Erzähl es niemandem! - Lillian Crott Berthung - E-Book
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Erzähl es niemandem! E-Book

Lillian Crott Berthung

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Beschreibung

Dass sie jüdische Wurzeln hat, erfährt Randi Crott erst, als sie erwachsen ist. Und genau wie ihre Mutter 1942 soll auch sie jetzt – über zwei Jahrzehnte nach dem Krieg – mit niemandem darüber sprechen. Bis zum Tode des Vaters bleibt seine Geschichte verborgen. Weggepackt in alten Briefen und Dokumenten. Mit großer Leidenschaft rekonstruiert die Autorin den Lebensweg ihrer Eltern. Er reicht von der Verfolgung der Juden in Deutschland über die deutsche Besatzung in Norwegen bis hin zu den Problemen der Vergangenheitsbewältigung nach dem Krieg. Randi Crotts bewegende Familiengeschichte wurde zum Bestseller und stand monatelang auf Platz 1 der Bestsellerliste. Nun wurde ihr Buch von Klaus Martens kongenial verfilmt. Der Dokumentarfilm war bundesweit in den Kinos aller großen Städte zu sehen. Er ist jetzt auf DVD (goodmovies / Real Fiction) erhältlich. „Ohne Hitler hätte es mich nicht gegeben. Welches Gefühl ist für so einen Fall reserviert? Ich bin auf der Welt, weil meine norwegische Mutter sich in einen deutschen Besatzungssoldaten verliebt hat. Aber es gibt noch eine andere Wahrheit, die mir lange genug verschwiegen wurde.“ RANDI CROTT

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RANDI CROTT LILLIAN CROTT BERTHUNG

Erzähl es niemandem!

Die Liebesgeschichte

Für Yannick

eBook 2012 © 2012 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlag: glanegger.com Satz: Fagott, Ffm

Das Buch beruht auf den Tagebüchern meiner Mutter Lillian Crott Berthung. Ihren Aufzeichnungen hat sie diese Sätze vorangestellt:

Anstelle eines Vorworts

Ich bin schon fast 18, als meine Mutter mich an einem Herbstnachmittag im Jahr 1969 ins Wohnzimmer holt. Sie sagt, sie müsse mir etwas erzählen. Auf dem runden Eichentisch steht ein kleiner Henkeltopf aus Emaille. Er ist grau und hat einen schwarzen Rand. Daneben liegt ein hellbrauner lederner Brustbeutel mit einer geflochtenen dünnen Kordel aus Garn. Da, wo die Kordel die Löcher im Leder durchzieht, ist sie ganz stumpf. Fährt man mit den Fingern an den beiden Kordelbändern hoch, dann wird das Garn auf einmal ganz weich, und dort, wo die beiden Enden zu einem Knoten zusammengebunden sind, dort also, wo die Kordel am Hals liegt, wenn man den Brustbeutel trägt, glänzt sie noch ein bisschen weiß und weinrot. Hebt man die kleine, schon ganz blass gewordene Lasche des Brustbeutels hoch, sieht man einen Namen, der mit türkisfarbener Tinte in Schreibschrift auf dem rauen Innenleder steht: Crott.

Neben dem Emailletopf und dem Brustbeutel liegt eine Armbinde aus Stoff, beige mit rotem Rand und schwarzem Aufdruck »K. L. Terezín«.

Abbildung 1

An diesem Nachmittag erfahre ich, dass meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, Jüdin war. Dass sie einen Judenstern tragen musste und die Nationalsozialisten sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert haben. Ich erfahre, dass mein Großvater seine Stelle bei der Reichsbahn verloren hat, weil er sich nicht von seiner jüdischen Ehefrau Carola scheiden lassen wollte. Ich erfahre, dass mein Vater als »Halbjude« aus dem Sportverein geworfen wurde und dass er nur unter großen Schwierigkeiten studieren konnte. Ich erfahre, dass meine Großtante Henriette in einem Konzentrationslager umgebracht wurde.

Meine Mutter erzählt mir all das gegen den erklärten Willen meines Vaters. Als sie darauf drängte, dass mir auch die dunklen Kapitel der Familiengeschichte nicht länger vorenthalten werden, soll mein Vater sehr wütend geworden sein. Er wollte jene Zeit nicht mehr zum Thema machen.

Ich habe damals die Haltung meines Vaters nicht ganz verstanden, aber ich habe sie respektiert. Vor allem aber tat ich, um was meine Mutter mich bat: Erzähl es niemandem! Daran habe ich mich gehalten. Vielleicht ahnte ich, dass mir so Enttäuschungen erspart bleiben sollten. Mein Schweigen sollte mich vor Verletzungen bewahren. Und deshalb schien es mir am besten zu sein, wenn ich mich einfach mit dem, was ich von meiner Mutter erfahren hatte, nicht weiter beschäftigte.

Ich weiß heute, dass es vielen Töchtern und Söhnen deutscher Juden und »Halbjuden« so ergangen ist. Auch ihre Mütter oder Väter haben nichts von ihrem Leid, ihrer Verfolgung und dem Tod ihrer Angehörigen in den Konzentrationslagern erzählt, weil die Angst auch nach 1945 noch immer da war. Und wohl auch jene Scham, die mir eigentlich unbegreiflich wäre, hätte ich sie nicht selbst in mir gespürt.

Es ist an der Zeit, dass diese Geschichte erzählt wird. Ich konnte ihr freilich erst zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters nachgehen.

Randi Crott, im Dezember 2011

Abbildung 2

Reise an den Anfang

Juni 2009

Den schwarzen Rucksack mit dem roten Rand habe ich ins Gepäckfach über meinem Sitz gelegt. In dem Rucksack befindet sich, sorgfältig eingewickelt in zwei Handtücher, eine Urne. Es ist die Urne mit der Asche von Helmut Crott, meinem Vater.

30 Minuten nach dem Start meldet sich eine Stimme aus dem Cockpit, aber das Rauschen des Lautsprechers lässt mich die Ansage nur in Bruchstücken verstehen: »Her er flykaptein Hansen … vil lande planmessig … ønsker dere en behagelig flytur.«

Meine Mutter und ich sind unterwegs nach Nordnorwegen. Der Flug ist ruhig, und tief unten zieht unter weißen Wolkenfetzen jene Landschaft vorbei, deren Schönheit eigentlich zu groß für Menschen ist. Das blaue Meer scheint mit der langen zerklüfteten Küste zu spielen, und wie immer, wenn ich diesen Anblick genieße, fühle ich so etwas wie Stolz, dass auch ich zu diesem Land gehöre. Die Maschine ist bis auf den letzten Platz besetzt, und fast alle Passagiere sind Norweger. Das ist eigentlich immer so zwischen Oslo und Evenes. Wie oft bin ich diese Strecke geflogen! Als ich einmal in letzter Sekunde und völlig außer Atem ins Flugzeug stürzte, war die Maschine voll mit norwegischen Soldaten, die mich, weil mein Name offenbar oft genug ausgerufen worden war, fröhlich begrüßten: »Heia, Miss Crott!«

Vorne beginnt die Stewardess mit dem Servieren der Getränke. Die meisten wählen Kaffee, denn Norweger lieben Kaffee und trinken ihn eigentlich rund um die Uhr. Im Sommer auch nach Mitternacht, wenn die Nächte im Norden hell sind und man sowieso nicht ins Bett will.

