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Escape E-Book

David Baldacci

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Beschreibung

Spezialagent John Puller jagt den meistgesuchten
Verbrecher Amerikas – seinen eigenen Bruder


Noch nie ist es einem Gefangenen gelungen, aus Amerikas bestgesichertem Militärgefängnis auszubrechen. Bis jetzt. Der Flüchtling: Robert Puller, Hochverräter und nun meistgesuchter Verbrecher Amerikas. Sein Bruder John ist der beste Spezialagent der Militärpolizei – und wird auf den Fall angesetzt. Widerstrebend nimmt er die Fährte auf, noch immer kann er nicht an die Schuld seines Bruders glauben. Aber bald merkt er, dass er Robert finden muss – damit ihn nicht viel gefährlichere Gegner finden. Es macht die Sache nicht gerade leichter, dass ihm eine attraktive Agentin zugeteilt wird, die ihm helfen soll, aber o ensichtlich ganz eigene Pläne verfolgt. Als sich immer dubiosere Gruppen an der landesweiten Suche nach Robert beteiligen, weiß Puller, dass nicht nur Roberts, sondern auch sein eigenes Leben auf dem Spiel steht.

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DAVID BALDACCI

ESCAPE

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton

 

 

Zum Buch

Es galt als absolut ausbruchsicher: Fort Leavenworth am Ufer des Missouri, das bestgesicherte militärische Hochsicherheitsgefängnis in den Vereinigten Staaten. Bis dem einstigen Shootingstar der US Army, ­Robert »Bobby« Puller, wegen Hochverrats zu lebenslänglich verurteilt, eine abenteuerliche Flucht gelingt. Sein Bruder John, genauso intelligent und gerissen wie Bobby, soll ihn wieder hinter Gitter bringen. Es ist ein Auftrag, den John sehr widerwillig übernimmt, zumal er nicht richtig an die Schuld seines Bruders glaubt. Aber so hofft er wenigstens, dafür sorgen zu können, dass Bobby lebend verhaftet wird.

Es macht die Sache nicht leichter, dass John eine attraktive Agentin zur Seite gestellt wird, die möglicherweise eigene Ziele verfolgt und sich obendrein als genauso clever erweist wie John. Während der Jagd auf Bobby erfährt John endlich die Wahrheit über seinen Bruder. Und ihm wird klar, dass er Bobby so schnell wie möglich finden muss.

Zum Autor

David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New York Times-Bestsellerliste. Mit über 100 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. In seiner neuen Serie um Spezialermittler John Puller sind bereits erschienen: »Zero Day« und »Am Limit«.

Lieferbare Titel

978-3-453-26906-4 - Zero Day

978-3-453-26926-2 - Am Limit

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Escape bei Grand Central Publishing / Hachette Book Group Inc., New York
Copyright © 2014 by Columbus Rose, Ltd. Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/ostill Redaktion: Wolfgang Neuhaus Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-16405-8 V002
www.heyne-verlag.de

 

Zum Andenken an Kate Bailey und Ruth Rockhold.

Man wird euch schmerzlich vermissen.

 

 

1

Das Gefängnis sah aus wie der Campus eines Kleinstadt-Colleges, nicht wie ein Ort, an dem Männer zehn und mehr Jahre wegen Verbrechen einsaßen, die sie in der Uniform der Armee der Vereinigten Staaten begangen hatten. Es gab keine Wachtürme, dafür zwei versetzt stehende, vier Meter hohe Sicherheits­türme, bewaffnete Patrouillen und genug Überwachungskameras, um jeden Millimeter des Geländes im elektronischen Blick zu behalten.

Die United States Disciplinary Barracks befanden sich am nördlichen Ende von Fort Leavenworth, direkt am Ufer des Missouri, auf vierzig bewaldeten Morgen im Hügelland von Kansas – eine Erhebung aus Ziegeln und Stacheldraht, die ein grüner Daumen errichtet hatte. Es war das einzige militärische Hochsicherheitsgefängnis für Männer in den Vereinigten Staaten, bekannt unter der Abkürzung USDB oder kurz »DB«.

Sechs Kilometer südlich des DB befand sich eine Haftanstalt für Zivilisten, eines von drei Gefängnissen auf dem Gelände von Fort Leavenworth. Zusammen mit der Regionalen Justizvollzugsanstalt der Streitkräfte, ebenfalls ein Militärgefängnis, befand sich eine vierte, privat geführte Anstalt in Leavenworth, womit die Gesamtzahl der Insassen aller vier Gefängnisse auf etwa fünftausend Personen stieg. Das Fremdenverkehrsamt von Leavenworth, das offensichtlich jede bekannte Einrichtung in der Gegend touristisch ausschlachten wollte, um Besucher anzulocken, hatte diese außergewöhnliche Ansammlung von Knästen mit dem Slogan »Lebenslang in Leavenworth« in die Werbebroschüren eingeflochten.

Regierungsgelder flossen durch diesen Teil von Kansas, schwappten wie eine Flut aus grünen Papierheuschrecken über die Grenze nach Missouri, kurbelten die lokale Wirtschaft an und füllten die Kassen von Läden, Schnellrestaurants und anderen Etablissements, in denen die Soldaten mit geräucherten Rippchen, kaltem Bier, schnellen Autos und billigen Nutten versorgt wurden.

Im DB saßen ungefähr 450 Häftlinge ein. Die Gefangenen waren in ausbruchsicheren Zellen untergebracht, darunter eine Special Housing Unit oder SHU, eine Isolationshaftzelle. Die Mehrzahl der Insassen war wegen Notzuchtvergehen hier. Sie waren größtenteils jung, ihre Haftstrafen lang.

Im Schnitt befanden sich an jedem beliebigen Tag etwa zehn Häftlinge in Einzelhaft, während die anderen im normalen Trakt untergebracht waren. Es gab keine Gitter an den Türen; sie bestanden aus festem Metall, und am Boden war ein Schlitz eingelassen, durch den die Tabletts mit dem Essen geschoben wurden. Diese Öffnung ermöglichte es obendrein, dem Gefangenen eiserne Fußfesseln anzulegen, wenn er transportiert werden musste.

Im Gegensatz zu anderen Staats- und Bundesgefängnissen wurde im DB Wert auf Disziplin und Respekt gelegt. Es gab keine Machtkämpfe zwischen den Häftlingen und dem Aufsichtspersonal. Hier herrschte das Militärgesetz, und die häufigste Antwort der Gefangenen lautete »Yes, Sir!«, dicht gefolgt von »No, Sir!«, wie auf dem Apellplatz.

Das DB verfügte über einen Trakt mit Todeszellen, in dem zurzeit ein halbes Dutzend verurteilte Mörder saßen, darunter der Fort-Hood-Killer. Außerdem gab es eine Hinrichtungskammer. Nur die Anwälte und Richter konnten entscheiden, ob einer der Bewohner der Todeszellen jemals in Kontakt mit der tödlichen Injektionsnadel kam – und das wahrscheinlich erst nach Jahren und Millionen von Dollar an Anwaltshonoraren.

Der Tag war schon lange in die Nacht übergegangen. Die Lichter einer zivilen Piper Cherokee, die vom nahen Sherman Airfield abhob, waren die einzigen Anzeichen von Aktivität. Es war jetzt still, doch eine düstere Unwetterfront, die sich bereits seit geraumer Zeit zusammenbraute, rückte aus dem Norden heran. Ein weiteres Tiefdrucksystem, das sich in Texas gebildet hatte, donnerte wie ein Güterzug mit defekten Bremsen auf den Mittelwesten zu und würde bald auf seinen nördlichen Gegenpart stoßen, was eine meteorologische Schlacht epischen Ausmaßes zur Folge haben würde.

Die gesamte Region duckte sich bereits in angespannter Erwartung.

Als die beiden zornigen Wetterfronten drei Stunden später aufeinanderstießen, war das Ergebnis ein Sturm von verheerender Wucht, mit schartigen Blitzen, die kreuz und quer den Himmel durchzuckten, Regen wie aus Kübeln und Sturmböen, deren Kraft keine Grenzen zu haben schien.

Die Stromleitungen verabschiedeten sich zuerst; sie wurden von umstürzenden Bäumen wie Bindfäden zerrissen. Dann gaben die Telefonleitungen den Geist auf, ehe weitere Bäume entwurzelt wurden und Straßen blockierten. Der benachbarte Kansas City International Airport war frühzeitig geschlossen worden. Keine Maschine startete oder landete, und der Terminal quoll vor Reisenden über, die das Unwetter aussaßen und Gott im Stillen dankten, dass sie auf festem Boden und nicht hoch oben in diesem Mahlstrom waren.

Im DB machten die Wärter ihre Runden, nippten im Pausenraum an ihrem Kaffee oder unterhielten sich leise und machten belanglosen Small Talk, damit ihre Schicht schneller ­vorüberging. Niemand dachte an den heftigen Sturm, der draußen tobte; sie wähnten sich in dieser Festung aus Stein und Stahl sicher. Das DB war wie ein gigantischer Flugzeugträger, dem eine steife Brise und schwere See zusetzte, ohne ihm etwas anhaben zu können. Nicht gerade angenehm, aber sie würden es problemlos überstehen.

Selbst als die reguläre Stromversorgung ausfiel, nachdem beide Transformatoren des benachbarten Umspannwerks in die Luft geflogen waren und das Gefängnis in vorübergehende Dunkelheit getaucht hatten, war niemand übermäßig besorgt. Der rie­sige Notfallgenerator sprang automatisch an; er war in einer bombensicheren Anlage mit eigener unterirdischer ­Energiequelle aus Naturgas untergebracht, die sich wohl niemals erschöpfen würde. Dieses sekundäre System setzte so schnell ein, dass der kurze Stromausfall nur ein paar flackernde Lampen und blinde Flecken bei den Überwachungskameras und Computermonitoren zur Folge hatte.

