuwachsen. Einige Theater fielen Bränden zum Opfer, andere sollten im 20. Jahrhundert zu Kinos zweckentfremdet werden.

Geblieben sind heute von den Glanzzeiten versunkener Epochen nur Chroniken vergangener Größe und historische Theatergebäude mit Routinespielzeiten in wechselnder Qualität. In diese Zeit des Abstiegs wird Caruso hineingeboren.

Errico Caruso

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arusos Eltern Marcellino Caruso[7]und Anna (Annarella) Baldini[8]schließen am 21. August 1866 in dem Bergdorf Piedimonte d’Alife (heute Piedimonte Matese) in der Provinz Caserta, wenige Kilometer nördlich von Neapel, die Ehe. Das Dorf hat siebentausend Einwohner, mehr als zwei Drittel davon sind Analphabeten. Es herrscht Armut, Zukunftsaussichten gibt es keine, die Einwohner wandern ab. Es ist die Zeit der Emigration der armen Bevölkerungsschichten Italiens nach Nord- und Südamerika. Auch das junge Ehepaar Caruso zieht weg, jedoch nur in das nicht weit entfernt gelegene Neapel. Die beiden lassen sich in dem übervölkerten Arbeiterbezirk San Giovanniello nieder. Marcellino findet eine Beschäftigung als Mechaniker in den Werkstätten der schweizerischen Firma Meuricoffre, wo er 1881 zum Werkmeister befördert wird. Er zeigt großen Fleiß bei der Arbeit und beim Trinken, seine Frau verzehrt sich in dem Wunsch nach Kindern. Die wirtschaftliche Situation des Ehepaars ist zwar alles andere als rosig, doch fehlt es nicht am Lebensnotwendigen.

Am 25.[9]Februar 1873 kommt Errico – so die im Geburtenregister aufscheinende neapolitanische Schreibweise seines Vornamens – zur Welt. Sein Geburtshaus ist ein einstöckiges Gebäude mit einem kleinen Balkon im Obergeschoß in der Via Santi Giovanni e Paolo 7, im Volksmund San Giovanniello agli Ottocalli genannt. Der Legende nach soll er nach siebzehn Totgeburten das erste überlebende Kind seiner Mutter sein. Eine unreflektiert überlieferte Legende, denn die Carusos sind gerade sechseinhalb Jahre verheiratet. Die siebzehn Totgeburten hätten also in einem Zeitraum von rund fünf Jahren erfolgt sein müssen. In Wahrheit ist Errico das dritte Kind. An bis ins Erwachsenenalter überlebenden Kindern werden nach ihm 1876 der Bruder Giovanni und 1881 die Schwester Assunta geboren.[10]

Der kleine Errico, von seinen Eltern und seinem Bruder Giovanni, später auch von nahen Freunden „Errí“ gerufen, wird nicht von seiner bereits fünfunddreißigjährigen Mutter, sondern von einer – wie Caruso selbst gerne erzählte – vornehmen Dame namens Rosa Baretti gestillt, deren Kind gerade gestorben ist. Auf diesen besonderen Umstand – normalerweise stillten arme Frauen aus dem Volk gegen Bezahlung die Kinder der Wohlhabenden – und wohl auch auf die in bürgerlichen Kreisen besseren hygienischen Bedingungen führte Caruso seine spätere gute körperliche Entwicklung sowie die außergewöhnliche Gesundheit seiner Zähne zurück. Daß in den Arbeitervierteln immer wieder Cholera-, Typhus- und Ruhrepidemien – sie werden unter dem Sammelbegriff „Neapolitanisches Fieber“ zusammengefaßt – grassieren, zeigt, wie schlecht die hygienischen Zustände sind. Diese Situation bessert sich auch nicht, als die Familie in die Via Cosmo e Damiano 54 umzieht. Selbst bei den Ärzten fehlt es am notwendigen Grundwissen: Sie tragen Infektionen von einem Patienten zum nächsten weiter, weil sie sich nur selten die Hände waschen.

Der heranwachsende Errico wird zwei Jahre in einen Kindergarten geschickt. Er ist ein mageres, lebhaftes Kind, erkennbar intelligent und gut sozialisiert. Die Mutter erträumt sich für ihren Sohn eine solide Ausbildung, der Vater, dessen Horizont über seine Arbeit nicht hinausgeht, möchte den Sohn in demselben Beruf sehen, den er selbst ausübt. Vorerst besucht Errico eine Tagesschule, wo er von dem Lehrer Giovanni Gatti unterrichtet wird, an den er zeitlebens eine gute Erinnerung behält. Als Errico acht Jahre alt ist, ziehen die Carusos in ein zur Meuricoffre-Fabrik gehörendes Haus in der Via Sant’Anna alle Paludi um, die in einem dem Meer nähergelegenen Wohnviertel liegt.

Obwohl er wie die meisten Kinder seines Alters, die im Hafen spielen, Seemann werden will, beginnt er als Zehnjähriger eine Lehre in der Gießerei Salvatore De Luca. Er erhält dafür zwei Soldi pro Stunde. Daneben besucht er eine Abendschule in der Via Postica Maddalena 33, die unter der Leitung des Padre Giuseppe Bronzetti steht. Das Schulgeld beträgt monatlich fünf Lire, es wird Errico aber erlassen, als er gute Fortschritte macht. In der Abendschule träumt er im Geographieunterricht von weiten Reisen. Er beginnt, seine vielfältigen Talente heranzubilden. Dabei entdeckt er seine ausgeprägte Neigung zum Zeichnen, die ihn später zu einem exzellenten Karikaturisten werden läßt, außerdem besitzt er eine gestochen scharfe, schöne Handschrift. Letztere Fertigkeit setzt er ein, um gegen geringes Entgelt die Rezepte des Apothekers des Viertels abzuschreiben. Dabei findet er heraus, daß er beim Abschreiben hervorragend memorieren kann. Er wird diese Gabe später beim Partienstudium nützen und penibel alle seine Rollen – Text und Noten – handschriftlich in kleine Notizbücher übertragen.