Während des Fluges schaue ich immer wieder dorthin, wo der schwarze Rucksack mit der Urne liegt. Als ich der Frau am Schalter der SAS in Oslo die Überführungspapiere gezeigt hatte, war ihr warmer Blick für mich fast wie eine Umarmung gewesen.

Meine Mutter sitzt mit geschlossenen Augen neben mir und greift ab und zu nach meiner Hand. Mir tut es weh, dass sie so traurig ist, und ich merke, wie sich ihre Trauer über meine eigene legt.

Wir fliegen nach Harstad, einer Hafenstadt auf Hinnøy, der größten Insel Norwegens, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, denn jetzt gilt es das zu tun, was sich meine Eltern schon vor vielen Jahren gegenseitig versprochen hatten: dass ihre Grabstätte einmal dort sein wird, wo sich das norwegische Mädchen und der deutsche Soldat kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Da war sie 19 und er 28. Wie oft hatten sie in all ihren Ehejahren darüber gesprochen, wer wohl als Erster auf dem Friedhof von Trondenes liegen würde. Nun wird die Asche meines Vaters als Erste ihren Platz unter dem Gras des Friedhofs finden. Genau an der Stelle, die sich die beiden ausgesucht hatten. Von dort geht der Blick weit über das Meer zu den anderen Inseln und zum Festland mit seinen Bergen, die erhaben und unbeugsam aus dem Wasser ragen. Es ist ein Ort, von dem man gar nicht mehr fort will, ein guter Ort, um für immer zu bleiben.

Mein Vater ist vor sieben Monaten, am 7. Dezember 2008, gestorben, aber wir mussten warten, bis der Schnee in Harstad geschmolzen und die Erde nicht mehr gefroren ist.

Fast wäre es mit der ausgesuchten Grabstelle nichts geworden, denn auf dem Friedhof in Trondenes gibt es kaum noch Platz. Aber in der Friedhofsverwaltung hat man sich sehr dafür eingesetzt, dass mein Vater noch eines der letzten Urnengräber bekommt – als einziger Deutscher. Ob es wohl Norweger gibt, die das unpassend finden? Gerade dieses Gelände rund um den Friedhof erinnert so sehr an die deutsche Besatzung vor 70 Jahren. Etwas weiter oben auf der Anhöhe befindet sich immer noch die großkalibrige Adolfkanone. Eigentlich heißt sie ja Barbara, diese größte landgestützte Kanone der Welt, so ist sie jedenfalls 1942 von der deutschen Wehrmacht benannt worden. Aber die Norweger haben einen besseren Namen dafür gefunden.

Unterhalb des Friedhofs steht ein Denkmal für die zu Tode gekommenen russischen Kriegsgefangenen, und 500 Meter weiter liegt das lang gestreckte weiße Gebäude der Folkehøgskole, das 1940 von den Deutschen beschlagnahmt wurde. In diesem Gebäude hat auch mein Vater 1941 als Obergefreiter der Wehrmacht seine erste Unterkunft in Harstad gefunden. Drei ahnungslose Kilometer entfernt von der Frau, mit der er einmal sein Leben teilen würde.

Ohne Hitler und seine Feldzüge gäbe es mich nicht. Welches Gefühl ist für so einen Fall reserviert? Ich bin auf der Welt, weil meine norwegische Mutter sich in einen deutschen Besatzungssoldaten verliebt hat. Aber es gibt noch etwas anderes, das mir lange verschwiegen worden ist.

Ich presse meine Stirn ans Fenster und schaue in den blauen Himmel. Bist du da irgendwo, Paps? Warum hast du nie mit mir darüber geredet, warum hast du mich nicht ins Vertrauen gezogen? Wolltest du nicht, weil alles so weit zurücklag? Oder konntest du nicht, weil es dich immer noch gequält hat? Vielleicht wolltest du deine kleine Tochter ja auch schützen. Vor Hass, Ohnmacht und Wut.

»Es gibt Fragen, auf die die Antwort zu geben unmöglich ist«, sagt der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, »doch ebenso unmöglich ist es, sie nicht zu stellen.«1

Meine Mutter hat schon vor langer Zeit damit begonnen, ihren Teil der Geschichte aufzuschreiben. Eine norwegisch-deutsche Liebesgeschichte, die sich immer so gefühlvoll und spannend erzählen ließ. In der aber, was ich viele Jahre nicht wusste, etwas Wesentliches fehlte.

Im kleinen Oval des Fensters taucht die markante Bergkette der Lofoten auf. Das bedeutet, dass es nicht mehr weit bis Evenes ist. Unsere Maschine senkt sich sanft nach unten. »Vi går nu inn for landing på Harstad-Narvik-Evenes lufthavn. Vi ber dere feste sikkerhetsbeltet og rette opp stolryggene.«

Bitte kommen sie in Zivil!

Harstad, März 1942

John Berthung kann nicht ahnen, was später einmal aus der Einladung werden sollte, die er an diesem Vormittag im März des Jahres 1942 ausspricht. Der Norweger leitet die Druckerei der Zeitung Harstad Tidende, und seitdem die deutsche Wehrmacht die nordnorwegische Stadt Harstad besetzt hält, ist man dort gezwungen, auch Aufträge für die Besatzungsmacht auszuführen. Meist hat John es dabei mit dem deutschen Unteroffizier Robert Teschner zu tun, einem mittelgroßen Mann von Ende zwanzig, der für John mit seinen blonden Haaren und seinen blauen Augen eher wie ein Schwede aussieht. Der Soldat ist ihm fast ein wenig sympathisch, weil er glaubt, hinter der Uniform des Deutschen ein Unbehagen zu spüren.

Die Menschen in Harstad bemühen sich so gut es geht mit der Situation umzugehen, in der sie schon seit zwei Jahren leben müssen. Auch Berthungs Familie versucht das, seine Frau Annie, der 20-jährige John, der als Erstgeborener nach seinem Vater heißt und seit einiger Zeit im südnorwegischen Elverum arbeitet, die 19-jährige Lillian, die 12-jährige Eileen und der 5-jährige Bjørn.

