Erwartung - Winfried Wolf - E-Book

Erwartung E-Book

Winfried Wolf

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Beschreibung

Zwei Jahre schon lebt der ehemalige DDR-Agent Herrmann Schmidt unter falschem Namen in einem kleinen Dorf an Kretas Südküste. Hier hält man ihn für den deutschen Gelehrten Rudolf Prager. Der echte Prager war vor seiner Pensionierung Geschichtslehrer an einem Freiburger Gymnasium. Der falsche Prager verstand es, bisher alle zu täuschen: die ehemalige Freundin von Pragers verstorbener Frau ebenso wie die Polizei. Nur Kommissar Meier ahnt, dass hinter Prager ein ganz anderer steckt. Doch der Kommissar muss seinen Spürsinn mit dem Leben bezahlen. Nun aber scheint die Vergangenheit den ehemaligen Agenten einzuholen. Ausgerechnet eine Studentin der Archäologie ist im Begriff, seine falsche Identität herauszufinden.

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Erwartung

Titel SeiteZurück in LentasEine Studentin der ArchäologiePragerLauraDie GaleristinGortynTitelTitel - 1Zwei Monate vorher: RecherchenPanta rheiStrand oder Märtyrerkirche?MosaikenDunkle WolkenAlte GeschichtenAm StrandZwei Frauen und ein abwesender MannEine Nacht auf KoufonisiVernissageKleiner Nachtrag

Zurück in Lentas

Er stand schon mehr als zwei Stunden auf der Terrasse seines Hauses und schaute aufs Meer hinaus. Von dort würde kein Schiff kommen, kein großes, dennLentasbesaß keinen Hafen für große Schiffe. Er hatte wieder zu rauchen angefangen. Vor Jahren hatte er damit aufgehört, von einem Tag auf den anderen. Aber jetzt war es ein Gestus, den er sich wieder erlauben wollte. Seine Gedanken sprangen hin und her. Gesichter, Namen, Erinnerungen, Gemälde, Säulenstümpfe, zwischen denen er hindurchging. Gelb leuchtende Rapsfelder und lichte Buchenwälder auf Rügen flimmerten auf. Der Geruch eines bestimmten Parfüms, das Salz auf ihrer Haut. Er sah auch die Toten. Die Frau, die ihn zu erkennen glaubte, bevor er ihr das Messer in die Brust stieß. Der Lehrer, der nicht begreifen konnte, was er ihm erzählte, bevor er ihm die Schlinge um den Hals legte. Der ungläubige Blick des Kommissars, der zuckend auf dem Boden lag. Er spürte die Augen des sterbenden Paares im Rücken, als er zurück zum Strand lief und das Boot ins Wasser schob.

Er versuchte, jetzt nur an Gerlinde zu denken, die in Berlin eine Galerie leitete. Er ließ seine Hände in Gedanken über ihre Schultern und ihre Arme gleiten aber die schönen Vorstellungen wollten sich nicht recht einstellen. Ständig schwirrten die Gedanken weg zu anderen Menschen, anderen Namen: Margot stand am Geländer der Seebrücke von Ahlbeck, ihr schmaler Mund im Fell der dicken Pelzmütze verzog sich zu einem abschätzigen Grinsen. Er spähte nach Schädlichs Auto, es war ihm doch bis in den Kurort gefolgt! Er hörte das Wimmern des Windes, sah sich barfuß das Zimmer in Margots Haus verlassen. Er hatte alle seine Sachen im Arm, beinahe wäre ihm ein Schuh auf den Boden gefallen. Und draußen stand Schädlich, da war er sicher, aber als er am Fenster stand, war niemand auf der Straße zu sehen. Er sah nur die Straßenlaterne, die im Schneetreiben wie ein Schneeball aussah. Von wem ist Schädlich eigentlich erledigt worden? War sein alter Kollege Fährmann dazu ausersehen worden? Nein, diesen Fährmann hatte man in seinen letzten Jahren beim Nachrichtendienst nicht mehr vom Schreibtisch wegbekommen. War es möglich, dass Schädlich gar nicht das Opfer der alten Kameraden war? Vielleicht hatte er ja auch nur zu viel getrunken, war gestürzt und dann erfroren.