Ordnungssinn – Sauberkeit – erste Musikkontakte

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n dieser Zeit gewöhnt sich Caruso wegen der prekären hygienischen Bedingungen und der Seuchengefahr nicht nur peinliche Sauberkeit an, sondern entwickelt auch einen ausgeprägten Ordnungssinn. Er mag ärmlich gekleidet daherkommen, doch sind seine Kleidungsstücke immer sauber gebürstet, er selbst ist reinlichst gewaschen und ordentlich frisiert. „Er verlangte, daß seine Hemden stets rein seien, und wollte keine zerrissenen tragen. Er ließ sich Brusteinsätze von reinem, weißen Papier schneiden, wenn er in die Kirche singen ging.“[11]Dieser Hang zur Ordnung und Sauberkeit, den er sein ganzes Leben lang beibehalten wird, hat bei ihm symbolhafte Bedeutung, er entspricht seinem Charakter und prägt auch seine Umgangsformen.

In der Gießerei singt „Carusiello“ oft bei der Arbeit, die Kollegen hören ihm gerne zu. Er hat vor dem Stimmbruch einen Knabenalt, der den Werkstättenlärm leicht übertönt. Auch im Kirchenchor ist seine Stimme herauszuhören und erweckt erste Aufmerksamkeit. Rasch avanciert Errico zum ersten Solisten des Chors. Verschiedene Musiker, die ihn hören, darunter der Pianist Schiardi und Maestro De Lutio, bringen ihm erste Opernarien bei. Ernsthaften Unterricht erhält Errico von dem Pianisten, Dirigenten und Komponisten Federico Albin. Er ist der Sohn eines nach Neapel zugewanderten Schweizer Antiquars und hat bei dem berühmten Komponisten Saverio Mercadante studiert. Er unterweist den jungen Sänger in musikalischen Belangen und studiert mit ihm höchstwahrscheinlich auch neapolitanische Lieder aus eigener Komposition ein.

Im zweiten Schuljahr wird Carusiello mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Als er, die Medaille auf der Brust, stolz zu seinem Platz zurückgeht, wird er vom eifersüchtigen Gewinner des Vorjahres namens Pietro attackiert. In der folgenden Auseinandersetzung fließt das Blut des Rivalen. Vater Marcellino versetzt seinem Sohn einen Schlag und befiehlt ihm, vor versammelter Gemeinde Padre Bronzettis Füße zu küssen. Diese Erniedrigung führt zu einem typischen Verhaltensmuster Carusos, das er später in seinem Leben noch öfter zeigen wird. Er schwört, nie mehr in Bronzettis Institut zu singen. Er hält diesen Schwur.

Als Elfjähriger begehrt Errico von seinem Arbeitgeber eine Lohnerhöhung. Sein Ansinnen wird abgewiesen, er verläßt daraufhin die Gießerei und geht zuerst zu einem Hersteller gußeiserner Brunnen namens Giuseppe Palmieri, bald danach aber als Mechaniker zur Firma Meuricoffre, bei der sein Vater arbeitet. Als arrivierter Sänger wird er bei seinen privaten Neapelbesuchen immer wieder jenen öffentlichen Trinkbrunnen an der Cerra-Brücke aufsuchen, den er als Jugendlicher einmal selbst repariert hat.

Erste öffentliche Auftritte

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m Geld zu verdienen, beginnt er öffentlich aufzutreten. Vorerst stehen Soloauftritte mit dem Kirchenchor bei Hochzeiten, Gottesdiensten, Totenmessen und Begräbnissen auf dem Programm. Bald singt er gegen Bezahlung auch Serenaden unter den Balkonen junger Damen, deren Verehrer selbst weder mit Musikalität noch mit einer präsentablen Stimme ausgestattet sind. Im Zuge der Vorbereitungen auf seine zahlreichen Auftritte erwirbt er die Fertigkeit des Blattlesens, die ihm zu Beginn seiner professionellen Karriere, als er pro Jahr bis zu zehn Opernpartien einstudieren muß, zugutekommen wird.

Carusos Mutter geht es seit Beginn der 1880er Jahre gesundheitlich schlecht, sie leidet an Tuberkulose. Bei der Geburt seiner Schwester Assunta 1882 ist sie bereits dreiundvierzig Jahre alt. Die Schwester des behandelnden Hausarztes, Emilia Niola[12], die Gesang unterrichtet, nimmt den vierzehnjährigen Errico unter ihre Fittiche und gibt ihm einen Monat lang Unterricht. Besonderes Augenmerk legt sie auf seine Sprache, denn Caruso spricht neapolitanischen Dialekt[13]und nicht italienische Hochsprache. Emilia Niola gewöhnt dem jungen Mann auch ab, beim Sprechen beständig zu gestikulieren. Er soll lernen, sich verbal und nicht pantomimisch und gestikulierend verständlich zu machen. Abgesehen davon ist geplant, ihm das Klavierspiel beizubringen, damit er mit diesen Vorkenntnissen zum Studium an einer Gesangsschule zugelassen werden kann.