Abbildung 3

Aber oft ist die Stimmung in dem grünen einstöckigen Holzhaus in der Halvdansgate 16 gedrückt, auch deshalb, weil es immer schwieriger wird, genug zu essen auf den Tisch zu bekommen. Dann fährt Annie mit dem Bus hinaus aus der Stadt zu den Bauernhöfen nach Kilhus, Kanebogen oder Kilbotn, um Lebensmittel zu organisieren, denn in den Geschäften gibt es kaum noch Eier, Butter, Gemüse oder Kartoffeln. Lebensmittel sind seit langem rationiert. In diesem dritten Besatzungsjahr wagen sich immer weniger Schiffe mit Nachschub durch das verminte Meer nach Nordnorwegen. Wenn der Schnee geschmolzen ist, fährt Annie mit dem Rad von Hof zu Hof, um das zu besorgen, was zu Hause fehlt: »Ihr müsst genügend Vitamine bekommen«, sagt sie zu Lillian, Eileen und Bjørn, wenn sie nach einem solchen Tag zu Hause ihren Rucksack auspackt. Ihr Mann liebt sie dann noch mehr, als er es sowieso schon tut. Und er bewundert seine zarte Frau für die Kraft und Zähigkeit, mit der sie diese schweren Zeiten meistert.

John, der aus Sandnessjøen, einem kleinen Ort wenige Kilometer südlich des Polarkreises, als junger Buchdruckermeister nach Harstad gekommen war, hatte Annie Anfang 1920 dort kennen- und lieben gelernt, und sie, die aus einer strenggläubigen Baptistenfamilie stammte, hatte in ihrer Zuneigung zu dem großen gutaussehenden Mann einfach ignoriert, dass sie es in John mit einem Freidenker zu tun hatte. Ihre frommen Eltern hatten zudem noch darüber hinweggesehen, dass ihre Tochter diesen Mann am Ende heiraten musste, denn John junior war bereits vor der Hochzeit unterwegs gewesen.

Im Gegensatz zu den Norwegern sind die Soldaten der Wehrmacht gut versorgt. Sie erhalten ihr Essen zum Teil aus der Heimat und bedienen sich außerdem noch großzügig bei den Fischern am Hafen. In der Küche in der Halvdansgate 16 sieht Lillian dagegen wieder, wie verzweifelt ihre Mutter ist, wenn das Brot auch nach zwei Stunden Backzeit innen noch ganz roh aus dem Ofen kommt. »Das liegt an dem feuchten Brotmehl. Jetzt muss ich es noch mal eine Stunde backen.«

Lillian schaut, ob genügend Kohle im weiß emaillierten Kohleofen ist, denn niemand kann sagen, ob am Abend nicht wieder der Strom abgestellt wird. Deshalb muss in diesen Märztagen darauf geachtet werden, dass es, wenn die Elektroöfen ausgehen, warm bleibt. Die Rationierung des Stroms ist auch eine Folge der deutschen Besatzung. Die fremden Bataillone in Harstad benötigen so viel Elektrizität, dass die Stromversorgung der Kommune an ihre Grenzen stößt.

Lillian betrachtet Annie, die das Brot wieder in den Backofen schiebt. Sie hängt sehr an ihrer Mutter. Als kleines Mädchen war sie im Garten immer wieder zu dem Fenster, hinter dem sie ihre Mutter vermutete, gelaufen und hatte gerufen: »Mama, Mama, se på meg og si at du er glad i meg – Mama, Mama, guck mich an und sag, dass du mich lieb hast!« Vielleicht war sie auch getrieben von jener Eifersucht und Verunsicherung, die Kinder oft empfinden, wenn nach sieben Jahren ein weiteres Kind im Haus ankommt, in diesem Falle die süße kleine Eileen, die von allen nur Pus genannt wird. Jetzt, in diesem Frühjahr 1942, ist Pus 12 Jahre alt und sieht mit ihren blonden Locken wie der amerikanische Kinderstar Shirley Temple aus. Pus ist längst, so sehen es jedenfalls die Geschwister Lillian und ihr Bruder mittlerweile mehr oder weniger gelassen, der Liebling des Vaters geworden. Und in den fünfjährigen Bjørn sind sowieso alle vernarrt.

Einmal gelingt es John Berthung, zwei Kaninchen zu ergattern. Das ist eigentlich ein Festtag, aber alle haben Angst, dass der Duft des gebratenen Fleisches nach außen dringt und die Nachbarn misstrauisch macht oder den Soldaten auf der Straße einen Anlass gibt nachzuschauen, ob die Norweger in dem grünen Haus nicht etwa Lebensmittel gehamstert haben, denn das ist bei Androhung hoher Strafe verboten. Verboten haben die Deutschen den Norwegern auch, Radio zu hören. Lillian und die Eltern konnten es gar nicht fassen, als ihr Radiogrammofon mit dem glänzenden Mahagonideckel im Herbst 1940 beschlagnahmt wurde. »Was bilden die sich eigentlich ein, wer sie sind?«, hatte John durch die Lippen gepresst, während er das Gerät auf dem Handwagen festzurrte, um es zu den ebenfalls beschlagnahmten Räumen der Heilsarmee in die Skolegate zu bringen. Dort stapelten sich bereits Hunderte von Radioapparaten. Und Lillian hatte traurig bemerkt: »Jetzt können wir nicht mehr sonntags zusammen die schönen Platten hören.« Im Radioschrank hatte sich auch der Plattenspieler befunden, vor dem sich sonntags die ganze Familie zu versammeln pflegte, um eine der vielen Schallplatten mit klassischer Musik zu hören.

Eines Tages bringt John, als er nach Hause kommt, noch eine weitere Hiobsbotschaft: »Jetzt wollen die Deutschen auch unser Auto haben.«

Auch das müssen sie hinnehmen. Alle Privatautos werden von der Besatzungsmacht beschlagnahmt, auch der Chevrolet der Berthungs. Nur die Mitglieder der Nasjonal Samling dürfen sowohl ihre Radios als auch ihre Autos behalten. Die norwegische faschistische Samling-Partei hat zusammen mit der Gestapo die Augen überall und Harstad fest im Griff. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, und John, Annie, Lillian und Pus können sich kaum vorstellen, dass das so bald ein Ende haben wird. Alle Zeitungen sind längst gleichgeschaltet und überschlagen sich Tag für Tag mit Meldungen über neue Eroberungen von Hitlers Armeen. Die Menschen fühlen sich allein und schutzlos, vor allem seitdem der König das Land verlassen musste und nach England geflüchtet ist.

John Berthung hat sich schon als Buchdruckerlehrling sehr für die deutsche Sprache und Literatur interessiert. Deshalb kann er mit Unteroffizier Robert Teschner in dessen Muttersprache reden. Als Teschner an jenem Vormittag im März 1942 in der Druckerei der Harstad Tidende steht, um einen Auftrag der Wehrmacht zu besprechen, bemerkt der Norweger, dass Teschner eine Trauerbinde am Arm trägt und sehr niedergeschlagen und unglücklich wirkt. »Darf ich fragen, was passiert ist?«, sagt er zu dem Deutschen, und Teschner erzählt, dass seine Frau umgekommen sei. Er habe aber nicht einmal eine Erlaubnis bekommen, zu ihrer Beisetzung in die Heimat zu reisen.