Immer wieder war es ihm gelungen, über seine Gedanken zu gebieten, doch jetzt geschah es öfters, dass seine Gedanken über ihn zu gebieten schienen. Man kann seinem Schicksal nicht entgehen, dachte er, aber gleichzeitig wollte er einen solchen Satz für sich nicht zulassen. Er musste wieder Ordnung in die Dinge bringen. Margot hatte ihm geraten, sich still zu halten. Du darfst es nicht übertreiben, Rudolf, hatte sie gesagt. Wer den Schritt auf die Bühne wagt, fällt auf. Das solltest doch gerade du am besten wissen. Du hast gelernt, dich zu verbergen, du bist ein Meister der Tarnung. Das Täuschen war immer dein Geschäft!

Er wollte der bessere Prager werden, das machten sie ihm jetzt zum Vorwurf. Eine Zeitlang hatte er sich eingeredet, dass er zu Ende bringen konnte, was dem Lehrer Prager im Ruhestand nie gelungen wäre. Er war der echte Prager, nicht der, der in Freiburg den Lehrer für Geschichte spielte. Dieser Prager war ein armseliger Wicht, dem auch das Geld seiner Frau nicht auf die Sprünge geholfen hätte. Er hatte ihn beobachtet, er war ihm gefolgt. Er hatte ihn in die Schule begleitet, war mit ihm zum Arzt gegangen, hatte ihm zugesehen, wie er mit einer schönen Frau zu Abend speiste. Er hatte mit der Putzfrau seines Doppelgängers gesprochen, sich in seiner Wohnung umgesehen und einmal sogar seine Frau Hannah in der Umkleidekabine eines Kaufhauses überrascht. Es hatte ihn erregt, sie halbnackt zu sehen, er hatte sich später vorgestellt, in ihrem Bett zu liegen, aber stärker als die Vorstellung, ihre Brüste zu streicheln, war das Gefühl, in eine andere Haut schlüpfen zu können.

Er wollte, er musste dieser Prager sein. Es würde keine zweite Gelegenheit geben, die Identität zu wechseln. Den Lehrer zu geben, das war eine leichte Übung, sein Geld zu erben, das war ein glücklicher Umstand. Es kam alles zusammen: Er sah ihm ähnlich, so ähnlich, wie das eigentlich gar nicht sein kann. Er hatte in etwa das gleiche Alter wie dieser Lehrer und es gelang ihm, den Mann in die Richtung zu dirigieren, in der er ihn haben wollte. Es wäre alles weniger dramatisch verlaufen, wenn dieser Prager keine Frau gehabt hätte, andererseits hatte erst der Tod der Frau den Lehrer mürbe gemacht.

Ein Kindertraum war das: Als Kind hatte er davon geträumt, durch Wände gehen zu können, fremde Menschen in ihren privaten Räumen zu besuchen, ohne dass sie es merkten. Auf einer alten Postkarte, das war noch zu DDR-Zeiten, hatte er eine Frau nackt auf der Straße gehen sehen. Jemand hatte ihm erzählt, dass man mit einer neuen Aufnahmetechnik durch die Kleider schauen könne, ähnlich wie man das mit einer Röntgenkamera mache. Die Postkarte sei versehentlich in den Handel gekommen und natürlich hatte der Geheimdienst, so bildete er sich ein, dabei seine Hände im Spiel. Als Erwachsener hätte man diese Träume eines Tages ablegen können, aber er hatte einen Beruf gefunden, der es ihm ermöglichte, mit allerhand Hilfsmitteln den Traum der Kindheit weiter zu verfolgen. Das war Bestimmung, was sonst!

Er dachte an Gerlinde und an das große Haus, das sie in Zehlendorf gemietet hatten. Was sie wohl gerade machte? Naja, irgendwer würde jetzt schon bei ihr sein. An Bewunderern herrschte ja kein Mangel. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie zu heiraten und ihren Namen anzunehmen. Aber hinter ihrem Namen konnte er sich verstecken. Ein abermaliger Wechsel der Identität, wenn man so will.