Einige Wärter tranken ihren Kaffee aus und tratschten weiter, während andere durch die Gänge stapften und in den Zellentrakten verschwanden, um sich zu vergewissern, dass die Welt des DB in Ordnung war.

Und das war sie – jedenfalls so lange, bis auf einmal ­Totenstille einsetzte, nachdem der angeblich narrensichere Generator mit dem angeblich endlosen Energievorrat in der angeblich bombensicheren Einrichtung ein Geräusch machte wie ein Riese mit Keuchhusten und den Geist aufgab.

Sämtliche Lampen, Kameras und Computerterminals erloschen gleichzeitig. Lediglich ein paar Überwachungskameras waren mit Sicherungsbatterien ausgestattet und arbeiteten deshalb weiter.

Dann wurde die Stille von rauen Schreien und den Geräuschen schneller Schritte vertrieben. Funkgeräte knisterten und ­knackten. Taschenlampen wurden von ihren Halterungen an Ledergürteln gerissen und eingeschaltet, boten aber nur spärliches Licht.

Und dann geschah das Undenkbare: Sämtliche automatischen Zellentüren öffneten sich.

Das sollte nun garnicht passieren. Das System war so ausgelegt, dass die Türen sich automatisch von selbst verriegelten, wenn die Stromversorgung ausfiel, was zwar wenig erfreulich war für die Häftlinge, wenn ein Feuer ausbrach, aber so war es nun mal. Genauer gesagt, so sollte es sein. Doch nun hörten die Wärter im gesamten Gefängnisbau das Klicken von Zellentüren, die sich öffneten. Und dann strömten auch schon Hunderte von Häftlingen auf die Gänge.

Im DB waren keine Schusswaffen erlaubt. Den Wärtern standen lediglich ihre Autorität und Ausbildung zur Verfügung, dazu ihr Verstand und die Fähigkeit, die Stimmung der Insassen zu deuten. Ihre einzige Bewaffnung waren Schlagstöcke, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Nun packten sie diese Schlagstöcke mit Händen, die nass waren vor Schweiß.

Da es beim Militär Regeln für jeden erdenklichen Notfall gab, galt auch für solch einen Fall eine sogenannte SOPS, eine Standardvorgehensweise. Die Army hatte normalerweise zwei Ab­sicherungen für alle kritischen Belange. Im DB galt die Absicherung durch den Generator mit dem natürlichen Gasvorkommen als narrensicher.

Aber die hatte jetzt versagt. Nun fiel es den Wärtern zu, die Ordnung wiederherzustellen. Sie waren die letzte Verteidigungslinie. Das primäre Ziel bestand darin, alle Häftlinge wieder hinter Schloss und Riegel zu bringen. Das sekun­däre Ziel war, die Knackis wieder sicher zu verschließen. Alles andere würde nach jedem militärischen Standard als inakzep­tables Scheitern gelten. Karrieren – und mit ihnen Sterne und Streifen auf Uniformen – würden wie vertrocknete Nadeln von einem Weihnachtsbaum fallen, der Ende Januar noch nicht entsorgt war.

Da es weit mehr Gefangene als Wärter gab, waren einige taktische Überlegungen nötig, wollte man die Knackis wieder sicher wegsperren. Die wichtigste dieser Überlegungen sah vor, dass man sie im großen offenen Zentralbereich zusammentrieb, wo sie sich dann bäuchlings auf den Boden legen mussten. Das schien etwa fünf Minuten lang ganz gut zu klappen. Dann geschah etwas, das die Wachen noch tiefer in die Army-Hand­bücher blicken ließ und dafür sorgte, dass sich mehr als ein Afterschließmuskel – ob nun der eines Wärters oder eines Häftlings – fest ­zusammenzog.

»Schüsse!«, brüllte ein Wärter in sein Funkgerät. »Hier wird geschossen!«

Die Nachricht wurde weitergegeben, bis sie in den Ohren eines jeden Wärters klingelte. Schüsse fielen, und niemand ­wusste, woher sie kamen oder wer sie abgab. Und da kein Wärter über Schusswaffen verfügte, musste einer der Häftlinge sie haben. Vielleicht mehr als nur einer.

Die ohnehin verworrene Lage wuchs sich zum Chaos aus.

Und dann wurde es noch schlimmer.

Das Krachen einer Explosion erklang im Innern von Zellenblock Drei, in dem sich die Isolationshaftzelle befand. Nun geriet die Situation, die sowieso schon an Tumult grenzte, völlig außer Kontrolle. Nur ein überwältigender Aufmarsch bewaffneter Streitkräfte konnte die Ordnung wiederherstellen. Und es gab nur wenige Organisationen auf Erden, die solch einen Aufmarsch besser hinbekamen als die Armee der Vereinigten Staaten. Besonders, wenn diese Streitmacht sich gleich nebenan in Fort Lea­venworth befand.

Wenige Minuten später preschten sechs grüne Lastwagen der Army durch die Tore der nun stromlosen Zäune des DB, deren Hightech-Systeme zum Aufspüren von Eindringlingen nicht mehr funktionierten. Militärpolizisten in SWAT-Ausrüstung, mit Schilden, schussbereiten Maschinenpistolen und Schrotflinten, strömten aus den Trucks und rückten in das Gefängnis vor. Dank ihrer Nachtsichtbrillen der neuesten Generation hatten die Männer klare Sicht; die Dunkelheit im Gefängnis wirkte für sie so hell und klar wie ein Xbox-Spiel.

Die Häftlinge gaben sofort auf. Wer noch stand, warf sich auf den Bauch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Gefangenen wussten, dass sie gegen hervorragend ausgebildete Soldaten, die auf einen Kriegsfall eingerichtet waren, keine Chance hatten.

Die Ordnung wurde wiederhergestellt.

Ingenieuren der Army gelang es schließlich, die Stromversorgung wiederherzustellen. Die Lampen flammten wieder auf, die Türen konnten wieder verriegelt werden. Mittlerweile hatten die Militärpolizisten von Fort Leavenworth die Einrichtung wieder den Wärtern übergeben und auf demselben Weg verlassen, auf dem sie gekommen waren. Der Gefängniskommandant, ein Colonel, atmete dankbar auf, als die Last der Welt – zumindest die einer Wand, die plötzlich zwischen ihm und seiner nächsten Beförderung errichtet worden war – von seinen Schultern genommen wurde.

Gefangene schlurften zurück in ihre Zellen, dann wurden sie durchgezählt.

Die Liste der Häftlinge, deren Anwesenheit festgestellt wurde, wurde mit der offiziellen Liste der Insassen verglichen.

Anfangs stimmten die Zahlen überein.

Anfangs.

Doch bei einer weiteren Überprüfung stellte sich heraus, dass dem nicht so war.

Ein Häftling fehlte. Nur einer, aber ein wichtiger. Er verbüßte hier eine lebenslange Haftstrafe. Nicht weil er einen ungeliebten Vorgesetzten getötet oder andere Mitmenschen ermordet hatte. Oder weil er jemanden vergewaltigt oder aufgeschlitzt oder etwas in Brand gesetzt oder in die Luft gesprengt hatte. Der Mann saß nicht einmal im Todestrakt. Er war hier, weil er ein Verräter war. Er hatte sein Land in Belangen der nationalen Sicherheit hintergangen – ein Begriff, bei dem jeder aufhorchte und über die Schulter blickte.

Noch unerklärlicher war, dass auf der Pritsche in der Zelle des vermissten Gefangenen ein anderer lag – ein noch nicht identifizierter Toter, der mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt unter dem Laken ruhte. Das war der Grund, weshalb die ursprüngliche Zählung die richtige Anzahl an Insassen ergeben hatte.

Das Gefängnispersonal durchsuchte jeden noch so kleinen Winkel des DB, einschließlich der Luftschächte und aller anderen noch so kleinen Spalten, die ihnen auf die Schnelle einfielen. Anschließend suchten sie außerhalb des Gefängnisbaues im allmählich abflauenden Sturm, rückten methodisch in Kolonnen vor und drehten jeden Stein um.

Aber dieses winzige Fleckchen der schweren, guten Böden von Kansas brachte nicht hervor, was sie suchten.

Der Häftling war verschwunden. Niemand konnte erklären, wie das geschehen konnte. Niemand vermochte zu sagen, wie der Tote auf die Pritsche gekommen war. Niemand konnte sich auch nur den kleinsten Reim auf die Sache machen.

Es gab nur eine offensichtliche Tatsache: Robert Puller, ehemals Major der United States Air Force und Experte für Atomwaffen und Cybersicherheit – darüber hinaus Sohn eines der berühmtesten Angehörigen der Streitkräfte überhaupt, des nun im Ruhestand befindlichen Generals John Puller senior –, war aus der ausbruchsicheren Haftanstalt entkommen.

Und er hatte einen unbekannten Toten an seiner Stelle zurückgelassen, was noch unerklärlicher war als die Frage, wie Puller den Ausbruch bewerkstelligt hatte.

Nachdem man den Gefängniskommandanten über diese scheinbare Unmöglichkeit informiert hatte, die trotzdem nackte Realität geworden war, griff er nach dem sicheren Telefon in seinem Büro und verabschiedete sich dabei gleichzeitig von seiner vielversprechenden Karriere.

 

 

2

John Puller richtete seine M11-Pistole auf den Kopf des Mannes.

Eine allseits beliebte Beretta 92 – beim Militär als M9A1 bekannt – war seinerseits auf John Puller gerichtet.

Es war ein Duell des 21. Jahrhunderts, das keinen Sieger haben konnte, nur zwei tote Verlierer.