John ist voller Mitgefühl. Ohne weiter darüber nachzudenken, lädt er den Deutschen zu einem Besuch auf seine Hütte ein. »Ich bin dort Ostern mit meiner Familie, aber bitte kommen Sie in Zivil.« Als er merkt, dass Teschner zögert, fügt er noch hinzu: »Wenn Sie nicht allein kommen mögen, bringen Sie doch einen Kameraden mit.«

Am Nachmittag verlässt John die Druckerei, und weil die Märzsonne an diesem Tag schon ein bisschen wärmt, geht er langsamer als sonst nach Hause. Von der Storgate biegt er nach links in die Hvedingsgate ein und stapft jetzt durch den noch sehr hohen Schnee den Berg zur Halvdansgate hoch. Vom Haus der Berthungs hat man einen freien Ausblick über das Meer, und John bleibt für einen Moment vor dem schmiedeeisernen Tor stehen. Er blickt über die Dächer und die Anlegestellen am Kai auf den strahlend blau schimmernden Vågsfjord und die dahinter liegenden schneeweißen Berge des sich nach Norden ziehenden Festlandes. In diesem Augenblick kommt ihm besonders schmerzlich zu Bewusstsein, dass die Deutschen, deren Bücher er so gerne gelesen hat, nun in Uniform gekommen sind und sein Land für sich beanspruchen.

Einige Minuten später sitzt er mit Annie, Lillian, Pus und Bjørn an dem großen ovalen Tisch im Esszimmer. Es ist halb drei, und die Standuhr in der Ecke links vom Fenster schlägt ihren Westminster-Schlag. John mag diesen Klang. Die drei Viertelnoten mit einer punktierten Halben, die jede Viertelstunde in einer anderen Abfolge erklingen. Er und Annie lieben ihr Zuhause, das sie im Laufe der Jahre mit schönen Möbeln stilvoll eingerichtet haben. Über dem Esstisch hängt der Leuchter mit den Kerzen. Auf dem dunklen Eichenbuffet an der Wand stehen links und rechts die beiden großen Bleikristall-Schüsseln, die John vor einigen Jahren eigens aus Böhmen hat kommen lassen. Die Fenster sind eingerahmt von hellen Gardinen aus feiner weißer Spitze.

Annie hat gerade den Kabeljau auf die Teller verteilt, als John von seiner Begegnung mit dem deutschen Unteroffizier erzählt. »Ich habe ihn zu uns auf die Hütte eingeladen, weil ich Mitleid mit ihm hatte.«

»Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?« Annie sieht ihren Mann erstaunt an.

»Nein, vielleicht nicht, aber ich hab es eben gemacht.«

Da wird es auf einmal still am Tisch. Die Frau, die später einmal meine Großmutter sein wird, hofft, dass der Deutsche die Einladung nicht annimmt. Lillian, ihre Tochter, sagt nichts.

Das Vaterland meldet sich in Croydon

Juni 1939

Es regnet an diesem warmen Abend im Juni 1939 in London. Dr. Helmut Crott kommt von der Arbeit nach Hause in seine kleine Wohnung in Croydon. Er ist seit Mai 1939 in der englischen Hauptstadt und von seinem Arbeitgeber, den Vereinigten Stahlwerken Düsseldorf, beauftragt, bei der Londoner Handelsgesellschaft des Unternehmens die Umstellung der Buchhaltung auf ein neuzeitliches Verfahren durchzuführen. Die Stelle hat er nach seinem Jurastudium bekommen. Für einen Berufsanfänger ein großes Glück – die Vereinigten Stahlwerke sind einer der bedeutendsten Konzerne im Reich.

In der Zentrale hat sich Helmut Crott schnell eingearbeitet und bald so gute Fachkenntnisse vorzuweisen, dass sein Unternehmen ihm die wirtschaftliche Überwachung seiner englischen Auslands-Handelsgesellschaft zutraut. Der junge Mann ist darauf nicht wenig stolz, vor allem nach seinen Erfahrungen während der letzten Jahre im Deutschen Reich.

Dr. Crott starrt auf den Brief, den ihm seine Eltern aus Wuppertal nach London nachgesandt haben. Es ist sein Einberufungsbefehl. Das amtliche Schreiben mit dem Hakenkreuz fordert ihn auf, ab dem 18. Juli 1939 an einer sechswöchigen Wehrübung teilzunehmen. Ausgerechnet ihn, der nach den Nürnberger Rassegesetzen als »Halbjude« gilt … Crott schüttelt den Kopf.

Und überhaupt: Ist das schon ein Hinweis für einen bevorstehenden Krieg? Aber selbst wenn es nur bei dieser Übung bliebe, was würde nach den sechs Wochen passieren? Wird er in London weiterarbeiten können? Wäre es nicht besser, er ginge überhaupt nicht nach Deutschland zurück, sondern bliebe einfach hier?

Auf einmal sind alle Sorgen und Ängste wieder ganz präsent. Er hat natürlich mitbekommen, dass in Großbritannien Wehrpflichtige registriert worden sind, obwohl die britischen Streitkräfte bis jetzt eine Freiwilligenarmee waren. Deutet das nicht doch schon darauf hin, dass auch die Engländer sich auf einen Krieg vorbereiten?

Er beschließt, noch am selben Abend mit seinen Eltern zu telefonieren, um sich mit ihnen zu beraten. Aber ihm ist eigentlich schon jetzt klar, dass ein Missachten dieser Einberufung Konsequenzen für die Seinen zu Hause haben wird. Andererseits könnte ein Eintritt in die Wehrmacht doch auch Schutz für ihn und seine Eltern bedeuten. Wird das Vaterland jemandem, den es in seinen Dienst gerufen hat, auf Dauer die Anerkennung der bürgerlichen Rechte verweigern können?

Er hatte sich ja im Mai mit widersprüchlichen Gefühlen von seinen Eltern verabschiedet. Einerseits voller Erwartung und Vorfreude auf die Arbeit und das Leben in London, andererseits in großer Sorge, wie sich die Dinge in Deutschland und seiner Heimatstadt Wuppertal entwickeln würden. Zum Beispiel für seine Tante Tetta, die in einem jüdischen Altersheim in Wuppertal lebt. Tante Tetta, die stets so sorgenvoll fragte, ob er unter den neuen Gesetzen überhaupt sein Studium würde vollenden dürfen, und der er schließlich doch ein Exemplar seiner Dissertation mit der Widmung schenkte konnte: »Meiner lieben und besorgten Tante Tetta zugeeignet.«

Helmut Crott liebt diese Tante sehr. Vielleicht auch deshalb, weil sie eher wie eine Großmutter für ihn ist. Tetta war noch klein, als ihre Mutter starb. Einige Jahre später heiratete der Vater erneut und Carola kam zur Welt. Kurz darauf starb auch seine zweite Ehefrau. So hatte es Henriette übernehmen müssen, die kleine Schwester, von der sie nur Tetta genannt wurde, großzuziehen. Tettas eigenes Leben ist wegen dieser frühen Pflichten für die Familie auf der Strecke geblieben. Wenn Carola nun ihre ältere Schwester regelmäßig zu sich in die Wohnung holt, soll dies auch ein wenig eine Wiedergutmachung für diese Dienste sein.