Manchmal weigerte sich sein Kopf zu glauben, was da vor sich ging. Er war der Besitzer einer erfolgreichen Galerie, die seine Frau Gerlinde leitete. Aber er wollte nicht in Berlin sein, er wollte jetzt die meiste Zeit für sich sein, wieder inLentasan der Südküste Kretas. Noch immer galt er den Leuten hier als der deutsche Gelehrte. Man sprach ihn mit Professor an, darunter auch einige Landsleute, die hier schon seit Jahren ihren Urlaub verbrachten.

Nach den ersten Monaten auf Kreta schien Stabilität in sein Leben gekommen zu sein. Er hatte wieder zurück in eine gewisse Regelmäßigkeit gefunden. Als er diesen Prager in einer Buchhandlung sah, wusste er vom ersten Augenblick an, dass dieser Mann sein Leben ändern konnte. Noch einmal wollte er eine Kehrtwende wagen, ein letztes Mal und es sollte ausschließlich zu seinen Gunsten sein. So viele Chancen bekam man nicht in seinem Leben.

Die Schattenmacht hatte sich zurückgemeldet, sie hatte ihm wieder gesagt, wie er arbeiten, wie er leben sollte. Diese Macht trug Namen wie Hessler, Fährmann oder Margot. Noch immer residierten sie in Berlin. Von dort zogen sie ihre Fäden. Sie verfügten über ein einflussreiches Netzwerk. Margots Bruder arbeitete in der Bundeswehrverwaltung in Koblenz. Dass sein Vater eine stattliche Pension als Oberst der NVA bezog, schien niemanden zu stören. Margot hatte ihm erzählt, dass ihr Bruder auch in seinem Fall aktiv geworden sei. Er musste Spuren verwischen, die er unbedachterweise hinterließ, als er seinen eigenen Selbstmord vorgetäuscht hatte. Dieser „Freundschaftsdienst“ war eine Verpflichtung und ein Appell zugleich: Du gehörst zu uns, handle auch danach!

Dabei war er so stolz auf seine kleinen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften gewesen. Mit seinen archäologischen Führungen hatte er sich auf Kreta einen gewissen Namen gemacht. Bekannte Reiseveranstalter sahen in ihm schon das kulturelle Aushängeschild ihres Unternehmens. Wie hatte er sich doch bemüht, zum ausgewiesenen Kenner der Geschichte zu werden. Tage und Nächte verbrachte er mit dem Studium historischer Abhandlungen und er bildete sich ein, innerhalb weniger Monate etwas umgesetzt zu haben, wozu andere viele Studienjahre brauchten. Alles ist machbar, alles ist möglich, das war immer seine Devise gewesen!

Er hatte an das Machbare geglaubt, weil ihm der Blick hinter die Kulissen zu zeigen vermochte, dass schon ein bisschen Theater die Menschen täuschen konnte. Bis vor kurzem war er noch die graue Maus im unauffälligen Beige eines alternden Mannes, dann trat er als kundiger Führer im weißen Leinenanzug auf. Das Leben hält immer eine Alternative bereit.

Die Novelle des Dichters Gottfried Keller fiel ihm ein. Ein armer Schneider wurde wegen seines Äußeren für einen polnischen Grafen gehalten. Aus Schüchternheit versäumte der Schneider, die Verwechslung aufzuklären. Er entschloss sich, nachdem er sich in eine junge Dame verliebt hatte, die aufgedrängte Rolle weiterzuspielen. Die Geschichte ging gut aus, weil sich die Braut zu ihm bekannte und ihm mit ihrem Vermögen zu Wohlstand und Ansehen verhalf.

Im Unterschied zum armen Schneider aus Kellers Geschichte habe ich meine Geschichte selbst gestaltet und der Reichtum ist mir nicht zugefallen, sondern mit kalter Berechnung erworben worden, dachte Prager und musste lachen. Er hatte sich völlig neu erfunden, konnte nun aber mit seinen Pfunden nicht wuchern, das war ärgerlich. Aber muss ich denn jetzt wirklich zurückstecken und das unauffällige Dasein eines Rentners führen? Eine verzwickte Situation. Ich könnte Prager sterben lassen und mich in einem anderen neu erschaffen! Aber nein, nicht noch einmal diesen Aufwand betreiben. Es genügt, wenn ich jetzt Körner heiße – obwohl, die hier inLentasundAgia Galininennen ihn immer noch Prager. Er hat nichts dagegen.