In einem Brief vom 1. Jänner 1920 an den alten Hausarzt Dr. Raffaele Niola erinnerte sich Caruso einer Ohrfeige, die er von dessen Schwester für seine Dialektäußerungen bekommen hatte. Er war deswegen so verstört, daß er dem Unterricht ab sofort fern blieb: „Ich nahm mir vor, daß ich ab diesem Tag ein ernsthafter Mensch würde“[14], erinnert er sich. Daß der Brief des weltberühmten siebenundvierzigjährigen Sängers orthographische, aus dem Dialekt herrührende Fehler[15]aufweist, sei nur am Rande erwähnt. Caruso läßt bei diesem Vorfall wieder eine Charaktereigenschaft erkennen, dieThiess so beschreibt: „Wo er sich beleidigt oder ungerecht behandelt fühlte, setzte er sich nicht zur Wehr, sondern zog sich zurück oder erkrankte.“[16]

1887, im Jahr der erwähnten Ohrfeige, tritt Caruso erstmals auf einer Bühne auf. Er verkörpert in einer kleinen Oper, I briganti nel giardino di don Raffaele, die der Chorleiter des Padre Bronzetti, Alessandro Fasanaro zusammen mit Alfredo Campanelli verfaßt hat, einen Pförtner namens Don Tommaso. Neben ihm ist in der Rolle der Lulù, einem sentimentalen Mädchen, Peppino Villani zu sehen, der später einer der berühmtesten Komiker Italiens wird.

Am 31. Mai 1888 singt Caruso unter der Leitung des Maestro Amitrano in einer Messe in der Kirche San Severino. Seine Mutter liegt krank zu Bett, sie hat ihrem fünfzehnjährigen Sohn aufgetragen, der eingegangenen Verpflichtung unbedingt nachzukommen. Mitten in der Messe gibt es eine Unterbrechung. Nachbarn, die gesehen haben, wie Vater Caruso weinend aus dem Haus gestürzt ist, sind gekommen, um Errico zu holen: Der Mutter gehe es schlecht. Er findet sie tot vor. Dieser furchtbare Schicksalsschlag wird seine Entwicklung in jeder Hinsicht beeinflussen, denn es ist denkbar, daß er dieses für einen Pubertierenden ungeheuer traumatische Erlebnis und sein vermeintlich schuldhaftes Versäumnis, nicht bei der sterbenden Mutter geblieben zu sein, bewußt oder unbewußt mit seinem künstlerischen Aufstieg kompensieren will. Seine sprichwörtliche Zuverlässigkeit und Vertragstreue, die ihn sein ganzes Leben lang auszeichnen, mag vielleicht auch mit diesem Erlebnis zusammenhängen.

Weniger als ein halbes Jahr nach dem Verlust der Mutter heiratet sein Vater wieder. Die neue, ebenfalls verwitwete Frau heißt Maria Castaldi. Caruso begegnet ihr anfänglich mit Mißtrauen und Eifersucht. Er entdeckt jedoch bald, daß sie eine Seele von einem Menschen ist und bleibt ihr zeitlebens zutiefst verbunden.

Errico sieht seine Berufung schon früh in der Musik. Sein Vater hat auf sein Ansinnen, sich der Musik widmen zu wollen, mit der lapidaren Empfehlung reagiert, entweder zu arbeiten oder zu verhungern, doch das kann Caruso nicht vom Singen abhalten.

Trotz seines eindeutig zur Kunst tendierenden Talents bleibt er vorderhand bei Meuricoffre, wo er 1889 zu einer Art Buchhalter avanciert: „Tag für Tag saß er schon am frühen Morgen an seinem Pult und führte seine Zahlrenreihen mit peinlichster Genauigkeit. Gewissenhaft schützte er Meuricoffres Eigentum vor kleinen Diebereien. Es war eine Tätigkeit, die Gewissenhaftigkeit, Aufmerksamkeit und Intelligenz erforderte. Und viele Stunden waren täglich nötig, um die Arbeit zu bewältigen.“[17]

Gesangsstudium

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er vor der Erfindung und Verbreitung des Grammophons und des Radios Musik hören und genießen will, ist auf Live-Musikdarbietungen angewiesen. In Italien wird überall musiziert und gesungen: bei Taufen, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, Begräbnissen, in Kirchen, in Restaurants und auf der Straße. An prominenten Stellen Neapels entstehen sogenannte caffè-concerto, Konzert-Cafés: in Santa Lucia, auf Plätzen und Hauptstraßen, am Hafen, im Stadtzentrum. In einem von ihnen, dem Caffè del Commercio am Hafen, spielt ein gewisser Pietro Mascagni Klavier. Nach Berichten von neapolitanischen Zeitgenossen ist der junge Caruso ab 1889, nach dem Stimmbruch, überall als Sänger anzutreffen, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch um Erfahrungen zu sammeln. Er wird als „blasser, magerer junger Mann mit nachdenklichen Augen und einem stets melancholischen Ausdruck“ beschrieben.

1890 erleidet sein Vater einen Schlaganfall mit partiellen Lähmungserscheinungen. Dieser weitere traumatische Vorfall in der Familie bestärkt Errico in seiner Absicht, sich im Leben aus eigener Kraft, und zwar als Sänger, durchzusetzen. Den Vater wird er allerdings von seiner Kunst auch dann nicht überzeugen können, als er bereits ein berühmter Sänger ist. In einem Interview vertraute Caruso 1905 in Ostende einem Journalisten an, daß der Vater zwar einige triumphale Erfolge des Sohnes selbst miterlebt hat, sie ihn aber von der Richtigkeit der Berufswahl des Sohnes nicht überzeugen konnten.