Helmut Crott tritt ans Fenster und sieht den Leuten auf der Straße zu. Da gehen sie und leben sie – Mr Smith und Ms Smith, Mr Brown und Ms Brown, Mr Miller und Ms Miller, Menschen, für die es keine Rolle spielt, dass sein Vater 1912 ein Mädchen aus jüdischer Familie geheiratet hat. Hier in London ist alles so angenehm normal. Aber wenn er in Wuppertal Tante Tetta aus dem jüdischen Altenheim in der Königstraße abholt, dann muss er sich jedes Mal erst umsehen, bevor er die Stufen zum Eingang hochgeht. Jetzt heißt die Straße auch nicht mehr nach dem König, sondern »Straße der SA«.

Zum Glück heißt die Blumenstraße noch Blumenstraße, doch selbst der kurze Weg zurück zur Wohnung seiner Eltern kommt ihm jedes Mal wie ein Spießrutenlauf vor. Vor allem, weil die Dienststelle der Geheimen Staatspolizei in der Luisenstraße nicht weit ist.

Der Tante geht es ähnlich. Kaum dass die Tür ins Schloss gefallen ist, sinkt Tetta in den Lehnstuhl am Nähtisch und braucht erst einmal ein Glas Wasser.

Von seinem Vater weiß Helmut Crott, dass Tetta nun fast jeden Tag in die Blumenstraße kommt, denn die Wohnverhältnisse im Altenheim sind unerträglich geworden. In einem Haus, das einmal für 23 Bewohner geplant wurde, leben nun 80 Menschen auf engstem Raum zusammen. So sieht es nämlich die Verordnung über »Mietverhältnisse mit Juden« vor:2Jüdische Wohnungs- und Hauseigentümer müssen jüdische Mitbürger bei sich aufnehmen.

Helmut Crott tritt vor den Kleiderschrank und betrachtet sich im Spiegel. Sieht er jüdisch aus? Wie sehen Juden überhaupt aus? Verrät sein Gesicht, dass er eine jüdische Mutter hat? Das fragt er sich nicht zum ersten Mal. Er fragt es sich, seitdem die Angst Bestandteil seines Lebens geworden ist. Nur zu gut erinnert er sich an den Morgen des 10. November im letzten Jahr. Er sitzt im Zug nach Düsseldorf, auf dem Weg in die Vereinigten Stahlwerke A.G., und hört, wie die Leute darüber reden, dass in der Nacht die Wuppertaler Synagoge gebrannt hat, dass die jüdischen Geschäfte in der Berliner- und Herzogstraße geplündert worden sind. Kaum ist er in seinem Büro in der Düsseldorfer Innenstadt angekommen, ruft er seine Eltern an. Carola ist zunächst noch um Fassung bemüht. Doch dann fleht sie ihn an: »Komm heute Abend gleich nach Hause, hörst du, Junge?«

Helmut Crott hat den Gestellungsbefehl noch immer in der Hand. Wenn er an dieser Übung nun tatsächlich teilnimmt, werden sie ihn dann wieder auf eine Liste setzen, so wie damals an der Universität?

Norwegen kämpft um seine Neutralität

Februar – April 1940

Während Lillian ihrem Vater in den Februartagen 1940 dabei hilft, den Schnee vor dem Haus an der Halvdansgate wegzuschippen, bekräftigen die skandinavischen Außenminister auf einer Konferenz in Kopenhagen noch einmal die »absolute Neutralität« von Dänemark, Norwegen und Schweden. Genau die ist nämlich in den Wochen zuvor plötzlich infrage gestellt worden. Zunächst sogar durch die Alliierten, die inzwischen in ein völkerrechtliches Dilemma geraten sind. England und Frankreich sind bei ihren Überlegungen, wie sie unter dem Druck des zu erwartenden Angriffs auf Frankreich die deutsche Kriegswirtschaft empfindlich treffen können, schnell zu dem Schluss gelangt, dass das schwedische Erz aus Kiruna nicht mehr nach Deutschland gelangen darf.

Das Erz ist für Hitlers Rüstungsindustrie von großer Bedeutung. Im Winter geht der Transport nach Emden über den nordnorwegischen Hafen Narvik, der wegen des Golfstroms eisfrei bleibt. Die Briten haben die Norweger darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie gegen diese Erzlieferungen an das Reich vorgehen werden. Außerdem haben sie Norwegen und Schweden um Durchmarscherlaubnis für jene alliierten Truppen gebeten, die Finnland im Krieg gegen die Sowjetunion unterstützen sollen.

Am 30. November 1939 hat der »Winterkrieg« zwischen der Sowjetunion und Finnland begonnen. Es geht um Gebietsansprüche Stalins. Finnland sieht seine Unabhängigkeit durch den mächtigen Nachbarn bedroht. Norwegen und Schweden begrüßen zwar, dass die Alliierten Finnland helfen wollen, verweisen aber auf ihre Neutralität und lehnen einen Durchmarsch fremder Truppen ab. Nach dem 13. März 1940 erübrigt sich die Finnland-Hilfe, weil Finnen und Sowjets einen Waffenstillstand unterschrieben haben.

Die zu verhindernden Erztransporte ins Deutsche Reich stehen aber nach wie vor auf der Tagesordnung der Engländer. Am 28. März beschließt der Oberste Alliierte Kriegsrat in London, von nun an auch die neutralen Hoheitsgewässer Norwegens zu verminen, um »den Transport von schwedischem Eisenerz nach Deutschland zu stören«. Die Briten sind sich bewusst, dass dies eine Verletzung der Neutralität Norwegens bedeutet. Aber Winston Churchill, 1940 noch Marineminister, liefert bereits am 19. Dezember 1939 in einer Denkschrift die moralische Grundlage für ein solches Eingreifen:

Im Namen des Völkerrechts, als tatsächlicher Vertreter der Prinzipien des Völkerbundes haben wir das Recht, ja die Pflicht, vorübergehend die Gültigkeit gerade der Gesetze aufzuheben, denen wir wieder Geltung und Sicherheit verschaffen wollen. Die kleinen Nationen dürfen uns nicht die Hände binden, wenn wir für ihre Rechte und ihre Freiheit kämpfen.3

Churchills Position ist allerdings auch im englischen Kabinett umstritten und zeigt das Dilemma, in dem sich die Alliierten befinden. Das kommt vor allem in einem Schreiben des Foreign Office von Anfang 1940 zum Ausdruck, in dem der norwegischen Regierung mitgeteilt wird,

daß es in der Politik Situationen gebe, in denen das geltende Recht und die Forderungen der allgemeinen Moral nicht mehr übereinstimmten … Die Norweger sollten doch verstehen, daß ein deutscher Sieg das Ende der norwegischen Selbständigkeit bedeute und das Ende jeder nach den Regeln des Völkerrechts geführten Politik.4

Der norwegische Außenminister Halvdan Koht erklärt daraufhin im Osloer Kabinett: »Wir sollten uns nicht so einstellen, dass wir auf der falschen Seite in den Krieg hineingeraten, wenn wir es nicht vermeiden können, hineingezogen zu werden.«5

Am 8. April 1940 erfährt die norwegische Regierung, dass englische Zerstörer innerhalb ihrer Hoheitsgewässer südwestlich von Narvik im Rahmen der »Operation Wilfred« tatsächlich Minen legen. Das bringt sie in eine schwierige Situation, denn die Norweger wollen ihr Land unter allen Umständen neutral halten. Man verfasst eine Protestnote gegen die britische Minenlegung und hat gleichzeitig die Sorge, dass sich die Deutschen durch die britische Aktion provoziert fühlen. Es ist eine brisante Lage, aber dennoch soll die norwegische Armee noch nicht mobilisiert werden.