Die Gedanken zuckten hierhin und dorthin und er dachte: Das kommt also dabei heraus. So viel Streben, Hoffnung, Fortschritt, und am Ende steht ein Mann am Geländer seiner Veranda und schaut aufs Meer hinaus und hinüber zum Felsen und hinunter zum Strand; steht da und weiß nicht, worauf er wartet. Furchtlos und schrankenlos ohne einen Gedanken an ein Morgen zu verschwenden, so sollte man leben, dachte Prager. Aber ich stehe hier und weiß nicht, in welche Richtung ich mich bewegen soll. Oelzes Bild kam ihm in den Sinn.

Er dachte an Gerlinde. Ihre gemeinsame Zeit inLentaswar ein Idyll gewesen. Aber er wusste, ein Idyll wird per definitionem erst dann zu einem Idyll, wenn es vergangen ist. Es gab Erwartungen auf beiden Seiten, die er entweder nicht erkennen oder auf die er nicht eingehen wollte. Sie liebte ihn mehr als er sie – war es so? Das war vielleicht eine ihrer Unvereinbarkeiten.

Er hatte ihr die Leitung der Galerie übertragen und er hatte sie geheiratet. Hatte die Heirat etwas verändert? Sie wollte es und er wollte es auch. Doch ihre Motive waren nicht dieselben. Sie wollte sich auch im persönlichen Bereich endlich etablieren, das stand so in ihrem Lebensplan. Und er, ja, was verband er mit der Verheiratung. Auch ihm konnte diese Art der Etablierung nützen. Über eine Ehefrau konnte er sich geschäftlich absichern. Bei Abschlüssen, welcher Art auch immer, musste er nicht in der ersten Reihe stehen. Trotzdem musste er aufpassen, damit ihm die Fäden nicht aus der Hand genommen wurden.

Ja, Gerlinde wollte diesen Sommer wieder zu ihm nachLentaskommen und ja, er freute sich darauf. Aber er war auch froh, dass er jetzt allein war. Auf die Suche nach einem neuen Leben konnte man sich nur allein begeben, das war zumindest seine Einstellung. Zusammen war dies nur eingeschränkt möglich, weil er mit ihr sein altes Leben nicht teilen konnte und wollte.

Gestern hatte er sich beim alten Dimitrios zurückgemeldet. Mit einem Ouzo feierten sie ihr Wiedersehen imEl Greco. Alle standen sie um ihn herum, die drei Brüder Alexis, Stavros und Stefanos, die Grigorakis, seine ehemaligen Vermieter und ihre Tochter Elpida, die imZorbasnach dem Rechten sah und noch immer zu ihm zum Saubermachen kam. Man ließ den deutschen Professor hochleben und alle umarmten ihn kräftig. Dass er jetzt nicht mehr Prager, sondern Körner hieß, sagte er nicht. Wozu auch, die griechischen Freunde hätten das ohnehin nicht verstanden.

Dimitrios, den Prager zuerst aufgesucht hatte, genoss sichtlich seine Vorzugsstellung. Immer wieder kam er wortreich auf ihr gemeinsames Projekt, aus dem Heiligtum des Asklepios eine internationale Begegnungsstätte zu machen, zurück. Sein Freund, der Professor, hieß es, werde dabei die Leitung des Unternehmens übernehmen und er, so ließ er augenzwinkernd durchblicken, werde das Geld einnehmen.

Prager nahm sich vor, seinem Freund bei nächst bester Gelegenheit schonend beizubringen, dass er selbst nur noch als interessierte Privatperson das Unternehmen verfolgen werde. Eine falsche Gold-gräberstimmung wollte er hier inLentaserst gar nicht aufkommen lassen. Er musste deutlich machen, dass er weder willens noch dazu in der Lage war, eigenes Geld in den Kulturtourismus zu investieren. Es konnte gut sein, dass man hier seinen Hauskauf für mehr hielt als es war. Ihm stand am allerwenigsten der Sinn nach Lärm und Betriebsamkeit. Er suchte in diesem Dorf Ruhe und Zurückgezogenheit. Jetzt aber konnte man nicht darüber reden. Es wurde reichlich Ouzo nachgeschenkt und Prager konnte sich getrost für den Rest des Tages von jeglicher geistigen Anstrengung verabschieden. Es fiel ihm daher nicht sonderlich auf, dass Dimitrios immer wieder von einer schönen Frau,ómorfi gynaika, zu reden begann und dabei Pragers angebliche Wirkung auf Frauen im Allgemeinen herausstellte.