Vorderhand singt Caruso in Neapel aber noch in den Kaffehäusern und den großen Badeanstalten Neapels, hin und wieder auch in privaten Salons. Es ist unvermeidlich, daß er irgendwann entdeckt wird. Wie sich herausstellt, ist er in dieser Phase seiner Entwicklung stimmlich durchaus gefährdet, denn keiner von den Gesangslehrern, die ihn hören, kann ihm sagen, ob er ein Tenor oder ein Bariton ist.

In der Badeanstalt Bagni Risorgimento in der Via Caracciolo ist der Besitzer angesichts der zu geringen Anzahl von Umkleidekabinen auf eine ingeniöse Idee verfallen: Um seinen Kunden das Warten zu verkürzen, verpflichtet er engagementlose alte und junge Sänger, Komiker und Dialektschauspieler, die kurze Szenen aufführen. Der Teller mit der diskreten Serviette am Fuße des Podiums wird von jenen Gästen gefüllt, die die Darbietungen wahrnehmen. Hier lernt Caruso 1891 den Bariton Eduardo Missiano kennen. Der singt zwar noch auf keiner Opernbühne, kann es sich dank seines wohlhabenden Elternhauses aber leisten, bei Maestro Guglielmo Vergine zu studieren, einem bekannten Gesangslehrer in Neapel. In einem Brief berichtete Caruso einem Kollegen rückblickend über seine Gesangsausbildung:

Ich begann mit zehn Jahren [...] in den Kirchen zu singen. Ich war die Freude aller Gläubigen, zumindest nehme ich das an, denn ich erhielt von ihnen niemals ein Zeichen der Ablehnung.

Außerdem ernährte ich mit den Einkünften aus meinen liturgischen Gesängen zwei Familien, die mich bis zum letzten ausnützten. Mit neunzehn Jahren entschließe ich mich, bei einem Maestro zu studieren, den ich nach elf Stunden verließ, weil es mir schien, daß er das Problem, mit dem ich mich abmühte, nicht zu lösen vermochte: Bariton oder Tenor?

Vielleicht war ich damals für das Studium wenig geeignet. Der Bariton Missiano brachte mich kurz darauf zu seinem Lehrer, Herrn Vergine, der zuerst fand, daß ich zu jung war, dann, daß ich zuwenig Stimme hatte: nach zwei Lektionen entschloß er sich endlich, mir Stunden auf der Grundlage eines regulären Vertrages zu geben. Damals war meine Stimme so dünn, daß meine Studienkollegen mich ‚der Wind, der durch die Fenster pfeift’ nannten.[18]

Nach dem ersten Vorsingen ist Vergine hinsichtlich Carusos Stimmpotential skeptisch. Missiano studiert mit Caruso zwei Stücke ein, und zwar aus Bizets I pescatori di perle[19]und aus Mascagnis 1890 uraufgeführter Erfolgsoper Cavalleria rusticana. Das zweite Vorsingen überzeugt Vergine und führt zu dem erwähnten, alles andere als „regulären“ Vertrag, aufgrunddessen Caruso, der kein Geld für den Unterricht aufbringen kann, sich verpflichtet, seinem Lehrer 25% seiner gesamten Einkünfte aus den ersten fünf Jahren seiner professionellen Sängerkarriere zu überlassen.

Dieser Vertrag wird zu einem zwei Jahre dauernden Gerichtsverfahren führen, denn Vergine, der Carusos Karriere selbstverständlich genau verfolgt, versucht ihn in sittenwidriger Weise so auszulegen, daß er ein Karrierejahr mit 365 gesungenen Vorstellungen definiert. Demgemäß hätte Caruso sein ganzes berufliches Leben lang ein Viertel seiner Einkünfte dem halsabschneiderischen Lehrer abliefern müssen. Als er 1899 in Rom singt, kommt es zur Aussöhnung mit Vergine und einem Vergleich. Vergine begnügt sich mit der einmaligen Zahlung von 20.000 Lire, der Vertrag wird vernichtet.

Vergine erteilt Gruppenunterricht, jeder Schüler muß seine Übungen vor allen anderen singen. Die Beurteilung der gesanglichen Fortschritte erfolgt nicht nur durch den Lehrer, sondern auch durch die Schüler untereinander. Die Gruppendynamik bewirkt, daß Caruso von den größer dimensionierten Stimmen einiger Kollegen beeindruckt ist und seine Zukunftsaussichten selbst als gering einschätzt. Er setzt während des Gesangsstudiums jedenfalls weiterhin seine Erwerbstätigkeit als Mechaniker wie auch als Sänger bei allen möglichen Veranstaltungen und Feierlichkeiten fort.

Wie kompetent Vergine als Lehrer in fachlicher und psychologischer Hinsicht ist, zeigt seine Äußerung über Carusos Stimme: „Sie ist wie das Gold auf dem Grunde des Tiber. Es ist es kaum der Mühe wert, nach ihr zu suchen.“ Daß in der Literatur immer wiederholt wird, Caruso habe zu Beginn seiner Karriere keine oder kaum eine Stimme gehabt, resultiert aus derlei Unsinn. Daß die Stimme in seiner Jugend lyrisch war, später nachdunkelte, an Volumen gewann und zunehmend dramatisch wurde, ist eine normale physiologische Entwicklung, die durch eine exzellente Gesangstechnik unterstützt wird. Daß aber aus nichts eine Carusostimme entstand, ist schlicht unsinnig.