In Harstad ist die 6. norwegische Division stationiert. Als ihr Kommandeur, Generalmajor Carl Gustav Fleischer, gegen Mittag von seiner Regierung durch ein Telegramm über die Vorgänge an diesem 8. April informiert wird, ordnet er sofort, ohne auf einen expliziten Befehl aus Oslo zu warten, die Mobilmachung aller in Nordnorwegen stationierten Truppen an. General Fleischer ist 1940, so der Historiker Dirk Levsen, »ohne Zweifel der fähigste aller kommandierenden norwegischen Generäle.«6

Kurz vor Mitternacht bekommt der norwegische Admiralstab davon Kenntnis, dass Schiffe unbekannter Nationalität in den Oslo-Fjord eindringen. Zuvor war schon die Meldung eingegangen, dass deutsche Kriegsschiffe Richtung Narvik unterwegs sind.

Premierminister Johan Nygårdsvold ruft daraufhin wieder die Regierung zusammen. Die Minister müssen erfahren, dass deutsche Truppen in Bergen, Trondheim, Narvik und in anderen Hafenstädten an Land gegangen sind.

Um 5.20 Uhr übergibt der deutsche Gesandte Kurt Bräuer dem norwegischen Außenminister Halvdan Koht ein Memorandum, das die norwegische Regierung über die vermeintlichen deutschen Pläne in Kenntnis setzt. Man komme nicht in »feindlicher Absicht«, sondern wolle verhindern, dass England Norwegen zu einem Kriegsschauplatz mache.

Ich zwang mich dazu, kein Wort zu sagen, während er sprach und ich das Ultimatum durchging. Ich redete mir zu: Du darfst dir keinen Schrecken einjagen lassen. Ich begriff von all dem, was ich hörte und las: Dass die Deutschen die Macht in Norwegen haben wollten. Dass Hitler versprach, wir würden nach dem Kriege unsere Selbständigkeit wieder erhalten, konnte keine Wirkung auf mich haben; ich wusste allzu gut, wie viel seine Versprechungen wert waren. Mit einem Nazi-Regime in Verbindung zu stehen, das würde für ein demokratisches Norwegen ganz und gar undenkbar und unmöglich sein.7

Während Bräuer auf eine Antwort wartet, geht Koth in sein Arbeitszimmer, um die dort versammelte Regierung zu informieren. Dann kommt er zurück und sagt: »Wir wollen unsere Selbständigkeit wahren.« Auf den Einwand Bräuers, es würde Kampf geben und es bestünde keine Aussicht auf Rettung, sagt Koth, »der Kampf ist schon im Gange.«

So nimmt der Krieg im Norden seinen Anfang. Trotz des entschiedenen militärischen Widerstandes der Norweger werden innerhalb der nächsten beiden Tage alle wichtigen norwegischen Häfen eingenommen. Gleichzeitig wird das ebenfalls neutrale Dänemark von deutschen Land- und Marinetruppen nahezu kampflos besetzt.

Ab jetzt sprechen wir nur noch Norwegisch

Sommer 1960

Mir wurde immer übel auf den langen Reisen nach Harstad. 3000 Kilometer.

Ich, das Kind hinten auf der Rückbank. Meistens sind wir über Schweden nach Norden gefahren, erst mit dem VW Käfer, dann mit dem Ford und später mit dem hellblauen Mercedes. Insofern wurde es immer komfortabler. Aber ich hasste diese lange Strecke, auf deren erstem Teil die Fahrt mit der Autofähre für mich noch das Spannendste war. Einiges war allerdings merkwürdig. Sobald wir die Fähre hinter uns hatten, stellte mein Vater das Auto immer ein paar Straßen weiter ab, wenn wir in irgendeinem Restaurant essen gehen wollten. Und die Anweisung »Ab jetzt sprechen wir nur noch Norwegisch!« fand ich damals ziemlich komisch.

Auch wenn die Straßen durch Norwegen in viel schlechterem Zustand waren als die Parallelstrecke durch Schweden, machten wir den zweiten Teil der Reise meist über die kurvenreichen, holprigen norwegischen Schotterstraßen. Dafür aber, wie meine Eltern fanden, durch unvergleichliche Landschaften. Keine endlosen Geradeaus-Fahrten durch die immer gleichen schwedischen Wälder.

Oslo, Lillehammer, Steinkjer, Fauske – so hießen die Stationen unserer Strecke, an denen wir übernachteten. Zu der sich verlässlich einstellenden Übelkeit kam später auf den Norwegen-Fahrten bei mir ein Gefühl von Traurigkeit und Einsamkeit dazu. Ich wäre mit 15 doch tausendmal lieber nach Italien oder an die Ostsee gefahren. Dort, wo das Leben war. Und meine Freundinnen aus der Schule. Stattdessen hockte ich 1967 in einem Hotel in einer verlassenen Gegend irgendwo bei Steinkjer, überließ mich einer depressiven Stimmung, dem Kassettenrekorder und Eleanor Rigby von den Beatles.

Abbildung 4

Vorsichtig löse ich ein Bild aus dem Fotoalbum, in das ich mich schon den ganzen Nachmittag vertieft habe, weil ich in eine andere Zeit eintauchen will. Das Bild stammt aus dem Jahr 1960. Das Foto muss am vierten Reisetag aufgenommen worden sein, denn dann hatten wir immer diese besondere Stelle an der Europastraße 6 von Mo i Rana nach Narvik erreicht. Hier, inmitten einer kargen Steinlandschaft, liegt der Polarkreis, und von hier aus ist es nur noch ein Reisetag bis Harstad. Deshalb blicke ich in meiner hellgrauen Hose und meinem roten Anorak wohl auch irgendwie erleichtert in die Kamera. Ich rechne nach: Ja, ich bin acht Jahre alt. Rechts von mir steht mein Vater in einer Blouson-Wildlederjacke, aus der ein Hemdkragen ragt, der genauso grau ist wie seine Haare. Die Hand meines Vaters liegt auf meiner Schulter. Links von uns dieser Sockel aus hellem Stein, darauf das quaderförmige Polarkreis-Denkmal mit dem stilisierten Globus aus dunklem Metall. Die Norweger nennen diese Stelle am 66. Breitengrad »Polarcirkel«, und so steht es auch auf dem Stein. Zusammen mit zwei Jahreszahlen: 1937 und 1940. Zwischen den Ziffern 19 und 40 gibt es einen weißen Fleck. Ich sehe ihn noch ganz deutlich auf der blass gewordenen Fotografie.