»Ich lasse mir das nicht in die Schuhe schieben!«, tobte Private Tony Rogers. Er war ein Schwarzer Mitte zwanzig, dessen Unterarme Tätowierungen der drei Asteroiden auf dem »Terrible ­Towel« zierten, dem »Schrecklichen Handtuch«, Symbol des Footballteams der Pittsburgh Steelers. Rogers war eins fünfundsiebzig groß, sein Schädel rasiert, seine Schultern breit und massig, seine Arme und Beine die eines Schwerathleten mit klar defi­nierten Muskeln. Ein Körper, der so gar nicht zur hohen Stimme seines Besitzers passte.

Puller trug eine Khakihose und einen marineblauen Anorak, auf dessen Rücken die goldenen Buchstaben »CID« prangten – die gebräuchliche Abkürzung für »Criminal Investigation Division«, die Militärstrafverfolgungsbehörde der Army, für die Puller als Spezialagent arbeitete. Rogers war mit seinem Army-Kampfanzug, schweren Stiefeln und einem Armee-T-Shirt bekleidet, dazu trug er eine Dienstmütze. Er schwitzte, obwohl die Luft kühl war. Puller schwitzte nicht. Sein Blick war ruhig und wich keine Sekunde von Rogers’ Gesicht. Er wollte Ruhe ausstrahlen in der Hoffnung, dass sie auf den Private übergriff.

Die beiden Männer standen sich in einer Gasse hinter einer Bar am Stadtrand von Lawton, Oklahoma, gegenüber. John Puller war in seiner Eigenschaft als Agent der CID hier und versuchte, Rogers, den vermeintlichen Mörder, zu verhaften, der dieselbe Uniform trug wie er selbst und nun seine von der Army ausgegebene Faustfeuerwaffe auf ihn richtete.

»Dann erzählen Sie mir Ihre Version der Geschichte«, verlangte Puller.

»Ich hab niemand erschossen! Kapieren Sie das nicht? Wenn Sie behaupten, ich hätte jemand umgelegt, haben Sie sie nicht mehr alle, Mann!«

»Ich behaupte gar nichts. Ich bin nur hier, weil das mein Job ist. Schön für Sie, wenn die Anklage nicht zutrifft. Verteidigen Sie sich.«

»Was? Wovon reden Sie?«

»Davon, dass Sie sich einen cleveren Anwalt nehmen, der Ihre Verteidigung übernimmt, und vielleicht vom Haken kommen. Ich kenne ein paar gute Juristen und könnte Ihnen einen empfehlen. Aber was Sie jetzt tun, hilft Ihnen nicht weiter. Also lassen Sie die Waffe fallen, und wir vergessen, dass Sie weggelaufen sind und die Pistole auf mich gerichtet haben.«

»Blödsinn!«

»Ich habe einen Haftbefehl gegen Sie, Rogers. Ich tue nur meinen Job. Lassen Sie mich die Sache friedlich zu Ende bringen. Sie wollen doch nicht in einer schäbigen Gasse in Lawton, Okla­homa, sterben. Und ich will es auch nicht.«

»Die werden mich lebenslang wegsperren! Ich muss meine Mommy unterstützen …«

»Ihre Mommy würde auch nicht wollen, dass es so endet. Sie kriegen Ihre Chance vor Gericht. Man wird sich Ihre Version der Geschichte anhören. Sie können Ihre Mutter als Leumundszeugin aufrufen. Lassen Sie das Rechtssystem seine Arbeit tun.« Puller sprach mit gleichmäßiger, beruhigender Stimme.

Rogers musterte ihn argwöhnisch. »Warum gehen Sie mir nicht einfach aus dem Weg, damit ich aus dieser Gasse rauskann? Und aus der dämlichen Army gleich mit.«

»Wir beide tragen dieselbe Uniform. Ich kann versuchen, Ihnen zu helfen, Private. Aber ich kann nicht einfach davon­gehen.«

»Ich leg Sie um, Mann. Ich schwör’s, ich leg Sie um!«

»Trotzdem gehe ich nicht einfach.«

»Ich schieße nicht daneben! Ich hab die besten Bewertungen auf dem beschissenen Schießstand!«

»Wenn Sie schießen, schieße ich auch. Dann sterben wir beide. Aber es wäre dumm, es so enden zu lassen. Ich weiß, Sie sehen das ein.«

»Dann rufen wir einfach einen Waffenstillstand aus, und Sie hauen ab, okay?«

Puller schüttelte den Kopf, während sein Blick und die Pistole auf Rogers gerichtet blieben. »Das kann ich nicht tun.«

»Warum nicht, verdammt?«

»Sie sind bei der Artillerie, Rogers. Sie müssen eine Aufgabe erfüllen. Es hat die Army eine Menge Zeit und Geld gekostet, Sie dafür auszubilden, oder?«

»Ja, und?«

»Und das ist mein Job. In meinem Job gehe ich nicht einfach weg. Ich will Sie nicht erschießen, und ich glaube nicht, dass Sie mich erschießen wollen. Also lassen Sie die Waffe fallen. Das ist die einzig richtige Entscheidung, und das wissen Sie.«

Puller hatte den Mann in der Bar aufgespürt, nachdem er mehr als genug Beweise gefunden hatte, um ihn für lange Zeit ins Gefängnis zu bringen. Doch Rogers hatte Puller entdeckt und war geflohen. Die Flucht hatte in dieser Gasse ihr Ende gefunden. Es gab keinen anderen Weg hinaus als den, durch den die beiden Männer hineingekommen waren.

Rogers schüttelte den Kopf. »Dann werden wir sterben, Sie und ich.«

»So muss es nicht enden, Soldat«, gab Puller zurück. »Benutzen Sie Ihren Verstand. Entweder der sichere Tod oder eine Gerichtsverhandlung, bei der Sie zu einer Haftstrafe im Militärgefängnis verurteilt werden. Vielleicht spazieren Sie sogar als freier Mann davon. Was hört sich für Sie besser an? Was würde sich für Ihre Mommy besser anhören?«

Das schien bei Rogers eine Saite zum Schwingen zu bringen. Er blinzelte. »Haben Sie Familie?«

»Ja. Und ich würde sie gerne wiedersehen. Erzählen Sie mir von Ihrer Familie, Rogers.«

Rogers fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »Mommy, zwei Brüder und drei Schwestern. Alle in Pittsburgh. Wir sind Steelers-Fans«, fügte er stolz hinzu. »Mein Dad war im Stadion, als Franco 1972 diesen wahnsinnigen Spielzug gemacht hat.«

»Lassen Sie die Waffe fallen, und Sie können sich noch viele Spiele anschauen.«

»Sie hören mir nicht zu, verdammt! Ich lasse mir das nicht in die Schuhe schieben! Der Typ hat die Waffe gezogen und auf mich gerichtet. Es war Selbstverteidigung!«

»Dann sagen Sie das vor dem Kriegsgericht. Möglicherweise verlassen Sie die Verhandlung als freier Mann.«

»So wird es nicht kommen, das wissen Sie genau.« Rogers hielt inne und musterte Puller. »Sie haben Beweise gegen mich, oder Sie wären nicht hier. Sie wissen von den verdammten Drogen, oder?«

»Meine Aufgabe besteht nicht darin, ein Urteil zu sprechen, sondern Sie festzunehmen.«

»Wir sind hier am Arsch der Welt, Mann! Ich brauche ein bisschen Stoff, um klarzukommen. Ich bin Stadtmensch. Ich mag keine Kühe. Da bin ich nicht der Einzige.«

»Sie haben eine gute Dienstakte, Rogers. Das wird Ihnen helfen. Und wenn es Selbstverteidigung war und die Geschworenen glauben Ihnen, spazieren Sie als freier Mann davon.«

Rogers schüttelte starrsinnig den Kopf. »Ich bin am Arsch, Mann. Sie wissen das, und ich weiß es.«

Puller fiel eine Möglichkeit ein, wie er die Situation entschärfen konnte. »Verraten Sie mir was, Rogers. Wie viele Drinks hatten Sie in der Bar?«

»Was?«

»Wie viele Drinks?«

Rogers Hand krampfte sich um die Pistole, während ein Schweißtropfen seine linke Wange hinunterrann. »Zwei große Bier und ein paar Whisky zum Runterspülen. Verdammt noch mal«, brüllte er plötzlich los, »was spielt das für ’ne Rolle? Willst du mich verscheißern, Blödmann?«

»Ich will Sie nicht verscheißern. Ich versuche nur, Ihnen etwas zu erklären. Hören Sie sich an, was ich zu sagen habe. Es ist wichtig für Sie.«

Puller wartete darauf, dass der Mann antwortete. Er wollte ­Rogers beschäftigen, ihn zum Nachdenken bewegen. Menschen, die nachdachten, drückten selten ab. Es waren die Heißsporne, die den Abzug betätigten.

»Na gut. Also?«

»Sie haben eine ganze Menge Fusel intus.«

»Scheiße, ich kann doppelt so viel saufen und noch immer einen Paladin fahren.«

»Ich spreche nicht davon, einen Paladin zu fahren.«

»Wovon dann?«

»Ich würde sagen, Sie wiegen um die fünfundsiebzig Kilo«, fuhr Puller ruhig fort. »Selbst bei Ihrer Adrenalinspitze haben Sie schätzungsweise ein Promille im Blut, mit den paar Whisky noch mehr. Deshalb sind Sie aus rechtlicher Sicht zu betrunken, um noch Moped zu fahren, ganz zu schweigen von einer siebenundzwanzig Tonnen schweren Panzerhaubitze.«

»Verdammt, worauf wollen Sie hinaus?«

»Alkohol beeinträchtigt die Feinmotorik, die nötig ist, um mit einer Waffe zu zielen und sie richtig abzufeuern. Bei vermutlich mehr als ein Promille wie bei Ihnen sprechen wir von einer ernsten Verschlechterung der feinmotorischen Fähigkeiten.«

»Ich werde Sie aus drei Meter Entfernung bestimmt nicht verfehlen.«

»Sie werden überrascht sein, Rogers. Meiner Berechnung zufolge haben Sie fünfundzwanzig Prozent Ihrer normalen fein­motorischen Fähigkeit eingebüßt. Ich nicht. Also bitte ich Sie noch einmal, Ihre Waffe fallen zu lassen, weil eine Minderung von fünfundzwanzig Prozent ziemlich sicher gewährleistet, dass diese Sache hier nicht gut für Sie endet.«

Rogers feuerte und rief gleichzeitig: »Leck mi…«

Er konnte das Wort nicht mehr ganz aussprechen.