Brüderlich geteilter Militärdienst

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nzwischen schwebt über Carusos Haupt das Damoklesschwert der Einberufung als Soldat. Der Militärdienst in Italien dauert zu jener Zeit drei volle Jahre, er würde Carusos Bestrebungen nach einer Sängerkarriere im Keim ersticken. Caruso ist inzwischen mit Don Rafiluccio Domineck bekannt geworden, einem Beamten der Musterungskommission, der jungen Künstlern, die zu den Waffen gerufen werden, bei den Einberufungsverfahren hilft und sie im Gegenzug zu Auftritten in den Salons des wohlhabenden Bürgertums und bei Adeligen in seinem Zuständigkeitsbezirk heranzieht. Gagen für die Darbietungen der hoffnungsvollen jungen Künstler gibt es keine, doch können sie sich wenigstens an den reich gedeckten Tischen sattessen.

Trotz guten Willens auf beiden Seiten reichen Don Rafiluccios Wohlwollen und Einfluß nicht aus, um den Wehrdienst von Caruso abzuwenden. Er wird eingezogen und muß widerstrebend nach Rieti zum XIII. Artillerieregiment einrücken. Es ist nur zu verständlich, daß er befürchtet, durch die lange Unterbrechung die entscheidende Phase seiner Gesangsausbildung zu versäumen.

Der Soldat Caruso gibt seinen Vorgesetzten keinen Anlaß zur Zufriedenheit. Er bringt für das Kasernenleben keinerlei Begeisterung auf und fügt sich nicht in den Drill ein. Ein musikliebender Major namens Giuseppe Nagliati hört den stimmbegabten Soldaten in der Exerzierhalle singen und fragt ihn nach seinem Beruf. „Ich unterbreche schlagartig meine Arbeit und mein Lied und antworte ihm überrascht: ‚Nun, ich möchte zur Oper ...‘ Der Major ging weg, ohne etwas zu sagen. Am Abend ließ er mich rufen und teilte mir mit, daß er einen Lehrer für mich gefunden habe. In den fünfunddreißig Tagen, die ich in Rieti war, erhielt ich ständig Gesangsstunden, sodaß ich nichts von meinem geliebten Studium versäumte.“[20]

Der Lehrer ist ein gewisser Baron Costa. Der ist froh, ein derart offensichtliches Gesangstalent in die Hände zu bekommen und beginnt, mit Caruso die Partie des Turiddu in Cavalleria rusticana einzustudieren. Er soll sie bei einer Liebhaberaufführung singen. Bei dieser Gelegenheit überzeugt Caruso seinen Major, daß er als Sänger mehr zu leisten imstande ist denn als Soldat. „‚Sie können nicht gleichzeitig Soldat und Sänger sein‘, erklärte er mir. ‚Ich habe es daher so arrangiert, daß Ihr Bruder Giovanni sofort hierher kommt, um Ihren Platz einzunehmen.‘“[21]

Das geschieht. Später wird Giovanni seinen berühmten und reichen Bruder an diesen Gefallen erinnern, auch weil er, wie zu sehen sein wird, durch den Militärdienst in Lebensgefahr gerät. Der Tenor wird seine bekannte Großzügigkeit walten lassen und dem aufopferungsbereiten Bruder regelmäßige monatliche Zahlungen in nicht unbeträchtlicher Höhe zukommen lassen.

Nach etwas mehr als einem Monat ist für Caruso der Spuk vorbei. Er kehrt nach Neapel zu Maestro Vergine zurück und nimmt sein Studium wieder auf.

Am 13. Oktober 1894 wird Carusos Name zum ersten Mal in der Presse erwähnt. In Fortunio, einem in Neapel erscheinenden Musik- und Theatermagazin, ist zu lesen, daß er zusammen mit einem Bariton Bonini, einem Geiger Corrado und zwei singenden Damen, Amalia und Fanny Zamparelli, an einem Konzert im Teatro Excelsior in Neapel mitgewirkt hat. Näheres wird nicht mitgeteilt.

Der Autodidakt

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s dauert nicht lange, bis Vergine auf die Idee verfällt, seinen Schüler zu einem ersten professionellen Vorsingen zu schicken. Er hat dafür Nicola Daspuro ausersehen, eine schillernde, einflußreiche Figur im Musikleben Neapels. Daspuro ist nicht nur Journalist, sondern auch der Vertreter des Verlegers Sonzogno in Neapel sowie Impresario. Im Konkurrenzkampf mit dem überlegenen Verleger Ricordi hat er für das Teatro Mercadante, dessen Leiter er 1893 wird, die berühmtesten Sänger der Zeit gewonnen, darunter die Sopranistinnen Gemma Bellincioni und Adelina Stehle, sowie die Tenöre Angelo Masini, Roberto Stagno und Francesco Tamagno. Daspuro ist zwar nicht begeistert, sich angesichts dieser kassenfüllenden Zelebritäten mit einem Anfänger abgeben zu müssen, doch Vergine schildert die stimmlichen Vorzüge seines Schülers so beredt, daß Daspuro ihn anhört: „Am nächsten Morgen erschienen Vergine und Caruso im Mercadante, und Caruso sang mir vor. Er gefiel mir ausgezeichnet; seine Stimme war wirklich schön. Den größten Eindruck machte mir aber sein klarer Vortrag und sein voller warmer Akzent.“[22]