Abbildung 5

Heute weiß ich: Hier war einmal ein Hakenkreuz eingeritzt. In einem Buch mit dem Titel »Kampf um Norwegen«, herausgegeben vom Oberkommando der Wehrmacht, schildern Soldaten ihre Erlebnisse in Norwegen 1940:

Steil steigt die Straße durch enge Täler an, bis wir ein Hochplateau erreichen. Weit und breit ist kein Baum oder Strauch zu sehen. An einer Biegung treffen wir auf einen großen Stein, auf dem eine Erdkugel befestigt ist. In der Erdkugel ist der Polarzirkel eingelassen. Es ist ein geschichtlicher Augenblick: Wir überschreiten als deutsche Soldaten den Polarkreis. Einige Jäger haben sofort Hammer und Meißel herangeholt und graben ein großes Hakenkreuz in den Stein.8

Am Tag vor der Ankunft in Harstad war ich immer voller Vorfreude und Aufregung. Ich wusste, morgen, wenn wir endlich in der Halvdansgate ankamen, würden alle da sein: Mein Großvater, Onkel Bjørn, Tante Alfhild, Onkel John, Tante Åshild, Tante Pus, meine Cousine May und Rolv, mein Cousin. Es würde ein Abendessen vorbereitet sein mit köstlichen Schnittchen, belegt mit geräuchertem oder mariniertem Lachs, Kjøttrull aus Rentierfleisch, eingelegtem Sild-Hering, meiner geliebten Leverpostei – Leberwurst – und dem von mir nicht gemochten Geitost – dem braunen Ziegenkäse. Und wie immer würde mich mein Großvater, während die anderen schon redeten und aßen, an die Hand nehmen und mit mir zu dem dunklen Eichenbuffet im Esszimmer gehen, die Schublade öffnen und mir hundert Kronen in die Hand drücken. Dabei würde er auf Deutsch »Das Taschengeld für die nächsten Wochen« sagen und sich zu mir hinunterbeugen. Und ich würde ihn umarmen und sagen: »Tusen takk, kjære Morfar9!«

Hvem er Quisling?

April 1940

Am frühen Morgen des 9. April 1940 tobt ein Unwetter mit heftigem Schneefall und starkem Wind über Harstad. Der Dampfer der Hurtigrute hat angelegt und bleibt länger als üblich am Kai liegen. Lillian ist vom Schneesturm aufgewacht, geht nach unten ins Wohnzimmer und sieht, wie ihre Eltern mit entsetzten Gesichtern vor dem Radio sitzen. »Es ist Krieg, Lillian«, sagt die Mutter mit tonloser Stimme.

Soeben ist durchgegeben worden, dass die Deutschen ohne Kriegserklärung Norwegen angegriffen haben. Über die Hintergründe des Angriffs gibt es zunächst nur Gerüchte: Der deutsche Kreuzer Blücher sei im Oslofjord von Norwegern beschossen und versenkt worden. Viele Soldaten seien dabei umgekommen, aber einige Überlebende hätten sich auf die Ask-Inseln retten können.

Später würde man es genauer wissen: Die Blücher ist in Brand geschossen und torpediert worden, sodass sie um 7.23 auf der Position 59 Grad 42 Min. Nord und 30 Grad 36 Min Ost mit 125 Marinesoldaten und 195 Heeressoldaten an Bord untergeht. Die Ironie dabei: Die Geschütze, die neben den beiden Torpedos den Untergang der Blücher verursachten, sind deutsche 28-cm-Krupp-Kanonen aus Essen und tragen die biblischen Namen Moses, Aron und Joshua.

Die Berthungs sind von den Nachrichten wie gelähmt. Am Tag zuvor hat sie schon die Meldung aufgeschreckt, dass ein deutsches Truppentransportschiff von einem polnischen U-Boot in der Nähe von Lillesand torpediert worden ist. Die Überlebenden haben den Fischern, die sie retten konnten, erzählt, dass sie unterwegs nach Bergen gewesen sind.

Was wollen die Deutschen eigentlich dort? Und was sucht ein polnisches U-Boot in norwegischen Gewässern? Das Radio in der Halvdansgate läuft an diesem 9. April 1940 ununterbrochen, und die Meldungen überschlagen sich: Deutsche Soldaten marschieren durch die Straßen von Oslo, der Flugplatz Sola bei Stavanger liegt unter Beschuss, andere Städte werden ebenfalls bombardiert, die norwegische Regierung, das Parlament und der König befinden sich auf der Flucht nach Hamar.

Auch in Harstad, mehr als eintausend Kilometer nördlich, sind die Fanfaren des Krieges nun zu hören. Vor allem, nachdem jetzt zur allgemeinen Mobilmachung aufgerufen worden ist. Lillian und ihre Eltern erfahren aus den Nachrichten von einer fürchterlichen Seeschlacht bei Narvik, in der Hunderte umgekommen sein sollen. Ein deutscher General namens Dietl soll mit seinen Gebirgsjägern Narvik bereits eingenommen haben, und die norwegischen Panzerschiffe Eidsvoll und Norge sollen im Hafen versenkt worden sein.

Wenig später erklärt ein gewisser Vidkun Quisling im Radio, dass seine Nationale Regierung die Macht übernommen habe und jeglicher Widerstand eingestellt werden solle. »Hvem er Quisling – wer ist Quisling?« Lillian hat den Namen noch nie gehört. John antwortet knapp: »Ein Verräter aus Oslo.«

In den darauf folgenden Stunden kommen Meldungen, dass die Orte Elverum, Åndalsnes und Bodø von deutschen Stukas bombardiert wurden. Norwegische Soldaten kämpften gegen die vorrückenden deutschen Truppen im Süden des Landes. Viele wichtige und strategische Brücken sind gesprengt worden, um zu verhindern, dass der Feind vorrücken kann. Lillian und ihre Eltern hören diese Meldungen mit wachsender Angst. Es ist schließlich Annie, die fragt: »Wann kommen die Alliierten und helfen uns?«

Wie den Berthungs geht es an diesem Tag den meisten Norwegern. Sie sind von dem deutschen Überfall völlig überrascht. Die Norweger hatten zwar nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 befürchtet, dass dies kein Einzelfall bleiben würde, aber sie waren dennoch irgendwie sicher gewesen, dass der Krieg nicht bis zu ihnen in den Norden kommen würde: »Man glaubte ganz einfach, das Land sei eine strategische Peripherie, beschützt von der britischen Seemacht, und sowohl die politischen Behörden als auch die Allgemeinheit waren überzeugt, das Land könne sich, wie es im Ersten Weltkrieg der Fall war, auch aus dem zweiten heraushalten.«10

Meine Suche beginnt

Mai 2010

Die Armbinde, der Essnapf und der Brustbeutel meiner Großmutter aus dem Konzentrationslager Theresienstadt (Terezín) liegen jetzt in meiner Schreibtischschublade. Meine Mutter hat sie mir überlassen. Sie hatte die Gegenstände nach dem Tod von Carola tief versteckt in deren Kleiderschrank gefunden.