 

 

3

John Puller stellte seinen Seesack auf den Boden seines Schlafzimmers, nahm die Mütze ab, wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Nase und ließ sich aufs Bett fallen. Er war gerade von der Ermittlung in Fort Sill zurückgekehrt – mit dem Ergebnis, dass er Private Rogers in der Gasse gestellt hatte.

Als Rogers trotz Pullers Aufforderung, sich zu ergeben, den Abzug seiner Armeepistole betätigt hatte, war Puller einen Schritt nach rechts getreten, hatte die Silhouette seines Ziels aber im ­Auge behalten und gleichzeitig abgedrückt. Er hatte nicht gesehen, dass Rogers gefeuert hatte. Es war der Blick in den Augen des Mannes gewesen – und der Fluch, der ihm über die Lippen gekommen war. Da die Kugel aus der M11 Rogers getroffen hatte, hatte er diesen Fluch nicht beenden können. Rogers war seinem Wort treu geblieben: Er hatte die Gasse nicht kampflos verlassen. Irgendwie musste Puller ihn dafür bewundern. Der Mann war kein Feigling, auch wenn vielleicht nur Jim Beam aus ihm gesprochen hatte.

Rogers’ Kugel war in die Backsteinwand hinter Puller geschlagen. Die Wucht des Aufpralls löste einen Ziegelsplitter, der herausgeschleudert wurde und ein Loch in Pullers Ärmel bohrte, ihn aber nicht verletzte. Uniformen konnte man mit einem Faden ausbessern, Haut und Fleisch ebenfalls, aber Puller war ein Loch in der Uniform lieber als ein Loch im Arm.

Er hätte Rogers mit einem Kopfschuss erledigen können, aber so ernst die Lage auch gewesen war – Puller hatte sich schon in viel schlimmeren Situationen befunden. Deshalb hatte er seine Waffe nach unten gerichtet und dem Private ins rechte Bein geschossen, direkt über dem Knie. Bei Schüssen in den Oberkörper bestand die Gefahr, dass der Getroffene das Feuer erwiderte, weil solche Treffer manche Gegner nicht gänzlich kampfunfähig machten. Schüsse ins Knie jedoch verwandelten selbst die härtesten Männer in schreiende Babys. Rogers hatte seine Waffe fallen lassen, war kreischend zu Boden gestürzt und hatte sein verletztes Bein umklammert. Wahrscheinlich würde er längere Zeit nur humpeln können, aber wenigstens würde er leben.

Puller hatte ihm einen Verband angelegt und einen Rettungswagen gerufen. Dann war er mit dem Verletzten ins Armeekrankenhaus gefahren und hatte sogar zugelassen, dass Rogers versuchte, ihm die Hand zu zerquetschen, als der Schmerz zu stark wurde. Im Krankenhaus hatte er den erforderlichen Berg an Formularen ausgefüllt und jede Menge Fragen beantwortet, ehe er in eine Transportmaschine des Militärs gestiegen und nach Hause geflogen war.

Dem Mann, den Rogers auf offener Straße erschossen hatte, nachdem ein Drogendeal schiefgelaufen war, war nun ein Anschein von Gerechtigkeit zuteilgeworden. Und Familie Rogers aus Pittsburgh konnte nun einen Sohn und Bruder im Knast besuchen. Und die Steelers hatten noch immer einen Fan, der ihnen zujubeln konnte, wenn auch aus dem Militärknast.

Es hätte nicht passieren sollen, aber es war passiert. Puller wusste, wenn es hieß: Entweder ich oder der andere. Trotzdem zog er es vor, jemandem Handschellen anzulegen, statt den Abzug zu betätigen. Und auf einen anderen Soldaten zu schießen, ob er nun ein Verbrecher war oder nicht, behagte ihm erst recht nicht.

Alles in allem ein beschissener Tag, lautete Pullers Fazit.

Jetzt brauchte er erst einmal Schlaf. Ein paar Stunden würden ihm genügen. Dann würde er seinen Dienst wieder aufnehmen. Als Agent der Militärstrafverfolgungsbehörde hatte man nie richtig frei, auch wenn er in den nächsten Tagen an einen Schreibtisch verbannt werden würde, während eine interne Untersuchung darüber befand, ob sein Einsatz extremer Gewalt in der Gasse in Lawton, Oklahoma, angemessen gewesen war oder nicht. Anschließend aber würde er dorthin gehen, wohin man ihn schickte. Das Verbrechen hielt sich nicht an einen Orts- oder Zeitplan, zumindest nicht seines Wissens nach. Deshalb hatte er in der Army niemals eine Stechuhr gedrückt, denn solch ein Einsatz ließ sich nicht auf die normale Bürozeit beschränken.

Puller hatte kaum die Augen geschlossen, als sein Telefon summte. Er blickte auf das Display und stöhnte leise. Es war sein alter Herr. Genauer gesagt das Krankenhaus, das wegen seines Vaters anrief.

Er ließ das Telefon aufs Bett fallen und schloss erneut die Augen. Später, morgen oder übermorgen, würde er sich mit dem General befassen. Nicht jetzt. Jetzt wollte er nur schlafen.

Das Telefon summte erneut. Es war das Krankenhaus. Schon wieder. Puller ging nicht ran, und das Telefon verstummte endlich.

Und fing sofort wieder an.

Diese Arschlöcher geben einfach nicht auf.

Dann überschlugen sich Pullers Gedanken. Vielleicht hatte sein Vater … Aber nein, sein alter Herr war zu stur, um zu sterben. Er würde seine beiden Söhne wahrscheinlich überleben.

Puller setzte sich auf, griff nach dem Telefon und stutzte.

Auf dem Display wurde eine andere Nummer angezeigt, nicht die des Krankenhauses.

Es war sein befehlshabender Offizier, Don White.

»Ja, Sir?«, meldete er sich.

»Puller, wir haben ein heikles Problem. Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört.«

Puller blinzelte und brachte die ominöse Aussage seines CO mit den Anrufen des Krankenhauses in Verbindung. Sein Vater. War er wirklich tot? Das konnte nicht sein. Legenden starben nicht. Sie waren einfach da. Immer.

»Was gehört, Sir?«, fragte er mit trockener, kratziger Stimme. »Ich bin gerade erst aus Fort Sill nach Hause gekommen. Ist es mein Vater?«

»Nein, Ihr Bruder«, sagte White.

»Mein Bruder?«

Robert »Bobby« Puller saß im DB, dem sichersten Militär­gefängnis der USA. Nun richteten Pullers Gedanken sich auf andere Möglichkeiten, was Bobby betraf.

»Ist er verletzt?« Puller fragte sich, wie das sein konnte. Es gab keine Häftlingsaufstände im DB. Andererseits hatte einer der Wärter Bobby einmal zusammengeschlagen – aus Gründen, die er seinem jüngeren Bruder niemals verraten hatte.

»Nein. Es ist ernster.«

Puller atmete tief durch. Ernster?

»Ist er tot?«

»Nein. Anscheinend ist er geflohen.«

Puller atmete noch einmal durch, während sein Verstand diese Aussage zu verarbeiten versuchte. Man entkam nicht aus dem DB. Das wäre so, als würde man mit einem Toyota zum Mond fliegen. »Wie?«

»Das weiß niemand.«

»Sie haben ›anscheinend‹ gesagt. Ist der Sachverhalt irgendwie unklar?«

»Ich sagte ›anscheinend‹, weil das DB genau das zurzeit behauptet. Es ist letzte Nacht passiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Ihren Bruder bislang noch nicht gefunden hat, sollte er noch auf dem Gelände sein. Das DB ist groß, aber so groß nun auch wieder nicht.«

»Wird noch ein anderer Gefangener vermisst?«

»Nein. Aber da ist noch eine Sache, die genauso problematisch ist …«

»Und welche, Sir?«

»Eine noch nicht identifizierte Leiche, die man in der Zelle Ihres Bruders gefunden hat.«

Der erschöpfte Puller konnte diese Worte kaum verarbeiten. Er hätte aber auch nicht viel damit anfangen können, hätte er zehn Stunden Schlaf hinter sich gehabt.