Daspuro beauftragt seinen Dirigenten Giovanni Zuccani damit, ein zweites Vorsingen zu beurteilen. Das Ergebnis ist vielversprechend. Die Stimme ist schön timbriert, die Aussprache deutlich, der Vortrag eloquent, der Sänger hat Persönlichkeit und Geschmack, und auch wenn seine Höhe noch sehr zu wünschen übrig läßt, scheint eine Karriere im Bereich des möglichen zu sein. Zuccani vertraut Caruso ohne zu zögern die Partie des Guglielmo (Wilhelm) Meister in Mignon von Ambroise Thomas an, eine weise Entscheidung, denn die Rolle kann selbst bei einem gesangstechnisch noch unsicheren Anfänger der Stimme keinen Schaden zufügen. Daspuro erinnert sich:

Wir forderten Caruso auf, sich auf eine Klavierprobe vorzubereiten. Endlich kam der Tag heran, aber ach! – was für ein anderer Caruso war das! Die übersteigerte Empfindlichkeit seines Temperaments, die nervöse Erregung, die die zahlreichen Sänger und Maestri von Ruf, von denen er sich umgeben sah, bei ihm erzeugten, verbunden mit einem Mangel an Vertrautheit mit seiner Rolle, schienen seine geistigen Fähigkeiten zu lähmen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Vergeblich suchten Zuccani und ich ihn zu ermutigen; die Verwirrung wurde nur schlimmer, er warf den Text durcheinander, begann und endete Phrasen außerhalb der Tempi, und bei den hohen Noten überschlug sich seine Stimme und brach. Maestro Zuccani blieb geduldig und freundlich, aber endlich wurde auch er es müde, den sich abarbeitenden Caruso zu verbessern. Er wandte sich zu mir und erklärte, es sei gänzlich ausgeschlossen, diesen Tenor vor die Rampe zu stellen. Empört über Zuccani verließen Vergine und Caruso weinend das Theater.

Daspuro beschreibt den jungen Tenor auch abseits von Vorsing- und Bühnenstress. Er sei „possenreißerisch und heiter, ein lauter Schelm mit goldenem Herzen, ganz Güte und unbegrenzte Großherzigkeit.“ Daß Caruso aufgrund dieses Erlebnisses die Rolle später in seiner Karriere nie singen wird, ist absehbar. Es ist nicht das letzte Mal, daß Caruso ein Opfer seiner Nerven wird. Jahre später berichtet er von einem ähnlichen Zwischenfall.

Ich werde nie vergessen, wie ich am San Carlo abgelehnt wurde. Ich hätte im Faust für einen kranken Tenor einspringen sollen. Kaum setzte ich bei der Probe zu Salve dimora [Salut, demeure chaste et pure] an, packte mich so die Angst, daß ich nicht bis zum Ende kam. Zu Vergine gewandt, sagte der Dirigent Scalisi: ‚Der muß noch in der Schule bleiben. Für mich ist der nichts!‘ Und nichts war es eine ganze Weile lang. Seit damals begann ich allein zu studieren und meine Fehler zu korrigieren; mir ein Repertoire aufzubauen und für mich zu proben und wieder zu proben und mir die Töne für meine Stimme so zurechtzulegen, wie ich es wollte. Denn, glauben Sie mir, die Gesangslehrer können viel machen, darüber braucht man nicht zu diskutieren, aber der Sänger, der Künstler muß sich selbst formen und ich verdanke alles mir selbst, meinem Studium und meiner Willenskraft, die es mir erlaubt hat, allmählich, vom ersten Engagement zu achtzig Lire für zwei Wochen zu den heutigen Gagen zu gelangen. Wenn man bedenkt, daß der gute Maestro Vergine, als ich ihm vorgestellt wurde, ausrief: ‚Was wollt ihr? Das ist keine Stimme!‘ Und jetzt singe ich sogar ... als Baß.[23]

Letztere Anspielung geht auf einen Vorfall zurück, als Caruso in einer La bohème-Vorstellung in Philadelphia 1913 anstelle des heiser gewordenen Bassisten die Arie des Colline ‚Vecchia zimarra, senti‘ im vierten Akt singt.

Carusos Angaben über sein Selbststudium ist, wenn auch mit Einschränkungen, Glauben zu schenken. Er adaptiert die Anleitungen, die er von Gesangslehrern wie Vergine, vor allem aber von seiner Lebensgefährtin Ada Giachetti, einer ausgezeichneten Sopranistin, erhält, für seine Zwecke. Man muß auch bedenken, daß es zu Ende des 19. Jahrhunderts für einen angehenden Sänger noch keine Möglichkeiten gibt, sich an anderen Vorbildern zu orientieren als jenen, die gerade in der jeweiligen Stadt auftreten. Es gibt noch keine Tonaufnahmen, die man hätte studieren oder imitieren können, man ist also auf Gesangslehrer und aktive lokale Vorbilder, hauptsächlich aber auf das eigene Talent und eigene Erfahrungen angewiesen.

Caruso ein baritenore?

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arusos Stimme ist aufgrund ihres baritonalen Klanggepräges für die damalige Zeit im Tenorfach ungewöhnlich, entspricht aber den Anforderungen der in einer ihrer zahlreichen „Krisen“ befindlichen Kunstform Oper. Betrachtet man diese Krisen näher, die unweigerlich mit der Prophezeiung des Niedergangs der Gesangskunst einhergehen, erkennt man, daß sie nichts anderes sind als Umstellungsphasen, Anpassungen an jene Ausdrucksmittel, die von neuen Komponistengenerationen eingesetzt werden.