Prager wusste, dass der alte Tempelwächter seine Freundin Gerlinde ins Herz geschlossen, dass er ihr sogar nach Deutschland einen Brief geschickt hatte. Dabei war der Brief ja eigentlich an ihn, den Herrn Professor gerichtet. Aber weil sich der Herr Professor ja immer auf Reisen befand, musste der Brief an die Frau Körner nach Freiburg geschickt werden.

Alle, auch die drei Brüder vomEl Greco, konnten sich noch lebhaft daran erinnern, dass im letzten Jahr die Polizei im Ort war, begleitet von zwei deutschen Polizeibeamten. Sie hatten jeden im Dorf nach einem Mann befragt, der sein Fernglas auf die Ferienwohnung des Professors gerichtet hatte. Ein Spanner, vermutete einer der Brüder, als Dimitrios im Dorf erzählte, was er beobachtet hatte. Dimitrios wusste zu berichten, dass der Mann ein deutscher Kommissar gewesen sei, der etwas über ihren Professor herausfinden wollte. Also, wenn das ein Kommissar war, lachte Alexis, dann hat die deutsche Polizei aber ziemlich dumme Kommissare. So wie der sich benommen habe, das sei wie in einem schlechten Film gewesen. Der Xanthoula Grigoraki vomZorbashabe der komische Kommissar ein Bild vom Professor gezeigt, ein schlechtes noch dazu, wie Xanthoula lachend bestätigen konnte. Er habe sie gefragt, ob sie den kenne und ob der hier eine Wohnung habe. Sie habe nur nach oben zum Hang gewiesen. Dass sie auch die Vermieterin der Wohnung war, habe sie nicht gesagt. Man muss der Polizei ja nicht gleich alles erzählen!

Was ihm Dimitrios von der schönen Frau eigentlich erzählen wollte, erfuhr Prager erst am nächsten Morgen, als er den Wächter des Heiligtums auf seinem angestammten Areal besuchte. Es ging, wie sich nun herausstellte gar nicht um Gerlinde, sondern um eine junge Frau, die inLentasgerade Urlaub machte und ein besonderes Interesse fürAsklepioszu haben schien. Dimitrios hatte ihr voller Stolz erzählt, dass es im Ort einen deutschen Professor gäbe, der alles wüsste und darüber hinaus sogar archäologische Führungen inGortynanbieten würde. Er habe, sagte Dimitrios grinsend, der jungen Frau versprochen, sie mit dem Professor bekannt zu machen. Noch heute wolle sie vorbeikommen und fragen, ob der Professor einmal Zeit für sie habe. Ich bin am Nachmittag zuhause oder imZorbas, sagte Prager. Du kannst sie ruhig zu mir schicken. Wenn sie mir lästig wird, verbanne ich sie an den Strand zu ihren Altersgenossen. Dort ist es vermutlich unterhaltender für sie, als bei meinen alten Geschichten.

Eine Studentin der Archäologie

Die junge Frau nahm seinen Stammplatz ein. Das ärgerte ihn ein wenig. Elpida hätte sie darauf hinweisen können, dass das der Platz des Professors sei. Aber die junge Frau stand auf, als er das Lokal betrat und kam zwei Schritte auf ihn zu.

Herr Prager? fragte sie. Ich bin Laura Christ, Dimitrios hat mir gesagt, dass ich Sie hier treffen kann. Prager gab ihr die Hand. Ja, ich bin informiert, Dimitrios hat eine Andeutung gemacht. Er sprach von einer schönen Frau und das kann ich jetzt nur bestätigen. Erlauben Sie, dass ich mich zu Ihnen setze. Laura Christ lachte. Sie brauchen mich nicht um Erlaubnis zu fragen, Elpida hat mir schon gesagt, dass das eigentlich Ihr Platz ist.