»Eine nicht identifizierte Leiche? Also kein anderer Gefangener oder Wärter?«

»Richtig.«

»Wie genau ist er geflohen?«

»Ein Unwetter hat die Stromversorgung lahmgelegt«, erklärte White, »und dann ist der Notstromgenerator ausgefallen. Vom Fort wurde Verstärkung gerufen, um sicherzustellen, dass es nicht drunter und drüber geht. Die Gefängnisleitung war ­sicher, dass alles in Ordnung ist, bis man die Häftlinge zählte. Einer war verschwunden. Ihr Bruder. Und dann kam noch ein zweiter dazu. Der Tote. Der Staatssekretär für Heeresangelegenheiten hatte angeblich einen Herzanfall, als er darüber informiert wurde.«

Puller hörte nur mit einem Ohr zu. Ihm kam ein anderer beängstigender Gedanke. »Wurde mein Vater informiert?«

»Ich habe ihn jedenfalls nicht angerufen. Aber ich kann nicht für andere sprechen. Ich wollte Sie nur in Kenntnis setzen, so schnell es geht. Man hat auch mich gerade erst informiert.«

»Aber Sie sagten doch, es sei gestern Abend passiert.«

»Das DB posaunt nicht heraus, dass es einen Häftling verloren hat. Es ging durch die üblichen Kanäle. Sie kennen die Army, Puller. Alles braucht seine Zeit, ob man nun einen Hügel erstürmen oder eine Presseerklärung herausgeben will.«

»Aber mein Vater könnte es erfahren haben?«

»Ja.«

»Sir, ich möchte ein paar Tage Urlaub beantragen.«

»Das dachte ich mir schon. Betrachten Sie ihn als gewährt. Sie wollen bestimmt bei Ihrem Vater sein.«

»Ja, Sir«, sagte Puller, obwohl es ihm vor allem darum ging, sich mit dem Dilemma seines Bruders zu befassen. »Ich nehme an, der Fall wurde der CID übertragen.«

»Da bin ich mir nicht sicher, Puller. Ihr Bruder ist bei der Air Force. War bei der Air Force.«

»Aber das DB ist ein Heeresgefängnis. Da gibt es keine Revierkämpfe.«

White schnaubte. »Das ist das Militär, John. Es gibt sogar Revierkämpfe wegen des Männerpissoirs. Und wenn man bedenkt, was für ein Verbrechen Ihr Bruder begangen hat, könnte es in diesem Fall noch ganz andere Interessen und Machtspiele geben, die das übliche Geplänkel zwischen den Waffengattungen um Längen übertreffen.«

Puller wusste, was das bedeutete. »Interessen der nationalen Sicherheit.«

»Und wenn Ihr Bruder frei herumläuft, könnte das eine Menge Reaktionen auslösen.«

»Er kann nicht weit gekommen sein. Das DB liegt mitten in einer militärischen Einrichtung.«

»Es gibt einen Flughafen in der Nähe. Und Autobahnen.«

»Dann bräuchte er falsche Papiere. Eine Transportmöglichkeit. Geld. Eine Verkleidung.«

»Mit anderen Worten«, sagte White, »er hätte Hilfe von außen gebraucht.«

»Glauben Sie, dass er die gehabt hat? Wie sollte das gehen?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber es ist ein beinahe unglaublicher Zufall, wenn in einer Nacht gleichzeitig die Hauptstromversorgung und der Notgenerator ausfallen. Und wie es einem Häftling möglich sein soll, aus einem Hochsicherheitsgefängnis des Militärs zu spazieren … nun, das versetzt einen schon in Erstaunen, oder? Und wie erklären Sie sich, dass ein unbekannter Toter in der Zelle Ihres Bruders lag? Woher kommt die Leiche, verdammt?«

»Hat man schon die Todesursache ermittelt?«

»Falls ja, hat man es mir nicht mitgeteilt.«

»Glaubt die Gefängnisleitung, dass Bobby … dass mein Bruder den Mann getötet hat?«

»Ich habe keine Ahnung, welche diesbezüglichen Theorien es gibt.«

»Was meinen Sie, Sir? Hatte Robert Hilfe von innerhalb und außerhalb des Gefängnisses?«

»Sie sind der Ermittler, Puller. Was glauben Sie?«

»Keine Ahnung. Es ist nicht mein Fall.«

Don Whites Stimme wurde nachdrücklicher. »Und es wird nie Ihr Fall sein. Halten Sie sich während Ihres Urlaubs von diesem verdammten Schlamassel fern. Mir reicht ein Puller, der Probleme bis zum Stehkragen hat. Haben Sie verstanden?«

»Ich habe verstanden«, antwortete Puller, fügte aber in Gedanken hinzu: Ich stimme nur nicht mit dir überein.

Er beendete das Gespräch und beobachtete, wie sein fetter Kater, Unab, ins Zimmer geschlichen kam, aufs Bett sprang und den Kopf an seinem Arm rieb. Puller streichelte das Tier, hob es hoch und drückte es an seine Brust.

Sein Bruder saß seit mehr als zwei Jahren im DB. Nach einem im wahrsten Sinne des Wortes kurzen Prozess war Robert von den Geschworenen, allesamt Offizierskameraden, verurteilt worden. So funktionierte das Militär nun mal. Es vergingen niemals Jahre, wie in manchen Zivilfällen, um einen Fall wie diesen zu verhandeln, und es gab auch keine endlosen Berufungen. Und die Medien hatte man größtenteils am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Für zivile Schickimicki-Anwälte, die mehr Inter­esse an fetten Honoraren und am Verkauf von Buch- und Filmrechten hatten als daran, für Gerechtigkeit zu sorgen, war bei solch einem Prozess kein Platz. Die Uniformträger hatten alles unter sich ausgemacht und die Fronten früh und gründlich geklärt. Natürlich wurde auch schmutzige Wäsche gewaschen, wenn man eine Uniform trug, doch sie wurde niemals auf einer Wäscheleine aufgehängt, damit alle sie sehen und riechen konnten. Stattdessen wurde sie in einer Mülldeponie begraben, die sich als Gefängnis tarnte.

Puller war nicht einmal beim Prozess gewesen, sondern Tausende von Meilen entfernt auf einem CID-Einsatz im Nahen Osten, wo er die Hälfte der Zeit Soldat gespielt und ein Gewehr auf die Feinde der USA gerichtet hatte. Der Army waren seine familiären Probleme gleichgültig. John Puller musste eine Mission ausführen und führte sie aus. Als er in die Staaten zurückkam, saß sein älterer Bruder bereits im Gefängnis, wo er den Rest seines Lebens bleiben würde.

Oder auch nicht, wie es im Moment aussah.

Puller zog sich aus, ging unter die Dusche und ließ das Wasser auf sich herunterprasseln, während er die Stirn gegen die feuchten Wandfliesen drückte. Noch immer ging sein sonst so ruhiger Atem schnell und unregelmäßig.

Er konnte nicht akzeptieren, dass Bobby aus dem Gefängnis geflohen war. Denn dafür gab es nur einen zwingenden Grund: Eine Flucht bedeutete, dass Bobby tatsächlich schuldig war.

Das hatte Puller niemals glauben oder akzeptieren können. Es lag einfach nicht in ihrer DNA. Pullers waren keine Verräter. Sie hatten für ihr Land gekämpft und geblutet und waren dafür gestorben. Sie konnten ihre Herkunft bis in die Zeit ­George Wa­shingtons zurückverfolgen. Corporal Walter Puller war gestorben, als 1863 Picketts Angriff auf Gettysburg abgewehrt wurde. Ein anderer Ahnherr, George Puller, war 1918 in einer englischen Sopwith Camel über Frankreich abgeschossen worden. Er war mit dem Fallschirm abgesprungen und hatte überlebt, starb jedoch vier Jahre später beim Absturz eines Testflugzeugs. Mindestens zwei Dutzend Pullers hatten im Zweiten Weltkrieg bei allen erdenklichen Waffengattungen gekämpft. Viele von ihnen waren nicht in die Heimat zurückgekehrt.

Wir kämpfen für unser Land. Wir verraten es nicht.

Puller drehte das Wasser zu, trocknete sich ab und ging gedanklich noch einmal das Gespräch mit seinem befehlshabenden Offizier durch. Der CO hatte ein gutes Argument vorgebracht. Es war ein unglaublicher Zufall, dass in derselben Nacht sowohl Stromversorgung als auch Notgenerator ausfielen.

Und wie hätte Robert ohne Hilfe entkommen können? Das DB war eines der sichersten Gefängnisse, die man jemals gebaut ­hatte. Noch nie war jemandem die Flucht gelungen. Noch nie.

Und doch hatte sein Bruder es anscheinend geschafft.

Und einen Toten im Kielwasser zurückgelassen, den niemand identifizieren konnte.

Puller zog frische Zivilkleidung an. Nachdem er Unab nach draußen gelassen hatte, damit er im Sonnenschein und an der frischen Luft herumstreunen konnte, ging er zu seinem Wagen.

Nun musste er doch eine Fahrt machen.

Zu einem Ort, den er genauso hasste wie die Schlachtfelder des Nahen Ostens. Aber er musste dorthin. Er konnte sich vorstellen, wie die Laune seines Vaters sein würde, wenn er begriffen hatte, was geschehen war. Wahrscheinlich war nicht einmal George Patton – eine andere militärische Legende, die berüchtigt war für ihre Wutausbrüche – so schlimm gewesen wie John Puller senior, wenn er angepisst war. Dann wurde es für alle, die sich in Hörweite befanden, laut und unangenehm.

Puller stieg in die weiße Limousine, die ihm die Army zur Verfügung gestellt hatte, ließ den Motor an, kurbelte die Fenster her­unter, damit sein kurzes Haar schneller trocknete, und fuhr los.

So hatte er seinen ersten Tag, nachdem er einen anderen Soldaten in einer Gasse niedergeschossen hatte, nicht verbringen wollen. Aber in seiner Welt war nichts vorhersehbar.

Auf dem Weg zu John Puller senior, Drei-Sterne-General im Ruhestand, lächelte er ein wenig verkrampft bei dem Gedanken, dass er jetzt gern die Panzer von Pattons Dritter Armee als Eskorte gehabt hätte. Vielleicht würde er die Panzerung und Feuerkraft dringend brauchen.

 

4

Die verrosteten Scharniere und Zahnräder knirschten protestierend, als das Rolltor des Lagerraums geöffnet wurde.

Der Mann ging hinein, zog das Rolltor hinter sich wieder zu und tauschte die Dunkelheit der Nacht gegen die noch tiefere Finsternis im Innern des Lagerraums. Er streckte die Hand aus, betätigte einen Lichtschalter und erhellte die mit Blechplatten beschlagene Decke und die Wände des drei mal drei Meter großen Raumes.