So war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts für gewisse Rollen der baritenore en vogue, der baritonal gefärbte Tenor, für den Rossini den Otello und Bellini den Pollione in Norma schrieb. Ihn kann man sich mit ähnlichen vokalen Mitteln ausgestattet wie Caruso vorstellen. Mit einem einzigen Unterschied: Der erste Interpret des Pollione und des Otello, Domenico Donzelli (er wurde 1790 geboren und starb in Carusos Geburtsjahr 1873) sang die Höhe nicht mit Bruststimme, sondern wechselte ab dem g’ ins falsettone. Das falsettone – sprachlich und tonstärkemäßig eine Vergrößerungsform von falsetto – hat man sich als verstärktes Falsett mit großem rundem Ton vorzustellen, das ähnlich der voix mixte nie gefistelt oder gekreischt klang und Timbre, Volumen, Leuchtkraft, Süße und Modulationsmöglichkeiten besaß.

An das falsettone ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, seit der Tenor Gilbert-Louis Duprez (1806-1896) das mit Bruststimme gesungene hohe C im Jahre 1837 „erfunden“ und eingeführt hatte, selbstverständlich nicht mehr zu denken (auf Rossinis hypersensibles Gehör wirkte dieser Ton noch „wie der Schrei eines Kapauns, dem die Gurgel durchgeschnitten wird“). Die Tenorkollegen hatten Duprez imitiert, es wurde mit mehr dramatischem Impetus vorgetragen, die Akzente wurden heftiger, als Folge wurden die Tempi angezogen. Die Tenöre klangen zunehmend „tenoraler“ und heller, was auch auf den Kompositionsstil der neuen Opern durchschlug.

Eine gegenläufige Entwicklung ergab sich mit dem Aufkommen der Opern von Thomas, Gounod und später Bizet in Frankreich und der giovane scuola italiana mit Puccini, Mascagni, Leoncavallo, Giordano, Cilea und Franchetti. Von idealisierten, romantischen Figuren verwandelten sich die Tenöre mehr und mehr in reale, bürgerliche Menschen. Die Tessitura[24]der Tenorpartien wurde zusehends wieder tiefer.

In dieser Situation haben es die bereits auf der Bühne aktiven Tenöre äußerst schwer, sich umzustellen. Tatsächlich werden, besonders in Italien und Spanien, Opern wie Carmen, Cavalleria rusticana und sogar Pagliacci von hell timbrierten, leichten Tenören gesungen, von jenen Sängern, deren Karrieren auf Erfolge in Opern von Rossini, Bellini oder Donizetti gründen. Deshalb sind Carusos berühmte Tenorkollegen alle wesentlich heller timbriert als er, selbst Francesco Tamagno, der Protagonist der Uraufführung von Verdis Otello, ein dramatischer Tenor mit trompetenartiger Schallkraft, hat ein viel helleres, „tenoraleres“ Timbre als Caruso.

Zwar kristallisiert es sich wegen des anfänglichen Fehlens einer natürlichen, sicheren Höhe erst allmählich heraus, daß Caruso tatsächlich ein Tenor ist, doch wird sich bald herausstellen, daß er nicht nur der einzige Tenor seiner Generation ist, der den neuen Anforderungen ideal gerecht wird, sondern daß er wie kein zweiter in der Lage sein wird, gleichzeitig auch das lyrische romantische Repertoire abzudecken.

Beginn der professionellen Tenorkarriere

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rotz der erwähnten traumatischen Erlebnisse und der hartnäckigen Höhenprobleme bleibt Caruso aus persönlicher Überzeugung im Tenorfach. Dabei kommen ihm Glücksfälle zu Hilfe, denn als er am 2. Jänner 1895 in der Kathedrale von Caserta ein Tantum ergo singt, hört ihn ein Orchestermusiker und empfiehlt ihn einem begüterten jungen Amateurkomponisten namens Morelli[25], der aus eigener Tasche die Aufführung einer selbstverfaßten Oper finanziert. Diese commedia lirica heißt L’amico Francesco und wird am 15. März 1895 am Teatro Nuovo in Neapel uraufgeführt. Der zweiundzwanzigjährige Caruso übernimmt, auch aus Gründen der überschlanken Erscheinung nicht sehr glaubhaft, die Rolle des etwa fünfzigjährigen Adoptivvaters des über sechzigjährigen Baritons Ciabò. Vier Vorstellungen sind geplant, der in der Presse kolportierte Erfolg kann nicht so groß sein, denn es finden nur zwei Aufführungen statt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Komponist durch finanzielle Zuwendungen das Wohlwollen der Kritiker gefördert haben könnte. Morelli, der in den Zeitungskritiken als begabter Komponist gerühmt wird, zahlt Caruso korrekterweise 80 Lire für alle vier Vorstellungen aus und legt noch 50 Lire als Belohnung dazu. „Außerdem versicherte der Komponist Caruso, daß er ihn für die Premiere seine nächsten Oper, an der er gerade arbeite, wieder engagieren würde. Doch diese Oper sollte nie gegeben werden, denn kurz darauf starb Morelli.“[26]Das hätte er sicher nicht gesagt, wenn Caruso keinen persönlichen Erfolg errungen hätte. Bestätigt wird dies durch die Erwähnung von Carusos Name in der Presse, denn die Leistungen der übrigen Sänger werden in den Rezensionen nicht besprochen.