Die junge Frau gefiel ihm. Ihr frisches Wesen strahlte gute Laune aus und die wachen Augen ließen auf große Neugier schließen. Sie trug ein dunkles Sommerkleid und hatte ihre langen Haare zu einem Franzosenzopf geflochten. Wie ein Mädchen, das seine Zeit nur am Strand verbringt, sah sie jedenfalls nicht aus, das machte sie sympathisch. Und ein Mädchen war sie übrigens auch nicht, sie mochte wohl Ende zwanzig sein. Da sie mit Dimitrios gesprochen hatte, war zu vermuten, dass sie ein gewisses Interesse für die Antike mitbrachte, warum sonst wohl wollte sie mit ihm reden.

Ich nehme an, sagte Prager, dass Sie am altenLebenainteressiert sind und nun sind Sie wahrscheinlich etwas enttäuscht, weil hier so wenig von der alten Herrlichkeit zu finden ist.

Die junge Frau lächelte wissend: Ich habe nicht mit mehr gerechnet, ich wusste vorher schon, dass vom Heiligtum desAsklepioskaum etwas übrig geblieben ist. In der Archäologie hat man es oft mit weit weniger zu tun. Ach, Sie studieren Archäologie, staunte Prager. Ja, klassische Archäologie im 1. Hauptfach, 8. Semester. Also griechische und römische Antike? Naja, nicht nur, lachte die junge Frau. In der Grundausbildung haben wir erst einmal gelernt, wie eine Ausgrabung funktioniert, wie Gegenstände datiert und welchen Stilen und Epochen sie angehören. Erst bei der Spezialisierung kann man sich auf einen bestimmten Zeitraum festlegen. Bei mir ist es die römische Kaiserzeit.

Aber was erzähle ich Ihnen da, Sie wissen das alles ja viel besser als ich. Dimitrios hat mir verraten, dass Sie mit ihm zusammen inLentaseine internationale Begegnungsstätte schaffen wollen. Prager, den wir hier aus alter Gewohnheit immer noch so und nicht Körner nennen wollen, hob abwehrend die Arme: Dimitrios ist, unter uns gesagt, ein kleinerDemostenes. Er hat zwar keinen Sprachfehler wie sein antikes Vorbild, dafür aber übertreibt er gerne. Ich habe lediglich angeregt, dass einige ReiseunternehmenLentas, oder sagen wir besser das alteLebenain ihr Programm aufnehmen sollten. Für Kreta kann das Heiligtum desAsklepiosdurchaus als Beispiel für ein im Imperium Romanum weit verzweigtes Heil- und Gesundheitssystem gelten. Interessant für heutige Besucher dürfte vor allem die Verbindung von Magie und Medizin sein. Der reale Wert dieser Behandlungsform wird in der Literatur bislang viel zu gering geschätzt. Das ist meines Erachtens sowohl aus medizinhistorischer als auch aus engerer medizinischer Perspektive nicht gerechtfertigt.

Immer wenn Prager solche Sätze sprach, war er stolz auf jedes seiner Wörter, denn es waren Wörter, die er sich mühselig angeeignet hatte. Gleichzeitig erfüllte es ihn mit einer gewissen Scham, so zu reden, denn ihm war durchaus bewusst, dass man mit einer solchen Redeweise noch nicht den Grad an Freiheit erreicht hatte, die jemandem zur Verfügung stehen sollte, der sein Fach ganz und gar beherrschte und deshalb schon wieder auf Distanz gehen konnte. Im Übrigen musste er Acht geben: Er hatte eine Studentin der Archäologie am Tisch, die ihm seinen Stolz schnell austreiben konnte. Schon eine gezielte Frage konnte sein kleines Wissensimperium zum Einsturz bringen. Prager gab sich daher bescheiden: Man nennt mich hier im Dorf denProfessor, aber in Wirklichkeit war ich nur Lehrer an einem Gymnasium. Seit zwei Jahren bin ich pensioniert und kann nun endlich meinem Hobby, der Geschichte, frönen. Also Vorsicht, Frau Christ, ich bin nicht der Experte, als den mich einige hier sehen wollen.