Zwei Wände waren mit Regalen bedeckt. An der dritten Wand stand ein alter Metallschreibtisch und ein dazu passender Stuhl. Auf den Regalen reihten sich ordentlich verstaute Kartons. Der Mann ging dorthin und überprüfte ihre Beschriftung. Sein Gedächtnis war gut, aber es lag einige Zeit zurück, dass er zum letzten Mal hier gewesen war. Gut zwei Jahre, um genau zu sein.

Robert »Bobby« Puller trug einen Army-Kampfanzug, Stiefel und eine Kappe. Das hatte es ihm möglich gemacht, sich unter die Bevölkerung einer Stadt zu mischen, die von Angehörigen der US Army geprägt wurde. Nun aber musste er sein Äußeres völlig verändern.

Bobby öffnete einen Karton. Er nahm einen Laptop heraus und schloss das Gerät an. Vielleicht würde sich der nach über zwei Jahren hoffnungslos leere Akku wieder aufladen lassen. Wenn nicht, musste er sich einen neuen Laptop beschaffen. Er brauchte ein solches Gerät dringender als eine Waffe.

Bobby öffnete einen anderen Karton, dem er eine Haarschneide­maschine, einen Spiegel, Rasiercreme, ein Handtuch, einen großen verschlossenen Wasserbehälter, eine Schüssel und ein Rasiermesser entnahm. Er setzte sich auf einen Metallstuhl, stellte den Spiegel auf den Schreibtisch, schloss die Haarschneidemaschine an und schaltete sie ein.

Während der nächsten Minuten rasierte er sich das Haar bis auf die Stoppeln. Dann rieb er die Kopfhaut mit Rasiercreme ein, goss das Wasser in eine Schüssel und entfernte die Stoppeln mit der Rasierklinge, wobei er sie regelmäßig ins Wasser tauchte, um sie zu säubern, und dann am Handtuch abwischte.

Er betrachtete das Ergebnis im Spiegel und nickte zufrieden. Mit vollem Haar sah sein Gesicht oval aus. Ohne Haar wirkte es runder. Es war ein feiner, aber wirkungsvoller Unterschied.

Er schob einen Streifen formbares Weichplastik vor die obere Zahnreihe. Das verursachte ein leichtes Ausbauchen und Verbreitern der Haut und Muskeln, als er Mund und Kiefer bewegte und damit Lage und Gestalt der Plastikeinlage so lange verän­derte, bis sie bequem an Ort und Stelle war.

Abgesehen vom Spiegel, der Schüssel Wasser und dem Handtuch legte er alles wieder in den Karton und stellte ihn auf das Regal zurück.

In einem anderen Karton befanden sich Gegenstände eher technischer Natur. Bobby holte sie alle heraus und legte sie ordentlich auf den Schreibtisch wie ein Chirurg seine Instrumente vor der Operation. Er legte sich das Handtuch über Schultern und Brust und skizzierte auf einem Stück Papier, was er vorhatte. Dann trug er Hautkleber auf der Nase auf und tippte leicht mit dem Finger dagegen, damit die Substanz zäh und klebrig wurde. Rasch gab er ein paar winzige Stücke von einem Wattebällchen hinzu, bevor der Klebstoff hart wurde. Mit einem Holzstäbchen nahm er eine kleine Menge Nasenkleber aus einem Tiegel, vermischte ihn mit Hautwachs, rollte den Kleber zwischen Daumen und Zeigfinger zu einem Kügelchen und hielt ihn, damit er wärmer und damit formbarer wurde. Dann trug er ihn auf Teile seiner Nase auf und begutachtete seine Arbeit im Spiegel, zuerst frontal, dann im Profil. Anschließend glättete er den Kleber mit einem wasserlöslichen Gleitmittel. Das Glätten und Formen zog sich in die Länge, aber er war geduldig. Er hatte mehr als zwei Jahre in einer Gefängniszelle verbracht. Da lernte man, sehr viel Geduld zu haben.

Als er mit der Form zufrieden war, benutzte er einen Schwamm, um dem Ganzen Struktur zu verleihen, versiegelte sein Werk und ließ es trocknen. Schließlich legte er auf dem ganzen Gesicht ­Make-up auf, hob Partien hervor, schattierte andere und trug abschließend einen transparenten Puder auf.

Das war’s.

Bobby lehnte sich zurück und betrachtete sich im Spiegel. Die Veränderungen waren subtil, aber der Gesamteindruck war sichtbar anders. Nur wenige Merkmale waren bei einem Menschen auffälliger als die Nase. Bobby hatte dafür gesorgt, dass man ihn nicht mehr erkennen würde.

Nun benutzte er den Hautkleber, um seine normalerweise leicht abstehenden Ohren am Kopf zu befestigen. Er musterte sich erneut, nahm jedes Detail in sich auf, suchte nach einem Fehler oder einer nicht perfekten Veränderung.

Bobby nickte zufrieden. Alles okay.

Er überprüfte die Aufschriften einiger weiterer Kisten, zog eine hervor und öffnete sie. Darin befand sich ein falscher Schnurrbart. Er trug zuerst Hautkleber auf und befestigte dann behutsam den Bart. Dabei beobachtete er sich im Spiegel. Als er fertig war, glättete er die synthetischen Haare mit einem Kamm. Gesichtshaar war beim Militär nicht erlaubt, ob nun für Gefangene oder Soldaten, deshalb war es eine gute Verkleidung.

Er zog Hemd und Unterhemd aus, nahm zwei Folien mit falschen Tätowierungen aus der Kiste, schob eine über jeden Arm, betrachtete erneut das Ergebnis im Spiegel und nickte wieder. Die Tattoos sahen wie echte aus.

Anschließend veränderte er mittels gefärbter Kontaktlinsen seine Augenfarbe und stutzte die Brauen, bis sie dünner und schmaler waren.

Wieder lehnte er sich zurück, betrachtete sich im Spiegel, zuerst frontal, dann im rechten und linken Profil.

Er war sicher, dass nicht einmal sein Bruder ihn erkannt hätte.

Noch einmal ging er im Geiste seine Checkliste durch: Haar, Nase, Ohren, Mund, Schnurrbart, Augen, Tattoos, Brauen. Überprüfen, überprüfen, überprüfen.

Er zog eine weitere Kiste hervor und nahm die Kleidung heraus. In den letzten zwei Jahren hatte er sein Gewicht gehalten, und die Jeans und das kurzärmelige Hemd passten ihm gut. Er setzte sich einen schweißfleckigen Stetson auf den rasierten Kopf, wobei er darauf achtete, die Befestigung der angelegten Ohren nicht zu beschädigen. Dann griff er erneut in den Karton und holte getragene Stiefel mit extra hohen Absätzen hervor, die seine Größe auf knapp eins neunzig erhöhten, womit er so groß war wie sein Bruder John. Schließlich zog er einen Gürtel mit einer sechs Zentimeter großen Schnalle, die einen Cowboy auf einem Bullen darstellte, durch die Schlaufen seiner Jeans und zog ihn fest. Seine Army-Kleidung, die Kappe und die Kampfstiefel legte er in den Karton und stellte ihn dann aufs Regal.

Der dritte Karton enthielt die Dokumente, die er benötigte, um in der Welt außerhalb des Knasts etwas zu bewirken. Ein gültiger Führerschein aus Kansas, zwei Kreditkarten, die jeweils noch ein Jahr lang gültig waren, und tausend Dollar in Scheinen, alles Zwanziger. Und schließlich das Scheckheft eines aktiven Bankkontos, auf dem noch 75 000 Dollar lagen, zuzüglich der Zinsen, die im Lauf der Jahre angefallen waren.

Lange bevor er ins Gefängnis gekommen war, hatte er mehrere Daueraufträge eingerichtet, die er über die Kreditkarten von seinem Konto abbuchen ließ. Auf diese Weise hatte er diesen Lagerraum und andere laufende Kosten bezahlt. Unter seiner falschen Identität hatte er außerdem Geschenke und Geldbeträge an Pflegeheime, Krankenhäuser und Einzelpersonen geschickt, von denen er herausgefunden hatte, dass sie knapp bei Kasse waren. Der Spaß hatte ihn mehrere Tausend Dollar gekostet, aber auf diese Weise hatte er gleichzeitig etwas Gutes tun können. Und er hatte dafür gesorgt, dass Bewegung auf seinen Konten war, die dank der zuverlässigen Zahlungen eine Kreditgeschichte hatten. Andernfalls hätte irgendjemand ein ruhendes Konto bemerken können, das nach mehr als zwei Jahren zu plötzlicher Aktivität erwachte. Und man sah sehr genau hin, das wusste Bobby, denn er war einer derjenigen gewesen, die solche Vorgänge beobachtet hatten.

Er holte die letzten Gegenstände hervor. Eine Neunmillimeter Glock und zwei Schachteln Munition, dann einen M4-Karabiner mit drei Schachteln Munition. Kansas war ein Bundesstaat, in dem man Schusswaffen offen tragen konnte. Das bedeutete, dass man keine Lizenz benötigte, solange die Schusswaffe zu sehen war. Führte man eine Waffe verdeckt mit sich, war allerdings eine Lizenz erforderlich. Aber auch die hatte Bobby, ausgestellt vom Bundesstaat Kansas auf seine fiktive Identität und gültig für weitere achtzehn Monate.