Ich besorge mir einen zweiten Schreibtisch und ordne darauf die Bücher, die ich für meine Recherchen besorgt habe, darunter »Jüdische Mischlinge. Rassenpolitik und Verfolgungswahn 1933–1945«, »Hitlers jüdische Soldaten«, oder »Jüdische Studierende an der Universität zu Köln«.

Mein Vater hat Jura und Betriebswirtschaft studiert. In Frankfurt und Heidelberg, und im Wintersemester 1934/35 in Köln. Irgendwo muss ich anfangen, warum nicht in der Nähe, also in Köln. Ich telefoniere mit dem Universitätsarchiv am Albertus-Magnus-Platz. Ja, man will gerne mal nachsehen, ob sich überhaupt etwas zum stud. jur. und stud. rer. pol. Helmut Crott findet.

Eine Woche später stehe ich vor dem Archivar und bekomme den Zugang 28, Band 1 in die Hand gedrückt: »Akten der Universität Köln betr. Zulassung nichtarischer Studenten, Angefangen 1933«.

Auf Seite 89 finde ich die »Liste der im Winter-Semester 1934/35 an der Universität Köln immatrikulierten inländischen Nichtarier«. Die Namen stehen untereinander, ich muss nicht lange suchen, an siebter Stelle steht er, der Name meines Vaters: Crott, Helmut, wiso., Händelstraße 18. Warum nicht mehr Jura, warum »nur« noch wiso., also Betriebswirtschaft?

Und in der Händelstraße hat er also gewohnt. Wie oft sind wir zusammen in Köln gewesen, mein Vater und ich. Aber nie hat er gesagt: Komm, ich zeig dir mal, wo ich in meiner Studienzeit gelebt habe. Und nie hat er irgendetwas aus seiner Studienzeit erzählt. Aber ich habe auch nie danach gefragt. War es eine unausgesprochene Vereinbarung? War es sein Wunsch? Oder habe ich irgendwann nur vergessen, danach zu fragen?

Ich muss kurz die Augen schließen. Im nüchternen Raum des Kölner Universitätsarchivs kommt so eine heiße Wut über mich auf die, die es für richtig gehalten haben, meinen Vater und die anderen Kommilitonen auf diese schändliche Liste zu setzen. Gleichzeitig spüre ich eine große Nähe zu meinem Vater, in dieser Intensität nur vergleichbar mit dem Gefühl, als ich seine Hand während seiner letzten Lebenstage hielt.

Doch da ist noch etwas. Etwas ganz Merkwürdiges. Vorne sitzt der Archivar an seinem Pult und hier hinten sitze ich, Randi C., 58 Jahre, Journalistin, Mutter eines erwachsenen Sohnes, und fühle Scham. Scham, auf einer solchen Liste zu stehen, denn auf diesem vergilbten Papier, auf dieser gottverdammten Liste steht ja mein Name, Crott. Und wären die Nationalsozialisten noch an der Macht, wäre ich die »Vierteljüdin«.

Als ich wieder draußen bin und durch den warmen Kölner Nachmittag zum Auto gehe, denke ich darüber nach, warum ich es mir eigentlich immer so genau überlege, wem ich etwas von meiner Familie erzähle.

Meistens habe ich es ja verschwiegen. Und ich will nicht leugnen, dass dies nicht selten auch aus Vorsicht geschehen ist. Ich beobachte selbst jetzt, bei der Suche nach den Spuren meines Vaters, die Gesichter derjenigen immer sehr genau, denen ich erzähle, um was es bei dieser Geschichte geht.

Wem gehört Norwegen

Dezember 1939

Ein deutsches Kanonenboot ist schon einmal in norwegischen Gewässern aufgetaucht, vor der Jahrhundertwende, 1889, und hat den deutschen Kaiser Wilhelm II. sozusagen als Touristen ins Land der Fjorde gebracht. Es muss Seiner Majestät dort wohl gefallen haben, denn bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs kam der Kaiser jeden Sommer auf der Yacht Hohenzollern an die norwegische Küste und mit ihm auch der deutsche Hochadel.

Ende der dreißiger Jahre macht man in Berlin keine Pläne mehr für Urlaubsreisen nach Norwegen, jetzt will man sich des Landes bemächtigen. Skandinavien hat für die Kriegsführung der Deutschen eine wichtige strategische Bedeutung. Die Besetzung Skandinaviens würde ihnen die Vorherrschaft über Ost- und Nordsee bringen und den Zugang zum Atlantik und zum Nordmeer ermöglichen. Wichtige Trümpfe im Kampf gegen England.

Am Tirpitz-Ufer in Berlin, dem Sitz des Oberkommandos der Marine, ist es vor allem der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Erich Raeder, der von der Notwendigkeit der Okkupation überzeugt ist, um nicht wie im Ersten Weltkrieg in der Deutschen Bucht festzusitzen. Er hat deshalb die Stützpunktfrage schon 1938 und 1939 von seinen Stäben prüfen lassen. Nach Kriegsbeginn im September 1939 sind diese Überlegungen wieder aktuell geworden. Raeder, mittlerweile Großadmiral, erklärt in einer Lagebesprechung am 3. Oktober 1939, es sei notwendig, »den Führer baldmöglichst mit den Überlegungen der SKI (Seekriegsleitung) über die Möglichkeiten zur Ausweitung der Operationsbasis nach Norden vertraut zu machen«11.

In Karl Dönitz, dem Befehlshaber der U-Boote, findet Raeder große Unterstützung, aber Hitler selbst reagiert zunächst zurückhaltend auf solche Gedankenspiele. Für ihn hat die Westoffensive zur Unterwerfung Frankreichs absoluten Vorrang, und er betrachtet andere Unternehmungen als eine gefährliche Verzettelung der Kräfte. Großadmiral Raeder lässt sich die Sache jedoch nicht ausreden und gewinnt die Zustimmung von Generalmajor Alfred Jodl im Oberkommando der Wehrmacht.

Vorläufig jedoch stagniert das Projekt. Am 8. Dezember 1939 versucht Raeder noch einmal, Hitler für eine Besetzung Norwegens zu erwärmen. Doch Hitler reagiert nach wie vor abweisend. Da bekommt Raeder Hilfe von unerwarteter Seite: Der norwegische Ex-Major Quisling, dessen Name später zum Synonym für Landesverrat schlechthin wird, fährt nach Berlin und trifft dort am 11. Dezember Erich Raeder. Nach diesem Gespräch notiert Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg in sein Tagebuch: »Eben mit Raeder gesprochen. Er sagte: Wie ein Wink des Schicksals. Er hält morgen dem Führer Vortrag.«12