Bei Laura Christ hatten Pragers Worte jedoch eine Wirkung erzielt, die ihm alle Ehre machen konnte. Sie hatte inLentaseinen Mann vom Fach getroffen, einen, der sich auskannte und ihr vielleicht von Nutzen sein konnte. Nein, sie war nicht hierher gekommen, um die mickrigen Reste eines Heiligtums in Augenschein zu nehmen, da hätte sie gleich nachEpidauros,Pergamonoder auf die InselKosfahren können. Was die architektonische Gestaltung des Heiligtums betraf, da warKosein geeigneteres Beispiel.

Für sie warLentaseher ein Fluchtort. Hier an der Südküste Kretas wollte sie für eine Weile Abstand gewinnen, Abstand von Klaus, ihrem Freund und Abstand von einer frustrierenden Absage und dann war da noch der Tod ihrer Eltern.

Ich bin, sagte die junge Frau, nur aus Verlegenheit hier gelandet. Kreta ist sozusagen nur eine Zwischenlösung oder vielleicht der Anfang von etwas Neuem, das wird sich noch herausstellen. Also, sie gestikulierte mit den Armen, das hört sich jetzt vielleicht blöd an, aberAsklepiosinteressiert mich nur deshalb, weil ich nun mal da bin. Aha, Prager lachte auf, ich kann Ihnen ehrlich gesagt nicht ganz folgen. Sie kommen nach Kreta, um nichts zu finden, aber wenn etwas da ist, dann beginnen Sie sich dafür zu interessieren? Darf ich Sie zu einem Ouzo einladen? Das griechische Wundermittel hilft uns manchmal Dinge zu verstehen, die ohne das Getränk verworren bleiben.

Prager gab Elpida ein Zeichen und Xanthoulas Tochter wusste sofort, was sie dem Professor bringen sollte. Fangen Sie an, sagte Prager und Laura Christ begann zu erzählen.

Ich wollte eigentlich an einer vierwöchigen Forschungskampagne in der NabatäerstadtElusateilnehmen. Immer wieder habe ich im Büro des Projektleiters vorgesprochen, um mein Interesse zu bekunden! Ich habe an dieGerman Israeli Foundationgeschrieben, nur um mitzuteilen, dass ich die anfallenden Kosten selbst übernehmen könnte – es war alles umsonst. Ich bin eine Spezialistin für Oberflächensurvey, ich dachte, das könnte mir helfen. Mit dieser Methode können relevante Fundgattungen systematisch erfasst werden. Ich hatte vor, die Auswertung im Rahmen meiner Masterarbeit abzuschließen, aber die Absage, das war frustrierend. Prager hob sein Glas: Darauf stoßen wir an. Nicht auf die Absage, aber ich sage immer, wer weiß wozu es gut ist. Kennen sie die Geschichte vom alten Indianer Joe, fragte Prager. Laura Christ schüttelte den Kopf, Indianer-geschichten waren eigentlich nie so mein Fall. Ich erzähle Ihnen trotzdem eine, passen Sie auf:

Der alte Joe lebte in einem Indianerdorf, er war sehr arm, aber selbst die Stammeshäuptlinge waren neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd. Große Krieger boten ihm phantastische Summen für das Pferd, aber der alte Indianer sagte dann: "Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern ein Mensch. Und wie könnte man einen Menschen, einen Freund, verkaufen?" Der Alte war wirklich bettelarm, aber sein Pferd verkaufte er nie. Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Gatter und nicht auf der Weide. Der ganze Stamm versammelte sich, und die Indianer schimpften: "Du dummer alter Mann! Wir haben immer gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen, jetzt bist Du wirklich bettelarm - welch ein Unglück!" Der alte Indianer sagte: "Was jammert ihr hier so herum, Tatsache ist doch nur, dass das Pferd nicht in seinem Gatter steht. Alles andere sind nur Vermutungen. Ob dies ein Unglück ist oder ein Segen, vermag ich jetzt noch nicht zu sagen, ich kenne ja nur ein Bruchstück der Geschichte. Und wer weiß, wozu das gut ist?“