Bobby steckte die Glock in ein Halfter, das er am Gürtel befestigte, und bedeckte es, indem er eine Jeansjacke anzog, die er zuvor aus dem Karton mit den Kleidungsstücken geholt hatte. Er nahm die M4 auseinander und verstaute die Einzelteile in der dafür vorgesehenen Tasche, die er dann in eine Reisetasche ­steckte. Dann legte er eine Uhr an, die er aus demselben Karton geholt hatte, und stellte sie. Schließlich schob er eine Sonnenbrille in seine Jackentasche.

Inzwischen hatte man mit Sicherheit zur Jagd auf ihn geblasen. Und obwohl er nun keine Ähnlichkeit mit seinem früheren Ich mehr hatte, durfte er sich nicht den geringsten Fehler leisten.

Bobby konnte sich vorstellen, welches Chaos jetzt im Gefängnis herrschte. Er wusste nicht genau, wie es zu dem Stromausfall gekommen war, aber ihm war klar, dass er sich einen der glücklichsten Menschen auf diesem Planeten nennen konnte – eine besonders befriedigende Erkenntnis, da Bobby im Laufe der letzten Jahre sehr unglücklich gewesen war. Es machte ihn bei­nahe schwindlig, wie grundlegend sein Schicksal sich gewandelt hatte.

Er hatte eine Gelegenheit beim Schopf gepackt, als sie sich ihm geboten hatte. Nun lag es an ihm, sie bis zu ihrem Abschluss vor­anzutreiben. Doch er ging immer streng logisch vor. Man hatte ihm sogar gesagt, er sei manchmal zu logisch.

Vielleicht stimmte das. Es schien in der Familie zu liegen, denn auch sein Vater hatte diese Eigenschaft. Und John, sein jüngerer Bruder, war in dieser Hinsicht vielleicht der konsequenteste der drei Pullers.

Mein kleiner Bruder John, dachte Bobby. Was würde er von alle­dem halten?

Brüder auf den gegenüberliegenden Seiten einer Zellentür. Und nun Brüder auf unterschiedlichen Seiten.

Kein gutes Gefühl. Jetzt nicht, früher nicht, und sicher auch in Zukunft nicht. Doch im Augenblick konnte Bobby nichts tun, um etwas daran zu ändern.

Er steckte alles weg und wandte sich dem Laptop zu. Zu seiner Freude konnte er ihn hochfahren, obwohl der Akku sich noch auflud. Er zog den Stecker heraus und legte das Gerät in eine Segelt­uchtasche. Aus einem anderen Karton nahm er ein paar weitere ausgewählte Kleidungsstücke und Toilettengegenstände und verstaute sie in der Reisetasche. Dann warf er sich die Tasche über die Schulter, knipste das Licht aus, verließ den Lagerraum, schloss das Rolltor ab und entfernte sich mit schnellen Schritten.

Er ging zu einem Diner, das gerade aufmachte, und folgte zwei Cops ins Innere. Beide wirkten müde; vielleicht kamen sie gerade von der Schicht. Bobby setzte sich an einen Tisch, so weit wie möglich von den beiden entfernt. Dann ging er in Deckung hinter der Speisekarte aus Plastik, die die Kellnerin ihm gab, und bestellte Kaffee, schwarz.

Er wurde in einer angeschlagenen Tasse serviert, doch Bobby trank ihn genüsslich mit langsamen Schlucken. Es war die erste Tasse Kaffee außerhalb des Gefängnisses seit über zwei Jahren – die Zeit, die er vor seinem Prozess vor dem Kriegsgericht in Gewahrsam verbracht hatte, nicht mitgerechnet.

Er genoss den Kaffee in vollen Zügen, studierte dabei die Speisekarte und bestellte dann die Karte rauf und runter. Als sein Frühstück kam, aß er langsam und kostete jeden Bissen aus. Das Essen im DB war passabel, aber wenn man es in einer Gefängniszelle zu sich nahm, nachdem es durch einen Schlitz in der Stahltür durchgeschoben worden war, schmeckte es widerlich.

Bobby aß den letzten Bissen Toast und Speck und trank noch eine Tasse Kaffee. Er hatte so langsam gegessen, dass die Cops ihr Frühstück beendet hatten und gegangen waren. Womit er kein Problem hatte.

Er hätte jedoch darauf verzichten können, dass zwei Militär­polizisten die Plätze der beiden Cops einnahmen, kaum dass sie gegangen waren – genau in dem Augenblick, als die Kellnerin ihm die Rechnung an den Tisch brachte.

»Schönen Tag noch, Süßer«, sagte sie.

»Danke«, erwiderte Bobby, bevor ihm auffiel, dass er Tonfall und Kadenz seiner Stimme nicht verändert hatte.

Konzentrier dich, Mann. Nimm endlich dein Spiel auf.

»Haben Sie WLAN hier, Süße?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, hier gibt’s nur was zu essen und zu trinken. Wenn Sie WLAN haben wollen, müssen Sie zum Starbucks an der nächsten Ecke.«

»Danke, Schätzchen.«

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und achtete darauf, dass seine Pistole bedeckt war.

Als er an den beiden Militärpolizisten vorbeiging, warf einer von ihnen ihm einen Blick zu und nickte.

»Schönen Tag noch, Jungs«, sagte Bobby gedehnt. »Go Army!« Er grinste schief.

Der Mann dankte ihm mit einem müden Lächeln und widmete sich wieder der Speisekarte.

Bobby achtete darauf, die Schwingtür hinter sich behutsam zufallen zu lassen, damit sie nicht laut knallte und die beiden Militärpolizisten vielleicht einen zweiten Blick auf ihn warfen.

Nach kaum einer Minute war Bobby in der Dunkelheit verschwunden, die bald der Morgendämmerung weichen würde. Zum ersten Mal seit langer Zeit würde er die Sonne als freier Mann aufgehen sehen.

Nach dreißig Sekunden war Bobby um die nächste Ecke und außer Sicht.

 

 

5

Da stimmt etwas nicht.

John Puller wusste es in dem Augenblick, als er aus dem Fahrstuhl in den Gebäudeflügel trat, in dem sein Vater sein Zimmer hatte.

Es war viel zu still.

Wo war das Bariton-Gebrüll seines Vaters, das sonst wie Mörserschüsse auf dem Flur explodierte und harten Männern in Uniform die heilige Furcht einjagte? Diesmal hörte Puller nur normale Geräusche, die man mit einem Krankenhaus in Verbindung brachte: Gummisohlen auf Linoleum, das Quietschen von Karren und mobilen Krankenliegen, das Flüstern von Ärzten, die sich in Ecken drängten, das Kommen und Gehen von Besuchern, das gelegentliche Jaulen eines Alarms von einem Monitor, der die Lebensfunktionen überwachte.

Puller ging über den Flur und beschleunigte seine Schritte, als er drei Männer aus dem Zimmer seines Vaters kommen sah. Es waren keine Ärzte. Zwei trugen die Dienstuniformen ihrer Waffengattungen, der dritte einen Anzug. Einer der Uniformierten gehörte zur Army, der andere zur Air Force. Beide waren Generale.

Als Puller noch schneller ging und die Lücke zwischen ihnen schloss, konnte er das Namensschild des Air-Force-Mannes lesen: Daugh­trey. Er war Ein-Sterne-General, während der Army-­General, ein Mann namens Rinehart, auf seinen Schulter­epau­letten drei Sterne trug. Puller kannte den Namen von irgend­woher, konnte ihn aber nicht unterbringen. Die Orden an Rineharts Uniformjacke beanspruchten neun horizontale Reihen. Er war ein großer Mann mit kurz geschorenem Haar, und seine Nase war mindestens einmal gebrochen worden.

»Entschuldigung, meine Herren«, sagte Puller, um die Aufmerksamkeit der Männer zu gewinnen. Er salutierte nicht, da sie sich im Innern eines Gebäudes befanden und niemand eine Kopfbedeckung trug.

Die drei Männer drehten sich zu ihm um.

Puller musterte die Generale. »Ich bin Chief Warrant Officer John Puller junior, 701 CID, Quantico. Bitte um Entschuldigung, dass ich keine Uniform trage, aber ich bin gerade erst von einem Einsatz in Oklahoma zurück und bekam die Nachricht, dass ich sofort meinen Vater aufsuchen soll.«

»Verstehe, Puller«, sagte Rinehart. »Nun, Sie sind nicht der einzige Besuch, den Ihr Vater heute bekommt.«

»Ich weiß, Sir. Ich habe gesehen, wie Sie aus seinem Zimmer gekommen sind«, erwiderte Puller.

Der Mann im Anzug nickte ihm zu und zückte seinen Ausweis. Puller las ihn gründlich. Er wusste gern, mit wem er im Sandkasten spielte.

James Schindler, National Security Council.

Puller hatte noch nie mit jemandem vom Nationalen Sicherheitsrat zu tun gehabt. Der NSC war eine politische Vereinigung, und seine Leute mischten sich normalerweise nicht unters Volk und führten Ermittlungen durch. Sie waren direkt mit dem Weißen Haus vernetzt. Das waren ziemlich luftige Höhen für einen einfachen Oberstabsfeldwebel wie John Puller. Doch wenn jemand ihn wirklich einschüchtern wollte, würde er ihm eine Pistole an den Kopf drücken müssen. Und selbst das würde vielleicht nicht ausreichen.

»Sie haben eine ›Nachricht‹ erhalten?«, fragte Rinehart. »Das war bestimmt dieselbe Nachricht, die unseren Besuch hier veranlasst hat.«

»Dann geht es auch Ihnen um meinen Bruder?«

Daugh­trey nickte. »Ihr Vater war nicht besonders hilfreich.«

»Das liegt daran, dass er nichts darüber weiß. Mit seiner Verfassung steht es nicht zum Besten.«

»Demenz, nicht wahr?«, sagte Schindler.