Bei der zweiten Vorstellung sind der Impresario Carlo Ferrara und der Sängeragent Francesco Zucchi, genannt „Ciccio“ [der Dicke], anwesend. Sie erkennen Carusos Potential und engagieren ihn vom Fleck weg für eine Opernsaison im Teatro Cimarosa in Caserta, einer 25 km nördlich von Neapel gelegenen Provinzstadt (sie hat heute 70.000 Einwohner). Die Truppe besteht aus der Gattin des Impresarios, Frau Ferrara-Moscati, die Sopranistin ist, einer Altistin namens Molinari, dem Bariton Enrico Pignataro[27]und dem Bassisten Sternaiolo.

Bereits zwei Wochen später, am 28. März 1895, steht Caruso als Gounods Faust auf der Bühne. Er tritt in zehn Vorstellungen dieser italienisch gesungenen Oper auf und erhält pro Abend zehn Lire, die Hälfte der von Morelli bezahlten Gage. Doch das ist in dieser Phase seiner Karriere von sekundärer Bedeutung. Jetzt gilt es, Bühnenerfahrung zu sammeln, ein Repertoire aufzubauen und sich einen Namen zu machen. Letzteres gelingt. Er erhält alles in allem gute Kritiken.

In dieser Spielzeit werden auch zwei zeitgenössische Werke dargeboten, Mascagnis Cavalleria rusticana und Pietro Musones Camoëns. Carusos Leistung als Turiddu wird vom Publikum gefeiert, von der Presse aber geteilt aufgenommen. Man bekrittelt den „Zwiespalt zwischen seiner Stimme und seiner Musikalität; sein Spiel nannten sie abscheulich.“[28]Trotz aller Bemühungen kann er Musones heute verschollene Oper nicht vor einem Mißerfolg bewahren.

Die Saison endet, höchstwahrscheinlich vorzeitig, nach einem Monat. Um eine Erfahrung und einen Bewunderer, nämlich den Bariton Enrico Pignataro, reicher, kehrt Caruso mit einem Reingewinn von zwölf Centesimi nach Neapel zurück. Pignataro ist hier am Teatro Bellini als Valentino in Faust engagiert, und als der ursprünglich verpflichtete Tenor erkrankt, empfiehlt er Caruso als Einspringer. Am 9. Juni steht er als Faust erstmals auf der Bühne des Teatro Bellini und heimst einen Erfolg ein, der so groß ist, daß er sofort als Rigoletto-Herzog (ab 21. Juli) und Alfredo in La traviata (ab 25. August) engagiert wird. Er kennt beide Partien noch nicht und studiert sie umgehend ein.

Carusos Gage ist inzwischen von zehn auf fünfundzwanzig Lire pro Abend gestiegen, die Kritiken sind fast alle ausgezeichnet, nur wenige Kritiker äußern Vorbehalte. Einer von diesen, Ettore Iovinelli, geht so weit, dem jungen Tenor in der Zeitschrift Cosmorama sogar „geringe künstlerische Intelligenz und Schüchternheit“ zu attestieren. Das spielt aber insofern keine Rolle, als der glückliche Zufall wieder auf Carusos Seite ist. Bei einer der Vorstellungen ist im Theater Adolfo Bracale anwesend, der als Cellist im Orchester des Khediven von Ägypten spielt und in Nordafrika auch als Impresario tätig ist. Er kann Caruso für eine Ägyptentournée gewinnen, an der auch die Sopranistin Elena Bianchini-Cappelli und der Bariton Vittorio Ferraguti teilnehmen werden. Die Tournée wird einen Monat dauern – den ganzen Oktober 1895 –, aufgeführt werden Cavalleria rusticana, Rigoletto, Amilcare Ponchiellis La Gioconda und Giacomo Puccinis Manon Lescaut. Caruso erhält dafür ein Gesamthonorar von sechshundert Lire, damals sein persönlicher Einnahmenrekord.

Erste Auslandsreise

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ie Überquerung des Mittelmeers ist Carusos erste Auslandsreise. An Bord des Dampfers, der die Operntruppe nach Ägypten bringt, sind auch britische Armeeangehörige. Sie zechen die Nächte durch und erfahren, daß auch Sänger an Bord sind. Mit sanfter Gewalt überreden sie Caruso, bei einem ihrer feuchtfröhlichen Gelage für sie zu singen. Er tut das widerstrebend, doch als im Morgengrauen der Hut unter den Offizieren die Runde macht, findet er hundert englische Pfund darin, ein Vermögen. „Ich fühlte mich reich. Noch nie zuvor hatte ich auf einmal eine so große Summe besessen. Heute, 1920, schäme ich mich nicht das einzugestehen; denn zu jener Zeit bedeuteten hundert Pfund für mich mehr als jetzt hunderttausend Dollar“[29], erzählt Caruso seinem Freund und Biographen Pierre Key (dessen Name er scherzhaft ins Italienische übersetzt und ihn zu Pietro Chiave macht).

Anders als heute gab es in Nordafrika im 19. Jahrhundert eine lebendige Operntradition. Viele Italiener lebten in Nordafrika[30], von Ägypten bis Libyen, ihr Einfluß, auch auf kulturellem Gebiet, war bis weit ins 20. Jahrhundert ein nicht unwesentlicher Faktor. Die finanziellen Mittel des Khediven von Ägypten[31]