»Ja. Und mein Vater kann längst keinen Einfluss mehr darauf nehmen«, sagte Puller. »Er hatte ohnehin keinen Kontakt mehr zu meinem Bruder Robert, seit der ins Gefängnis gekommen ist.«

»Aber Demenzkranke haben lichte Momente, Puller«, stellte Daugh­trey fest. »Und bei diesem Fall ist keine Spur zu unbedeutend, als dass es sich nicht lohnen würde, ihr zu folgen. Sie sind der Nächste auf unserer Liste. Wir sollten uns einen ruhigen Ort suchen, um uns zu unterhalten.«

»Bei allem gebotenen Respekt, Sir, ich werde mich mit Ihnen treffen, wann und wo Sie wollen, aber erst, nachdem ich mit meinem Vater gesprochen habe. Es ist wichtig für mich, ihn jetzt zu sehen«, fügte er hinzu, wobei er sich nur zu bewusst war, dass die Anwesenden rangmäßig turmhoch über ihm standen.

Der Ein-Sterne-General war sichtlich nicht erfreut, doch Rinehart sagte: »Ich bin sicher, das lässt sich einrichten, Puller. Es gibt keinen Soldaten in Uniform, der General Puller nicht die gebührende Ehrerbietung schuldig ist.« Er sah Daugh­trey scharf an, ehe er den Blick wieder auf Puller richtete. »Es gibt einen Besucherraum direkt den Gang hinunter. Sie finden uns dort, wenn Sie fertig sind.«

»Danke, Sir.«

Puller trat ins Zimmer seines Vaters und schloss die Tür hinter sich. Er mochte keine Krankenhäuser; er hatte bei seinen zahlreichen Verletzungen genug davon gesehen. Sie rochen sauber, wimmelten in Wirklichkeit aber von mehr Keimen als ein Klodeckel.

Sein Vater saß auf einem Stuhl neben dem Fenster. John Puller senior war früher fast so groß gewesen wie sein jüngster Sohn, doch die Jahre hatten ihm ein paar Zentimeter genommen. Aber er war noch immer ein stattlicher Mann. Er trug seine gewohnte Uniform – weißes T-Shirt, blaue Jogginghose und Krankenhaus­slipper. Was von seinem Haar übrig war, war flauschig weiß und umgab seinen Schädel wie ein Halo. Er war fit und schlank. Zwar war die Muskulatur nicht mehr so ausgeprägt wie zu seinen besten Zeiten, aber noch immer beachtlich.

»Hallo, General«, sagte Puller.

Normalerweise schwadronierte sein Vater nach dieser Begrüßung, dass Puller sein Ausführender Offizier sei und hierherbeordert worden wäre, um Befehle entgegenzunehmen. Puller hatte bei den Wahnvorstellungen seines Vaters bisher mitgespielt, obwohl er es eigentlich nicht wollte, denn es erschien ihm wie ein Verrat an dem alten Mann.

Diesmal jedoch erlebte Puller eine Überraschung.

Sein Vater sagte kein Wort, schaute ihn nicht einmal an, sondern blickte weiterhin stumm aus dem Fenster.

Puller setzte sich auf die Bettkante. »Was haben die Männer dich gefragt?«

Sein Vater setzte sich auf und klopfte gegen das Fenster, womit er einen Spatzen dazu brachte, von seinem Ast wegzuflattern. Dann lehnte er sich wieder nach hinten an das Kunstleder und schwieg weiter.

Puller stand auf, ging zu ihm und schaute über seinen Kopf hinweg nach draußen auf den Hof. Er konnte sich nicht erinnern, wann sein Vater das letzte Mal draußen gewesen war. Er hatte den größten Teil seiner militärischen Karriere unter freiem Himmel verbracht und sich mehr als einmal gegen Feinde behauptet, die ihr Bestes gegeben hatten, um ihn und seine Männer zu vernichten. Keiner dieser Feinde hatte Erfolg gehabt. Wer hätte damals auch nur ahnen können, dass ein Fehler in seinem eigenen Gehirn General Puller schließlich zur Strecke bringen würde?

»Hast du in letzter Zeit von Bobby gehört?«, fragte Puller absichtlich herausfordernd. Normalerweise rief die Erwähnung Bobbys bei seinem Vater Krämpfe hervor.

Die einzige Reaktion war ein Grunzen, aber wenigstens war es eine Reaktion.

Puller baute sich vor seinem Vater auf und versperrte ihm die Sicht auf den Hof. »Was haben die Männer dich gefragt?«

Puller senior hob das Kinn, bis er seinen jüngsten Sohn direkt anschauen konnte. »Weg«, sagte er.

»Wer? Bobby?«

»Weg«, sagte sein Vater erneut. »Unerlaubte Abwesenheit von der Truppe.«

Puller nickte. Genaugenommen stimmte das zwar nicht, aber er hielt es seinem Vater nicht vor. »Er ist weg. Aus dem DB entkommen, heißt es.«

»Schwachsinn.« Der alte Mann hob nicht einmal die Stimme, sondern sprach sachlich und nüchtern, als wäre die Wahrheit hinter diesem Wort offensichtlich.

Puller kniete sich neben seinen Vater, damit er den Kopf wieder senken konnte. »Warum ist es Schwachsinn?«

»Hab’s denen gesagt. Schwachsinn.«

»Okay, aber warum?« Puller hatte seinen Vater in solchen ­Augenblicken schon öfter dazu gebracht, wenigstens einen Teil seines Inneren zu offenbaren, aber es wurde von Mal zu Mal schwieriger.

Der Vater musterte den Sohn, als hätte er jetzt erst festgestellt, dass er nicht mit sich selbst sprach. Pullers Hoffnungen verflüchtigten sich, als er diesen Blick sah.

War das alles, was sein alter Herr heute zu bieten hatte?

Schwachsinn.

»Mehr hast du ihnen nicht gesagt?«, fragte Puller und wartete schweigend auf die Antwort.

Sie kam nicht. Stattdessen machte sein Vater die Augen zu, und sein Atem wurde ruhig.

Puller ging, schloss die Tür hinter sich und schritt den Gang entlang zur Konfrontation mit den Generalen und dem NSC-Mann. Die drei saßen im ansonsten leeren Besucherraum. Puller setzte sich neben Rinehart, den Drei-Sterne-General von der Army, und hoffte, dass die körperliche Nähe die Verbindung zwischen Angehörigen derselben Waffengattung stärkte.

»Ein schöner Besuch bei Ihrem Vater?«, fragte Schindler.

»Bei seinem Zustand sind die Besuche selten schön, Sir«, antwortete Puller. »Und es gab keinen lichten Augenblick.«

»Das sollten wir nicht hier besprechen«, erklärte Rinehart. »Sie können mit uns zum Pentagon zurückfahren. Nach dem Gespräch lassen wir Sie wieder hierherbringen, damit Sie Ihren Wagen abholen können.«

Die Fahrt dauerte knapp eine halbe Stunde. Dann bogen sie auf einen der Parkplätze des größten Bürogebäudes der Welt ein, obwohl es nur sieben Stockwerke umfasste, von denen zwei unterirdisch angelegt waren.

Puller war schon oft im Pentagon gewesen, kannte sich hier aber trotzdem nicht gut aus. Mehr als einmal hatte er sich verirrt, wenn er von seiner gewohnten Strecke abgewichen war. Aber jeder, der jemals hier gewesen war, hatte sich mindestens einmal verlaufen. Wer das bestritt, war ein Lügner.

Auf einem der breiten Gänge mussten sie zur Seite treten, als ein Elektrokarren, der große Sauerstoffbehälter transportierte, in hohem Tempo auf sie zukam. Puller wusste, dass das Pentagon für den Fall eines Angriffs von außen oder versuchter Sabotage einen eigenen Notsauerstoffvorrat unterhielt. Der Angriff auf das Pentagon am 11. September 2001 hatte die Sicherheitsmaßnahmen auf bisher unbekannte Höhen getrieben, und es war nicht abzusehen, dass sie je wieder heruntergeschraubt wurden.

Als Rinehart dem Wagen auswich, geriet er ins Stolpern. Puller griff reflexartig nach seinem Arm. Beide Männer blickten dem da­vonfahrenden Motorwagen hinterher.

»Das Pentagon kann ziemlich gefährlich sein, Sir«, sagte Puller. »Sogar für Drei-Sterne-Generale.«

Rinehart lächelte. »Wie das Springen in ein Schützenloch. So groß dieser Laden hier auch ist, manchmal kommt er einem zu klein vor, um alles und jeden unterzubringen.«

Sie erreichten eine Bürosuite, an deren Tür der Titel und ­Name »Lieutenant General Aaron Rinehart« stand. Der Drei-­Sterne-General bat die anderen herein und führte sie an seinem Personal vorbei in einen Konferenzraum. Die Männer setzten sich. Ein Adjutant brachte Mineralwasser, schenkte ein und schloss die Tür hinter sich. Rinehart und seine Besucher waren allein.

Puller setzte sich den drei Männern gegenüber auf die andere Seite des Tisches und wartete. Während der Fahrt hatten sie über belanglose Dinge gesprochen, sodass er nun im Dunkeln tappte, was sie von ihm wollten.

Air-Force-General Daugh­trey beugte sich vor, wobei er die anderen mit sich zu ziehen schien; jedenfalls ahmten sie seine Bewegung nach. »Wir haben von Ihrem Vater nur ein Wort gehört: Schwachsinn.«

»Ja, er kann sehr beharrlich sein«, erwiderte Puller. »Genau dasselbe hat er auch zu mir gesagt.«

»Und worauf bezieht er dieses wenig schmeichelhafte Wort?«, fragte Schindler.

Puller blickte ihn an. »Ich bin kein Psychiater, Sir. Ich weiß nicht, was mein Vater damit gemeint hat. Falls überhaupt.«

»Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal im DB besucht?«, wollte Daugh­trey wissen.